Die Saat des Bösen - Roberto Costantini - E-Book
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Die Saat des Bösen E-Book

Roberto Costantini

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Beschreibung

Commissario Balistreri: zynisch, respektlos und absolut unbestechlich im Kampf gegen das Böse.

Libyen, Sechzigerjahre: Salvatore Balistreri gilt als »wichtigster Italiener von Tripolis« mit großem politischen Einfluss. Sein Sohn Michele verbringt die Zeit lieber mit Freunden – seiner Blutsbrüderbande. Doch als die Nachbarstochter ermordet wird, erhält seine unbeschwerte Kindheit einen tiefen Riss. Kurze Zeit später, am Tag des Gaddafi -Militärputsches, stirbt auch noch Micheles Mutter. Ein tragischer Zufall? Zwanzig Jahre später arbeitet Michele als frustrierter Polizeikommissar in Rom. Als eine Spur auf die mysteriösen Tode in Libyen verweist, beginnt er sofort zu ermitteln. Bald darauf tauchen libysche Feinde wieder auf. Und mit ihnen einer seiner Blutsbrüder von damals …

Die Saat des Bösen ist eine packende Reise in zwei entgegengesetzte Welten – ein faszinierender, genial konstruierter Thriller.

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Roberto Costantini

Die Saat des Bösen

Thriller

Aus dem Italienischen von Anja Nattefort

C. Bertelsmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe erschien 2012unter dem Titel »Alle radici del male« bei Marsilio, Venedig.
Dieses Buch ist kein Sachbuch, sondern ein Roman. Ich hatte nicht den Anspruch, die Wahrheit zu rekonstruieren, ich habe mir mögliche Wahrheiten ausgedacht. Tatsächliche Begebenheiten und real existierende Personen aus Vergangenheit oder Gegenwart wurden folglich ebenso an die Erfordernisse der Fiktion angepasst wie einzelne Schauplätze speziell in Tripolis. Alle anderen Figuren und Geschehnisse sind reine Erfindung.
Copyright © 2012 by Marsilio Editori s.p.a., VeneziaCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014beim C. Bertelsmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlag: Eisele Grafik-Design, MünchenSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-12164-8V002
www.cbertelsmann.de

Für Wilma und UldericoFür das freie Volk Libyens

Like a bird on a wireLike a drunk in a midnight choirI have tried in my way to be free

L. COHEN

1969

Der glühende Gibli blies ihr seinen sandigen Atem ins Gesicht. Nadia al-Bakri hielt sich den Schleier vor die zusammengekniffenen Augen, um sich vor den heißen Sandkörnern und den zudringlichen Fliegen zu schützen. Sie folgte dem unbefestigten Weg wie im Schlaf. Morgen für Morgen ging sie diese Strecke, ihre nackten Füße kannten jeden Stein.

Als sich das Quaken der Frösche in den pfeifenden Wind mischte, wusste sie, dass es nicht mehr weit war. Sie hatte den kleinen Tümpel an der lang gestreckten Kurve vor der Villa Balistreri erreicht.

Eigentlich erahnte sie ihn mehr, als dass sie ihn sah. Im Sandstaub, unter einem Eukalyptusbaum ungefähr dreißig Meter vor ihr, stand eine schemenhafte Gestalt. Nadia wunderte sich einen Moment lang, ihn hier anzutreffen. Dann lächelte sie und ging zögernd auf ihn zu.

Im trüben Nebeldunst des Wüstensands konnte sie den Lichtreflex des Messers nicht sehen.

1982

»Sie sind Polizist, Balistreri. Sie sollen einen Mörder suchen, nicht einen Verräter oder einen persönlichen Feind.«

»Das ist dasselbe, Senatore. Die politische Klasse, die Italien heute regiert, kam an die Macht, indem sie im Krieg das eigene Land verraten hat. Menschen wie Sie haben den Italienern vorgemacht, dass persönlicher Nutzen mehr zählt als Loyalität.«

»Ich weiß nicht, was das mit dem Mörder dieser Mädchen zu tun haben soll, Balistreri. Der tötet mit dem Messer.«

»Sie irren sich. Dieser Mörder tötet mit dem Kopf. Zu seinem persönlichen Nutzen. Wie wir es von Politikern wie Ihnen gelernt haben.«

PROLOG

Samstag, 1. Februar 1958

Die Tür mit dem Fliegennetz, die vom Salon der Villa auf die Veranda hinausführt, steht weit offen. Obwohl es in Tripolis im Februar schon warm ist, sind noch keine Mücken zu sehen.

