Dschungelgefängnis - Franco Pereira - E-Book

Dschungelgefängnis E-Book

Franco Pereira

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Beschreibung

"Mein Name ist Marcos Flores, ich bin der Kommandant hier." Seine Stimme schallte über den Hof. "Ihr befindet euch im Frauengefängnis Esperanza, wo ihr eure Strafe absitzen oder auf euren Prozess warten werdet. Dies ist kein Gefängnis wie das berüchtigte Palmasola, wo die Gefangenen sich selbst überlassen sind, wo Anarchie herrscht und Mord und Totschlag an der Tagesordnung sind. Hier herrscht Disziplin, und es ist meine Aufgabe, diese Disziplin durchzusetzen. Wer sich unauffällig verhält und meine Anweisungen und die der Wachen sofort und widerspruchslos befolgt, hat nichts zu befürchten. Wer nicht …" Flores machte mit dem linken Arm eine Geste, die den halben Hof umschloss. "Seht euch an, wie hier mit Aufrührerinnen verfahren wird!" Während Tejeda stehen blieb und die gefesselten, neu angekommenen Frauen im Auge behielt, schritt Flores zu der ersten Delinquentin. Nur ihr Kopf ragte aus einer in die Erde eingelassenen Betonröhre, deren Durchmesser es der Frau gerade erlaubte, darin mit eng an den Leib gepressten Armen zu stehen. Die Röhre war sogar so eng, dass die Frau auch dann stehen bleiben würde, wenn sie das Bewusstsein verlöre. Ihre Augen waren halb geschlossen, das Gesicht vom Nachmittag in der gnadenlosen Sonne gerötet. Die Haut an ihrer Nase hing in Fetzen hinunter, und sie trug einen ledernen Knebel, der ihr kaum mehr als ein Stöhnen erlaubte. "Diese hier hat einen der Wärter tätlich angegriffen. Sie wird es sich sehr sorgfältig überlegen, bevor sie dieses Vergehen wiederholt." Er schritt einige Meter weiter. Eine nackte Frau mit schulterlangen Haaren hing mit weit über dem Kopf gefesselten Händen an einem Pfahl. Eine eiserne Stange, die in Fußschellen endete, spreizte ihre Beine, der Sand dazwischen war dunkel vor Nässe. Über Oberschenkel, Bauch und Brüste zogen sich ein Dutzend Striemen, deren Farbspektrum von feuerrot bis tiefviolett reichte. "Sie hat über das Essen geschimpft und ihre Mitgefangenen aufgefordert, in einen Hungerstreik zu treten. Nun wird sie einen dreitägigen Hungerstreik in einer lichtlosen Einzelzelle antreten, sobald sie losgebunden wird." Ein kurzer Seitenblick zu den Neuzugängen verriet Flores, dass die Demonstration ihren Zweck erfüllte. Sogar über die Entfernung von mehr als 20 Metern hinweg bemerkte er, dass einigen die Knie zitterten. Und die Deutsche war inzwischen noch bleicher als die Marmorstatue, mit der er sie verglichen hatte. Sie sah aus, als stünde sie kurz vor einer Ohnmacht. Unschönes Ende einer heißen Urlaubsromanze: Hätte die naive junge Deutsche Anita Wachter sich nicht so wohlig den Liebeskünsten des charmanten, stets gut gelaunten Harry Weber hingegeben und wäre sie ihm nicht vertrauensselig nach Bolivien gefolgt, wäre sie nicht als vermeintliche Mittäterin eines Drogendeals hier gelandet, am Ende aller Zivilisation und Hoffnung: im Dschungelgefängnis. "Schlimmer kann es nicht mehr werden", hatte sie während der langen Fahrt in Ketten gedacht. Was für ein furchtbarer Irrtum …

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Dschungelgefängnis

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Roman von

Franco Pereira

MARTERPFAHL VERLAG

© 2013 (Paperback) und 2016 (Ebook)

by Marterpfahl Verlag Rüdiger Happ,

Postfach 8, D-72147 Nehren

www.marterpfahlverlag.com

[email protected]

Omnia iura reservantur – alle Rechte vorbehalten

Einbandgestaltung: Sibil Joho,

unter Verwendung eines Fotos

von Ulrich Grolla

Ebook-Produktion:

ISBN 978-3-944145-11-2 (Paperback)

ISBN 978-3-944145-55-6 (Ebook)

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

I

Bei jedem Schlagloch, über das die Räder des zum Gefangenenwagen umgebauten Viehtransporters rumpelten, wurde Anita trotz ihrer Fesseln einige Zentimeter in die Höhe geschleudert und fiel schwer auf die rissigen Bohlen zurück. Seit Stunden schon fühlten sich ihr Po und die Unterseiten ihrer Schenkel taub an, ganz im Gegensatz zu ihrem Rücken, der bei jedem Stoß Kaskaden des Schmerzes durch ihren ganzen Körper sandte.

