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Roberto Costantini

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Beschreibung

Ein grausamer Mord. Ein zorniger Kommissar. Ein Land am Rande des Abgrunds

Während ganz Rom 1982 das WM-Endspiel Italien gegen Deutschland verfolgt, wird eine junge Angestellte des Vatikan ermordet. Der draufgängerische Commissario Balistreri nimmt den Fall auf die leichte Schulter. Ein Mörder wird nie gefunden. Über zwanzig Jahre später gibt es erschreckend aktuelle Gründe, um den Fall wieder aufzunehmen. Doch dem Opfer nach so langer Zeit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, kostet Balistreri einen weit höheren Preis als angenommen …

Ein grandios konstruierter, beunruhigender Thriller mit einem Ermittler, der erfrischend anders ist: zynisch, respektlos und absolut unbestechlich im Kampf gegen das Böse.

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Roberto Costantini

Du bist das Böse

Thriller

Aus dem Italienischen von Anja Nattefort

C. Bertelsmann

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Tu sei il male« bei Marsilio, Venedig.

Der Abdruck der Passage von John Locke stammt aus: John Locke, Ein Brief über die Toleranz, übersetzt, eingeleitet und in Anmerkungen erläutert von Julius Ebbinghaus, Copyright © 1957 Felix Meiner Verlag, Hamburg. Wir danken dem Verlag für die freundliche Abdruckgenehmigung.

1. Auflage

Copyright © 2011 by Marsilio Editori s.p.a., Venezia

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012

beim C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlag: Eisele Grafik-Design, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-08000-6

www.cbertelsmann.de

Für LorenzoFür das libysche Volk

Nur Einleuchtendes und Augenscheinliches kann einen Wechsel in menschlichen Meinungen bewerkstelligen; und solche Erleuchtung kann in keiner Weise vom körperlichen Leiden oder irgendeiner andern äußeren Strafe ausgehen.

JOHN LOCKE

9. Juli 2006

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Hätte ich auch weiter getötet, wenn es beim ersten Mal anders gelaufen wäre? Anfangs habe ich mich das oft gefragt. Nach all den Jahren weiß ich nicht einmal mehr, wie viele es waren, und die Frage, die sich mir nun stellt, ist eine andere: Wäre ich ein besserer Mensch, wenn ich nur die eine getötet hätte, in einem einzigen Anfall von Wahnsinn? Heute hasse ich die Frauen, die ich töte, nicht mehr, sie sind für mich nichts als Stoffpuppen. Wen ich allerdings hasse, das sind diese Klugscheißer, die schöne Reden schwingen. Jeder von ihnen hätte beim ersten Mal an meiner Stelle sein können. Ihnen, die in ihrem Leben weder Schuldgefühle noch Anstand kannten, werde ich mich widmen. Einem ganz besonders.

9. Juli 2006

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Während der linke Verteidiger der italienischen Nationalmannschaft Anlauf für den entscheidenden Elfmeter des WM-Finales nahm, erhob sich Giovanna Sordi in der kleinen Wohnung, in der sie seit fünfzig Jahren lebte, vom abgewetzten Sofa. Es gab niemanden, von dem sie hätte Abschied nehmen müssen, ihr Mann Amedeo war Elisa schon vor Jahren gefolgt. Seit damals hatte sie ihnen jeden Tag Blumen ans Grab gebracht. In all den Jahren war ihr keine Gerechtigkeit zuteil geworden, heute aber würde sie endlich die Wahrheit erfahren. Ohne jede Eile ging sie durchs Wohnzimmer, vorbei an der geschlossenen Tür des Zimmers, in dem ihr Traum erwacht und erloschen war. Sie trat auf den Balkon, ohne das laute Gejubel der Leute in den Fenstern und der Menge auf der Straße zu beachten. Wie sie es machen würde, wusste sie. Während ganz Italien in ausgelassenes Freudengeschrei ausbrach, landete sie zwanzig Meter tiefer auf dem Pflaster.

ERSTER TEIL

Januar 1982

»Pot« war das erste Wort, das ich aus Angelo Dioguardis Mund vernahm.

Ich hatte das verqualmte Zimmer betreten, weil die Hausbar hier stand und ich mich an der Flasche Lagavulin bedienen wollte, mit der ich schon geliebäugelt hatte.

Drei der vier Pokerspieler kannte ich vom Sehen, nur diesen großen jungen Mann mit dem blonden Lockenkopf, den langen Koteletten und den blauen Augen nicht. Vor ihm türmten sich fast alle Spielchips.

»Scheiße, Angelo, dafür muss ich einen Monat arbeiten«, brummte der junge Anwalt, mit dem er um den Pot spielte. Woraus hervorging, dass der Anwalt immerhin zehnmal so viel verdiente wie ich.

Der Blonde lächelte zerknirscht, als wolle er sich entschuldigen. Er war der Einzige, der nicht rauchte, und der Einzige, der kein Whiskyglas vor sich stehen hatte. Als ich mir von dem Lagavulin einschenkte, warf ich einen Blick auf den Tisch. Eine Partie Five Card Stud. Dem aufgedeckten Blatt nach war der Anwalt im Vorteil. Nur mit einer einzigen Karte würde der Blonde, sofern er sie besaß, noch den einen Punkt holen, den der Anwalt nicht mehr übertrumpfen konnte.

Ich warf ihm einen kurzen Blick zu, und er antwortete mit einem freundlichen Lächeln. Noch bevor der Anwalt sich entschieden hatte, verließ ich das Zimmer wieder.

Nebenan erwartete mich Camilla, der Grund für mein Kommen an diesem Abend. Paola, die Gastgeberin, hatte ich kennengelernt, als sie bei uns im Kommissariat den vermeintlichen Raub ihres Schnauzers, der auf einem Streifzug durch den Park verschwunden war, anzeigen wollte. Sie war ein bisschen zu elegant für meinen Geschmack, aber sehr hübsch, also hatte ich ihren Hund, der sich nur verlaufen hatte, wieder aufgetrieben und sie zu einer Pizza eingeladen. In neun von zehn Fällen hatte mein leidender Charme, kombiniert mit der Autorität der Polizeimarke, durchaus Erfolg. Sie hingegen hatte fröhlich gelacht und hinzugefügt: »Ich bin so gut wie verheiratet, und ich bin treu. Aber ich könnte dich mit einer hübschen Freundin von mir bekannt machen, die hat eine Schwäche für schräge Machos wie dich. Morgen Abend bei mir …«

Sie lebte in Vigna Clara, einem vornehmen Viertel von Rom. Ihre luxuriöse Wohnung lag in der dritten Etage und schaute auf einen kleinen ruhigen Platz hinaus, schön grün, gute Luft, kein Lärm. Bezahlt von den Eltern in Palermo, damit sie in Rom studieren konnte. Ihre Freundin Camilla war gar nicht mal übel, vielleicht ebenfalls ein bisschen versnobt. Aber nachdem ich zwölf Jahre zuvor die einzige Frau verloren hatte, die mir wirklich wichtig gewesen war, hatte ich beschlossen, mich künftig mit der Summe der Besonderheiten aller anderen zu begnügen. Mit meinen zweiunddreißig Jahren gelang es mir denn auch, in jeder hübschen Frau, die mir über den Weg lief, mindestens eine Besonderheit zu entdecken. Natürlich hatte ich längst herausgefunden, dass sich das »Besondere« einer Frau nur beim Sex ergründen lässt. Wenn Gesten, Blicke, Worte und Seufzer nah an die Wahrheit herankommen.

An jenem Abend machte ich mir allerdings keine großen Hoffnungen. Paolas Freundin würde bei ihr übernachten, sodass ich nicht bei ihr landen konnte. Gegen Mitternacht suchte ich nach einem Vorwand, um abzuhauen. In diesem Bonzenmilieu war ich als junger Polizeikommissar bestimmt der Einzige, der am nächsten Morgen um halb sieben rausmusste. Gerade als ich aufbrechen wollte, kamen die Pokerspieler in den Salon zurück: drei geprügelte Hunde und der Blonde mit den blauen, inzwischen leicht glasigen Augen.

»Paola, dein Verlobter hat mehr Glück als Verstand«, begrüßte der Anwalt die Hausherrin.

