Dresden Revisited - Peter Richter - E-Book

Dresden Revisited E-Book

Peter Richter

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Beschreibung

Eine Liebeserklärung an die im Moment unbeliebteste Stadt Deutschlands

Wie weit muss man weg gehen, um von seiner Herkunft nicht noch da eingeholt zu werden, wo man es am wenigsten vermutet? Wäre das heikle Wort Heimat der angemessenere Begriff? Oder wie soll man das nennen, wenn man sich ständig für eine Stadt rechtfertigen muss, in der man schon seit einem Vierteljahrhundert gar nicht mehr wohnt?

Peter Richter arbeitet als Kulturkorrespondent der Süddeutschen Zeitung in New York und wirft in seinem Essay »Dresden Revisited« einen Blick zurück auf seine Geburtsstadt, aber auch auf Deutschland generell. Denn gerade im Rückspiegel zeigt sich, dass das Image einer Heimat, wie bei einem Vexierbild, in sein Gegenteil umschlagen kann. Dresden ist so gesehen eine einzige Kippkarte: Dem Selbstbild als beneidenswerte Symbiose von landschaftlicher Schönheit, Kunstsinn und international besetzten Forschungsinstituten steht vor allem im Westen der Ruf provinzlerhafter Traditionsversessenheit und einer fast schon notorischen Fremdenfeindlichkeit entgegen, und das nicht erst seit Pegida die Postkartenkulisse der Altstadt kapert. Was, wenn beides nicht falsch ist? Und was, wenn der Rest des Landes, selbst wenn er im Moment mit Dresden lieber nichts zu tun haben will, aus der Ferne gar nicht so viel anders wirkt?

Peter Richter schreibt aus einer Doppelperspektive. Er schaut seinen Landsleuten selbst noch vom New Yorker Schreibtisch aus in die aufgewühlte Seele. Gleichzeitig sieht er die Herausforderungen, vor denen Deutschland mit Flüchtlingskrise und Rechtspopulismus steht, bei seiner täglichen Arbeit im politisch heillos zerstrittenen Einwanderungsland USA oft schon vorausgespiegelt.

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Seitenzahl: 152

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Buch:

Wie weit muss man weggehen, um von seiner Herkunft nicht heimgesucht zu werden? Wie soll man das nennen, wenn man sich ständig für eine Stadt rechtfertigen muss, in der man schon seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr wohnt?

Peter Richter arbeitet als Kulturkorrespondent der Süddeutschen Zeitung in New York und wirft in seinem Essay ›Dresden Revisited‹ einen Blick zurück auf seine Geburtsstadt, aber auch auf Deutschland generell. Denn gerade im Rückspiegel zeigt sich, dass das Image einer Heimat, wie bei einem Vexierbild, in sein Gegenteil umschlagen kann. Dresden ist so gesehen eine einzige Kippkarte: Dem Selbstbild als beneidenswerte Symbiose von landschaftlicher Schönheit, Kunstsinn und international besetzten Forschungsinstituten steht vor allem im Westen der Ruf provinzlerhafter Traditionsversessenheit und einer fast schon notorischen Fremdenfeindlichkeit entgegen, und das nicht erst seit Pegida die Postkartenkulisse der Altstadt kapert.

Autor:

Peter Richter, 1973 in Dresden geboren, wurde als Buchautor mit Titeln wie ›Blühende Landschaften‹ und ›Deutsches Haus‹ bekannt. Sein Roman ›89/90‹ wurde für den Deutschen Buchpreis 2015 nominiert. Sein Essay ›Dresden Revisited‹ ging aus einer Rede hervor, die Peter Richter 2016 im Rahmen der renommierten Reihe ›Dresdner Reden‹ am Schauspielhaus Dresden gehalten hat.

Peter Richter

DRESDEN REVISITED

Von einer Heimat, die einen nicht fortlässt

Luchterhand

I

Jetzt bin ich schon wieder da gewesen, in der verrufenen Stadt, dem verschrienen Land.