Draußen zerreißt das Quaken der Frösche die Stille der Nacht.

Für den letzten und entscheidenden Abend des Festivals von Sanremo haben wir uns im Salon versammelt, alle drei Familien.

Die sechs al-Bakris, die Libyer: das Familienoberhaupt Mohammed, die Söhne Farid, Salim, Ahmed, Karim und ihre kleine Schwester Nadia. Die beiden Ehefrauen von Mohammed sind in ihre Hütte verbannt.

Die drei Hunts, die Amerikaner: William, seine Gattin Marlene und die kleine Laura.

Und wir, die fünf Bruseghin-Balistreris, die Italiener: Großvater Giuseppe, mein Vater Salvatore, meine Mutter Italia, mein Bruder Alberto und ich, Michelino.

Im Schwarz-Weiß-Fernseher von Marelli singt Domenico Modugno den Siegertitel des Festivals. Ich sitze auf dem Sofa zwischen den beiden Frauen meines Lebens: neben der, die mich geboren hat, und neben der, mit der ich mein Leben verbringen werde. Das Leben ist wunderschön und liegt noch vor mir.

Penso che un sogno così non ritorni mai più

Mi dipingevo le mani e la faccia di blu

Poi d’improvviso venivo dal vento rapito

E incominciavo a volare nel cielo infinito

Volare oh oh

Cantare oh oh oh oh1

1Ein solcher Traum kehrt sicher nie wieder/Gesicht und Hände hab ich blau angemalt/Da werde ich plötzlich vom Wind erfasst/Und steige in den unendlichen Himmel auf/Fliegen oh oh/Singen oh oh oh oh

ERSTER TEIL

Ich stehe aufrecht, der Angstschweiß klebt mir die Tunika an den Leib. Unter den nackten Füßen spüre ich das Holz des Tisches, der direkt an der Betonwand steht. Einen Meter darunter sehe ich den Boden aus Erde und Schlamm. Eine Kakerlake klettert den Tisch herauf. Meine Füße sind frei, ebenso mein rechter Arm, aber mein linkes Handgelenk steckt in Handschellen. Der andere Ring der Handschellen ist an einem Eisenrohr befestigt, das sich senkrecht die Wand hinaufzieht. Jetzt klettert die Kakerlake das Rohr hoch. Um meinen Hals liegt ein Seil. Der dicke Knoten drückt mir gegen den Hals, aber nicht so stark, dass ich nicht mehr atmen könnte. Zumindest solange ich aufrecht stehe. Wenn ich versuche, in die Knie zu gehen oder mich hinzusetzen, schnürt mir die Schlinge die Kehle zu.

Freitag, 25. Mai 1962

Auf dem staubigen Platz unter dem glühenden blauen Himmel stehen sich die beiden Cowboys Auge in Auge gegenüber, die Revolver in den Halftern, die Hände jederzeit bereit zu ziehen. In der Menge, die das Duell verfolgt, steht auch die junge Frau, die erst Kirk geliebt hat, dann Rock und nun wer weiß wen.

Nur das Rattern des Filmprojektors ist im dunklen Vorführsaal des Alhambra-Kinos zu hören. Ich mustere das unbewegte Gesicht meines Großvaters, als Rock Hudson und Kirk Douglas die letzten Blicke austauschen.

»Wer gewinnt, Großvater? Wer ist schneller?«

Ganz früher hat mein Großvater Giuseppe Bruseghin, Jahrgang 1899, als Bauer in Venetien gelebt und war dem König von Piemont treu ergeben. Nach der Niederlage von Caporetto und dem Durchbruch der Österreicher gehörte er zu den wenigen, die nicht sofort Uniform und Gewehr fortwarfen und sich auf dem nächsten Gehöft verkrochen. Für Waffen und Schießereien hat er nicht viel übrig, und Westernfilme erträgt er nur mir zuliebe.