Wie lange noch?, fragte sie sich mindestens zum tausendsten Mal.

Anita und die anderen fünf Frauen waren noch bei Dunkelheit aus ihren Zellen im Gefängnis von Santa Cruz, der Hauptstadt des gleichnamigen bolivianischen Regierungsbezirks, getrieben worden. Nackt hatte man sie wie Herdenvieh in den kleinen LKW gescheucht und dort in halb sitzender, halb liegender Stellung angekettet. Dann hatte die schlimmste Fahrt in Anitas zweiundzwanzigjährigem Leben begonnen.

Mittlerweile bildeten die Sonnenstrahlen, die ihren Weg durch die Ritzen der hölzernen Seitenwand des Transporters fanden, einen flachen Winkel zum Boden. Anita schätzte, dass sie seit zehn Stunden unterwegs waren. Es hatte nur einen einzigen längeren Halt gegeben, am Mittag, bei dem einer der drei bis an die Zähne bewaffneten Begleiter den Frauen Wasser eingeflößt hatte. Zu essen gab es nichts, man befreite sie nicht von ihren Fesseln und ließ sie auch nicht aussteigen. Jetzt, Stunden später, stank der Wagen wie eine Jauchegrube.

Wohin auch immer man uns bringt, dachte Anita, schlimmer kann es nicht mehr werden!

Die meisten ihrer Leidensgefährtinnen hielten die Augen geschlossen und dösten vor sich hin. Die Hitze, die in dem Laderaum herrschte, und die ausgedörrten Kehlen verhinderten eine Unterhaltung. Anita schätzte vier der Frauen auf 25 bis 30 Jahre, nur eine schien etwas älter, um die 40; sie trug eine wallende schwarze Löwenmähne. Anita war die einzige Blonde im Wagen und die einzige Ausländerin. Zum Glück sprach sie gut genug spanisch, um sich verständlich machen zu können, und sie verstand auch das meiste.

Alle saßen an die Seitenwände gelehnt und mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden des Laderaums, und zwar jeweils einander gegenüber, so dass sich ihre nackten Körper nicht berührten. Die Fußgelenke steckten in eisernen Klammern, die an einer Stange in der Mitte der Ladefläche befestigt waren. Die Handgelenke wurden durch stählerne Doppelschellen fest aneinandergepresst, die ihrerseits durch eine kurze Kette mit der Stange verbunden waren. Die Frauen konnten daher nicht einmal ihre bloßen Brüste berühren, geschweige denn ihre Hände zu den trockenen Lippen führen.

Ein Stoß durchfuhr den Wagen und alle schrien auf. Dreifaches Gelächter drang aus dem Führerhaus. Doch dann glitt der Transporter beinahe erschütterungsfrei über die Straße, er musste einen relativ neuen Streckenabschnitt erreicht haben.

Anita wandte den Kopf zur Seite und spähte durch eine der Ritzen. Bislang war die Straße durch eine mit Dschungel bewachsene Ebene verlaufen, die nur selten durch kleinere Ansiedlungen unterbrochen wurde, doch nun schoben sich dunkel bewaldete Höhenrücken zu beiden Seiten an die Straße heran. Bedeutete dies, dass sich der Wagen seinem Ziel näherte? Anita war sicher, diese Tortur keine weitere Stunde mehr durchhalten zu können, und die eingefallenen und schweißglänzenden Gesichter der anderen Frauen bewiesen, dass diese ebenfalls die Grenze ihrer Leidensfähigkeit erreicht hatten.

Und dann hielt der Wagen an. Gedämpfte Stimmen erschollen, gefolgt von einem langgezogenen Knarren. Der Kleinlaster setzte sich wieder in Bewegung, fuhr aber nur noch im Schritttempo. Anita wandte den Kopf nach links, in Fahrtrichtung, und sah hohe Mauern, bekränzt durch rostigen Stacheldraht und Glasscherben, die in der tief stehenden Sonne rotgolden blitzten. Dann ein zweiflügeliges Tor, das sie durchquerten. Noch eine scharfe Linkskurve, und der Wagen hielt abermals an. Der Motor verstummte.