Dafür, dass ich zur Zeit als Korrespondent einer deutschen Zeitung in den USA arbeite, dafür dass mir gegenwärtig also Dresden, Tennessee, näher liegen sollte (2800 Einwohner) oder Dresden in Ohio (1500) oder das in Texas (noch kleiner) oder wenigstens das »The Dresden« in Los Angeles, eines der traditionsreichsten Restaurants von Hollywood: Dafür treibe ich mich erstaunlich oft wieder in Dresden, Saxony, herum. Meistens vor dem Rechner von New York aus, und manchmal fliege ich auch einfach hin.

Diesmal ging es um eine Rede, die ich dort halten sollte, im Schauspielhaus. Ich hatte schon deswegen zugesagt, weil sich das mit einem Besuch in der Heimat verband. Dabei ist bereits das Wort heikel. Über diese Heimat auch noch eine Rede zu halten, erst recht.

In dem Saal hatte ich immerhin meine erste Oper gesehen, »Hänsel und Gretel« von Humperdinck. Die Hexe war an einem Seil aus dem Schnürboden durch die Luft geflogen gekommen und hatte dabei noch gesungen, außerdem war sie ein Mann. So beeindruckt wie damals als Kind war ich später höchstens noch einmal als Jugendlicher bei den »Rittern der Tafelrunde« von Christoph Hein, Regie Wolfgang Engel, als der junge Mordred, gespielt von Thomas Stecher, den vergreisten Stieseln um König Artus praktisch den Vorwurf machte, ein SED-Politbüro zu sein, auf den Heiligen Gral pfiff und sich stattdessen dem Leben zuwandte. Damit, mit diesem Stück in diesem Theater, war für mich persönlich der Umbruch des Herbstes 1989 losgegangen. Wie bedeutend und revolutionär man sich damals vorgekommen war, allein schon fürs Zuschauen.

Und jetzt sollte ich da stehen und reden.

Aber in welcher Rolle eigentlich?

Die »Dresdener Reden« sind eine Ehrfurcht gebietende Institution. Die ersten stammten von Willy Brandt und Günter Grass. Die letzte, die ich persönlich dort gehört habe, war von Helmut Schmidt. Er sprach damals darüber, was auf die Welt im 21. Jahrhundert zukommen wird und wie sie damit umzugehen habe.

Über so viel Bedeutung und Weitblick verfüge ich natürlich nicht; ich bin nicht einmal in der SPD. Die einzige Qualifikation, die ich für so eine »Dresdner Rede« mitbrachte, bestand im Grunde darin, aus Dresden zu sein. Das war aber inzwischen schon keine Herkunftsangabe mehr, das war im Rest der Bundesrepublik eher eine Diagnose – ein Grund für besorgte Nachfragen, für Mitleid, Hohn, auch Abscheu.

Darum würde es gehen müssen, und darum ging es auch, und währenddessen wurde all das noch viel schlimmer.

Es war das Wochenende von »Clausnitz« und »Bautzen«, von grölenden Mengen vor Bussen und Heimen für Asylbewerber. Die Hamburger Morgenpost titelte »Schandfleck« und hatte auf der Karte der Bundesrepublik Sachsen braun eingefärbt. Was im Internet los war, liegt auf der Hand, und als ich es ein paar Tage später im Hotel mal wieder mit deutschem Fernsehen probierte, kam eine sogenannte Satiresendung, die sich ebenfalls Sachsen – wie in den entsprechenden Redaktionskonferenzen vermutlich die Ansage gelautet hatte – mal gehörig »vorknöpfte«. Menschen schrien in schlecht nachgemachtem Dialekt umher, es war natürlich sehr antifaschistisch, aber es war auch sehr deprimierend. Ich wollte nach Amerika zurück, wo es zwar ebenfalls viel Elend gibt, aber wenigstens keine Gebühreneinzugszentrale. Als ich dann endlich wieder zurück war in New York, pries das deutsche Internet ausgerechnet den ersten »Tatort« der Neuzeit aus Dresden an, und in den habe ich dann natürlich auch reinschauen müssen. (Hier wurde nun wieder, wie damals im Fernsehen der DDR, hochdeutsch geredet und nur von den Hanswurst-Figuren gesächselt, das aber wenigstens richtig.)

