Dreizehn Gäste - J. Jefferson Farjeon - E-Book

Dreizehn Gäste E-Book

J. Jefferson Farjeon

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Beschreibung

»Kein Beobachter, der sich in Unkenntnis der Situation befand, hätte vermutet, dass der Tod ganz in der Nähe lauerte und nur wenig entfernt vom Funkeln des Tafelsilbers und dem Stimmengewirr zwei Opfer stumm auf dem Boden des Ateliers lagen.« Zwölf Gäste hat Lord Aveling zu einer Party auf sein Landgut Bragley Court geladen. Darunter befinden sich eine Schauspielerin, ein Journalist, eine Krimiautorin sowie die schöne und mysteriöse Witwe Nadine Leveridge. Da diese am örtlichen Bahnhof einen Verletzten aufliest und kurzerhand mit nach Bragley Court nimmt, erhöht sich die Zahl der Anwesenden unvorhergesehen auf die unglückbringende Dreizehn. Und tatsächlich lässt das Verhängnis nicht lange auf sich warten. Als erst ein Gemälde zerstört und dann ein Mann ermordet aufgefunden wird, ruft man die Polizei. Doch kann Kriminalinspektor Kendall ans Licht bringen, welcher der Gäste ein dunkles Geheimnis birgt?

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Seitenzahl: 380

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J. Jefferson Farjeon

DREIZEHN GÄSTE

Eine Kriminalgeschichte

Deutsch von Eike Schönfeld

Mit einem Nachwortvon Martin Edwards

KLETT-COTTA

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die englische Originalausgabe erschien 1936 unter dem Titel »Thirteen Guests« bei Collins in London und liegt hier erstmals auf Deutsch vor.

© 1936 by The Estate of J. Jefferson Farjeon

Nachwort © 2015 by Martin Edwards

Für die deutsche Ausgabe

© 2019, 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: ANZINGERUNDRASP Kommunikation GmbH, München

Unter Verwendung einer Illustration von © Dieter Braun Illustration, Hamburg

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98422-4

E-Book: ISBN 978-3-608-11562-8

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

Kapitel 1 Die Zahl wird komplettiert

Kapitel 2 Inventar

Kapitel 3 Im Schwarzen Hirschen

Kapitel 4 Über den gelben Tassen

Kapitel 5 Der 17.56

Kapitel 6 Ein schnüffelnder Leopard

Kapitel 7 Schönfärbung und Farbe

Kapitel 8 Wie Dinge geschehen

Kapitel 9 Betrifft weitgehend Chater

Kapitel 10 Nächtliche Bewegungen

Kapitel 11 Haig

Kapitel 12 Unentwickelte Einzelheiten

Kapitel 13 Die Jagd

Kapitel 14 Z wird gefunden

Kapitel 15 Im Steinbruch

Kapitel 16 Das zweite Opfer

Kapitel 17 Nadines Geschichte

Kapitel 18 Auftritt der Polizei

Kapitel 19 Kurzes Intermezzo

Kapitel 20 Bultins Zeitleiste

Kapitel 21 Eine Frau mit einem Messer

Kapitel 22 Earnshaw beantwortet einige Fragen

Kapitel 23 Theorien einer Autorin

Kapitel 24 Taverleys Version

Kapitel 25 Ein schwieriges Abendessen

Kapitel 26 Schocks für Earnshaw

Kapitel 27 Inhalt einer Tasche

Kapitel 28 John ist an der Reihe

Kapitel 29 Thomas und seine Schwierigkeiten

Kapitel 30 Ursprung des Bösen

Kapitel 31 Beinahe die Wahrheit

Kapitel 32 Die Wahrheit

Kapitel 33 Tod und Leben

Martin Edwards Nachwort

Erläuterungen

Autoreninfo

Kapitel 1

Die Zahl wird komplettiert

Jeder Bahnhof hat seine eigene Stimme. Bei manchen kommt sie vom Kies. Bei manchen vom Sand. Bei manchen sind es die Milchkannen. Bei manchen ist es Stein, gedämpft von Tunnelqualm. Wie die Stimme auch sei, sie spricht nur zu denen, die sie kennen, lässt einen Namen anklingen, ohne ihn auszusprechen. Diejenigen aber, die sie nicht kennen, dösen weiter, denn sie erhalten von ihr keine Botschaft; für sie ist sie nichts als ein Geräusch, von keiner persönlichen Tradition erhellt.

Die Stimme des Bahnhofs Flensham ist rau. Dass sie trotzdem auch seltsam sanft ist, bewirken der Tunnel und die Kurve, die davor kommen. Der Tunnel dröhnt schwarz, die Kurve mahlt metallisch, dann aber folgt Flensham mit einem schotterigen Flüstern, markant wie ein Schrei. Mit noch geschlossenen Augen sieht der damit vertraute Reisende den adretten kleinen Bahnsteig immer näher rücken. Er sieht die Reihe ebenso adretter Büsche, die einer hölzernen Trennwand bei der Scheidung des Bahnsteigs von der Straße assistieren. Ein Hinweisschild, das die Fahrgäste davor warnt, die Gleise zu überschreiten, wenn ein Zug im Bahnhof steht. Ein Signal, dessen Arm nach unten zeigt. Einen korpulenten und schwermütigen Bahnhofsvorsteher, der die Tragödie des Kosmos mit einem Fahrplan bekämpft.

Von den beiden Fahrgästen, die an einem Freitagnachmittag im Herbst dem 15.28 entstiegen, sah nur einer diese Dinge schon im Voraus. Es war eine Dame von ungefähr dreißig Jahren, die Puritaner und Viktorianer zu attraktiv gefunden hätten. Ihr Haar schimmerte bronzen. Ihre Nase erfreute die Gedanken und trotzte Theorien. Ihr Teint war zu vollkommen. Ihre unverhohlen lächerlichen Lippen machten ärgerlich, weil sie nach allen Regeln der Vernunft hätten Abscheu erregen sollen, es aber nicht taten.

Ihr Mann, der nun friedlich in seinem Grab ruhte, hatte sie einst als eines der herrlichsten Risiken des Lebens beschrieben, und dieses Risiko war er bewusst eingegangen, als er sie heiratete. »Soll sie mich doch in Stücke reißen«, sagte er am Tag der Hochzeit. Was sie getan hatte. Sie hatte ihn vom Himmel in die Hölle gestoßen. Und er hatte es ihr nie vorgeworfen. Er hatte sie auch ohne ihr Make-up geliebt, und drei Stunden vor seinem Tod hatte er in einem der seltenen Momente der Reue – selbst die Schlimmsten unter uns werden weich, wenn wir den Sand verrinnen sehen – ihr Bedauern weggewischt. »Wie kann man ändern, was Gott gemacht hat?«, hatte er gesagt. »Einer muss ja leiden.«

Der andere Fahrgast war ein junger Mann. Ihm erzählte die schotterige Musik des Flenshamer Bahnhofs keine Geschichte, weswegen er ihn beinahe übersehen hätte. Die Dame stand schon auf dem Bahnsteig und befragte einen livrierten Chauffeur, als der Mann erst merkte, dass der Zug angehalten hatte.

»Holla – Flensham!«, rief er unvermittelt aus.

Der Zug fuhr schon wieder an. Der junge Mann sprang auf. Im Gepäcknetz über ihm lag ein Koffer. Er packte ihn mit einer Hand, während die andere schon nach dem Türgriff tastete. Gleich darauf flog der Koffer auf den Bahnsteig. Der Anblick amüsierte die Dame, für die jedes Aufsehen die reine Wonne war, den korpulenten und schwermütigen Bahnhofsvorsteher hingegen, für den jedes Aufsehen eine Bedrohung der Routine war, verletzte er.