»Im Leben gewinnt nicht immer der, der als Erster schießt, Michelino.«

Er tätschelt meinen Kopf. Ich schiebe seine Hand fort, weil ich das nicht mag, aber er legt sie gleich wieder drauf.

Kirk ist schneller, Rock drückt einen Augenblick später ab. Ein ewiger Moment der Stille, in dem sich ihre Blicke zum letzten Mal kreuzen. Dann sieht Kirk zu der jungen Frau hinüber und sackt in sich zusammen. Als er auf der Erde liegt, rennt sie zu ihm hin. Zu ihm und nicht zu Rock, der das Duell gewonnen hat.

»Großvater, verlieben sich die Frauen nicht immer in den Sieger?«

Meine Worte gehen im Schimpfen unserer Sitznachbarn unter.

Manchmal stellt Großvater sich taub, aber ich weiß, dass er einfach nur nicht antworten will. 1940 hat sich sein Sohn Toni der faschistischen Gioventù italiana del littorio angeschlossen und zog in diesen verdammten Krieg. Am letzten Gefechtstag kam er ums Leben, immer noch in der Uniform der Faschisten, während ringsum alle die Flucht ergriffen. Der König, sein Sohn und die Politiker hatten längst das Weite gesucht, und die Soldaten waren eingeschlossen zwischen den Partisanen auf der einen und den Deutschen auf der anderen Seite. Während die Faschisten nach Norden türmten, lief Toni in den Süden und damit seinen Feinden geradewegs in die Arme.

Kurz nach Toni starb meine Großmutter, an Typhus und am gebrochenen Herzen. Großvater musste seine Tochter allein großziehen. Italia las schon als junges Mädchen Nietzsche und vergötterte Mussolini und ihren Bruder Toni wie Helden.

Immer wenn ich Großvater zu sehr an Toni erinnere, gibt er mir keine Antwort.

Inzwischen hat sich herausgestellt, dass Kirk absichtlich mit ungeladener Waffe zum Duell erschienen ist. Fassungslos starre ich auf den Nachspann. Wenn Kirk wusste, dass in seinem Revolver keine Patrone war, muss vor dem Schusswechsel irgendetwas in seinem Blick gelegen haben, das mir entgangen ist.

Das Dach des Alhambra-Kinos gleitet beiseite und öffnet sich auf den blauen Himmel über Tripolis. Der Geruch von Eukalyptusbäumen und Pferdemist, das Geratter von Kutschen und Karren und das klagende Nachmittagsgebet des Muezzin dringen herein.

Die erste Vorstellung, die um zwei Uhr nachmittags beginnt, ist vorüber. Als die Platzanweiserin mit Getränken und Eis durch die Reihen kommt, kauft Großvater mir ein Tütchen cacawia, geröstete Erdnüsse, und steht auf, um zu gehen.

»Großvater, lass uns den Film noch einmal ansehen, bitte!«

Diesen Wunsch hört er nicht zum ersten Mal, und er weiß, dass ich mich zu Hause nur langweilen würde. Der Freitag ist muslimischer Feiertag, und meine beiden Freunde Ahmed und Karim sind mit ihrem Vater in der Moschee. Lernen würde ich auch nicht, da Samstag und Sonntag die Schule geschlossen ist.

»Meinetwegen, Michelino, aber nur noch ein einziges Mal, nicht zwei Mal wie neulich!«

Wir leben etwas außerhalb von Tripolis, in Sidi el-Masri. Das liegt zehn Kilometer von der Piazza Castello entfernt, dem Zentrum der Stadt hinter dem Königspalast, der Gartenstadt und der Sciara Ben Asciur. Sidi el-Masri besteht aus einer langen, von Eukalyptusbäumen gesäumten Allee, an der sich außer den beiden Villen unserer Familie kein einziges Haus befindet.

Die beiden Villen, die mein Großvater einst bauen ließ, sind von einer zwei Meter hohen Mauer umschlossen. Von der asphaltierten Allee tritt man durch ein großes schmiedeeisernes Tor, das die ineinander verschlungenen Initialen von Mama und Papa trägt, S für Salvatore und I für Italia, ein Buchstabenschnörkel, der seltsam an das amerikanische Dollarzeichen erinnert. Meine Mutter hasst ihn, aber mein Vater hängt daran. Es war seine Idee und soll uns daran erinnern, dass man in einer richtigen Familie zusammenhält.