Es gibt in den USA mehrere hundert Fernsehprogramme zur Auswahl zuzüglich Sport-Paket und Bezahlsender, man bräuchte Hausarrest, um alle wenigstens einmal einzuschalten. Stattdessen: »Tatort«-Videostream, weil da sachsentümelnde Schlagersänger durch meine Heimatstadt marodieren und das von vielen in den Weiten des deutschen Internets als treffende Beschreibung auch der tatsächlichen Lage dort aufgefasst wird. Ein Freund aus Norddeutschland schickte eine SMS: »Sachsen, das Alabama Deutschlands«.

War ich beleidigt deswegen? Ein bisschen: Die Pointe hatte ich mir selber schon rausgelegt. Nur mit Louisiana oder Mississippi, wegen der Schaufelraddampfer. Aber wenn man den Klang der Dialekte über die verschiedenen Sprachen hinweg vergleicht, ist es tatsächlich so, dass der »Southern Drawl« von Alabama phonetisch am ehesten dem Sächsisch der Dresdner Region entspricht, und das Texas von Deutschland heißt nun einmal bereits Bayern.

Kann also sein, dass ich nicht grundlos eingeladen worden war zu der Rede in Dresden, und vermutlich war dieser Grund tatsächlich der, dass ich von da komme und nie so ganz von dort weggekommen bin, so weit ich mich von der Stadt auch entfernt habe.

Vielleicht ist es auch ganz einfach so, wie das auf den Autorückspiegeln in den USA immer geschrieben steht: »Objects in the rear view mirror may appear closer than they are«, im Rückspiegel erscheinen einem die Dinge näher. In meinem Rückspiegel liegt allerdings auch der ganze Rest von Germany.

Dieses Buch hier enthält deshalb nicht nur das, was ich am Ende in Dresden als Dresdner den Dresdnern erzählt habe, sondern noch ein bisschen mehr, weil es, hoffe ich, auch für diejenigen vielleicht ganz aufschlussreich sein könnte, die sagen, dass sie Dresden, überhaupt Sachsen, schlichtweg nicht verstünden und dieses Unverständnis schon für einen moralischen Standpunkt halten. Denn dass nicht jeder Dresdner zwingend auch ein Deutscher sein muss, ist die eine Sache. Meine These läuft aber darauf hinaus, dass fast alle Deutschen gegenwärtig in gewisser Weise Dresdner sind, ob sie wollen oder nicht. Und die, die nicht wollen, ganz besonders.

II

Vor ein paar Monaten hat mich sogar Tom Hanks nach Dresden gefragt.

Meine Arbeit bringt manchmal Interviews mit Schauspielern mit sich, die von ihren Studios dazu verdonnert werden, Werbung für Filme zu machen, an die sie sich kaum noch erinnern können, weil sie schon im nächsten stecken. Man wird in ein teures Hotel gesetzt, bekommt den Star hereingeschoben, dann läuft die Uhr. Dreißig Minuten gelten als üppig. Aber von meinen dreißig Minuten mit Tom Hanks sprach Tom Hanks zwanzig über Dresden. Über die Wunderlichkeit des Kulturpalastes. Und über die Freuden des Rasens auf der A13.

Was soll man da sagen? Dass man ausgerechnet auf der A13 besser nicht rasen sollte, weil sich die einst als Beute von Sachsen an Preußen gefallenen und folglich verarmten Landstriche links und rechts dieser Autobahn aus den dort so massenhaft wie nirgendwo sonst aufgestellten Radarfallen praktisch ernähren?

Man sagt: »Mr Hanks, wir müssen darüber reden, wie Sie in ›Bridge of Spies‹ die Welt gerettet haben.«

Aber Mr Hanks will stattdessen wissen, wie das war, im Tal der Ahnungslosen aufzuwachsen. Den Begriff hat er wirklich gebracht: »Valley of the Clueless«. Wenn Tom Hanks das sagt, klingt es wie ein Seitental vom Grand Canyon.

Da sitzt man in einer Paar-Tausend-Dollar-Suite im Ritz Carlton hoch über dem Central Park von New York und fühlt sich von seiner eigenen Herkunft, sagen wir: ein bisschen verfolgt.