Schlimmeres folgte. Hinter seiner Habe kam dessen Besitzer herausgeflogen, wobei sich sein Fuß im Türrahmen verfing. Nun wechselte das Amüsement der Dame zu Sorge und die Empörung des Bahnhofsvorstehers zu Bestürzung.

»Rasch! Helfen Sie ihm!«, rief die Dame.

Bahnhofsvorsteher, Chauffeur und ein Gepäckträger rannten hin. Der Zug schnaufte fort. Sein vormaliger Fahrgast saß auf der Erde und hielt sich den Fuß. Schon vorher war er blass gewesen, jetzt war er erheblich blasser.

»Verletzt, Sir?«, fragte der Bahnhofsvorsteher.

»Selbstverständlich bin ich verletzt!«, entgegnete er unnötigerweise. »Warum zeigen Sie den Namen Ihres Bahnhofs denn nicht in großen Lettern an, verdammt?« Dann bemerkte er Nadine und entschuldigte sich.

»Vollkommen unnötig«, erwiderte Nadine nachsichtig. Der junge Mann sah aber auch ungeheuer gut aus. Er hatte ein glattes, jungenhaftes Gesicht, und die Augen, obgleich gerade von Schmerz geweitet, bargen Möglichkeiten. »Fluchen Sie nur so viel, wie es Ihnen guttut – und das ist wahrscheinlich eine Menge.«

Vorübergehend vergaß er das Stechen. Nadine besaß die Schönheit, die betäubt. Auch tröstete ihre beherrschende Gelassenheit; sie löste die Bedrängnisse eines einfallslosen Bahnhofsvorstehers, eines glotzenden Gepäckträgers und eines doch recht überheblichen Chauffeurs in Luft auf.

»Danke – mir geht’s gut«, sagte er und fiel in Ohnmacht.

»Oha, der’s wech!«, berichtete der Gepäckträger.

»Scheint mir ein Fall für den Arzt zu sein«, brummelte der Bahnhofsvorsteher.

»Eindeutig«, nickte Nadine.

Der Chauffeur blickte sie an und sah in ihren Augen seinen eigenen Gedanken. Ein schwaches grünes Licht glomm darin. Es leuchtete in der Regel bei starkem Interesse. Ihr Mann hatte es abnormerweise das rote Signal genannt.

»Könnten Sie ihn in den Wagen schaffen, Arthur?«, fragte sie.

»Mit Leichtigkeit«, versetzte der Chauffeur.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, sollten wir unterwegs noch beim Arzt anhalten.«

»Dr. Pudrow, Madam – derjenige, der auch Mrs. Morris behandelt.« Und an den Gepäckträger gewandt: »Fass doch mal mit an, Bill. Und denk dran, er ist kein Koffer.«

Der Bahnhofsvorsteher erhob Einwände, hatte er doch als Erster einen Arzt ins Spiel gebracht – darüber war er froh –, auch musste ein gewisser Ablauf eingehalten werden. Schließlich war das sein Bahnsteig.

»Warten Sie lieber, bis er zu sich kommt«, sagte er.

»Natürlich«, pflichtete Nadine ihm bei. »Wir wollen ihn ja nicht entführen.«

Nach wenigen Sekunden schlug der junge Mann die Augen auf. Nun kämpfte er neben dem Schmerz auch gegen die Demütigung.

»War ich weggetreten?«, ächzte er, kurzzeitig errötet.

»Wir alle machen törichte Dinge, wenn wir nicht anders können«, lächelte Nadine. »Machen Sie sich nichts draus. Aber ich finde doch, Sie sollten zum Arzt.«

Findet sie, überlegte der Bahnhofsvorsteher. Muss alles bestimmen!

»Da haben Sie wohl recht«, murmelte der junge Mann. »Irgendetwas scheint mit meinem Fuß nicht zu stimmen. Könnten Sie … einen herschicken?«

»Ich bin froh, dass Sie sich Ihren Humor bewahrt haben.«

»Hm?«

»Warum einen herschicken, wenn ich Sie mitnehmen kann?«

»Das ist wirklich schrecklich anständig von Ihnen.«

»Sagen Sie, wann Sie so weit sind.«

»Tja, wenn es nicht zu viele Umstände macht – je früher, desto besser.«

Sie gab dem Chauffeur ein Zeichen und wandte sich dann wieder ihm zu.

»Dann beißen Sie mal die Zähne zusammen. Es könnte nicht schön werden, wenn sie Sie hochheben. Ich weiß, wie das ist – ich jage.«

Er schloss die Augen und hielt sie zwei sehr unangenehme Minuten lang so. Dann sah er sich durch ein Land mit sanften Hügeln und rotbraunen Oktobertönungen gleiten. Der Himmel über ihm war frisch und klar. In seiner Nase hing die Würze des Herbstes. Auch dessen Geräusche erreichten ihn. In der Ferne bellten Hunde. Er erkannte den Klang und stellte sich Rotröcke zwischen ihnen vor. Aus einer entgegengesetzten Richtung erscholl ein Gewehrschuss. Nun stellte er sich einen Fasan vor, wie er aus der blauen Kuppel herabfiel, um sein kurzes, prekäres Leben in Erfüllung seiner Bestimmung zu beschließen. Weit näher waren Zweige, golden wie die Brust des Fasans. Noch näher eine bronzene Locke – auf diese konzentrierten sich seine Augen, als er sie öffnete.

Doch Schmerz drängte heran. Nicht nur Hirsche und Fasane litten.

»Wie geht’s Ihnen?«

»Ganz gut.«

»Vermutlich würde ich dasselbe sagen.« Nadines Stimme war verständnisvoll und mitfühlend. »Wir sind gleich beim Arzt.«

Ihm fiel ein, dass er ihr danken sollte, doch als er dazu ansetzte, rückte die bronzene Locke etwas näher zu ihm, und die Dame legte ihm eine Hand auf den Mund. Er rebellierte gegen die Freude dieses flüchtigen Kontakts mit ihren Fingern. Sie waren kühl und wärmten doch zugleich. Er rebellierte, weil er wusste, dass sie um seine Freude wusste, dass sie sie bewusst hervorgerufen hatte. Hingegen wusste er nicht, dass sie auch um seine Rebellion wusste. Sie nahm die Hand weg. Sie zeigte Sportsgeist. Einen Mann, der am Boden lag, bekriegte sie nicht.

»Aber Hirsche und Füchse schon, wie?«, hatte ihr Mann ihr einmal vorgeworfen, als sie gezwungen war, ihn auf diese Tugend hinzuweisen.

»Das ist was anderes«, hatte sie erwidert.

»Ja natürlich«, stimmte er ihr zu. »Die beginnen nicht auf Augenhöhe – und die können auch nicht mehr aufstehen und zurückschlagen.«

Dieses Gespräch war einem ihrer größten Kräche vorausgegangen.

Der Rolls glitt dahin. Über eine der braunen Hecken zu ihrer Linken lugte ein kleines, rebenbewachsenes Haus. Die Sonne, die sich dem Ende ihres verkürzten Tages näherte, sandte einen tiefen Lichtpfeil in die Reben und hob ein funkelndes kleines Schild hervor, auf dem stand: »Dr. L. G. Pudrow, M. D.« Das Haus war nicht so prätentiös wie das Schild und brauchte dieses daher, um sich Glanz zu verleihen. Doch ohne die nützliche Krankheit einer reichen alten Dame und die täglichen Besuche, die diese Krankheit erforderte, wäre das Haus womöglich noch weniger prätentiös gewesen. Indes konnte kein Arzt jeden Vormittag und zuweilen auch noch jeden Nachmittag ohne Beruhigung des Kontostandes Bragley Court aufsuchen, weswegen Dr. Pudrow Mrs. Morris als Geschenk des Himmels empfand. Doch nicht deshalb hatte er so viele ernste Gedanken und Sorge der Aufgabe gewidmet, die leidende alte Dame am Leben zu halten.