Der Blonde ließ sich mir gegenüber in den Sessel fallen. Nun, da er die anderen bis aufs Hemd ausgezogen hatte, hielt er die Flasche Lagavulin in der Hand. Er schenkte sich großzügig ein, sah mein leeres Glas und füllte es, ohne mich zu fragen, ebenfalls auf. Dann hob er das seine und prostete mir zu. Mit seiner Kleidung, den ungepflegten Haaren und den langen Koteletten passte er ähnlich schlecht an diesen Ort wie ich. Nur dass ich ein Meister der Heuchelei war, ein Chamäleon, das beim Geheimdienst gelernt hatte, seine Verachtung zu verbergen, während er ein Junge aus der Vorstadt und allein dadurch schon fehl am Platz war.

»Auf diesen wunderbaren Whisky. Und auf alle, die ihn zu schätzen wissen«, sagte er mit dem Akzent der römischen Peripherie.

Er bot mir eine Zigarette an. Er rauchte diese schrecklichen Gitanes ohne Filter, die auf der Zunge Tabak und überall ihren Gestank hinterließen. »Aber sie schmecken großartig«, sagte er, um mich zu ermutigen. »Außerdem zähle ich sie ab. Nie mehr als zehn am Tag.« Solche Zigaretten rauchte niemand im Rom der Wohlhabenden, wo Marihuana chic war, Filterlose aber als provinziell galten. Der Blonde gehörte nicht in dieses Ambiente, das war offensichtlich. Aber wenn Paola ihn auserkoren hatte und ihm so treu war, besaß der Mann wohl verborgene Qualitäten. Und die einzigen, die ich mir vorstellen konnte, waren die im Bett.

»Hast du dir den Pot geholt?«, fragte ich ihn. Er nickte, zeigte aber kein weitergehendes Interesse an dem Thema.

»Dann hast du aber wirklich Glück. Für einen Flush war nur noch ein König im Spiel. Eine Chance von eins zu zehn …«

Er schwieg. Erst nach einer Menge Whisky konnte ich ihm das Geständnis entlocken, dass er nur zwei Neunen auf der Hand gehabt hatte. »Berufsgeheimnis«, sagte er. Der Anwalt hatte sich in die Hose gemacht und war ausgestiegen.

Während Paola und Camilla in der Küche plauderten, fragte Angelo mich nach meinem Beruf.

»Bravo, Michele, dann hast wenigstens du einen Grund, morgens aufzustehen.«

Ich schüttelte den Kopf. »In Wirklichkeit ist das alles Routine. Das Aufregendste, was ich in diesem Viertel erlebt habe, war die Suche nach dem Schnauzer deiner Freundin.«

»Ach so, du warst der Retter, der ihn wiedergefunden hat! Und als Dankeschön …«, er deutete grinsend zur Küche.

»Na ja, Camilla ist nicht übel. Schade, dass sie heute hier schläft.«

Er dachte einen Augenblick nach. Dann stand er schwankend auf und stürzte ins Badezimmer, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Würgelaute, Stöhnen. Die Mädels liefen hin, ich hinterher. Er hatte sich ins Waschbecken übergeben und lag nun blass auf dem Boden.

»Ich hole einen Arzt«, sagte Paola beunruhigt.

»Nein, nein«, stöhnte er. »Michele, schick sie raus und hilf mir. Ihr beide könnt mir einen schwarzen Kaffee machen, bitte.«

Während Paola und Camilla wortlos in die Küche zurückgingen, zwinkerte Angelo mir zu.

»Keine Sorge, alles in Ordnung. Aber ein bisschen Angst müssen wir ihnen schon noch machen.«

Er steckte sich zwei Finger in den Rachen. Erneutes Würgen, die Mädels kamen wieder ins Bad geeilt.

»Ich rufe den Arzt an«, sagte Paola noch besorgter.

Ich schlug den gleichen selbstsicheren Ton an wie am Vortag, als sie ihren Schnauzer vermisst gemeldet hatte. Entschieden, beruhigend, gefasst. Ich wusste, was ich tat. »Nicht nötig, das Schlimmste hat er hinter sich. Ich kümmere mich um ihn.«

Es ging noch eine ganze Weile mit filmreifem Würgen und Stöhnen weiter, dann lud ich mir Angelo auf die Schulter und trug ihn zu Paolas Doppelbett.

»Mann, bist du schwer«, sagte ich, als ich ihn abwarf.

»Ein bisschen musst du dich schon anstrengen, wenn du sie vögeln willst …« Er zwinkerte mir zu und begann wieder, leise zu stöhnen.

Die Mädels brachten den schwarzen Kaffee. Angelo nippte angeekelt daran und jammerte.

»Was sollen wir bloß machen?« Die jungen Frauen warteten auf Anweisungen, beeindruckt, wie gelassen ich mit Angelos Zusammenbruch umging.

»Er soll heute Nacht hierbleiben«, sagte Angelo und nahm Paolas Hand. »Dann ist er da, wenn’s mir schlecht geht …«

Tapfer bot ich an, beim Schnauzer im Wohnzimmer zu schlafen, da Camilla ja das Gästezimmer belegte. Eine Geste, die allseits gewürdigt wurde. In der Nacht kamen Camilla jedoch Bedenken, dass der Schnauzer schnarchen könnte, und sie gestattete mir, zu ihr ins Bett umzuziehen.

So lernte ich Angelo Dioguardi kennen.

Das Kommissariat von Vigna Clara war so aufregend wie ein Kurort. In diesem bürgerlichen Wohnviertel Roms plätscherte das Leben eines Polizisten so gemütlich dahin wie das eines Rentners. Saubere Straßen, schöne Häuser, viel Grün und kultivierte Leute, die es auf allen denkbaren erlaubten und unerlaubten Wegen zu wirtschaftlichem Erfolg gebracht hatten: Steuerhinterziehung, Bestechung, Vetternwirtschaft. Alles Finessen, die man sich in Italien und vor allem in Rom nach dem Krieg angeeignet hatte, um sich um jeden Preis seinen Anteil am wachsenden Wohlstand zu sichern.

Seit zwei Jahren war ich nun hier, was ich meinem Bruder Alberto und seinen guten Beziehungen zur christdemokratischen Partei zu verdanken hatte. »Betrachte es als eine Zeit der Genesung, Mike. Nur ein paar Jahre, um dich zu erholen und darüber nachzudenken, was du mit deinem kaputten Leben anstellen willst. Um mit dir ins Reine zu kommen«, hatte er mich anfangs zu trösten versucht.

Als könnte er die zweiunddreißig wilden Jahre seines kleinen Bruders einfach ausradieren. So war Alberto schon immer. Zupackend, optimistisch und hochintelligent. Diese Eigenschaften hatte er von unserem Vater, der nach dem Zweiten Weltkrieg von Palermo nach Tripolis ausgewandert war. Papa stammte aus einer kleinbürgerlichen sizilianischen Familie, hatte in Rom Ingenieurwesen studiert und sich in Libyen zu einem reichen Unternehmer hochgearbeitet. Er beherrschte die seltene Kunst, durch die Sümpfe der italienischen Politik zu navigieren, indem er die allernötigsten Zugeständnisse machte und sich der Mächtigen notfalls auch bediente. Er war katholischer als die Katholiken – aus Überzeugung, aber auch, weil es von Vorteil war – und zögerte nicht, die Tochter des mächtigsten italienischen Großgrundbesitzers in Libyen zu heiraten, um von Anfang an in die richtigen Kreise zu gelangen. Und während seine linke Hand Geschäfte mit den Juden machte, machte seine rechte Geschäfte mit den Arabern. Mit dem Westen paktierten sie alle beide.

Was seine Fähigkeiten anging, ähnelte Alberto meinem Vater sehr, aber menschlich war er ihm weit überlegen: sensibel, ausgeglichen, großzügig, unvoreingenommen. Ein Bilderbuchsohn. Im Gegensatz zu mir, der ich schon als kleiner Junge nur widerwillig zu den katholischen Patres in die Schule gegangen war und stattdessen lieber mit der Diana 50 aus hundert Metern Entfernung auf Tauben geschossen hatte. Und der nur in die nächste Klasse versetzt wurde, weil der ehrenwerte Signor Balistreri ein wirklich hohes Tier in Libyen war.