Tom Hanks ist sehr an der Geschichte des Kalten Kriegs interessiert, weil er als Kind in Kalifornien mit der Angst aufgewachsen war, von uns, aus dem Osten, eine Atombombe aufs Haupt zu kriegen. So hat er mir das jedenfalls erklärt. Hanks schaut daher, wenn er in Deutschland ist, mit der gleichen Faszination auf das, was früher einmal die andere Seite des Eisernen Vorhangs war, wie vor hundertfünfzig Jahren der deutsch-amerikanische Maler Charles Wimar auf die Welt hinter der »Frontier«, der Grenze zur Wildnis im Westen der USA – also mit einem ethnologischen Interesse am gefährlichen Anderen mit dem besonders großen A; in Wimars Fall waren das die Indianer, für Tom Hanks sind es die Ostdeutschen. Auf die Frage, was beide sonst noch verbindet, wird zurückzukommen sein.

Ich hatte ihn nach seinen Plänen gefragt, das Leben von Dean Reed zu verfilmen, des berühmtesten Cowboys der DDR. Immerhin war der Mann in Denver, Colorado, aufgewachsen, bevor er als Sänger, Schauspieler und Sozialist 1973 in den Ostblock wechselte. Den kennt in den USA außer Hanks aber keiner. Den kennt, wer in Dresden aufgewachsen ist. (Antwort: Er wird es wohl nicht machen, genau aus diesem Grund: Es lohnt sich in Hollywood nicht, Filme zu machen, für die sich im Zweifel nur Ostdeutsche einer gewissen Altersklasse interessieren.)

Wenn die strenge Dame von der Filmfirma nicht dazwischengegangen wäre, säßen wir jetzt immer noch im Ritz hoch über New York, und ich würde Tom Hanks Dresden erklären – und zwar in der Ausführlichkeit eines original sächsischen Fremdenführers; er hat schließlich danach gefragt.

Nicht auszuschließen, dass wir irgendwann bei Karl Mickel gelandet wären, dem Dichter. Einer Stelle bei Mickel zufolge liegt das ganze Problem nämlich im Jahr 1482.

Was 1482 los war? Tom Hanks muss man zutrauen, selbst das zu wissen: Damals begannen die Spannungen, die drei Jahre später zur Teilung des Herrschaftsgebiets der Wettiner in eine ernestinische und eine albertinische Linie führten. Mickel schrieb dazu in seinem Großroman Lachmunds Freunde, getarnt als Rollenprosa, Folgendes: »1482 hatte das Kft. Sachsen alle Chancen gehabt, als großer Flächenstaat sein Gewicht in die Waagschale mitteldeutscher, ja europäischer Politik zu werfen. Das unselige Brandenburg-Preußen wäre nicht hochgekommen, die starke Vormacht Sachsen hätte der folgenreichen Barbarei innerer Notdurft und außenpolitischer Wegelagerei von Anfang an die Grenze gesetzt.«

Hätte-hätte liegt im Bette, sagt man in Berlin.

Das beleidigte Hadern mit dem Lauf der Dinge ist eine sächsische Spezialität. Trotzdem: Wenn man sich einmal vorstellt, dass anstelle von Brandenburg-Preußen vielmehr Sachsen »hochgekommen« wäre damals …

Dann wäre Dresden vielleicht heute nicht Peripherie, ganz rechts unten im Osten – und das beschreibt aus der Sicht der Restbundesrepublik oft sowohl die Lage als auch den Ruf. Vermutlich wäre Dresden ohne die damalige Teilung heute nicht mehr als ein Nest an der Elbe oder ein Ortsteil von Meißen. Aber vielleicht, auf welchen Wegen auch immer, wäre es heute vielleicht sogar deutsche Hauptstadt.

Schöne Vorstellung?

Oder eher nicht so?

III

These, beim Blick von außen: Dresden ist im Moment die umstrittenste Stadt im Lande. Ganz sicher aber die zerstrittenste. Und darin ist sie vielleicht dann wiederum tatsächlich repräsentativer, als viele außerhalb von Dresden meinen. Vielleicht nicht unbedingt eine Hauptstadt der Herzen, eher eine der Galle. Vor allem aber ist es nun einmal die Stadt, aus der ich komme, und diese Herkunft lässt mich einfach nicht fort.

Ja, das ist ein Zitat von Erich Kästner, die »notwendige Antwort auf überflüssige Fragen«, und zwar auf die Fragen nach dem Grund, warum er nicht weggegangen ist aus dem Land, in dem seine Bücher verbrannt wurden.