Als der Rolls vor dem Haus anhielt, war Dr. Pudrow gerade mit dieser recht unchristlichen Tätigkeit beschäftigt. Ein Hausmädchen teilte dem Chauffeur mit, ihr Herr sei außer Haus.

»Der ist bei Ihnen«, sagte sie. »Wennse sich beeilen, erwischense ihn noch.«

»Kommt er dann direkt zurück?«, erkundigte sich Arthur mit dem praktischen Verstand eines Mannes, der mit Steinchen im Vergaser fertigwerden muss.

»Nein«, antwortete die Frau und setzte kess hinzu: »Um sechs muss er ein Kind holen.«

Arthur überlegte. Es war jetzt elf Minuten vor vier. Er verwies darauf, dass das Kind doch erst in über zwei Stunden fällig sei, worauf das Hausmädchen erwiderte, man wisse ja nie und der Arzt werde in jedem Fall direkt hinfahren. »Das ist dann Nr. 8 – wieder diese Mrs. Trump«, bemerkte das Hausmädchen. »Ich finde das widerlich!« Sie hielt viel von gutem Aussehen und Familienplanung à la Marie Stopes.

Der Chauffeur kehrte zum Wagen zurück und erstattete Bericht. Nadine betrachtete den jungen Mann. Wieder tanzte der grüne Schimmer in ihren Augen.

»Der Arzt ist nur auf eine Weise zu fassen«, sagte sie. »Und es gibt auch nur einen Arzt zu fassen. Er ist gerade bei einer Patientin in Bragley Court – wo ich zufälligerweise selbst hinwill. Soll ich Sie dahin mitnehmen?«

»Ich könnte ja auch hierbleiben, bis er zurückkehrt«, meinte der junge Mann. »Ich darf nicht länger in Ihrer Verantwortung sein.«

Nadine erklärte ihm die Lage. Der Arzt konnte Stunden weg sein, bis er zurückkam. Manche Babys seien optimistisch und beeilten sich, andere zeigten weniger Lust, eine unruhige Welt zu betreten.

»Ja dann – würden Sie mich wohl hinbringen …?«, begann der junge Mann und brach ab.

»Ja? Wohin?«, erkundigte sich Nadine.

Offenkundig hatte sogar ein Mann, der aus dem Zug fiel, ein anderes Ziel als den Bahnsteig. Um des Abenteuers willen hatte sie darauf bislang keinen Bezug genommen.

»Weiß nicht genau«, sagte der junge Mann, eine Antwort, die Nadine gefiel. Die Herbstsonne war sehr großzügig gestimmt, und sie hatte nicht den Wunsch, das Abenteuer zu beenden. »Gibt es nicht irgendwo ein Gasthaus?«

Nadine wandte sich an den Chauffeur, der noch immer auf Anweisungen wartete.

»Bragley Court, Arthur«, sagte sie, »und kümmern Sie sich nicht um Geschwindigkeitsbeschränkungen.«

Ihr Gebrauch des Wortes »Arthur« hatte immer etwas entfernt Persönliches. Er implizierte keine gesellschaftliche Unnachgiebigkeit ihrerseits und gestattete ihm keine Vertrautheiten, doch erkannte sie damit seine Existenz an – fast seine männliche Existenz. Nun ließ er den Tachometer um drei Stundenkilometer klettern.

»Bragley Court klingt aber nicht wie ein Gasthaus«, bemerkte der junge Mann matt. Er sah, dass er nicht kämpfen konnte.

»Das ist es auch nicht«, antwortete Nadine. »Die beiden einzigen Gasthäuser in akzeptabler Entfernung sind – soweit ich weiß – der Schwarze Hirsch und der Cricketer. Der Schwarze Hirsch ist am Bahnhof. Von Hirschen weiß man dort nichts, allerdings geht wohl das Gerücht um, dass sich vor Jahren einmal einer hinterm Tresen versteckt hat, aber Schwärze gibt es reichlich. Die kommt vom Tunnel. Ich glaube, das Gasthaus beherbergt pro Jahr einen Reisenden und nie denselben. Der Cricketer ist viel lebhafter. Weswegen er auch weniger reizvoll ist. Alle möglichen Leute. Und ich habe gehört, das Bett sei wie Venedig um sieben Knubbel herum erbaut. Ich glaube wirklich, würden Sie zum Cricketer gehen, könnten Sie daran sterben.«

Er mühte sich um ein Lächeln. Mit durchdringendem Blick versicherte sie ihm, das Lächeln sei überflüssig.

»Sie sind sehr verständnisvoll«, sagte er unvermittelt.

»Ich weiß, dass Sie Schmerzen haben«, erwiderte sie. Sie musste das schelmische Verlangen unterdrücken, ihm eine persönlichere Antwort zu geben. »Ich wurde einmal abgeworfen und konnte eine Woche lang keine lustige Geschichte mehr hören. Stört Sie mein Geplapper?«

»Nein, fahren Sie bitte fort.«

»Ich weiß nicht, ob es noch mit etwas fortzufahren gibt. Ach ja – Bragley Court. Dorthin rasen wir, um noch den Arzt zu erwischen, bevor er eine Patientin verlässt, um eine andere aufzusuchen, weiter nichts.« Sie lachte. »Sie werden also zwischen Alter und Jugend gequetscht – eine alte Dame von über siebzig und ein Baby von minus zwei Stunden.«

Es stimmte, dass ihr Geplapper ihn nicht störte. Es half ihm ganz wunderbar, denn hinter dessen Unbeschwertheit war etwas Lebendiges, das einen Teil seiner Aufmerksamkeit fesselte und ihn von seinen Schmerzen ablenkte. Dennoch wusste er nicht so recht, wie er damit umgehen sollte.

»Ich hoffe, die alte Dame ist nicht sehr krank?«, sagte er ziemlich konventionell.

»Doch, das ist sie«, erwiderte Nadine. »Sie macht Puzzles und ist jedem eine Lehre. Das heißt, falls jemand überhaupt anderen eine Lehre sein kann, was ich bezweifle. Ich kenne in meinem Leben nur zwei Menschen, bei denen ich mir wie ein Schwein vorkomme. Einer davon ist sie.«

Ich weiß, was es ist, dachte der junge Mann. Sie ist so verflucht natürlich! Laut fragte er: »Ihre Mutter?«

»Es wäre höflicher gewesen, mich zu fragen, ob es meine Großmutter ist! Ich verzeihe Ihnen. Sie ist weder noch. Sie ist die Mutter unserer – meiner Gastgeberin. Bragley Court ist nämlich der Sitz der Avelings, müssen Sie wissen. Oder wissen Sie das nicht?«

»Was! Lord Aveling?«

Sie nickte.

»Ach – finden Sie wirklich, Sie sollten mich da hinbringen?«

»Warum denn nicht? Wählen Sie Labour?«

Er antwortete nicht sogleich. Er runzelte die Stirn. In der Ferne bellten wieder die Hunde. Ein Vogel, zu dick, um auszuwandern, sandte einen Ton schriller Frische von einem Zweig. »Gerade habe ich einen Wurm gegessen«, sang der Vogel. Er war glücklich. Der Schnee war noch lange hin.