Anita schloss die Augen und ließ sich mit einem Seufzer an die Seitenwand zurücksinken.

Vorbei! Es ist vorbei!

Sie wollte nur noch schlafen, in einem Bett, das nicht andauernd durchgeschüttelt wurde. Frei von Fesseln. Nicht einmal den Hunger, der in den vergangenen Stunden ihren Magen hatte schrumpfen lassen, spürte sie in diesen Augenblicken. Nur Erleichterung, dass die Fahrt ein Ende hatte.

Die Doppeltür des Laderaums öffnete sich, und eine orangefarbene Sonne schien Anita ins Gesicht. Sie blinzelte. Etwas klickte, dann zog einer der Transportbegleiter die Eisenstange in der Mitte des Bodens heraus. Die Fußfesseln, nicht mehr als hufeisenförmige Metallteile mit Löchern für die Stange an beiden Enden, fielen und die Frauen zogen unter Schmerzenslauten ihre Beine an und streckten sie wieder.

Die Erste stieg aus, eine vielleicht 25-jährige Schwarzhaarige mit dunklem Teint und einem schmallippigen Mund. Der Wärter packte sie grob um die Leibesmitte und setzte sie auf dem Erdboden ab. Wenn sie sich mit ihren immer noch gefesselten Händen nicht auf der Ladefläche abgestützt hätte, wäre sie wohl zusammengebrochen.

Ein zweiter Mann erschien, mit grauer Uniform – keiner der drei Männer, die den Transport begleitet hatten. In einem Gürtelholster steckte ein Schlagstock. Über seine vorgereckten Arme hing ein Bündel Ketten, die in Stahlringen endeten.

Oh nein!, dachte Anita. Schon wieder Fesseln!

Offensichtlich war man hier nicht bereit, das kleinste Risiko einzugehen, auch wenn es sich bei den Gefangenen um nackte und hilflose Frauen handelte.

Oder geht es nur darum, uns zu demütigen?

Mit pochendem Herzen beobachtete sie, wie der Wärter dem anderen eine der Ketten abnahm und sich hinter der Schwarzhaarigen bückte. Anita konnte nicht sehen, was er tat – sie war die Zweitletzte im Wagen –, aber sie nahm an, dass er die Füße der Frau fesselte. Dann schloss er die Handschellen auf, hängte diese über einen langen und rostigen Nagel an der Innenseite der Tür und zog die Arme der Frau auf ihren Rücken, noch bevor diese Zeit gehabt hatte, sich die misshandelten Gelenke zu massieren. Die an der Kette befestigten Handschellen schlossen sich klickend. Der Wärter wies zur Seite, und mit komisch anzusehenden Trippelschritten wackelte die nackte Frau aus Anitas Sichtbereich.

Mit den Nächsten wurde ebenso verfahren.

Als die Reihe an Anita war, robbte sie zum Rand des Laderaums und versuchte erst gar nicht, sich gegen die Hände des Wärters zu wehren, der sie wie alle anderen heraushob und dabei wie zufällig ihre linke Brust quetschte. Sie biss sich auf die Lippen und senkte den Blick. Es war keineswegs das erste Mal seit ihrer Verhaftung vor drei Wochen, dass man sie berührte. Sie hoffte nur, dass es bei solchen »versehentlichen« Berührungen blieb und nicht noch Schlimmeres daraus erwuchs.

Die vorletzte Kette. Eine raue, kräftige Hand schloss sich um Anitas linken Unterschenkel, dann klickte es rasch hintereinander zweimal. Erschrocken stellte sie fest, dass die beiden Fußschellen nur durch eine höchstens zehn Zentimeter lange Kette verbunden waren. Das erklärte die Trippelschritte der anderen Frauen. Eine halbwegs normale Gangart würde damit völlig unmöglich sein.

Anitas Handfesseln fielen, und ungebeten legte sie die Hände hinter dem Rücken zusammen. Sie wollte dem Mann keinen Vorwand zu weiteren Begrapschungen liefern. Doch die Verbindungskette zwischen Hand- und Fußschellen war so kurz, dass Anita, die mit 1,75 Meter größer war als die meisten Bolivianerinnen, den Rücken durchdrücken musste, damit ihr die Fesseln nicht schmerzhaft in die Gelenke schnitten.