Meine rastlose Kindheit zwischen einem Priester, der seine Finger nicht bei sich behalten konnte, den Messdienerpflichten und den Raufereien mit arabischen und italienischen Altersgenossen mündete in eine einsame, aufgewühlte, zornige Jugend. Ich verschlang Homer, Nietzsche und den frühen Mussolini. Ich kannte weder Kalkül noch Kompromiss. Allein Ehre, Tatkraft und Mut zählten. Mein Weg war vorgezeichnet: Mit siebzehn, als Kairo vom Sechstagekrieg erschüttert wurde, pflasterten die ersten Toten meinen Weg. Mit achtzehn erlegte ich in Tansania meinen ersten Löwen. Mit neunzehn agierte ich gegen Gaddafi, der kurz zuvor die Macht an sich gerissen hatte. Mit zwanzig maß ich mir das Recht an, Verrätern die Todesstrafe aufzuerlegen.

Dann Rom, die Universität. Anfang der Siebziger legte ich sogar ein paar Prüfungen ab. Es war eine fast natürliche Entwicklung, dass ich vom neofaschistischen Movimento sociale in den außerparlamentarischen rechten Flügel hineinrutschte, den Ordine nuovo, mit der Doppelaxt im Wappen und dem Motto der Waffen-SS »Unsere Ehre heißt Treue«. Drei Jahre lang prügelte ich mich mit den Roten, klebte nachts Plakate und redete mir tagsüber in Versammlungen den Kopf heiß. Bis ein christdemokratischer Minister den Ordine nuovo Ende 1973 auflöste und seine Anführer verhaftete. Diese Torheit trieb scharenweise Jugendliche, von denen viele noch zu jung und zu naiv waren, um die Grenze zwischen Kampf und Abgrund zu erkennen, in die Orientierungslosigkeit. Als meine Mitstreiter in den bewaffneten Kampf traten und in Kauf nahmen, ihre Feinde zu töten, stieg ich aus und dachte nach. Ich begriff, dass meine Freunde drauf und dran waren, ganz normale Leute in die Luft zu sprengen, sich mit gewöhnlichen Kriminellen zu verbünden und all unsere Ideale zu verraten. Um ihre Pläne zu durchkreuzen, ließ ich mich vom Geheimdienst als V-Mann anwerben. Es folgten vier Jahre als Chamäleon, in denen ich die Hoffnung hegte, auf der Seite der Guten zu kämpfen und Massaker an Unschuldigen zu verhindern. Dann kam das Jahr 1978, und die Roten Brigaden entführten Aldo Moro. Die Gewalt der Rechten verzahnte sich mit dem Terrorismus der Linken. Alle Hinweise wurden ignoriert, Aldo Moro musste sterben, ich protestierte, und meine Identität flog auf. An diesem Punkt hatte ich zwei Möglichkeiten: Ich konnte insistieren und würde als Zementklotz auf dem Meeresgrund enden. Oder ich verzichtete darauf, die Welt zu verändern, und bat meinen Bruder um Hilfe.

Es war mein Bruder, der Ingenieur Alberto Balistreri, der mich vom Rande des Abgrunds zurückholte. Der Innenminister war ihm noch etwas schuldig, also beendete ich, mit ein wenig Unterstützung, mein Philosophiestudium. Anschließend sorgte man dafür, dass ich in den Polizeidienst aufgenommen und zum Kommissar ernannt wurde. So bekam ich 1980 in Vigna Clara, einer der ruhigsten Gegenden Roms, meine erste Stelle.

Nachts allerdings wollte ich dieses falsche Rom weit hinter mir lassen, wollte raus aus den reichen Vierteln der Spießer und vor allem raus aus der Altstadt, wo das Durcheinander und die Dekadenz der Stadt besonders ins Auge sprangen. Ich mietete mir ein Apartment in Garbatella, einem vom Duce errichteten Arbeiterviertel, wo die Wohnungen damals sehr günstig waren. Vor den kleinen Lokalen dort, in denen man das beste Essen und den besten Wein der Stadt bekam, saßen noch authentische Römer und genossen die frische Frühlingsluft.

Vor allem aber widmete ich mich der einzigen Leidenschaft, die ich noch besaß: den Frauen. Allen Frauen, unabhängig von Typ, Herkunft und Alter, Hauptsache, sie waren schön und verplemperten nicht meine Zeit mit dem üblichen Theater. Ich suchte keine Freundschaft, Nähe oder Geborgenheit, ich war schlicht gierig. Ich wechselte die Frauen so oft, dass ich mir nicht einmal Mühe gab, ihren Namen zu behalten. Mir ging es einzig darum, möglichst viele kennenzulernen, was für einen jungen, attraktiven Polizeibeamten nicht schwierig war. Michele Balistreri lebte im Hier und Jetzt. Fehler, Gewissensbisse, Reue waren ihm fremd. Ich gehörte zu den Auserwählten, die der Rest der Welt nicht verstand und die sich nicht um das Urteil der anderen scherten. Auch nicht um das Urteil Gottes.

Wie Alberto versuchte auch ich mir einzureden, dass es nur eine Denkpause sei, eine Ruhephase, ein Dahintreiben auf einem Fluss mit sanfter Strömung. Nach den turbulenten Jahren, die ich hinter mir hatte, war das genau das, was ich brauchte. Einsamkeit, versüßt durch banale Arbeit, gutes Essen, viel Sex und Poker, und das Ganze in vollkommener Gedankenlosigkeit. Ein labiles Gleichgewicht zwischen Spaß und Langeweile ohne jede emotionale Bindung, denn Liebe war für mich verbrannte Erde.

Aber ich sagte mir auch, dass ich so bald wie möglich wieder abhauen würde. Ich wollte nicht als seniler alter Polizist enden, der in seinem Büro hockte, um einem schwachen und korrupten Staat zu dienen. Ich würde nach Afrika zurückgehen und Löwen und Tiger jagen, weit weg von diesem spießigen, verlogenen, scheinheiligen Italien. Weit weg von allem, was ich hasste. Weit weg von meinen Niederlagen.

Wenige Tage nach unserer ersten Begegnung lud ich Dioguardi zu einer Pokerrunde mit zwei Kollegen von der Polizei ein, und erstaunlicherweise sagte er umstandslos zu. Ich an seiner Stelle wäre nicht das Risiko eingegangen, an einem Tisch mit drei Fremden, die sich zudem untereinander kannten, mein Geld aufs Spiel zu setzen. Wie ich später feststellte, war Dioguardi aber in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil von mir, auch in seinem Vertrauen in die Mitmenschen.

Wir spielten nach dem Abendessen, bis zwei Uhr nachts, im Hinterzimmer einer Pianobar nicht weit von der Piazza di Spagna. Schon in der ersten halben Stunde merkte ich, dass er erstklassig war. Er besaß Mut, Geschick und Fantasie. In den ersten zwei Stunden gewann er sehr häufig, um dann in der letzten über die Hälfte dessen, was er gewonnen hatte, wieder zu verlieren.

»Du hast absichtlich verloren«, sagte ich später, als die beiden anderen gegangen waren.

Er schüttelte verlegen den Kopf. »Ich habe nur etwas ausprobiert. Das brauche ich, um mich zu verbessern. Wenn ich viel gewonnen habe, mache ich das manchmal.«

»Zum Beispiel in einem Freundschaftsspiel gegen Dilettanten …«

Er lächelte. Dann verriet er mir, dass er nur sehr selten und ausschließlich gegen steinreiche Hosenscheißer spielte. Auf diese Weise gewann er unglaublich viel Geld, wofür er sich sogar ein bisschen zu schämen schien. Das Geld aus den Gewinnen spendete er, wie ich später erfuhr, für wohltätige Zwecke, denn seine fabelhaften Bluffs beim Pokern empfand er fast als Betrug. Etwas, auf das er mit seiner katholischen Moral gar nicht stolz war.

Wir gingen nach vorne in die überfüllte Pianobar, wo soeben, begleitet vom Klavier, eine Gruppe junger Leute sang. Die Solosängerin war eine wunderschöne Farbige, die Angelo, kaum hatte sie ihn erspäht, sofort zu sich rief: »Angelo, Angelo, komm her!«

Er wollte nicht, doch sie ließ nicht locker. Schließlich gab er nach, und das Mädchen drückte ihm einen Kuss auf den Mund. Er errötete und wich zurück. Dann hob sie seinen Arm in die Höhe, als wollte sie ihn zum Sieger küren, und wandte sich ans Publikum: »Das ist mein Freund Angelo, der beste Sänger Roms, und er wird jetzt für uns singen.«

Auch auf diesem Gebiet war er erstklassig. Er sang jedes Lied, das die Gäste sich wünschten, und endete mit einer Version von My Way, die ziemlich nah an Sinatra herankam. Nach dieser Meisterleistung stellte er mir die Sängerin vor und ließ uns lange genug allein, dass ich mir ihre Telefonnummer geben lassen konnte. Er hatte schon verstanden, mit wem er es zu tun hatte.