»Ich weiß nicht, ob Ihnen bewusst ist, was mir bewusst ist«, sagte der junge Mann ernst, »aber womöglich muss ich da, wo Sie mich absetzen, noch ein Weilchen bleiben.«

»Genau deshalb – da Sie mir ja keine andere Adresse genannt haben – bringe ich Sie nach Bragley Court. Ich habe schon angedeutet, dass ich, brächte ich Sie zu einem der beiden genannten Gasthäuser, wegen Mordes belangt werden könnte.«

»Aber …«

»Meinen Sie, Sie könnten sich, wenn Sie sich große Mühe gäben, keine Gedanken mehr machen? Wenn wir den Arzt noch erwischen, soll er entscheiden.«

»Und wenn nicht?«

»Dann kann Lord Aveling entscheiden. Und ich kenne seine Entscheidung schon im Voraus, sonst würde ich sie nicht riskieren.«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte der junge Mann. »Sie gehen wirklich Risiken ein.«

»Ach ja?«

»Sie haben – mich riskiert!«

»Stimmt!«

»Wie kommen Sie darauf, dass Lord Aveling sich nicht gegen einen Fremden sträubt, selbst wenn es nur vorübergehend ist?«

»Drei Dinge, mein Lieber. Oder ist das zu vertraulich? Erstens, Lord Aveling. Ehrgeizige Konservative sind hervorragende Gastgeber. Zweitens, ich. Ich habe einen Instinkt – und Lord Aveling mag mich und weiß, dass ich ihn nie enttäuschen würde. Drittens – ist das nicht eine alte Schulkrawatte?«

Diesmal lachte er.

»Zufrieden?«, lachte sie zurück.

»Klingt ziemlich gut«, räumte er ein.

»Na, Gott sei Dank«, seufzte Nadine. »Denn da sind wir auch schon, und jetzt gibt’s kein Zurück mehr. Wie heißen Sie übrigens?«

Kapitel 2

Inventar

Eine halbe Stunde später reflektierte John Foss, mit Verband auf einem rosenroten Sofa ausgestreckt, über seine Lage.

Man hatte ihn in Bragley Court mit äußerster Gelassenheit und Höflichkeit aufgenommen. Und als er sich die Weite des Raums, in dem sich Lord und Lady Aveling bewegten, bewusst machte, sorgte er sich ob der Störung, die er verursachen würde, etwas weniger. Sein Besuch im Schwarzen Hirschen oder dem Cricketer mochte Hektik ausgelöst haben, in Bragley Court hingegen zeigten sich keine sichtbaren Zeichen vulgärer Emotionen. Das Personal für außen und innen zählte sechsundzwanzig, und ein jeder war dafür ausgebildet, jeder Situation, jedem Notfall mit Ruhe und Effizienz zu begegnen. Emotional gab es keinen Unterschied darin, einen Toastständer zu reichen und einen Fremden mit verstauchtem Knöchel von einem Wagen zu einem Sofa zu verbringen.

Gleichwohl war ihm bewusst, dass ihm etwas mehr als nur effizienter Service und Freundlichkeit entgegengebracht worden war. Man hätte ihn auch höflich als notwendiges Übel behandeln können – sein empfindsames Wesen hätte dies sogleich gespürt –, doch stattdessen war Lord Aveling, als der Arzt unerfreuliche Dinge mit seinem Bein anstellte, persönlich erschienen und hatte damit bewiesen (was Nadine später noch einmal anmerkte), dass auch er sich von einer alten Schulkrawatte beeinflussen ließ.

Und als der Arzt dann sein Werk beendet hatte und einer älteren Dame, die sich im Hintergrund hielt, die Notwendigkeit häufiger Anwendungen von Wundbenzin einschärfte, hatte Lord Aveling nachdrücklich erklärt, dass es klug sei, wenn er noch eine Weile auf dem Sofa bliebe.

»Hier sind Sie nicht im Weg«, sagte er. »Wir können Sie auch noch später auf Ihr Zimmer verlegen.«

»Man wird ihn sehr vorsichtig verlegen müssen«, bemerkte der Arzt.

»Aber warum ihn verlegen?«, meinte Nadine. »Warum nicht das Sofa? Als ich vor zwei Jahren meinen Zaun riss, hat man mich für die Nacht ins Vorzimmer gerollt.«

»Eine hervorragende Idee«, stimmte Lord Aveling ihr zu. »Später, nach dem Tee.«

»Ja, wenn der arme Mann es leid wird, angeschaut zu werden«, lächelte Nadine.

Lord Aveling war liebenswürdig von dannen gegangen. Der Richtige, lauteten seine Gedanken. Gute Familie, sieht man gleich. Interessant. Nicht viele junge Leute an diesem Wochenende. Mit dem nächsten Zug kommt Bultin. Wird guten Artikel schreiben. Ja, Bultin wird das verwenden. Wieder ein Beispiel für die Aveling’sche Gastlichkeit. Danach Gästeliste. Ob das wohl für Zena Wilding das richtige Wochenende ist? Und für die Chaters? Trotzdem, die Chaters müssen natürlich da sein … Schade, dass dieser junge Mann der dreizehnte ist.«

Doch nicht nur Willkommen herrschte in dem großzügigen Salon, der in der Nachmittagssonne strahlte und im Schein eines gewaltigen Holzfeuers flackerte. Etwas brütete auch noch. Es war, als hockten in den Schatten unruhige Geheimnisse, und keiner derjenigen, denen John bislang begegnet war, zeigte vollkommene innere Ruhe. Lady Aveling war ihm, als sie von einem Kartentisch im Salon aufstand, um das Opfer mit einem freundlichen Blick zu bedenken, in ihrem Drang, schnell wieder hinzukommen, recht nervös erschienen. Zwei Gäste – ein dünner, linkischer, zynischer Mann in schwarzem Samtrock und mit großer Künstlerkrawatte sowie ein kleiner, stämmiger, grauhaariger vom Typ des pensionierten Schweinefleischers, der verdammt viel daraus gemacht hat (das Vermögen betrug schlanke hunderttausend, die einzige Erklärung dafür, dass er da war) – schlugen einen leichten Misston an, als sie gemeinsam durchs Wohnzimmer schritten. Die ältere Frau, der die regelmäßige Anwendung von Wundbenzin übertragen war, wirkte grimmig. Ein hübsches Hausmädchen war, ein Tablett in Händen, mit hochrotem Gesicht die geschnitzte Treppe hinaufgegangen. Ein Butler war ihr bis zur Treppe gefolgt, hatte dann kehrtgemacht und war verschwunden.

Hier stimmt was nicht, sinnierte John. Nur was?

Er fragte sich, ob die beiden Neuankömmlinge, die gerade in die Diele traten, den Eindruck bestätigen würden.

Es waren ein Mann und eine junge Frau in Reitkluft, und sie zeigten den Staub und die Atmosphäre eines harten Ritts. Der Frau kribbelten davon die Wangen, und instinktiv fuhr sie sich beim Eintreten über die Stirn, wie um die jähe stickige Wärme der prasselnden Scheite wegzuwischen. Sie war auf eine schmale, jungenhafte Weise schön, und obwohl ihr der dunkelgrüne Reitanzug gut stand, hätte ein Fremder sie doch instinktiv lieber in einer deutlich fraulicheren Tracht gesehen. Seltsam war, dass eine gewisse Härte um den Mund, eine Härte, die von der Form der Lippen festgehalten wurde, nicht von ihrer Schönheit ablenkte. Wahrscheinlich, weil niemand sie recht glauben konnte.

Der Mann, groß und kräftig, erinnerte angenehm an Cricket, was er auch tatsächlich spielte.

»Halb fünf«, sagte die Frau auf dem Weg zu der breiten Treppe auf eine Uhr blickend.