Mit gebeugten Knien, unnatürlich gestrafftem Oberkörper und vorgereckten Brüsten gesellte sie sich zu den anderen Frauen, die auf Weisung eines weiteren Grauuniformierten in einer Linie Aufstellung genommen hatten.

Erst jetzt kam Anita dazu, sich in dem quadratischen Gefängnishof umzusehen. Sie öffnete den Mund zu einem Laut des Entsetzens, und sie fühlte, wie die Beine unter ihr nachzugeben drohten.

Schlimmer kann es nicht mehr werden, hatte sie während der Fahrt gedacht.

Was für ein furchtbarer Irrtum …

II

Marcos Flores hatte die Ankunft des Gefangenentransports vom Fenster seines Büros im ersten Obergeschoss des Hauptgebäudes beobachtet. Jetzt stand er vor dem Spiegel, rückte seine Uniform zurecht und strich sich durch die beinahe täglich lichter werdenden Haare. Als Kommandant des Frauengefängnisses »Esperanza« – »Hoffnung« – legte er Wert auf eine untadelige Erscheinung in jeder Situation.

Es klopfte. Flores hatte das »Herein!« kaum ausgesprochen, als Leutnant Pablo Tejeda eintrat, strammstand und salutierte. Flores nickte dem schnauzbärtigen Mann zu, Tejeda nickte kaum merklich zurück, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg in den Hof. Worte waren zwischen dem Kommandanten und seinem Stellvertreter nur noch selten nötig. Wenn man sechs Jahre auf einem gottverlassenen Dschungelposten zusammenarbeitet und dabei aufeinander angewiesen ist, kennt man sich und weiß, auf wen man sich verlassen kann und auf wen nicht. Flores vertraute Tejeda blindlings. Dieses Vertrauen wurde auch nicht durch gewisse Neigungen Tejedas erschüttert, vor denen Flores den Blick verschloss.

Sechs Jahre!

Zu Beginn hatte Flores noch mit seinem Schicksal gehadert, war beinahe zum Alkoholiker geworden über seine Wut auf die Versetzung, die seine Vorgesetzten als »Beförderung« verbrämt hatten – jene Vorgesetzten, die sich aus Angst vor der DEA, der US-amerikanischen Drogenbekämpfungsbehörde, in die Hosen machten. Doch im Lauf der Jahre war seine Wut stumpfer Resignation gewichen. Ihm wurde klar: Der einzige Weg zurück in die Zivilisation – falls es überhaupt einen gab –, war jener exakter Pflichterfüllung. Mit 46 Jahren war es noch nicht zu spät für einen Schreibtischposten. Es musste nicht unbedingt in La Paz oder Santa Cruz sein, eine der Provinzhauptstädte hätte ihm schon genügt, vielleicht Cochabamba, wo seine Schwester verheiratet war.

Sie traten aus der Kommandantur, Tejeda zu Flores’ Rechten und stets einen Schritt hinter ihm. Während sie auf die Phalanx der sechs nackten Neuzugänge zuschritten, die von zwei Wachen flankiert wurden, glitt der Blick des Kommandanten über den weiträumigen Hof, dessen Boden aus festgestampfter Erde im Licht der Abendsonne eine rotbraune Farbe angenommen hatte.

Wie stets hatte Flores den Tag der Ankunft neuer Häftlinge ausgewählt, um die im Lauf der letzten Wochen verhängten Bestrafungen vorzunehmen. Er war kein Anhänger sinnloser Grausamkeit, aber die Disziplin unter den gefangenen Frauen musste unter allen Umständen gewahrt werden, und eines der Mittel zu diesem Zweck war es, sie von Anfang an wissen zu lassen, was ihnen drohte, wenn sie sich nicht an die Regeln – seine Regeln – hielten.

Etwa fünf Meter vor den gefesselten Frauen, die ihm mit stumpfen Blicken aus von den Strapazen der Fahrt gezeichneten Gesichtern entgegensahen, blieb Flores stehen und musterte sie. Der übliche Abschaum, keine Frage, nicht einmal der Mühe wert, sich ihre Akten näher anzusehen. Mit einer Ausnahme: die blonde Ausländerin, die mit aufgerissenen Augen auf den Kopf der Delinquentin starrte, der ein Stück entfernt aus der Erde ragte. Eine Deutsche, wenn er sich recht erinnerte. Ihre helle Haut ließ sie zwischen den Bolivianerinnen wie eine Marmorstatue erscheinen, mit festen und spitzen Brüsten und einem Flaum zwischen den Beinen, so kurz und durchscheinend, als sei ihr Schoß erst vor Kurzem rasiert worden. Und groß war sie, mindestens einen halben Kopf größer als er selbst. Er musste achtgeben, sich ihr nicht direkt gegenüberzustellen, das könnte die Disziplin untergraben.