Auf der Rückseite der Villen führt ein kleines Gartentor auf die Ländereien und die Olivenplantage meines Großvaters hinaus. Vorbei an einem kleinen Froschtümpel verläuft ein zwei Kilometer langer Weg durch die kahlen Felder zur Hütte der al-Bakris, in der auch Ahmed und Karim wohnen, gleich gegenüber von einer abscheulich stinkenden Jauchegrube.

Dort beginnt eine wenig befahrene ungepflasterte Straße, die einen Kilometer an der Olivenplantage der Familie Bruseghin vorbeiführt. Hier haben die Hirten ihre Hütten und lassen ihre Ziegen weiden. Kurz vor der Esso-Tankstelle, die etwas näher an der Stadt liegt, mündet diese Straße wieder in die Allee.

Obwohl die Olivenplantage und die Ziegenweiden einige Kilometer entfernt sind, kann man ihren Geruch auf unserem Grundstück noch deutlich wahrnehmen. Vor allem den Gestank der Jauchegrube, die als Kloake für sämtliche Hütten der Stadt und als Düngerreservoir für die Olivenbäume dient.

Ich liebe den Duft von Erde, Eukalyptus und Oliven, und Großvaters Plantage erfüllt mich mit Stolz. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs heiratete er und machte ein Diplom als Landvermesser. 1932, sechs Jahre vor der Massenbesiedlung des »Vierten Ufers« von Italien, kam er mit seiner Gattin und seinen beiden Kindern nach Libyen, dem zwölfjährigen Toni und Italia, die damals gerade mal zwei war. Aufgrund seiner Ausbildung konnte er beim Aufbau der von Italo Balbo gegründeten Dörfer mithelfen: Castel Benito, D’Annunzio, Mameli, Bianchi, Garibaldi, Crispi, Breviglieri. Im Gegenzug schenkten ihm das National-faschistische Institut der Sozialvorsorge und der Bevollmächtigte des Königs ein Stück Land wenige Kilometer außerhalb von Tripolis, dazu tausend junge Olivenpflanzen.

Die Erde auf diesem Grundstück war vollkommen sandig. Großvater suchte sich libysche Arbeiter, die den Sand einebneten und Dämme gegen die Dünen bauten. So gelang es ihnen, den verfluchten Gibli, der aus der Wüste herüberwehte, in Schach zu halten.

Sie hoben einen Brunnen aus, bis hinab zum Grundwasser, und zogen Bewässerungskanäle. Am Schluss pflanzte Großvater die Olivenbäume. Er wusste, dass es Jahre dauern würde, bis sie etwas abwarfen, also verdiente er sein Brot weiterhin als Landvermesser und half, Häuser für die Siedler zu bauen. Diesen Jahren der Entbehrung ist es zu verdanken, dass Großvater heute die größte Olivenplantage Libyens besitzt.

Mein Vater aber hasst den Geruch von Oliven. Er erinnert ihn an seine Kindheit in Palermo, wo er mit seinen Eltern und vier Brüdern in einem einzigen Zimmer hauste und sich die Toilette mit drei weiteren Familien teilen musste.

Der Geruch der Armut.

Wir haben den ganzen Film noch einmal gesehen. Als Kirk Douglas mit dem ungeladenen Revolver zum Duell ging, habe ich mir sein Gesicht sehr aufmerksam angeschaut.

Jetzt habe ich es verstanden.

Mit dem Seicento sind Großvater und ich zurück nach Hause gefahren, wo ich um sechs Uhr Brot mit Butter und Marmelade, cacawia und Datteln serviert bekomme. Ich setze mich rittlings auf das Verandageländer, ungefähr eineinhalb Meter über der Erde. Die mabruka, unser arabisches Dienstmädchen, mag das nicht, aber sie überwacht gerade die Köchin bei der Zubereitung des Couscous. Der Gärtner schaut geflissentlich weg, und mein Vater ist in seinen Büroräumen an der Piazza Italia, gleich neben der Zitadelle, und arbeitet. Jet, unser Boxer, sieht mir mit seiner platten Schnauze und seinen gutmütigen Augen zu. So schaut er immer drein, weil er dann nicht ganz so hässlich ist und vielleicht eine Dattel erbetteln kann. Ich würde ihm jederzeit eine geben, aber mein Bruder Alberto sagt, das sei nicht gut für den Hund.