»Heißt das, Tee bei dir auf dem Zimmer?«, fragte der Mann und blieb stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden.

»Nein, ich komme runter«, erwiderte sie. »Aber erst das Bad. An mir klebt alles.«

Das Sofa, auf dem John lag, wurde in den Schatten einer Wandecke gestellt. Die Sonne senkte sich gerade hinter einen Wald in der Ferne, womit sie eine rasche Dämmerung einleitete. Ein Diener betrat den Vorraum und schaltete Lichter an. Das Mädchen drehte am Fuß der Treppe den Kopf und erblickte den Patienten.

John ertrug einen Moment der Verlegenheit. Ihm schien, als hätte die Routine von Bragley Court vielleicht doch ihre kleinen Mängel. Es hätte ihn vor der Notwendigkeit schützen sollen, sich zu erklären. Doch war die Erwartung, dass jemand sich ständig um ihn kümmerte, unvernünftig, und selbst Lord Avelings großzügig eingeplantes Personal reichte nicht an einen Cook’s-Führer heran. Nachdem er also die neugierige Begutachtung der Frau ein paar Augenblicke lang erduldet hatte, sagte er freiheraus:

»Ich hatte einen Unfall, und Lord Aveling war so gut, mich vorübergehend zu beherbergen.«

»Pech«, sagte der Mann. »Doch nicht beim Reiten?«

»Nein – ein prosaischer Zug. Ich bin hinausgesprungen, als er schon anfuhr und versuchte, meinen Fuß bis zum nächsten Bahnhof mitzunehmen.«

Der Mann lächelte und hielt ihm sein Etui hin.

»Mögen Sie eine?«, fragte er. »Wir rauchen überall. Bestätige es ihm, Anne.«

Das Mädchen kam, kurz nickend, näher.

»Selbstverständlich – vollkommen in Ordnung«, sagte sie. »Ich bin Lord Avelings Tochter. Und das da ist Mr. Harold Taverley.«

»Herzlichen Dank«, erwiderte John. Die flüchtige, von den beiden erzeugte Verlegenheit war sehr schnell wieder verschwunden. »Gut zu wissen! Ich bin John Foss. Und mein ganzes Lebensziel ist momentan nur, keine elende Last zu sein. Bitte schieben Sie Ihr Bad nicht auf.«

Anne lachte. Ihr Mund verlor seine Härte. Sie wandte sich um und lief die Treppe hinauf. Ihr Begleiter aber blieb.

»Und Sie fühlen sich nicht klebrig?«, fragte John.

»Ach, das hat noch etwas Zeit«, erwiderte Taverley. Er hatte eine klare, volle Stimme, die er jedoch selten hob. Der pensionierte Schweinekönig konnte seine nur vernehmlich machen, wenn er schrie. »Ich kann wohl nichts für Sie tun?«

»Also – eigentlich doch«, sagte John impulsiv. Mit einem wie ihm konnte man reden. »Ich wüsste gern etwas über die Leute hier. Man kommt sich doch etwas blöd vor. Fast wie ein Affe im Zoo.«

»Ich weiß«, lächelte Taverley. »Das heißt, falls Affen sich wirklich so vorkommen.« Er setzte sich auf einen Hocker. »Dann bleiben Sie wohl noch eine Weile?«

»Es hieß schon, ich sollte für die Nacht in ein Vorzimmer gerollt werden. Alle sind schrecklich anständig.«

»Ins Vorzimmer? Da ist doch …« Er hielt inne. »Also, dann gehen wir mal den Bestand durch. Wen haben Sie bislang gesehen?«

»Lord Aveling.«

»Der ist einfach. Fünfter Baron. Hofft, erster Marquis oder Earl zu werden. Konservativ. Ich hoffe, Politik bereitet Ihnen keine Selbstmordgedanken?«

»Man muss damit leben, aber besonders interessiert sie mich nicht.«

»Auch gut. Dann können Sie sich aus Streitereien heraushalten. Haben Sie schon Lady Aveling gesehen?« John nickte. »Sie braucht Sie nicht zu bekümmern. Sie folgt immer ihrem Mann. Die Tochter, die Sie eben kennengelernt haben, ist die Ehrenwerte Anne. Liebt Pferde. Hier wird nämlich gejagt. Und Golf gespielt. Privater Platz. Anne schafft zweihundert.«

»Ich mag sie«, sagte John.

»Sie ist in Ordnung.« Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: »Sie mag Sie auch.«

»Da haben Sie sich aber schnell entschieden!«

»Sie aber auch. Und Sie. Na, gehen wir noch die Familie durch. Es gibt nur noch ein Mitglied.«

»Den Sohn?«

»Nein. Der ist die Enttäuschung. Lady Avelings Mutter. Mrs. Morris. Sie sind nicht der einzige Versehrte im Haus. Aber Sie werden Mrs. Morris nicht begegnen – sie bleibt auf ihrem Zimmer!«

Just da lag Mrs. Morris zwei Stockwerke darüber, mit Kissen gestützt, in freudiger Ekstase. Sie war nahezu frei von bohrenden Schmerzen. Die Welt war sehr gut …

»Prächtige alte Dame«, sagte Taverley. »Uns allen ein Vorbild. Aber nun zu den Gästen. Wen haben Sie von denen gesehen?«

»Eine Dame hat mich hergebracht.«

»Recht groß und füllig? Eindrucksvolle Brille?«

»Großer Gott, nein.«

»Wäre das Adjektiv dann ›verstörend‹?«

»Ein besseres könnte ich mir nicht vorstellen«, stimmte John ihm zu, wobei er gegen einen ärgerlichen Moment von Befangenheit ankämpfte.

»Das klingt mir ganz nach Nadine Leveridge. Ich habe gehört, sie kam mit dem 15.28. War das auch Ihr Zug? Derjenige, der Sie zerreißen wollte?«

»Ja. Und sie hieß tatsächlich Leveridge.«

»Unsere attraktive Witwe. Anfällige Menschen sollten sich von ihr fernhalten. Sie kann en passant Herzen brechen.«

»Das klingt ja fast nach einem Rat«, sagte John.

»Also, wenn es einer ist, dann ein guter«, versetzte Taverley störrisch. »Eine solche Frau kann einem das Leben zur Hölle machen. Die Willenskraft zerquetschen. Und – was nützt das schon?«

»Wie ich sehe, mögen Sie sie nicht.«

»Falsch, Foss. Ich mag sie ungeheuer. Was soll eine Frau mit ihrer Schönheit anfangen? Sie wegwerfen? Man bleibt sich doch treu. Ich mag sie, und ich mochte auch ihren Mann. Er und ich, wir haben Cricket gespielt. Er sagte mir immer, er könne Nadine nur dann vergessen, wenn er einen Leg Glance warf. Ein Leg Glance hat etwas. Nur dann erlangte er vollkommenen Frieden. Hatte er eine besonders schwierige Zeit durchgemacht, konnte man Leveridge immer LBW bowlen – den Leg Glance probierte er dann immer. Sogar wenn der Ball ein Off stump ist.«

»Dann haben sie also gestritten?«, fragte John.

»Und wie«, antwortete Taverley. »Und wie sehr geliebt. Wer Nadine als Nächster heiratet, wird alles wissen, was es zu wissen gibt. Also, das war Nummer eins der Gäste. Noch weitere gesehen?«

»Sie.«

»Sussex. Schlagschnitt 41,66. Über den Werfschnitt wollen wir nicht sprechen. Lord Aveling möchte gern Eindruck machen, unter anderem auch mit mir.« Er lachte und schüttelte dann den Kopf über sich. »Nicht dass Sie ein falsches Bild von unserem Gastgeber bekommen. Er ist in Ordnung.«

»Offenbar finden Sie alle in Ordnung.«

»Das sind sie auch, wenn wir tief genug graben. Aber am kommenden Wochenende müssen Sie unbedingt bleiben – Sie werden merkwürdigen Leuten begegnen.«

»Da kommen die einzigen anderen, denen ich schon begegnet bin«, sagte John, als die Haustür abrupt aufging und der Mann im Samtmantel und der pensionierte Schweinemann hereinkamen. Ihnen folgte ein heftiger Windstoß.