Er begann seine Ansprache.

»Mein Name ist Marcos Flores, ich bin der Kommandant hier.« Seine Stimme schallte über den Hof. Auch die Blonde sah nun in seine Richtung. »Ihr befindet euch im Frauengefängnis Esperanza, wo ihr eure Strafe absitzen oder auf euren Prozess warten werdet.«

Er musterte jede Einzelne mit einem stechenden Blick.

»Dies ist kein Gefängnis wie das berüchtigte Palmasola, wo die Gefangenen sich selbst überlassen sind, wo Anarchie herrscht und Mord und Totschlag an der Tagesordnung sind. Hier herrscht Disziplin, und es ist meine Aufgabe, diese Disziplin durchzusetzen. Wer sich unauffällig verhält und meine Anweisungen und die der Wachen sofort und widerspruchslos befolgt, hat nichts zu befürchten. Wer nicht …« Flores machte mit dem linken Arm eine Geste, die den halben Hof umschloss. »Seht euch an, wie hier mit Aufrührerinnen verfahren wird!«

Während Tejeda stehenblieb und die Frauen im Auge behielt, schritt Flores zu der ersten Delinquentin. Nur ihr Kopf ragte aus einer in die Erde eingelassenen Betonröhre, deren Durchmesser es der Frau gerade erlaubte, darin mit eng an den Leib gepressten Armen zu stehen. Die Röhre war sogar so eng, dass die Frau auch dann stehen bleiben würde, wenn sie das Bewusstsein verlöre. Ihre Augen waren halb geschlossen, das Gesicht vom Nachmittag in der gnadenlosen Sonne gerötet. Die Haut an ihrer Nase hing in Fetzen hinunter.

Und sie trug einen ledernen Knebel, der ihr kaum mehr als ein Stöhnen erlaubte.

»Diese hier, Häftling Nummer 7248, hat einen der Wärter tätlich angegriffen. Sie wird es sich sehr sorgfältig überlegen, bevor sie dieses Vergehen wiederholt.«

Er schritt einige Meter weiter. Eine nackte Frau mit schulterlangen Haaren hing mit weit über dem Kopf gefesselten Händen an einem Pfahl. Eine eiserne Stange, die in Fußschellen endete, spreizte ihre Beine, der Sand dazwischen war dunkel vor Nässe. Über Oberschenkel, Bauch und Brüste zogen sich ein Dutzend Striemen, deren Farbspektrum von feuerrot bis tiefviolett reichte.

»Häftling Nummer 9307. Sie hat über das Essen geschimpft und ihre Mitgefangenen aufgefordert, in einen Hungerstreik zu treten. Nun wird sie einen dreitägigen Hungerstreik in einer lichtlosen Einzelzelle antreten, sobald sie losgebunden wird.«

Ein kurzer Seitenblick zu den Neuzugängen verriet Flores, dass die Demonstration ihren Zweck erfüllte. Sogar über die Entfernung von mehr als 20 Metern hinweg bemerkte er, dass einigen die Knie zitterten. Und die Deutsche war inzwischen noch bleicher als die Marmorstatue, mit der er sie verglichen hatte. Sie sah aus, als stünde sie kurz vor einer Ohnmacht.

Er ging zu den letzten beiden Delinquentinnen.

»Häftlinge Nummer 9076 und 6844. Während diese hier mit ihren Reizen einen Wärter ablenkte, versuchte die andere, seinen Schlagstock zu stehlen.«

Die beiden nackten Frauen waren ebenso gefesselt wie die Neuzugänge, mit eisernen Hand- und Fußschellen, die hinter dem Rücken mit einer kurzen Kette verbunden waren. Zusätzlich trugen sie Halseisen, deren zwei Meter lange Ketten in Bodenhöhe an einem Betonpfahl befestigt waren. Sie lagen nebeneinander, mit angezogenen Knien, und hatten nicht einmal aufgesehen, als Flores zu ihnen getreten war. Das änderte sich sofort, als er sich zu einem Futtertrog bückte, knapp außerhalb der Reichweite der beiden. Flores nahm ein vertrocknetes Stück Brot in die Hand und wog es prüfend. Die Frauen wälzten sich herum und folgten seinen Bewegungen mit aus den Höhlen quellenden Augen.