Und nein: Im Original heißt es nicht Herkunft, sondern Heimat – »die Heimat lässt mich nicht fort«. Gegen den Begriff an sich habe ich gar nichts einzuwenden, schon gar nicht, dass in seinem Gefolge so oft die Tümelei angerasselt kommt wie Blechbüchsen, die von lästigen Kindern an der Stoßstange festgebunden wurden. Die muss man eben wieder abschneiden. Aber mich persönlich hat die Heimat ja weggelassen. Abgesehen davon kann man sie in sich tragen, wenn man fortgeht, sie kann einem auch fremd werden, und man kann woanders eine finden. Herkunft ist das Seil, das spannt.

Vielleicht dient es deshalb auch so vielen als eine Art Ariadnefaden beim Weg nach draußen. Ich habe mit Kollegen zusammengearbeitet, die die Welt gern als Außenbezirk von München oder Düsseldorf erklärt haben, und zwar dem München wie dem Düsseldorf der Achtziger. Einer war sogar darunter, der unbeirrt das Saarland für die Mitte aller Dinge nahm. Es wirkte manchmal ein bisschen idiosynkratisch, diente aber erstaunlich gut der Wahrheitsfindung. Mir hilft Dresden als Schlüssel zu Tom Hanks.

Hier soll es jetzt um die Frage gehen, ob einem umgedreht auch Tom Hanks – im Sinne von: Amerika, die Fremde, der Westen, die große weite Welt – ein Schlüssel sein könnte zu Dresden. Das Bild der Heimat ist das Thema. Und warum es immer, grundsätzlich, schief hängt.

IV

Wenn ich bei der Arbeit die Augen mal vom Bildschirm nehme, schaue ich auf die Backyards von Brooklyn, die typischen guillotinenartigen Schiebefenster, einen typischen New Yorker Wasserspeicher und meistens auch einen typischen New Yorker Himmel: von einem Blau, als hätte jemand Badezusatz reingekippt. Auf den Stromleitungen sitzen Papageien, die mal irgendwer aus Brasilien eingeschleppt und dann ausgesetzt hat, und an den Baumstämmen rasen Eichhörnchen hoch und runter, die gar keine Eichhörnchen sind, sondern vielmehr Baumratten, die die eigentlichen Eichhörnchen auf dem Gewissen haben und nun das üblicherweise den Eichhörnchen zustehende Niedlichgefundenwerden gleich mit abgreifen. Es ist nun einmal ein hartes Land, dieses Amerika. Durch die bemerkenswert dünnen Mauern kann man manchmal schlimme Schimpfwörter aus dem Munde von Nachbarn hören, die einen eben noch vor dem Haus auf der Straße angestrahlt haben wie frisch kandierte Äpfel: »Hiiiii, how aaare you?«

»Fiiiiine! How ’bout you?«

Schlichtere unter den Besuchern aus Europa nennen diese öffentliche Grinsekatzigkeit oberflächlich; ich halte sie für eine ererbte Überlebenstaktik in einem Land, das auf Schusswaffen gründet. Es ist zumindest ganz schön, es einmal so herum zu erleben, wenn man selber aus einer Weltgegend kommt, in der die Leute es eher umgedreht halten, also auf die Straße gehen, um sich gehen zu lassen.

Aber manchmal fällt der Blick, wenn ich am Schreibtisch sitze, auch auf das hier.

Evelyn Richter: Brühlsche Terrasse [1]

Eine Einladungskarte für die Ausstellung zum 80. Geburtstag der Fotografin Evelyn Richter 2010 im Dresdner Leonhardi-Museum. Wir sind übrigens nicht verwandt.

Ich bin leider mit vielen Künstlern nicht verwandt, die ebenfalls Richter heißen. Der Name ist einfach nirgendwo so häufig wie rund um Dresden, was vielleicht daran liegt, dass dort die meisten Dorfgasthöfe bis heute »Erbgericht« heißen. Wo die Leute beim Bier zusammenkamen, wurde auch der Streit geregelt; eigentlich ein bedenkenswertes Konzept.