»Brr!«, stieß Letzterer hervor und rieb sich die Hände. »Schnell, Tür zu!«

»Es ist ein Fehler zuzugeben, dass Ihnen in Gesellschaft kalt ist«, bemerkte der Mann im Samtmantel. »Da unterstellt man Ihnen gleich eine Wärmflasche.«

»Na, ich mag meine Wärmflasche nun mal, und es ist mir verflixt noch eins gleich, wer das weiß!«

»Sie werden Respekt verlieren. Das Leben, das ja warm ist, zeigt Mitgefühl nur mit schlechter Durchblutung.«

»Ach ja? Also, Blut ist nicht das Einzige, was zirkuliert!« Der pensionierte Schweinemann klopfte sich lachend auf die Tasche. »Das respektiert das Leben! Wo ist überhaupt Ihre Gesellschaft?« Dann bemerkte er sie. »Ah, Taverley! Wir waren gerade im Studio. Das wird ja ein Meisterwerk. Was macht der Patient? Wie geht’s?«

»Eins a, danke«, erwiderte John. »Ich falle Ihnen nicht mehr lange zur Last.«

»Freut mich zu hören. Das heißt, freut mich, dass es Ihnen besser geht. Böse Sache, so ein verstauchter Knöchel. Ich habe meinen mal beim Damespielen lädiert. Haha! Na, kommen Sie, Pratt, sonst kriegen wir keinen Tee mehr.«

Er schritt zur Treppe und verschwand, während Pratt noch einen Augenblick blieb.

»Uns schon beschrieben?«, fragte er.

»Nein. Sie sind die Nächsten«, lächelte Taverley. »Also beeilen Sie sich!«

Pratt lächelte zurück und ging, gerade so schnell, um anzudeuten, dass er auf einen Scherz antworten könnte, ohne seine Würde zu verlieren. John grinste.

»Leicester Pratt?«, fragte er. Taverley nickte. »Schwer in Mode gerade, wie?«

»Und ob. Deshalb ist er ja hier. Die Frauen bestürmen ihn, damit er sie malt, und Pratt legt rücksichtslos ihre armen Seelchen frei. Komisch, nicht wahr, wie manche sich um der Berühmtheit willen entblößen – und es gar nicht wissen?«

»Letzten Mai habe ich eins von Pratts Bildern gesehen. Ich fand’s clever, aber – na ja.«

»Grässlich?«

»Kam mir so vor. Was ist dieses werdende Meisterwerk? Malt er jemanden hier?«

»Die Ehrenwerte Anne«, erwiderte Taverley. Beide Männer schwiegen einige Sekunden. Dann fuhr Taverley fort: »Der andere war Mr. Rowe. Sie werden nicht von ihm gehört haben, aber vielleicht haben Sie mit ihm gefrühstückt. Pratt – der für jeden einen zynischen Namen hat – nennt ihn ›Der Mann hinter der Wurst‹. Wenn er Mr. Rowe malt, was er bestimmt einmal tut – Rowe hat Geld wie Heu –, wird er seinen Kopf gerade so weit dehnen, dass jeder es weiß, nur Mr. Rowe nicht. Das ist seine teuflische Kunst. Er findet Ihre Schwäche und malt darum herum.«

»Ich glaube nicht, dass ich Mr. Pratt mögen werde«, sinnierte John.

»Folgen Sie meinem Rat, versuchen Sie es«, erwiderte Taverley. »Also, das macht jetzt vier. Fünf – die füllige Dame mit der eindrucksvollen Brille. Haben Sie Pferdefleisch gelesen?« John schüttelte den Kopf. »Dann sind Sie glücklicher als ungefähr achtzigtausend andere. Unsere füllige Dame hat es geschrieben. Edyth Fermoy-Jones. Betonung bitte auf Fermoy. Sie wird glücklich sterben, wenn sie als der weibliche Edgar Wallace in die Geschichte eingeht. Nur mit einem Hauch literarischerem Wert. Eine ganz nette Person, wenn Sie ihren ziemlich lächerlichen Ehrgeiz durchdringen können.«

»Ich werde tun, was ich kann«, versprach John.

»Sechs, Mrs. Rowe. Sieben, Ruth Rowe – Tochter. Über die beiden lässt sich kaum etwas sagen, nur dass Ruth viel glücklicher sein wird, wenn sie – falls jemals – dem Wursteinfluss entrinnt. Mal sehen – ja, das sind alle, die da sind. Aber Nummer acht kommt mit dem Wagen – Sir James Earnshaw, Liberaler, der sich fragt, ob er sich nach rechts oder links wenden soll – und vier weitere kommen mit dem nächsten Zug. Zena Wilding …«

»Die Schauspielerin?«

»Ja. Und Lionel Bultin. Bultin wird uns alle in seiner Klatschspalte unterbringen. Seine Methode bei dem Blatt ist genau wie Pratts auf der Leinwand. Er sagt, was ihm gefällt und anderen nicht. Wer sind die letzten zwei? Ah, die Chaters. Mr. und Mrs. Über sie weiß ich gar nichts. Also – das ist das Dutzend.«

»Und ich bin der Dreizehnte«, bemerkte John, während Taverley aufstand.

»Ich hoffe, das beunruhigt Sie nicht?«

»Ich bin nicht abergläubisch.«

»Ein Glück, obwohl Sie, selbst wenn, aus dem Schneider wären. Das Pech ereilt doch den dreizehnten Gast, der durch die Tür da kommt, nicht? … Na, ich muss los. Bis später.«

Bevor Taverley hinaufging, wartete er, bis das hübsche Hausmädchen mit den geröteten Wangen – sie waren es noch immer ein wenig – heruntergekommen war. John schaute dem Cricketer aus Sussex nach. Ein jähes Ächzen des Mädchens ließ ihn wieder den Kopf wenden.

Sie war verschwunden, doch er sah gerade noch eine Gestalt am Fenster vorbeihuschen.

Kapitel 3

Im Schwarzen Hirschen

Der Bernsteinglanz des Tages war verblichen. Die Sonne war zu einer mattroten Scheibe geworden und unter den Saum von Greyshot Heath gefallen. Schon war die kühle Luft nicht mehr angenehm, und der schlaue alte Fuchs in Mile Bottom schlug in seinem Erdloch die Augen auf und sann über Fasane, Mäuse und Kaninchen nach. Eines Tages würde der schlaue alte Fuchs selbst gejagt werden, und nur deswegen war er, anders als der Iltis, der Exkommunikation entgangen. Er war ein zu guter Läufer, um seine Flinkheit im Norden zu vergeuden.

In einem Wäldchen einen Kilometer von Bragley Court entfernt flatterte ein Fasan schwerfällig zu seinem Nistplatz. Er war ohne Furcht. Der Tod, jenes seltsame, unbegreifliche Ding, ereilte andere, er aber hatte ein Dutzend Schüsse überlebt, und so wusste er, wie man seinem Schatten entrinnt. Kamen ihm ein Wiesel oder eine Katze auf der Pirsch zu nahe, konnte der alte Vogel leicht Alarm schlagen und eine andere Zuflucht finden. Wie alle Lebewesen war der Fasan für sich unsterblich, weil er das Aussterben noch nicht erlebt hatte. Erreichte es ihn, würde er es nicht merken.