»Sie sind die besten Freundinnen«, sagte er mit ironischem Unterton, »aber beide haben seit gestern Morgen nichts mehr gegessen. Sehen wir mal, was geschieht …«

Er warf das Brot in Richtung der Frauen. Da sie nicht mit den Händen danach greifen konnten, hatten sie keine andere Möglichkeit, als darauf zuzurobben und zu versuchen, es mit dem Mund zu packen. Eine der beiden – eine Brünette, von deren Lockenfrisur nach einem Tag im Gefängnishof kaum etwas übrig geblieben war – erreichte es zuerst, biss hinein und begann sofort zu kauen. Doch da war die andere, eine Schwarzhaarige mit vollen, schmutzverkrusteten Brüsten, bereits heran und rammte die Oberseite ihres Kopfes in das Gesicht der Brünetten. Die ließ den Rest des Brotes mit einem Aufschrei los. Blut schoss aus ihrer Nase und ihrem Mund. Die Schwarzhaarige kümmerte sich nicht darum, sondern nutzte die Gelegenheit, um das Brot mit den Zähnen zu packen und davonzukriechen, so schnell es ihre Fesselung erlaubte. Während die Brünette vor Schmerzen heulte, verschlang die andere den Rest des Brotes mit solcher Gier, dass sie von einem Hustenanfall geschüttelt wurde.

Abschaum!, dachte Flores. Nicht besser als Tiere!

»Beginnend mit heute Abend«, fuhr er fort, »werden sie einen Monat in Einzelhaft verbringen.«

Nach einem letzten, verächtlichen Blick auf die beiden Frauen kehrte Flores langsam zurück zu seinem ursprünglichen Platz vor den Neuen. Er ließ sich nicht anmerken, welche Genugtuung ihm die angsterfüllten Blicke bereiteten, die ihm folgten.

»Das sind nur einige der Strafen, die Aufsässigen hier drohen. Und falls jemand an Flucht denkt: Das Lager ist von Dschungel und Bergen umgeben, und die einzige Zufahrtsstraße wird bewacht. Es gibt eine Menge wilder Tiere hier. Von Jaguaren, Pumas und Ozelots will ich gar nicht reden, aber Giftschlangen sind oft nur fingerlang und so gut wie unsichtbar. Ein einziger Biss, nicht schmerzhafter als der Stich eines Moskitos, kann zu einem schrecklichen Tod führen. Und dann sind da noch die Pekaris. Kaum jemand kann sich vorstellen, wie gefährlich diese Wildschweine sind. Sie sind äußerst aggressiv und haben Zähne wie Raubtiere, die sie sich gegenseitig schärfen. Sie jagen in Gruppen und können einen Menschen in Sekundenschnelle zerfleischen. Ich habe das selbst gesehen.«

Flores’ Blick wich nicht von den Frauen. Trotz ihrer Erschöpfung, dachte er, haben sie noch genug Energie, um zuzuhören. Das ist gut. Sie werden kein Wort vergessen.

»Aber jene, die auf der Flucht sterben, können sich trotz allem glücklich schätzen«, fuhr er fort. »Werden sie nämlich wieder eingefangen, wird ihre Strafe nicht nur verdoppelt. Sie werden die nächsten drei Monate in Einzelhaft verbringen, nackt und mit Händen und Füßen an die Wand des feuchtesten und tiefsten Lochs geschmiedet, über das Esperanza verfügt.« Er lächelte drohend. »Wenn sich die eine oder andere von euch dafür interessiert, wie es da unten aussieht, wird Leutnant Tejeda hier sie einmal hinunterführen. Vorausgesetzt, sie erträgt den Gestank, der dort herrscht.«

Er fixierte die Deutsche. Als sie seinen Blick bemerkte, schlug sie die Augen nieder. Ihre Lippen bebten, und dann löste sich eine Träne von ihrem linken Auge und lief über die von Schweiß und Schmutz verkrustete Wange.

Wut flammte in Flores auf. Was hatte diese Nutte mit der rasierten Möse erwartet? Dass sie hier eine Extrawurst serviert bekäme? Diese Ausländerinnen glaubten, sich alles erlauben zu können, dachten wohl, bolivianische Gesetze gälten nicht für sie.

Nicht mit mir! Ich werde ein besonderes Auge auf die Deutsche haben – oder sogar anderthalb. Beim ersten Vergehen, so gering es auch sein mag, werde ich sie als warnendes Beispiel benutzen.