Es war nach drei, als wir das Lokal verließen.

»Michele, wenn du noch kannst, fahren wir jetzt nach Ostia.«

»Ostia? Es ist Januar, was sollen wir denn am Meer?«

»Da gibt es eine kleine Bäckerei. Um sechs holen sie die besten Croissants von ganz Rom und Umgebung aus dem Ofen.«

Er hatte Lust zu reden. Und ich auch. Seltsam, denn mein Verlangen, mich mit einem meiner Geschlechtsgenossen anzufreunden, hatte mit den Jahren deutlich abgenommen. Wir fuhren mit seinem schrottreifen Cinquecento. Eine halbe Stunde später parkten wir an der Strandpromenade. Die Nacht war sternenklar und kalt, aber windstill. Wir kurbelten die Fenster herunter und rauchten. Der Geruch und das sanfte Schwappen des Meeres, das wie ein Ölgemälde dalag, drangen zu uns herüber. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen.

Im Gegensatz zu mir sprach Angelo gern von sich. Er stammte aus einer armen Familie, die in einem Rom lebte, in dem sich, von seinen Eltern mal abgesehen, jeder auf mehr oder weniger legale Weise bereicherte. Ein Junge aus der Vorstadt, Sohn eines Musikers, der durch die Kneipen tingelte, und einer Magierin, die in die Zukunft sehen konnte. Zwei brotlose Künstler, die sich später in ein abgelegenes Dorf zurückzogen, wo sie, als ihr Sohn noch nicht erwachsen war, beide an Leberzirrhose starben. Nach gesellschaftlichem Verständnis waren es gescheiterte Existenzen, doch Angelo wusste, was er ihnen zu verdanken hatte. Seinem singenden Vater die Stimme, seiner seherischen Mama die Fähigkeit zu bluffen und zu improvisieren.

Mit der Zeit hatte er zwei Dinge erobert: Paola, eine wohlhabende Verlobte, die ihn abgöttisch liebte und noch in diesem Jahr heiraten würde, und eine Tätigkeit im Immobiliengeschäft, die ihm Paolas Onkel, ein Kardinal, verschafft hatte. Cardinale Alessandrini, knapp über fünfzig, kümmerte sich um die Unterbringung der vielen Priester und Schwestern, die eine Zeit lang in Rom studierten oder für ein paar Tage als Pilger oder Touristen in die Stadt kamen. Die Verwaltung von Hunderten von Klöstern, Gasthäusern und Wohnungen des Vatikan hatte man Angelo Dioguardi anvertraut, da er zwar Schulabbrecher, aber auch ein guter Christenmensch war. Und mit der Nichte des Kardinals verlobt, versteht sich. Dieser Bürotätigkeit, für die er ganz offensichtlich ungeeignet war, widmete er sich mit Hingabe und Energie. Der Kontrast zu meiner Arbeitseinstellung hätte nicht größer sein können. Und auch was Frauen anging, war er das genaue Gegenteil von mir. Er kannte eine Menge Mädels, was er jedoch aus eiserner Treue zu Paola niemals ausnutzte. In der Liebe war er ein Idealist auf der Suche nach der einzigartigen und perfekten Beziehung. Unsere Freundschaft erwies sich als Glücksfall für mich, der ich stets auf der Jagd war: Angelo lockte die Frauen an, und ich schnappte zu.

»Bist du Paola wirklich absolut treu?« Als Antwort erwartete ich einen Lobgesang auf die Liebe, doch Angelo überraschte mich.

»Sie ist schön, nett, intelligent, reich und die Nichte eines Kardinals, der mir obendrein Arbeit gibt. Ich dagegen bin bettelarm und ungebildet, weil ich die Schule geschmissen habe. Da ich also allen Grund zur Dankbarkeit habe, sollte ich andere Frauen nicht einmal ansehen.«

Wir blieben bis zum Morgengrauen. Irgendwann stiegen wir aus, um uns die Beine zu vertreten. Aus der geschlossenen Bäckerei drang Licht und der wunderbare Duft von gebackenem Hefeteig. Ich nahm eine Zigarette aus meiner zweiten Schachtel. Er hatte seine aufgeraucht, und so bot ich ihm eine von meinen an.

»Nein danke, Michele. Eine Schachtel Gitanes alle zwei Tage. Das muss reichen.«

»Du bist zu kontrolliert, Angelo. Ab und zu musst du dich mal gehen lassen.«

Er fuhr sich mit der Hand durch das zerzauste blonde Haar. Dann sah er mich an und deutete aufs Meer.

»Hast du Lust, schwimmen zu gehen?«

»Spinnst du? Im Morgengrauen, im Januar?«

»Du spürst die Kälte gar nicht. Und danach hast du einen perfekten Hunger.«

Genau das waren seine Worte: einen perfekten Hunger. Er schaltete die Scheinwerfer seines Cinquecento ein und richtete sie auf den wenige Meter breiten Sandstreifen, der uns vom Wasser trennte. Eine Minute später stand er in Unterhose da.

»Los, lass du dich mal gehen, Michele!«, sagte er. Dann nahm er Anlauf und warf sich ins Meer. Ich sah ihn im Licht der Scheinwerfer losschwimmen.

Keine Ahnung, was mich plötzlich packte. Mit Sicherheit etwas, das ich seit vielen Jahren nicht mehr empfunden hatte. Eine Minute später war auch ich im Wasser. Die Kälte verschlug mir den Atem, aber je energischer ich schwamm, um warm zu werden, desto größer wurde das vergessene, unverschämte, unbändige Glücksgefühl, das durch meinen ganzen Körper strömte.

Die ofenwarmen, gefüllten Croissants waren der würdige Abschluss dieser langen Nacht.

Allmählich lernte ich Angelo besser kennen. Hinter dem herzlichen und strahlenden Engelsgesicht verbarg sich ein einsames Herz, das zu früh auf sich allein gestellt war und einen sicheren Hafen suchte. Dieses Refugium fand er in der Liebe und in der Arbeit. Keine übertriebenen Ambitionen, keine Abenteuer. Ein ziemlich geregeltes Leben. Nicht mehr als zehn Gitanes am Tag und höchstens zwei Gläser Whisky, damit er beim Pokern einen klaren Kopf behielt. Jedes Mal, wenn wir in Rom eine Pianobar betraten, was in den folgenden Monaten häufig geschah, wiederholte sich die gleiche Szene. Die Sänger kannten Angelo und drängten ihn zu singen. Und die Sängerinnen wollten ihn auch noch abschleppen, doch er ließ sich nicht verführen. Darin war er wirklich das glatte Gegenteil von mir, oder vielleicht war er, was ich hätte sein können. Angelo war unangreifbar.

Was das Pokern anging, stellte Angelo strenge Regeln auf. Begrenzter, fixer Einsatz, und am Ende des Abends wurde der gesamte Gewinn anteilig ausgezahlt, je nach Anzahl der Chips, die jeder vor sich liegen hatte. Fast immer gewann er, und die wenigen Male, die er verlor, war ich sicher, dass es absichtlich geschah, so wie bei unserer ersten Partie. Anfangs spielten wir mit meinem Bruder Alberto und einem seiner Kollegen, der ebenfalls Ingenieur war. Sie versuchten, Angelo dazu zu überreden, gemeinsam ein Casino zu sprengen, und waren auch bereit, ihren üppigen Lohn und ihre Aktienanlagen dafür zu verwenden. Angelo wollte aber nichts davon hören, stets unter Berufung auf seine katholische Moral.