Das Messingschild des Arztes schimmerte nicht mehr. Es war nun lediglich eine kalte, von Reben umrankte Fläche. Der Wachhund vor dem Cricketer’s Arms hatte sich erhoben, sich geschüttelt und war hineingegangen. In dem vorhanglosen Fenster des Schwarzen Hirschen, von dem aus man den Bahnhof Flensham einsehen konnte, war eine Lampe angegangen, und der schotterige Bahnhof selbst war ein langer grauer Schatten, hier und da durchbrochen von dem trüben Schein von Bahnsteigleuchten und eines unzureichenden Warteraums. Irgendwo südlich davon klaffte ein großes schwarzes Loch, der Tunnel. Man wusste, dass es das Loch gab, konnte es jedoch nicht mehr sehen, da seine Schwärze sich mit der des Bergs, durch den er sich bohrte, vereinigt hatte und auch mit der des Himmels darüber.

An dem vorhanglosen Fenster des Schwarzen Hirschen saß ein Mann und warf einen melancholischen Blick auf den verlassenen Fleck des Bahnsteigs. Er war mittags mit dem 12.10 angekommen. Er hatte ein wenig schmackhaftes Mittagessen verzehrt und den Frühnachmittag damit verbracht, ziellos umherzuschlendern, unablässig zu rauchen und nahezu unablässig auf die Uhr zu schauen. Um drei war er in den Gasthof zurückgekehrt und hatte am Fenster gesessen, bis der 15.28 eingefahren war. Er hatte die beiden Fahrgäste aussteigen sehen und auch den Unfall beobachtet. Das Geschehen hatte ihn nicht weiter interessiert, da sein Interesse auf eine Sache gerichtet war, nur eine; jedes Ereignis abseits dieser Sache, jeder Umstand, der in keinem direkten Bezug dazu stand, war ebenso unwirklich und schattenhaft wie der Bahnsteig, auf den er nun starrte. Hatte sich der Mann, der da gestürzt war, dabei ernsthaft verletzt? Unwichtig. Was machte die Dame? Unwichtig. Die Szene spielte sich in kurzer Entfernung von ihm ab, doch nach der Wirkung, die sie auf seine Empfindungen hatte, hätte sie auch in Siam geschehen können. Als sie vorüber war, der Zug abgefahren und der Bahnsteig wieder verlassen, hatte er eine weitere ziellose Wanderung unternommen, wieder unablässig geraucht, wieder unablässig seine Uhr befragt. Und nun war er wieder zurück, und eine füllige, schwer atmende Frau hatte eine Lampe hereingebracht.

»Wollen Sie Tee?«, fragte die Frau.

Das war vielleicht schon ein Kauz, aber selbst Käuze wollten Tee.

»Der nächste Zug kommt doch 17.56?«, entgegnete der Mann.

Sie bestätigte es ihm. Sie hatte es ihm schon dreimal bestätigt. Dann wiederholte sie ihre Frage nach dem Tee.

»Wie? Ja, doch«, erwiderte er ohne großes Interesse.

»Was hätten Sie denn gern dazu? Bloß Brot und Butter? Wir hätten auch einen schönen Mohnkuchen da.«

»Irgendwas. Ja. Was Sie eben dahaben.«

Die Frau verflüchtigte sich und erschien zehn Minuten später mit einem Tablett. Sie stellte es auf eine Anrichte, breitete auf einem fleckigen Tisch ein kaum weniger fleckiges Tuch und trug das Tablett zum Tisch. Der Mohnkuchen thronte mit geknickter Pracht auf einem hohen Teller mit Glasfuß. Seine Mission war offenbar, dicke Scheiben Brot und Butter im Vergleich mit ihm appetitlich erscheinen zu lassen.

Die Frau blieb noch stehen und sagte: »Entschuldigen Sie, Sir, aber wollen Sie hier übernachten?«

»Was?«, erwiderte der Mann.

»Ob Sie hier übernachten wollen«, wiederholte die Frau. »Wenn ja, könnt ich Ihre Tasche nach oben …«

»Fassen Sie ja meine Tasche nicht an!«, rief der Mann, endlich mit Interesse. (Man hätt meinen können, jemand hat ihm auf die Zehen getreten, erinnerte sich die Frau später.) Dann setzte der Mann hinzu: »Ich weiß noch nicht. Ja, vielleicht. Ich gebe Ihnen bald Bescheid.«

Die Tasche, eine schwarze, stand auf einem Stuhl. Als die Frau weg war, ging der Mann hin, öffnete sie, schaute hinein, machte sie wieder zu, verschloss sie und stellte sie ohne einen Grund, den er hätte nennen können, auf einen anderen Stuhl. Dann setzte er sich wieder an den Tisch und begann mit seinem Mahl.

Aus der Bar jenseits des Durchgangs erscholl plötzlich lärmende Musik. Jemand hatte in eine groteske Apparatur einen Penny gesteckt und erhielt nun den Gegenwert dafür. Der Mann verstopfte sich mit den Fingern die Ohren und glotzte finster auf seine Teetasse, während die Musik weiter dröhnte. Nach einer Minute nahm er die Finger heraus und steckte sie sogleich wieder hinein. Seine Stirn pochte. Sein Kopf schien kurz vorm Platzen. Das Vergnügen eines armen Kerls erfüllte sein Herz mit Hass.

»Großer Gott!«, brüllte er.

Doch niemand hörte ihn. Die Musik jenseits des Durchgangs wurde sogar noch lauter.

Als die Musik schließlich endete, merkte er, dass er lachte. Er erinnerte sich nicht, damit begonnen zu haben. Er hörte abrupt auf damit.

»Sinnlos«, murmelte er. »Das ist doch sinnlos.«

Er beendete ruhig sein Mahl und kehrte ans Fenster zurück.

Kapitel 4

Über den gelben Tassen

Die Teetassen im Schwarzen Hirschen waren dick und weiß. In Bragley Court waren sie dünn und gelb, und ihr Klirren begann im Salon, einem langen, hohen, pink- und cremefarbenen Raum, und folgte den Gästen zu ihren jeweiligen Aufenthalten. Mochte man Pink und Creme sowie ein Übergewicht älterer weiblicher Gesellschaft nicht, so hielt man sich von dem offiziellen Hauptquartier fern und vertraute darauf, dass die gelben Tassen herausfinden würden, wo man war, und zu einem kamen. In Bragley Court wäre Mohammed nicht der Mühe unterzogen worden, zu seinem Berg zu gehen.

Johns Tasse kam genau um fünf Uhr zu ihm, und zwar auf einem blank polierten Mahagonitablett. Gebracht und auf ein niederes Tischchen gestellt wurde sie von dem hübschen Hausmädchen, und John betrachtete sie interessiert dahingehend, ob sie noch Spuren ihrer jüngsten Erregung zeigte. Rein äußerlich war sie wieder ganz ruhig, und wegen ihrer angenehm freundlichen Art hoffte er, dass ihr Äußeres die Wahrheit wiedergab.

»Geht es Ihrem Fuß besser, Sir?«, fragte sie.

Bestimmt ist dieses Interesse verfassungswidrig, dachte John, aber es ist nett. Also entmutigte er es nicht. Er sagte ihr, seinem Fuß gehe es sehr viel besser. In dem Moment wurde ihm dies nicht als Lüge bewusst.

Ein Kissen war auf den Boden gefallen. Das Hausmädchen hob es auf und schob es ihm mit einem breiten Lächeln hinter den Kopf. Dann legte sie noch ein Scheit auf das prasselnde Feuer und ging.