Am besten war es wohl, sie sich noch an diesem Abend, gleich nach der Einkleidung, vorzuknöpfen und ihr Weltbild geradezurücken.

Ja, dachte er, ich werde Tejeda einen entsprechenden Befehl geben …

III

Wie in einem Albtraum wankte Anita in einer Reihe mit den anderen Neuankömmlingen hinter dem Leutnant her. Am Eingang des wuchtigen Steingebäudes, das die ganze Breite des Hofs einnahm, wandte sie sich noch einmal um. Der Kommandant, der trotz seiner geringen Größe, der Halbglatze und denn angegrauten Schläfen auf Anita wie ein fleischgewordener Dämon wirkte, stand immer noch an Ort und Stelle und starrte vor sich hin.

Dann verschlang sie das Gebäude. Nach der Hitze draußen hatte Anita das Gefühl, einen Eiskeller zu betreten, oder besser eine Gruft, denn es war so dunkel, dass sie im ersten Moment kaum etwas erkennen konnte. Modrige Luft füllte ihre Lungen, und die Kälte des Steinbodens fraß sich in ihre sandverkrusteten Sohlen.

Sie bemühte sich, das, was sie draußen gesehen hatte, aus ihren Gedanken zu verdrängen, doch es gelang ihr nicht. Sie wusste nicht, was sie mehr erschreckt hatte: die hilflos in der Röhre steckende Frau, deren Kopf der glühenden Sonne preisgegeben war, die Frau am Pfahl, deren Brüste die Spuren einer Peitsche trugen, oder die beiden, die sich wie Tiere um etwas zu essen rissen. Flores’ sachliche Erläuterungen, vorgetragen ohne die Spur einer Emotion, hatten das Grauen noch verstärkt.

11000 Kilometer trennten Anita von ihrer Heimat, aber ebenso gut hätte sie sich auf einem anderen Planeten befinden können – oder in einer anderen Zeit: Was hier vor sich ging, passte eher ins Mittelalter als ins 21. Jahrhundert.

Und hier soll ich auf meinen Prozess warten? Wie lange kann das dauern? Eine Woche oder gar einen Monat?

Sie konnte sich nicht vorstellen, in diesem Gefängnis – »Hoffnung«! Was für ein hohntriefender Name! – einen ganzen Monat zu überstehen, ohne den Verstand zu verlieren.

Natürlich war diese Vorführung dazu gedacht, die Neuen einzuschüchtern, aber das war keine Show gewesen, das war Realität – eine Realität, die auch sie treffen konnte, wenn sie nicht allen Befehlen gehorchte, »sofort und widerspruchslos«, wie der Kommandant es formuliert hatte.

Allein bei dem Gedanken, mit einer der Frauen da draußen tauschen zu müssen, schnürte sich Anitas Kehle zusammen. Abermals kamen ihr die Tränen. Sie schluckte und wollte sich mit dem Arm über die Augen wischen, doch das ging nicht, denn ihre Hände waren immer noch über ihrem Po mit den Fußgelenken zusammengefesselt, so dass ihr nackter und schweißüberströmter Körper allen Blicken preisgegeben war. Und sie erinnerte sich nur allzu gut an die Blicke des Kommandanten – und an jene seines Leutnants, eines hochgewachsenen, sehnigen Typs, dessen Schnauzbart alle paar Sekunden zuckte. Vom ersten Blick an erfüllte sie eine unerklärliche, kreatürliche Angst vor diesem Mann.

Die Kolonne hielt so abrupt an, dass Anitas Brüste hart gegen die Frau vor ihr stießen. Sie murmelte eine Entschuldigung, doch die andere drehte sich nicht einmal um. Als Anita ihren Blick hob, sah sie auch den Grund: Zu ihrer Linken öffnete sich eine eiserne Schiebetür in einen großen Raum, dessen kahle Wände mit grauer Ölfarbe gestrichen waren. Wuchernde Schimmelflecke bedeckten einen Großteil der Decke, und es roch noch feuchter als draußen im Gang.

Einer der Uniformierten packte die erste der Frauen am Oberarm und zerrte sie in eine Ecke. Als sie ihm wegen der Fußfesseln nicht schnell genug folgte und zu fallen drohte, fing er sie auf und lehnte sie wie ein Möbelstück an die Wand. Dann machte er ein Handzeichen und trat zurück.