Wir sahen uns fast jeden Abend. Der Standardablauf war der folgende: eine Pizza zu viert – ich, Angelo, Paola und meine jeweilige Freundin. Dann ein kurzer Spaziergang inmitten der Nachtschwärmer von Trastevere. Auf dem prächtigen Platz vor der Chiesa di Santa Maria tranken wir noch ein letztes Bier und rauchten eine Zigarette. Nun gab es zwei Varianten: Entweder ich verschwand mit meiner jeweiligen Freundin, oder Angelo und ich verabschiedeten uns mit Paolas freundlicher Erlaubnis und drehten in meinem Spider oder seinem Cinquecento noch eine Runde durch Rom. Was meist der Fall war, wenn meine Begleitung mich nicht so sehr faszinierte, dass ich die Nacht mit ihr verbringen wollte. Angelo und ich saßen dann im Auto und redeten. Endlose kalte Winternächte mit heruntergekurbelten Fenstern, um den dicken Qualm loszuwerden. Laue Frühlingsnächte, in denen wir die ersten Mücken erschlugen. Unsere Gesprächsthemen reichten von banalen Ereignissen aus Sport und Politik bis hin zu tiefschürfenden existenziellen Problemen. Obwohl Angelo die Schule abgebrochen hatte, konnte er sehr gut argumentieren und seine christliche Sicht einer in Gut und Böse aufgeteilten Welt verteidigen.

Diese metaphysischen Nächte voller Magie, die ohne augenscheinliches Motiv unser Leben erfüllten, ließen uns unzertrennlich werden.

Mai 1982

Angelos Büro befand sich auf dem Anwesen, auf dem Cardinale Alessandrini auch wohnte, zwei identische kleine Villen mit je drei Stockwerken, umgeben von einem Park. Es lag an der Via della Camilluccia, einer der idyllischsten Gegenden der Stadt. Alessandrini bewohnte den dritten Stock einer der beiden Villen und hatte Dioguardi die zwei Etagen darunter zur Verfügung gestellt. Im zweiten Stock residierte die Verwaltung, der erste war für den Publikumsverkehr geöffnet, also für junge Priester und Schwestern, die eine Unterkunft suchten.

An einem Samstag Anfang Mai hatte ich meinen freien Tag und wollte ihn dort besuchen. Es war ein herrlicher Vormittag, der Himmel war wie blank geputzt, und die Sonne wärmte schon. Mit meinem alten Spider durchquerte ich die von Touristen bevölkerte Altstadt. Gelegentlich machte ich halt, um eine junge Touristin zu bewundern. Am Kolosseum eine blonde Deutsche mit dicken Möpsen und den Worten »Über alles« auf dem T-Shirt. Auf der Piazza di Spagna ein paar Amerikanerinnen, die in Shorts auf der Treppe vor der Chiesa Trinità dei Monti saßen, und auf der Piazza del Popolo, wo die Bars schon zu dieser Tageszeit überfüllt waren, zwei süße Japanerinnen, die sich gegenseitig fotografierten. Schließlich schlängelte ich mich den Monte Mario hinauf und erreichte die Via della Camilluccia. Ein hohes grünes Gittertor versperrte die Einfahrt zum Park, in dem die beiden kleinen Villen standen, getrennt von einem großen Brunnen, einem Tennisplatz und einem Swimmingpool. Ein kleines Paradies, in dem Privilegierte in aller Abgeschiedenheit leben und auf diese wunderbare und chaotische Stadt, in der es vor Menschen und Verkehr nur so wimmelte, hinunterblicken konnten.

Als ich auf das Tor zurollte, trat eine mürrische Sechzigjährige aus dem Pförtnerhäuschen. Sie musterte mich skeptisch und konnte wohl nicht zuordnen, ob ich ein Hausierer war, der ihr eine Enzyklopädie verkaufen wollte, oder der Lakai eines hier ansässigen Bonzen. Ich setzte einen meiner finstersten Blicke auf.

»Ja bitte?«, fragte sie schroff mit einem südlichen Akzent.

»Ich bin ein Freund von Angelo Dioguardi.«

»Sie müssen draußen parken, hier ist nur für Anwohner.«

Sie sah meinen Blick verblüfft über den weitläufigen Park schweifen, in dem nur wenige Autos standen, darunter ein Aston Martin, Angelos altersschwacher Fiat und eine Harley Davidson Panhead, die in der Sonne funkelte.

»Der Conte will hier keine fremden Autos. Wenn es nach ihm ginge, würden Fremde überhaupt nicht reinkommen«, ergänzte die Pförtnerin mit einem Hauch von Missbilligung, die sich ebenso auf die Fremden wie auf den Conte beziehen konnte.

Glücklicherweise war es kein Problem, in dieser grünen und ruhigen Gegend zu parken. Die Anlieger besaßen Garagen, und Geschäfte oder Restaurants gab es hier nicht. Nur Bäume, gepflegte Beete und philippinische Kinderfrauen, die Buggys mit dem Nachwuchs der Reichen vor sich herschoben, während diese auf der Piazza Navona Kaffee tranken oder sich auf dem Golfplatz vergnügten.

»Sie müssen ganz durch den Park durch. Hinter dem Swimmingpool und dem Tennisplatz biegen Sie ab, dann kommen Sie zur Villa B. Die Terrasse können Sie da hinten schon sehen. Verlaufen Sie sich nicht«, erklärte sie mir wie einem dummen Kind.

Als ich an der Villa A entlangging, fühlte ich mich beobachtet. Ich blickte nach oben und sah auf der Terrasse im dritten Stock etwas aufblitzen. Jemand bespitzelte den Fremden durch ein Fernglas. Ich blieb stehen, um den Aston Martin zu bewundern, der vor dem Hauseingang parkte. Daneben stand die Harley. Ich umrundete den großen Brunnen und folgte dem Parkweg zwischen Tennisplatz und Swimmingpool. Die hohen Bäume versperrten den Blick auf die Villa B, die ich vom Pförtnerhäuschen aus noch so gut hatte sehen können.

Ein hagerer, energischer junger Mann kam mir entgegen. Dichte rote Locken, blaue Augen, Sommersprossen, kaum älter als zwanzig. Er trug einen Talar.

»Sie verloren?«

»Ich weiß nicht, ich möchte in die Villa B zu Angelo Dioguardi.«

»Sie kein Priester.« Er lachte über seinen Witz, dann fuhr er in seinem gebrochenen Italienisch fort. »Zu Angelo nur Priester und Schwestern. Ich bin Padre Paul, Assistent von Cardinale Alessandrini.«

Er begleitete mich bis zum Eingang der Villa B.

»Angelo zweiter Stock. Call me, wenn einmal Sie Priester.«

Dafür, dass wir uns zum ersten Mal begegneten, übertrieb er es ein bisschen mit seinen Scherzen. Ich hatte einen Blick dafür, ob sich jemand aus Unsicherheit hinter einer Maske versteckte, und die von Padre Paul passte vorne und hinten nicht.

Ich ging zu Fuß nach oben. Als ich im ersten Stock ankam, trat ein junges Mädchen mit dem Antlitz einer Göttin ins Treppenhaus. Sie trug einen langen, weißen Kittel wie eine Krankenschwester, und ich war auf der Stelle bereit, schwer zu erkranken. Die Uniform sollte wohl ihren Körper verhüllen, aber kein Kleidungsstück der Welt hätte diese wohlgeformten Rundungen verbergen können.

Sie blieb sofort stehen und senkte den Blick. »Entschuldigung«, sagte sie und rührte sich nicht vom Fleck, um mir den Vortritt zu lassen. Ihre Stimme war sanft und kindlich, genau wie ihr leicht einfältiges Lächeln. In ihren Armen türmten sich Aktenordner.

»Kann ich Ihnen helfen?« Sie wich meinem Blick immer noch aus und schüttelte verlegen den Kopf. Ein Aktenordner fiel zu Boden.

Als ich mich bückte, um ihn aufzuheben, stieg mir ein feiner Seifengeruch in die Nase. »Tut mir wirklich leid«, sagte sie absurderweise.

Ich konnte sie nicht dazu bewegen, mir ein paar von den Ordnern zu überlassen. Schweigend stiegen wir hinauf in die zweite Etage. Sie begleitete mich bis zu einem kleinen Vorzimmer, das in einen langen Korridor mit vielen Türen mündete.

»Signor Dioguardi sitzt im letzten Büro.« Ohne mir in die Augen zu sehen, verschwand sie eilig im ersten Zimmer.

Angelo saß an einem Schreibtisch, hinter einem Berg von allen möglichen Papieren, Ordnern und Mappen. In seinem Rücken hing ein großes Foto vom Papst. Ich musste lachen, als ich ihn in dieser völlig ungewohnten Umgebung sah. Seine totale Unfähigkeit, Ordnung zu halten, ließ ihn an seinem Arbeitsplatz wie eine Witzfigur aussehen.