Das Geländer ist mein Pferd, und ich bin Kirk Douglas. Revolver, Cowboyhut und Stiefel mit Sporen habe ich zu Weihnachten bekommen. Ich weiß, dass es ein Geschenk von Mama und Papa war. Und das Zorrokostüm ist von Großvater, aber dem gefällt es, dass ich noch an den Weihnachtsmann glaube.

Ich galoppiere wild, vielleicht etwas zu wild. Papa wird nicht begeistert sein, wenn er im weißen Lack die Kratzer meiner Stiefel sieht. Für ihn sind das Spuren meiner Spinnereien. Immer häufiger ermahnt er mich, mehr an die Realität zu denken, an die Hausaufgaben, wie mein großer Bruder.

Zum Glück ist Papa in der Stadt und arbeitet, wie üblich. Mit diesem unsympathischen jungen Kerl aus Italien, der vor ein paar Tagen bei uns zum Essen war, Emilio Busi.

Es ist sehr heiß. Der Schweiß läuft mir den Nacken hinunter, eine Ameise krabbelt meinen Arm hoch, die Spatzen machen einen Höllenlärm. Die Ameise zerquetsche ich, und die Spatzen werden später noch Bekanntschaft mit meinem Luftgewehr machen, einer Diana 50.

Inzwischen ist Ahmed aus der Moschee zurück und erwartet mich zum Zweikampf. In meiner alten Cowboymontur, die ich in den vergangenen Jahren geschenkt bekommen, aber bereits ausgemustert habe, steht er mitten auf dem staubigen, sandigen Platz.

Ahmed ist bereit zu sterben, wie immer in unseren Duellen. Genau wie im Leben füllt er auch diese Rolle mit großem Ernst aus. Er ist groß, dunkelhäutig, hat schwarzes, leicht gewelltes Haar und einen finsteren, eindringlichen Blick. Er sieht genauso aus wie sein jüngerer Bruder Karim und seine kleine Schwester Nadia. Alle drei kommen nach ihrer schönen Mutter Jamila, der zweiten Ehefrau von Mohammed. Hübsch und arabisch.

Ahmed ist ein kleiner Bettler, so nennen meine italienischen Altersgenossen die Libyer. Obwohl ich der Spross einer der wohlhabendsten und einflussreichsten Familien von Tripolis bin, habe ich ihn zum besten Freund erkoren. Überflüssig, viele Worte darüber zu verlieren, wir reden beide nicht gern über Freundschaft, das ist Mädchenkram. Jedenfalls steht fest, dass ich viel lieber meine Nachmittage mit ihm verbringe, als mich in die schicken Clubs am Meer kutschieren zu lassen und italienische, englische oder amerikanische Jungen zu treffen.

Unsere Spiele folgen einem strengen Muster: Er verliert, und ich gewinne. Gewöhnlich duldet diese unausgesprochene Regel keine Ausnahme. Doch heute ist es anders.

Im Schatten des Eukalyptusbaums unterhält sich Laura mit dem gleichaltrigen Karim, der nie bei solchen Spielen mitmachen würde. Er ist sehr religiös und findet, Western seien etwas für Ungläubige. Laura sagt immer, Karim sei so schön, er sehe aus wie der Sohn von Omar Sharif in der Rolle des Ali in diesem Film, der gerade neu in die Kinos gekommen ist, Lawrence von Arabien.

Als würde das auf Ahmed nicht genauso zutreffen, schließlich ähneln sie sich wie ein Ei dem anderen.

Laura stellt sich für eine Rolle zur Verfügung, allerdings ohne großen Enthusiasmus. Sie ist fast zwei Jahre jünger als Ahmed und ich, und es ist offenkundig, dass ich ihr sympathisch bin. Deshalb tut sie aber noch lange nicht, was ich ihr sage.