Es war ein kleines, triviales Ereignis, dennoch musste John später, inmitten einer Ansammlung nicht ganz so trivialer Ereignisse, daran denken.

Sein Blick lag auf dem Feuer, dessen Flammen zum Schornstein emporknisterten, als eine Stimme sagte: »Na, wie geht es Ihnen? Möchten Sie, dass jemand Ihnen Ihren Tee einschenkt?«

Er brauchte sich nicht umzuschauen. Selbst wenn er Nadines Stimme nicht erkannt hätte, hätte er ihre Person durch das leise seidige Rascheln ihres Nahens und den weniger schwachen Duft eines teuren Parfums gespürt. Beim Näherkommen setzte sie die Luft in Bewegung, brach sie in kleine Gefühlswellen auf.

»Hallo«, erwiderte er. »Mir geht’s gut. Und danke.«

»Ich könnte meinen Tee hier bei Ihnen trinken«, meinte sie, nachdem sie schon beschlossen hatte, ihn nirgendwo anders zu sich zu nehmen. »Soll ich?«

»Das wäre sehr schön«, erwiderte John. »Ich habe nur das Gefühl, dass ich alles schrecklich durcheinanderbringe. Sie sollten doch bei den anderen Gästen sein, nicht wahr?«

»Warum denn? Hier gibt’s kein ›Sollen‹. Wir machen, was wir wollen. Haben Sie das noch nicht bemerkt?«

»Ich habe bemerkt, dass sie Sie nicht sonderlich tangieren.«

»Natürlich haben Sie das. Das Haus wird im Sinn einer bestens organisierten Freiheit geführt. Man kann verzweifelt flirten oder die Encyclopedia Britannica lesen. Ganz nach Stimmung. Niemand wird sich einmischen oder eine vulgäre Neugier an den Tag legen. Nicht einmal ein Mann mit einem schlimmen Fuß wird mit Aufmerksamkeit belästigt. Aber Sie können ganz sicher sein, dass der Name Foss im Debrett nachgeschlagen wurde.« Er lachte. »Findet man ihn dort?«

»Ich habe einen Onkel, der ein Dutzend trockene Zeilen füllt.«

»Lord Aveling wird die Zeilen nicht trocken finden!«, lächelte Nadine und setzte sich auf den Hocker, auf dem eben noch Harold Taverley gesessen hatte. Zum ersten Mal nahm er ihr recht gewagtes Teekleid mit seinen provokanten Einblicken wahr. Es war ein Kompliment, dass sie diese Fülle subtiler Weiblichkeit an ihn verschwendete. Aber verschwendete sie sie denn? »Der Debrett und die alte Schulkrawatte werden Sie hier übers Wochenende anketten, egal, welche Fortschritte Ihr Fuß macht! Lord Aveling kann kein Land regieren – auch wenn er es gern könnte –, ein Landhaus aber sehr wohl, und für diese Hauspartys lebt er, müssen Sie wissen. Für deren kleine Erregungen – die kleinen Wallungen – die kleinen Aufgeregtheiten – die kleinen Dinge, die dabei geschehen. Manchmal auch große.«

In John regte sich der Wunsch zu fragen: Und wofür leben Sie? Doch er erstickte ihn und fragte stattdessen: »Werden an diesem Wochenende denn große Dinge geschehen?«

Sie betrachtete ihn mit einem längeren fragenden Blick und erwiderte dann: »Würde mich nicht wundern.«

Sie wandte sich um und nickte dem hübschen Hausmädchen zu, das mit einem weiteren hochglanzpolierten kleinen Tablett voller funkelndem gelbem Porzellan erschienen war. Das zweite Tablett wurde neben das erste gestellt. Nadine schaute ihr nach, als sie ging.

»Hübsch, nicht?«, sagte Nadine.

»Sehr«, antwortete John.

Zwei Personen kamen die Treppe herab. Harold Taverley und Anne. Die Spuren der Straße waren entfernt, und beide hatten Hauskleidung angelegt, wobei John auffiel, dass Anne weiterhin Grün bevorzugte. Sie trug ein recht strenges, eng geschnittenes Kleid, das ihre schmale, jungenhafte Gestalt betonte, ohne sie auszubeuten. Ihr dunkles Haar war ordentlich und glatt, dabei leicht gewellt. John erhielt den merkwürdigen Eindruck, als sie herlief, um Nadine zu begrüßen, dass sie sich wohl auf den Augenblick einließ, mit den Gedanken aber doch woanders war.

»Schön, dich wiederzusehen, Nadine«, rief sie aus. »War das letzte Mal nicht in Cannes?«

»Ja – beim Kaffee in den Galeries Fleuries«, erwiderte Nadine. »War der Ritt gut?«

»Herrlich! Du musst meine neue Stute ausprobieren. Sie überspringt einfach alles.«

»Sehr gern. Aber morgen wirst du sie wohl brauchen?«

»Bitte! Aber du kannst Jill nehmen. Sie ist noch da, und du hast sie doch immer gemocht, nicht?« Und an John gewandt: »Reiten Sie? Was macht Ihr Fuß? Oder haben Sie diese Frage schon satt? Ich wohl!«

»Das ist die Strafe, ein verhätschelter Invalide zu sein«, erwiderte John, »und es stört mich nicht im Mindesten. Meinem Fuß geht’s gut, danke. Aber leider nicht gut genug, um mich Ihnen morgen anzuschließen.«

»So ein Jammer«, sagte Anne. »Aber nicht schlimm, wir besorgen Ihnen Puzzles. Geben Sie Bescheid, wenn ich etwas tun kann, ja? Bis später, Nadine. Kommen Sie, Harold.«

Taverley lächelte John zu.

»Wir würden gern bleiben, aber Sie sind ja schon versorgt«, bemerkte er. »Sei gut zu ihm, Nadine.«

Als sie wieder allein waren, runzelte Nadine die Stirn.

»Scheußlicher Mann, dieser Mr. Taverley«, bemerkte sie. »Er ist so fürchterlich nett.«

»Ich mag ihn auch«, erwiderte John. »Ist Nettsein ein Laster?«

»Ja – wie Wasser. Man braucht noch etwas dazu.«

»Ich könnte mir denken, er hat einiges.«

»O ja. Alle Tugenden und den perfekten Off Drive. Und er hasst mich!«

»Aber nein, überhaupt nicht!«

»Woher wollen Sie das wissen?«

John verfärbte sich bei dieser raschen Frage ob seiner Ungeschicktheit. Er beschloss, nicht zurückzuweichen.

»Wir haben über Sie gesprochen«, sagte er. »Schlimm?«

Sie schaute in seine Tasse, sah, dass sie leer war, und füllte sie nach.

»Natürlich nicht«, antwortete sie. »Worüber reden die Leute denn sonst als über andere? Aber sagen Sie mir nicht, was Mr. Taverley über mich gesagt hat. Egal, was es war, er hat es mir bestimmt verziehen, daher müsste ich es ihm auch verzeihen, diesem Kerl!«

Sie wurden unterbrochen. Unvermittelt erschien eine uniformierte Krankenschwester – sogar das brachte Bragley Court zustande – und beharrte auf die Anwendung des Wundbenzins. Wundbenzin beim Tee! Doch die Schwester erklärte unter Entschuldigungen, sie habe jetzt einige Minuten und später eventuell keine mehr.

»Kümmert sie sich um Mrs. Morris?«, erkundigte sich John, nachdem die Schwester seinen Fuß eingerieben hatte und gegangen war.

»Ja«, antwortete Nadine. »Die arme alte Dame. Eigentlich sollte sie tot sein.«

»Sie meinen – die Erlösung?«