»Ich weiß, Michele. Dein Bruder Alberto mag hinter einem solchen Schreibtisch etwas hermachen. Ich dagegen gebe nur eine lächerliche Figur ab und verbreite ein Riesenchaos, obwohl hier eigentlich Organisationstalent gefragt ist.«

»Wie ich sehe, hast du aber tüchtige Helfer.« Ich nickte in Richtung Korridor.

Er brach in Gelächter aus. »Hast du Elisa etwa schon aufgespürt?«

»Wenn das der Name der Göttin ist, die du deinen Papierkram durch die Gegend schleppen lässt …«

Wie er mir erklärte, half Elisa Sordi seit zwei Monaten bei ihnen aus. Nur am Wochenende allerdings, da sie noch in der Ausbildung steckte und im Juni ihre Buchhalterprüfung ablegen würde. Sie war erst achtzehn.

»Und woher hast du dieses Geschenk des Himmels?«

»Von Cardinale Alessandrini, Paolas Onkel. Sie wurde ihm von unserem vornehmen Nachbarn empfohlen, dem Senator Conte Tommaso dei Banchi di Aglieno. Der Kardinal und der Conte helfen sich gern gegenseitig, obwohl sie in Sachen Politik und Moral nicht unterschiedlicher sein könnten: ein katholischer Demokrat und ein antiklerikaler Absolutist.«

»Na, in diesem Fall freut sich der Dritte, nämlich du! Sie ist zwar noch ein bisschen jung, aber du weißt ja, dass ich vor nichts zurückschrecke …«

Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Die ist nichts für dich, Michele.«

»Und wieso nicht?«

»Sie ist furchtbar unbeholfen und schüchtern. Außerdem ist sie eine fromme Katholikin und tiefgläubig, so wie ich.«

»So denkst du also über mich, Angelo Dioguardi? Hältst du mich für einen Fan schneller Vögeleien mit geilen Flittchen?«, fragte ich in beleidigtem Tonfall.

Ich erwartete ein Lachen und verstand nicht, warum Angelo so betreten aus der Wäsche guckte. Erst der Lärm der hinter mir zu Boden stürzenden Aktenordner ließ mich das Ausmaß der Katastrophe erahnen. Mit schamrotem Gesicht stand Angelo auf, um dem Mädchen beim Einsammeln zu helfen. Als ich mich mit meinem schönsten Trottellächeln umwandte, schaute mich Elisa mit traurigen Augen an, vollkommen fassungslos. Da ich nicht über die Gabe verfügte, mich unsichtbar zu machen, entschied ich mich für die banale Flucht zum Klo, wo ich mich eine Weile einschloss und verfluchte. Im Spiegel erblickte ich das Gesicht eines vulgären Idioten, der sich einen ungeheuren Fehltritt geleistet hatte.

Ich kehrte erst zurück, als ich sicher sein konnte, Elisa nicht mehr zu begegnen. Angelos schadenfrohes Grinsen machte mich rasend.

»Was gibt’s da zu lachen, du Blödmann? Hättest mich ruhig warnen können!«

»Hab ich ja versucht, Michè. Jetzt weiß Elisa wenigstens, woran sie bei dir ist. Aber eine Chance hast du noch. Vielleicht kriegt sie ja einen Schlaganfall und vergisst das Ganze wieder …«

Wir schlossen die Tür, um ein Bier zu trinken und ein bisschen zu plaudern. Es gab keinen Aschenbecher, weil Angelo im Büro nicht rauchte, daher benutzte ich den Papierkorb. Angelo erklärte mir, worin seine Arbeit bestand. Der Vatikan informierte ihn, wer alles sein Kommen angekündigt hatte, und seine drei fest angestellten Mitarbeiter verteilten die Priester und Schwestern dann auf die verfügbaren Unterkünfte. Getrennt, versteht sich. Um neue Verträge mit Gasthäusern und Klöstern kümmerte sich Angelo persönlich. Und um die Notfälle, wenn etwa unvorhergesehene Gäste kamen. Stets zu Diensten, in jedem Moment. Deshalb brauchte er eine Aushilfe für samstags und in besonderen Fällen auch für sonntags. Diese Aushilfe war Elisa Sordi, die Göttin und angehende Buchhalterin.

»Dann bist du ja samstags mit ihr allein. Wie hältst du das bloß aus?«

»Da gibt’s nichts auszuhalten. Ich hab dir doch schon erklärt, dass Elisa tabu ist. Dich stört nur, dass ich Paola treu bin. Es wäre dir lieber, wenn ich hin und wieder ein Auge zudrücken würde.«

Das stimmte nicht. Allerdings beneidete ich ihn auch nicht um diesen Verzicht, den er für Selbstbeherrschung hielt. Meine Selbstbeherrschung hatte ich mir hart erkämpft, und ich war noch am Leben, weil ich am eigenen Leib erfahren musste, wie schnell man sonst weg ist vom Fenster. Aber Selbstbeherrschung beim Sex, das ging über meinen Verstand, das war wie Pfefferminzbonbons gegen Mundgeruch. Und ich hätte mir gewünscht, dass mein bester Freund es genauso sah. Sich Treue aufzuerlegen bedeutete, dem Leben zu entsagen, und das war allerdings eine Todsünde.

Um halb zwei klopfte Elisa an die Tür. Sie zeigte sich kaum und vermied es, mich anzusehen. »Ich würde dann jetzt Mittag essen gehen.« Diese Ankündigung war so unzeitgemäß, als hätte sie gefragt, ob sie mal auf die Toilette gehen dürfe. Ich trat ans Fenster und sah, dass vor dem Eingang der Villa B ein junger Mann auf sie wartete.

»Und mir erzählst du, sie sei eine Heilige …«, sagte ich verblüfft.

»Michele, bist du jetzt schon eifersüchtig? Valerio Bona ist ein alter Verehrer. Außerdem geht uns das überhaupt nichts an.«

Ich sah ihr immer noch nach. Die Göttin entfernte sich mit ihrem etwa gleichaltrigen Freund. Er war klein und schmächtig und trug eine Brille. Was für eine grausame Verschwendung. Außerdem sah er aus wie der reinste Hungerleider. Sie hatte den weißen Kittel ausgezogen und war sehr schlicht gekleidet: weite Hose und ein Sweatshirt, das sie sich nur um die Hüften geknotet hatte, um ihren herrlichen Hintern zu verstecken.

Mit so einer macht es wahrscheinlich noch mehr Spaß.

Ich schwor mir noch einmal, alles zu tun, um meinen peinlichen Auftritt wiedergutzumachen. Schließlich war das nur unsere erste Begegnung gewesen.

Angelo musste Cardinale Alessandrini noch ein paar Dinge mitteilen, bevor wir essen gehen konnten.

»Komm mit hoch, Michele, er wird sich freuen. Einen Polizisten kann man immer gebrauchen«, setzte er kichernd hinzu.

Die Penthousewohnung des Prälaten war riesig: ein geräumiger Salon, unzählige Zimmer und mehrere Bäder, dazu eine große Terrasse, von der aus man über den Park bis zum Pförtnerhäuschen an der Via della Camilluccia sah. Der Salon war bevölkert von jungen farbigen Priestern und Schwestern, die französisch miteinander sprachen. Eine Art katholische Jugendherberge in Luxusausführung.

»Das sind die jungen Leute, die wir unterbringen müssen. Eigentlich sollten sie heute Morgen nach Hause fliegen, aber in ihrer Heimat hat ein Staatsstreich stattgefunden, und der Flughafen wurde geschlossen«, erklärte Angelo.

Alessandrini, der einzige Weiße außer uns beiden, ging in Alltagskleidung zwischen den jungen Leuten umher und verteilte kalte Limonade aus einer großen Karaffe. Ein kleiner Mann um die fünfzig, der große Energie ausstrahlte. Sein kurz geschnittenes graues Haar bildete einen auffälligen Kontrast zu den wachen und intelligenten schwarzen Augen.

Mit ausgestreckter Hand und einem Lächeln trat er auf mich zu. »Sie müssen Michele Balistreri sein.« Und an Angelo gewandt: »Nehmt euch ein Glas Limonade. Ich bin gleich wieder da.«

Er ging ans Telefon. Das Gespräch war kurz, sein Englisch perfekt.

»Richten Sie Ihrer Heiligkeit aus, dass ich da ganz anderer Meinung bin, bei allem Respekt. Es gibt keinerlei Gewalt. Der Staatsstreich verläuft vollkommen unblutig. Dass es sich nicht um Katholiken handelt, ist ein anderes Thema, aber man wird sicher eine Verhandlungsbasis finden.«

Er kam wieder zu uns und rückte sich die Brille auf der Hakennase zurecht.