Die Geste galt einem zweiten Wärter, der in der anderen Ecke stand und einen abgewetzten roten Gummischlauch hielt. Er zielte wie mit einem Gewehr und öffnete den Verschluss. Die Frau schrie auf, als der dampfende Strahl sie traf. Ihre Haut rötete sich sofort. Sie presste sich in die Ecke, doch dem Strahl, der langsam an ihrem Körper auf- und abstrich, konnte sie nicht entkommen. In ihrer Not drehte sie sich zur Seite, doch das kam den Absichten des Wärters nur entgegen. Er säuberte ihren Körper Quadratzentimeter für Quadratzentimeter. Der Geruch von Desinfektionsmitteln stieg Anita in die Nase.

Als der Strahl endlich erlosch, sackte die Frau zusammen, wurde jedoch sofort an ihren Handfesseln gepackt, hochgezogen und durch eine türlose Öffnung in einen anschließenden Raum gezerrt, den Anita nicht einsehen konnte. Der Wärter kehrte jedoch sofort zurück, um sich der Nächsten zu widmen.

Anita sah der Prozedur stocksteif zu, ihr Gehirn war wie leergewischt. Bald herrschte in dem Raum eine Atmosphäre wie in einer Waschküche. Wasser, das an ihrem Körper kondensierte, vermischte sich mit Schweiß und lief in kleinen Bächen an ihrem Hals hinab und zwischen ihren Brüsten hindurch. Als die Reihe an sie kam, wankte sie willenlos in die Ecke und lehnte sich an die nasse Wand. Die Oberfläche war rau und von Blasen überzogen, an einigen Stellen war der Putz abgeblättert.

Wie viele Schichten Putz und Farbe mögen hier übereinander liegen?, dachte sie. Und wie viele Generationen von Häftlingen mögen der gleichen Behandlung unterzogen worden sein?

Dann traf sie der Wasserstrahl. Er war nicht so heiß, wie sie befürchtet hatte, dennoch schrie sie auf. Die Anspannung eines nicht enden wollenden Tages voller Schrecken entlud sich in diesem einzigen, langgezogenen Schrei.

Als es vorüber war, fühlte sie sich besser als vorher, vor allem sauberer. Das Schlimmste war die Angst vor der Prozedur gewesen, nicht die Prozedur selbst.

Ob wir nun endlich etwas zu essen und zu trinken bekommen?

Doch als sie mit klirrenden Ketten den nächsten Raum betrat, standen da nur die anderen Frauen in einer Reihe vor einem grünen Plastikvorhang und warteten. Halt – eine fehlte. Und die Frauen waren auch nicht mehr gefesselt.

Jemand berührte sie am Arm. Einer der Wärter stand neben ihr, einen kleinen Schlüssel in der Rechten, den er nacheinander in die Öffnungen ihrer Handschellen schob und umdrehte. Dann wiederholte er das Gleiche an den Fußschellen. Die Ketten fielen. Er nahm sie auf und warf sie zu den anderen in eine Ecke. Anita stöhnte vor Erleichterung und auch ein wenig Schmerz, als sie sich reckte und die Arme ausstreckte.

In diesem Moment drang ein Schrei hinter dem Vorhang hervor – der Schrei einer Frau. Anitas leerer Magen ballte sich zusammen.

Was tut man ihr an?

Es war kein lauter Schrei gewesen und er hatte auch nicht nach großen Schmerzen geklungen, eher nach tiefer, hilfloser Verzweiflung.

Stille.

Anita wartete darauf, dass die Frau herauskam, doch dann wurde die Nächste hineingewinkt.

Sie versuchte sich einzureden, dass wie vorhin bei der Zwangsdusche das Warten schlimmer sei als der Vorgang selbst, welcher Natur dieser auch immer sein mochte, doch es wollte ihr nicht gelingen. Das unstillbare Bedürfnis überkam sie, die anderen Frauen zu fragen, was sich in dem Raum hinter dem Plastikvorhang abspielte, doch sie wagte nicht einmal den Mund zu öffnen. Keine der Frauen hatte gesprochen, seit sich die Tür des Gefangenentransports geöffnet hatte. Keine wollte die Erste sein, über die sich der Zorn des Kommandanten entlud.

Endlos zogen sich die Minuten. Kein Schrei ertönte mehr hinter dem Vorhang, nur manchmal ein verhaltenes Stöhnen.

Als der Wärter Anita das Zeichen gab einzutreten, rannte sie beinahe. Was auch immer man ihr anzutun gedachte, sie wollte es so rasch wie möglich hinter sich bringen.