Diese Einladungskarte hatte sich irgendwann in meinem Büro eingenistet, später ist sie in einer Kiste mit nach Amerika verschifft worden, und jetzt hängt sie seit ein paar Jahren in Brooklyn an der Wand.

Es hängt dort alles Mögliche, das sich eben so ansammelt bei Korrespondenten in Amerika.

Zum Beispiel der erste selbst geschossene »Bad Guy« aus einer Shooting Range in Colorado. Die Amerikaner schießen lieber auf sogenannte »Target Posters« mit bedrohlichen Figuren darauf als auf schnöde Zielscheiben. Das sieht vielleicht ein bisschen makaber aus, aber es soll niemand sagen, dass ich kulturell nicht anpassungsfähig wäre an mein Gastland. Außerdem habe ich Kunstgeschichte studiert und interessiere mich schon deswegen für den Umgang mit Bildern, auch und gerade, wenn er Schusswaffen beinhaltet.

Das Foto von Evelyn Richter ist da auf den ersten Blick friedvoller. Auf den zweiten Blick jedoch erzählt es einen ganzen Krieg. Das sehe ich aber auch erst, wenn ich mich zu einem zweiten Blick auf die Trümmer der Frauenkirche zwinge, die da aus dem Dunst im Hintergrund ragen, zu einem Blick, der darin das Symbol für den sogenannten Opfermythos der Stadt Dresden erkennt, von dem immer viel die Rede ist. Dieser Opfermythos, vor allem der Vorwurf, dass er ein Aufrechnenwollen der Toten beinhalte, gehört nämlich zu den Dingen, die mir erst im Weggehen offenbart wurden.

Dabei stimmt alles, was man sagt: Immer wieder bekam man von den Phosphorbomben erzählt, deren Feuer auch im kochenden Wasser der Elbe nicht zu löschen gewesen seien, und von den amerikanischen Tieffliegern, die auf die Fliehenden geschossen hätten, von all diesen Dingen, für die Historiker später keine Belege fanden. Oft beschworen wurde auch die ungeheure Zahl der Toten, von der man heute sagt, dass ihr schon zu NS-Zeiten aus Propagandagründen eine Null angehängt worden war. Und natürlich wurde immer auch versucht, diesen Horror ideologisch zu bewirtschaften.

Aber hat deswegen irgendwer im Ernst einen Groll auf die »angloamerikanischen Imperialisten« entwickelt, der nicht von dem »Made in England« auf den Matchbox-Autos aus dem Intershop wieder neutralisiert worden wäre? Oder durch die Fernsehabenteuer von Dick Turpin und seinem Knappen Swiftnick oder spätestens durch die Herkunft der Musik, um die es einem später ging? Eigentlich wusste doch jedes Kind: Das Alte Dresden hatten die Nazis auf dem Gewissen und die, die sie gewählt hatten. Dem Kind war nur noch nicht klar, dass das zum Teil dieselben Leute waren, die es nachher am wehleidigsten darüber jammern gehört hat. Nazis waren damals in der Wahrnehmung des Kindes so fern und jenseits der gut bewachten Grenzen wie sonst nur noch die Engländer und die Amerikaner.

Auf den dritten Blick erweist sich die Frauenkirche inzwischen aber auch ganz buchstäblich als ein deutscher lieu de mémoire, der mir für die Gegenwart fast noch zentraler erscheint als das Brandenburger Tor. Hier ist Helmut Kohl im Dezember 1989 von einer fahnenschwenkenden Menge die umgehende Aufnahme in Staatsgebiet, Währung und Sozialsysteme der Bundesrepublik in Auftrag gegeben worden. Kohl hat einmal gesagt, dass ihm in Dresden deutlich geworden sei, was für ein Druck auf dem Kessel war damals: »Die Sache ist gelaufen« war seine Erkenntnis, heißt es in den Chroniken, schon auf dem Weg vom Flughafen Klotzsche in die Stadt. Und er hat ja auch, wie man so sagt: geliefert. Das war, glaube ich, die allerdirekteste Form politischer Willensübermittlung, die es jemals gab. Ob es auch die allerdemokratischste war, sei dahingestellt. Aber sie hat in Dresden offensichtlich gewisse Vorstellungen hinterlassen, wie so etwas zu laufen habe.