»Die gegenwärtigen Würdenträger des Vatikan haben keine großen Sympathien für die Kommunisten, genau wie Sie.«

Ich blickte zu Angelo. Der schüttelte den Kopf. Nein, es war nicht seine Art, meine Privatangelegenheiten weiterzuerzählen. Entweder sah man mir meine Einstellung an, oder der Kardinal hatte sich über mich informiert, weil ich mit dem Verlobten seiner Nichte befreundet war. So oder so, es war mir egal.

»Ich glaube nicht, dass ich mit den Würdenträgern des Vatikan irgendeine Meinung teile. Nicht einmal über die Kommunisten.«

Der Kardinal ignorierte meine Bemerkung und führte uns in die einzige Ecke des Salons, in der sich keine lauten jungen Afrikaner tummelten.

»Eminenz, es gibt da ein Problem«, sagte Angelo. »Wir haben nicht genug Platz für alle, und die Hotels sind komplett ausgebucht. Uns fehlen ungefähr zwanzig Betten.«

Das war ein anderer Angelo Dioguardi als der, den ich kannte. So steif, so unsicher. Der Kardinal hatte zu viel Einfluss auf ihn.

Alessandrini musste lachen. »Armer Angelo, du kriegst es wohl nicht hin, die Betten zu vermehren wie der Herrgott die Fische! Kein Problem. Die Priester bleiben über Nacht hier bei mir. Die Schwestern musst du natürlich woanders unterbringen, man kann ja nie wissen …«

»Aber, Eminenz, selbst in dieser großen Wohnung gibt es nicht genug Betten. Wo sollen die Leute denn alle schlafen?«

Der Kardinal zeigte auf die Terrasse. »Ich habe vergangene Nacht auch draußen geschlafen, wegen der frischen Luft. Daran sind sie doch aus Afrika gewöhnt. Ich habe Paul nach San Valente geschickt, um Schlafsäcke zu besorgen.«

Angelo entspannte sich, und der Kardinal wandte sich an mich. »Sie sind also Polizist.« Diesen Satz hatte ich schon mit tausend verschiedenen Untertönen gehört, oft ironisch und manchmal fast beleidigend. Alessandrinis Stimme verriet nur Neugier. Gleichzeitig lieferte er mir die Bestätigung dafür, dass er alles über mich wusste. In diesem Anwesen wurde man nur nach eingehender Prüfung empfangen, und das auch nur ohne Auto.

»Als Kind war es mein großer Traum, Polizist zu werden«, gestand der Kardinal. »Der liebe Herrgott wollte aber, dass ich einer anderen Art von Gerechtigkeit diene.«

Ich hatte meine eigenen Ansichten zum problematischen Verhältnis zwischen irdischer und göttlicher Gerechtigkeit, wobei mir dies nicht der richtige Moment schien, um über Nietzsche und die Evangelien zu diskutieren. Dieser mächtige und zugleich liebenswürdige Mann flößte Respekt ein, aber sympathisch war er mir nicht. Er war Priester, und da ich viele Jahre auf konfessionellen Schulen verbracht hatte, wusste ich, dass sich hinter dieser Milde brennende Glut verbergen konnte. Seit in der fünften Klasse eine schlaffe Hand in meine kurze Hose gekrochen war, während ihr Besitzer mir etwas über die Güte des Herrn gepredigt hatte, war ich misstrauisch.

Er las meine Gedanken. »Ich weiß, Sie sind ein Freidenker, vielleicht antiklerikal oder sogar antireligiös. Schauen Sie, ich respektiere die irdische Gerechtigkeit, aber ich kenne auch ihre tragischen Fehler. In dieser Welt befinden oft die Falschen darüber, was recht und was unrecht ist.«

Jetzt hatte ich aber die Nase voll. »Wer auf das Jenseits wartet, vergeudet sein ganzes Leben damit, seine Sünden zu beweinen. Reue in Buße und Absolution zu verwandeln, ist doch nur eine Art, vor dem Leben zu fliehen.«

Angelos bestürzter Blick ließ mich innehalten, aber der Kardinal war nicht der Typ, sich von einem Ungläubigen beleidigen zu lassen, erst recht nicht von einem unbedeutenden Ungläubigen wie mir.

»Ich weiß, Dottor Balistreri. Für Sie ist nur Sünde, was man Verbrechen nennt. Und die Strafe wird hier auf Erden verbüßt, möglichst hinter Gittern. Aber es war nicht der Glaube, der die Guillotine der Revolutionäre heruntersausen ließ, sondern die Aufklärung, und da rollten nicht nur die Köpfe von Schuldigen.«

»Während die Inquisition über alle Irrtümer erhaben war, habe ich recht?«

»Die Inquisition ist eins von vielen Schandmalen der Kirche. Und sie gehört in den Bereich der irdischen Gerechtigkeit.«

So erfuhr ich, dass Cardinale Alessandrini sehr eigene Ansichten vertrat, die er im Zweifelsfall auch gegen die Amtsträger des Vatikan verteidigte.

Ich hätte gern abgewartet, bis Elisa in Angelos Büro zurückkehrte, aber nach meinem Exkurs über schnelle Vögeleien und geile Flittchen hielt ich es für klüger, es erst einmal gut sein zu lassen. Bereitwillig ließ ich mich von Angelo überreden, ihn nach San Valente zu begleiten, um Padre Paul zu helfen.

Als wir den Park durchquerten, warf ich einen Blick in den zweiten Stock hinauf. Das Fenster in Elisas Büro war als einziges geöffnet. Ich zündete mir eine Zigarette an und sah auf der Terrasse von Villa A wieder etwas in der Sonne blitzen.

»Da hinten vergnügt sich jemand mit dem Fernglas.«

Angelo nickte. »Wahrscheinlich Manfredi, der Sohn von Conte Tommaso. Ein komischer Junge, aber an seiner Stelle hätte ich auch Probleme.«

Kaum zu glauben, dass es in diesem Ableger des Paradieses Probleme geben sollte. Andererseits hatte ich gelernt, dass Reichtum nicht gegen die Welt schützt, vor allem Kinder nicht.

»Was für ein Problem hat er denn, außer dass er seine Mitmenschen ausspioniert?«

»Manfredis Problem ist sein Vater. Der Conte ist ein einflussreicher Politiker. Er ist Vorsitzender der Partei, die in Italien die Monarchie wieder einführen möchte. Durch die Investitionen, die seine Familie in Afrika getätigt hat – Holz, Bodenschätze, Tierzucht –, verfügt er über gewaltige finanzielle Möglichkeiten.«

Auch ich hatte einen einflussreichen Vater gehabt und ahnte also, womit Manfredi zu kämpfen hatte. Wie ich Angelos Bericht entnehmen sollte, war es bei ihm aber noch viel schlimmer.

»Der Conte hat eine sehr junge Frau aus einem nordeuropäischen Adelsgeschlecht geheiratet, Ulla. Sie war damals erst siebzehn und wurde gleich schwanger. Während der Schwangerschaft fuhr sie mit dem Reittraining fort, und der Fötus wurde geschädigt. Manfredi kam mit Hasenscharte und einem ausgeprägten Angiom auf die Welt, sein Gesicht war völlig entstellt. Ansonsten ist der Junge gesund und sogar ziemlich intelligent, aber er hat einen sehr schwierigen Charakter. Ehrlich gesagt tut er mir leid. Ich wüsste nicht, was ich an seiner Stelle machen würde.«

Ich empfand kein Mitleid für das kleine Monster mit dem Fernglas. »Es gibt Schlimmeres im Leben, Angelo. Leute mit viel gravierenderen Behinderungen führen ein ganz normales Leben. Kann man das denn nicht operieren?«

»Sie waren bei ästhetischen Chirurgen auf der halben Welt. Alle raten von einer Operation ab, solange der Junge noch wächst. Ich hoffe sehr für ihn, dass er eines Tages …«

Eine blaue Limousine rollte in den Park und hielt neben dem Aston Martin. Ein Mitglied der Eskorte beeilte sich, die hintere rechte Wagentür zu öffnen. Der Mann, der ausstieg, flößte unverzüglich Respekt und Ehrfurcht ein. Mitte vierzig, bekleidet mit einem tadellosen blauen Nadelstreifenanzug, obwohl es sehr heiß war. Groß, kerzengerade, schwarzes nach hinten gekämmtes Haar über der hohen Stirn, markante Gesichtszüge mit einer ausgeprägten Adlernase, schmaler Schnäuzer und gepflegter schwarzer Spitzbart. Er würdigte uns keines Blickes, sagte seinem Leibwächter etwas ins Ohr und verschwand in der Villa A.