Ich könnte sie ein bisschen ärgern und sie durch Nadia ersetzen, die immer aufmerksam zuschaut und liebend gern mitmachen würde. Aber ich weiß, dass Laura das völlig gleichgültig wäre. Außerdem dürfen arabische Frauen nicht in Filmen mitspielen, auch nicht in nachgespielten. Ahmed und Karim würden das als Beleidigung empfinden.

»Laura, quatsch nicht so viel, du musst doch das Duell verfolgen.«

Karim verteidigt sie. »Das ist meine Schuld, tut mir leid.«

Er ist immer auf Lauras Seite.

Ich steige von meinem Geländer-Pferd ab und gehe auf Ahmed zu. Jet ist bei ihm und leckt ihm die Hand. Wir beide gehen abends immer mit ihm spazieren, damit er wie ein Irrer durch die Gegend flitzen kann. Nur Ahmed rennt ihm allerdings hinterher.

»So habe ich ihn wenigstens im Blick. Da draußen laufen so viele Hündinnen mit Tollwut herum«, sagt er immer.

Ich schlendere zu ihm, die Daumen lässig hinter den breiten Gürtel geklemmt.

»Heute gewinnst du«, flüstere ich ihm ins Ohr und koste seine Verblüffung aus.

Ahmed schüttelt den Kopf und mustert mich. Er hasst Überraschungen und zieht es vor, wenn alles läuft wie geplant.

»Mike, lass mich doch verlieren wie immer.«

»Keine Angst, Ahmed, du wirst schon noch verlieren. Aber diesmal sterbe ich, und du hältst dich auf den Beinen. Und jetzt los, zehn Schritte.«

Wir stellen uns Rücken an Rücken, dann gehen wir langsam auseinander. Karim zählt die Schritte, das ist der Part, den ich ihm zugeteilt habe. Dann drehen wir uns um und sehen uns in die Augen.

Laura ist abgelenkt, weil sie einem Schmetterling nachsinniert. Oder ihren Gedanken, die manchmal etwas bizarr sind. Einmal hat sie gesagt, sie könne weder die Sonne noch die Dunkelheit leiden, und die Zeit möge sie am liebsten schnell, aber stillstehend. Ahmed sagt, sie spinnt, aber Karim hält sie für ein Genie.

Die beiden Schüsse fallen. Ein paar Sekunden angespannter Stille vergehen. Dann knickt Kirk Douglas in den Knien ein, und schließlich liege ich am Boden, eine Hand auf der Brust, die Augen geschlossen. Ich sehe Ahmed Rock Hudson reglos dastehen, erstaunt. Fast erschrocken über diesen ungewohnten Ausgang.

Endlich schauen auch Laura und Karim her. Sie sind überrascht. Es ist das erste Mal, dass ich in einem Duell besiegt werde. Ahmed ist blass und schweigt. Sie kommen zu mir, zum getöteten Kirk Douglas. Jetzt müsste Laura zu Ahmed Rock laufen, zum Sieger. Aber sie tut es nicht. Sie steht da und betrachtet nachdenklich meine Leiche.

In diesem Moment leckt Jet mir über die Wange, wahrscheinlich angelockt von einem Marmeladenrest. Ich höre Karim kichern und öffne wütend die Augen.

»Entschuldige«, sagt Karim, »wir wundern uns nur, weil sonst immer du gewinnst.«

Ich erkläre ihnen die Neuerung, dass ich, Kirk Douglas, vor dem Duell die Patrone aus meinem Revolver genommen habe, damit ich Rock Hudson, meinen besten Freund, nicht erschießen muss.

Jetzt lächelt Laura mir zu und nickt.

»Bravo, Mike. Wer immer gewinnt, wird irgendwann unsympathisch.«

Ahmed ist immer noch verwirrt.

»Ich bin lieber der, der stirbt.«

Laura wirft ihm einen Blick zu.

»Du würdest dich nie mit einer ungeladenen Pistole erschießen lassen. Nicht mal von Mike.«

Ahmed sieht sie schief an. Er wirkt eingeschnappt. Die Abneigung beruht auf Gegenseitigkeit. Er hat Angst, dass ich ihm Laura eines Tages vorziehen könnte.