»Ein liebenswürdiger Nachbar«, kommentierte ich.

Angelo lächelte. »Der Conte hat nicht viel übrig für die Menschen, vor allem nicht für Leute unterhalb seines Niveaus.«

Der Leibwächter kam auf uns zu, zeigte mit dem Finger auf mich und fragte Angelo: »Gehört der Herr zu Ihnen?«

»Ja«, antwortete Angelo eingeschüchtert.

»Dann möchte ich Sie bitten, Ihre Gäste daran zu erinnern, dass der Park Privatgelände ist und man hier nicht rauchen darf«, erklärte er nüchtern, bevor er sich wieder entfernte.

Es war nicht zu fassen. Ein Grundstück, auf dem nicht nur Parken, sondern auch Rauchen verboten war. Wo man Besuchern von einer Terrasse aus hinterherspionierte und ihre Akte einsah. Ich konnte mir gut vorstellen, dass der junge Manfredi es nicht leicht hatte im Leben. Meine Zigarette trat ich lieber nicht auf der Erde aus, sonst hetzten sie mir noch ein Dobermannrudel auf den Hals oder versetzten mich in eine Polizeiwache irgendwo in den Bergen.

Wie Angelo mir erklärte, bewohnte der Conte die Villa A und war Eigentümer des gesamten Anwesens, während der Vatikan nur als Mieter in Villa B residierte. Am Gittertor stellte mich Angelo der Pförtnerin Gina Giansanti vor.

»Nächstes Mal rauchst du deine Zigarette, bevor du hier reinkommst, junger Mann«, sagte sie, und ich konnte nicht heraushören, ob das als Vorwurf gemeint war oder als barmherziger Akt der Solidarität.

Am Tor wandte ich mich noch einmal um und winkte dem aufblinkenden Fernglas auf der Terrasse zu. Ciao, ciao, Manfredi.

Die Pfarrgemeinde San Valente lag an der Via Aurelia antica, eine Viertelstunde entfernt. An diesem Samstag herrschte wenig Verkehr. Viele Geschäfte waren geschlossen, und die Römer saßen beim Mittagessen oder picknickten in einem der weitläufigen Parks. Ein kleiner Weg führte zur Kirche. Ich parkte auf der Wiese, zwischen wild wuchernden Sträuchern und Hecken. Alles wirkte ein bisschen verfallen und sich selbst überlassen. Die Kirche war klein und sehr schlicht. Unter der ewigen Sonneneinstrahlung bröckelte der Putz. Auf der anderen Seite der Wiese stand ein mittelgroßes Gebäude, daneben ein einsamer Baum, der erst kürzlich gepflanzt worden war.

Ein Dutzend Kinder zwischen zehn und dreizehn Jahren spielten Fußball, eine blonde junge Frau um die zwanzig war Schiedsrichterin. Ein anderes Mädchen räumte einen langen Tisch ab, der unter dem Baum stand.

Wir gingen um das Haus herum. Überall herrschte Unordnung. An diesem Ort gab es noch viel zu tun. Der hagere Padre Paul, der damit beschäftigt war, Schlafsäcke in einen alten VW Käfer zu laden, war schon ganz verschwitzt in seinem Talar.

»Angelo, my friend!«, rief er, als er uns sah. »Dein Freund neuer Priester?«

Diesmal lächelte ich ihm zu. Seine Versuche, Kontakt aufzunehmen, waren schon fast peinlich. Wir halfen ihm beim Beladen.

»Eat mit uns?«, schlug Paul schließlich vor, als wir uns im maroden Waschbecken eines schlichten kleinen Badezimmers die Hände wuschen.

Wir setzten uns unter den Baum. Das blonde Mädchen brachte uns Plastikteller mit einer lauwarmen Minestra, die nicht besonders schmeckte. Dann ging sie wieder, um das Geschirr abzuwaschen.

»Helfen die Kinder denn nicht mit?«, fragte Angelo, der schon als kleiner Junge daran gewöhnt worden war, selber zu kochen, den Tisch zu decken und abzuspülen.

»Difficult, wir nur am Anfang«, erklärte Paul. »You speak mit Kindern?«

»Nein danke, vielleicht nächstes Mal, ich muss zurück auf die Wache. Ich habe gerade noch Zeit für eine Zigarette, wenn Rauchen hier gestattet ist.«

Paul brach in Gelächter aus. »Ich no smoking, aber nicht wie der Conte. Hier alles open. Kill yourself if you like it.«

Ich öffnete die zweite Schachtel an diesem Tag und zündete mir eine Zigarette an. Angelo verzichtete. Wie immer achtete er darauf, nicht mehr als zehn pro Tag zu rauchen.

»Schon lange in Rom?«, fragte ich Paul. Ich merkte, dass ich Verben mied, als würde er mich dann besser verstehen.

»Fast ein Jahr. I study an päpstlicher Universität and help Cardinale Alessandrini. When I finish I will go to Africa, to open Kinderheim wie hier.«

Dann stellte Paul mir eine ernste Frage, woraus ich folgerte, dass er auch Verben benutzte.

»Wie viele Jahren du waren, wenn du hast Berufung zu Polizist?« Er sagte wirklich »Berufung«. Klar, das Wort war Priestern natürlich geläufig.

»Was meine Berufung betrifft, bin ich mir noch nicht sicher. Entschieden habe ich mich jedenfalls vor zwei Jahren.«

Ich sah, dass er im Kopf nachrechnete, wie alt ich wohl war. Offenbar kam er zu dem Schluss, dass er noch ein paar Jahre hatte, um sich über seine Berufung klar zu werden. Einige seiner Glaubensgrundsätze würden in den kommenden Jahren noch auf eine harte Probe gestellt werden, dachte ich.

Sonntag, 11. Juli 1982

Seit fast zwei Wochen tat ich kein Auge mehr zu. Die Fußball-WM in Spanien hatte die Lebensgewohnheiten der Italiener auf den Kopf gestellt. Nach einem holprigen Start hatten die Azzurri auf fast unerklärliche Weise Argentinien, Brasilien und Polen besiegt. Unvergessliche Stunden waren das, die von Pokerpartien mit Angelo und Alberto abgerundet wurden und für mich oft im Bett endeten, jedes Mal mit einem anderen Mädel.

Es war der Tag des Endspiels gegen die Deutschen, und Rom schwelgte in einem latenten Siegesrausch, der jederzeit explodieren konnte. Italienische Flaggen waren überall ausverkauft. Wer sich nicht rechtzeitig eine besorgt hatte, hängte drei Handtücher in den Nationalfarben über das Balkongeländer. Irgendwann waren auch die Handtücher aus, und so bemalten die letzten Nachzügler in der Not ihre Bettlaken.

Dass Italien an diesem Abend die WM gewinnen würde, stand außer Zweifel. Rom erwachte unter einem klaren Himmel und war ruhiger als gewöhnlich. Als wollten die Römer ihre Kräfte sammeln, um selbst das Finale gegen Deutschland zu bestreiten. Auch der sonntägliche Ansturm auf die Strände hielt sich in Grenzen, schließlich könnte man bei der Rückkehr im Stau stecken bleiben und nicht um Punkt halb neun vor dem Fernseher sitzen.

Ich nutzte das aus und blieb im Kommissariat, um ungestört meinen Papierkram zu erledigen. Eigentlich war nicht viel zu tun, aber ich wollte sicher sein, abends nicht mehr gestört zu werden. Kurz vor dem Mittagessen rief Angelo an, der gerade mit Paola aus der Messe kam.

»Ich habe einen wunderbaren Abend für dich organisiert, Commissario Balistreri.«

»Wenn du die Abende so organisierst wie deine Akten im Büro, überkommen mich gewisse Zweifel. Aber lass hören!«

»Also, wir gucken uns alle zusammen bei Paola das Spiel an. Dein Bruder Alberto bringt seine deutsche Verlobte mit, die können wir ein bisschen ärgern. Dazu gibt es etwas Schönes zu essen und zu trinken. Wenn das Spiel dann vorbei ist, gehen Paola und die anderen feiern …«

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