Karim geht dazwischen. »Für euch beide würde ich mich auch nicht umbringen lassen. Für Laura schon.«

Äußerlich gleicht er Ahmed aufs Haar. Er ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, aber charakterlich ist er sein genaues Gegenteil. Karim ist Idealist, Ahmed Realist.

Ahmed streichelt den Hund und sieht mich an.

»Gehen wir eine Runde mit Jet, Mike?«

Da stehe ich nun, in einer Falle gefangen. Ich kann nichts tun, überhaupt nichts. Nur durchhalten und nicht zulassen, dass meine Beine einknicken und die Schlinge mich erwürgt. Er hat mich in der Hand, und das Leben anderer ist ihm nichts wert.

Das eine Ende der Schlinge führt nach oben, ich kann es mit der freien rechten Hand ertasten. Als ich mit den Fingern daran entlangfahre, streifen sie meinen Schädel. Er ist nackt, vollkommen kahl rasiert. Meine Haare, meine wunderschönen schwarzen Haare sind verschwunden. Mein Blick folgt dem Seil im Halbdunkel. Es zieht sich zur Decke hinauf, schlingt sich um ein anderes Eisenrohr, fällt wieder herunter. Durch das Fensterchen dringt kaum Licht herein. Ich kann nicht erkennen, wo das Seil endet. Dafür sehe ich, dass die Kakerlake inzwischen direkt über mir an der Decke hockt.

Samstag, 26. Mai 1962

Jeden Samstagabend tummelt sich eine Schar von Gästen vor den beiden Villen. Italiener, Amerikaner und Libyer, alles wichtige Leute: Landbesitzer, Unternehmer, Direktoren der Agip und des Banco di Roma, Diplomaten, amerikanische Offiziere der Wheelus Field Air Base sowie Würdenträger und Minister des Königs.

An diesen Abenden wird abwechselnd arabische, italienische und amerikanische Küche serviert. Heute ist amerikanischer Abend. Barbecue mit Hamburgern und Würstchen, zubereitet von William Hunt. Dazu Coca-Cola und Popcorn, gekauft von seiner Frau Marlene, denn Lauras Mama kocht nicht gern.

Mit einer Schüssel Popcorn und kleinen Cola-Flaschen ziehen Laura und ich uns hinter die Villen zurück und machen es uns unter der Überdachung gemütlich. William Hunt hat sie bauen lassen, um seine Autos vor dem Sonnenlicht zu schützen. Wir führen Kindergespräche. Laura ist zehn, ich zwölf.

»Kocht deine Mutter auch nicht, Mike?«

»Nein. Deshalb dachte Großvater immer, dass sie nie einen Mann finden würde.«

»Was aber nicht stimmte …«

»Als sie achtzehn war, hat sie Papa kennengelernt. Da war er schon Ingenieur.«

»Und so schön wie Clark Gable.«

Ich sehe sie verblüfft an. Dieses Mädchen ist manchmal reallycrazy, da hat Ahmed schon recht.

»Was redest du denn da?«

Sie lacht.

»Das sagt Marlene immer, aus Spaß. Kommt dein Papa aus Sizilien?«

»Ja. Er ist der fünfte Sohn eines Schusters und einer Dienstmagd und hat noch vier ältere Brüder. Sie sind in einem der ärmsten Viertel Palermos aufgewachsen. Papa ist als Einziger auf die Universität gegangen.«

»Warum er und die anderen nicht?«

»Papa ist 1925 geboren und war zu jung, um in den Krieg zu ziehen. Aber seine vier Brüder mussten hin. Und danach haben sie der amerikanischen Armee bei der Landung in Sizilien geholfen.«

Ich ziehe eine Grimasse. Sie merkt es.

»Hast du was gegen Amerikaner?«

»Ich hab was gegen Italiener. Weil sie ständig irgendwen verraten.«

Sie sieht mich erstaunt an und lässt es dabei bewenden.

»Und woher hatte dein Vater das Geld, um zu studieren?«

»Er half bei einem Barbier aus und lernte nachts Englisch.«

»Und dann hat er deine Mutter getroffen?«

»Ja, als er 1948 sein Studium beendet hatte, ging er zu einer italienischen Firma nach Tripolis. Er hat Mama kennengelernt, und sie haben sofort geheiratet. Ein Jahr später kam Alberto zur Welt und noch ein Jahr später ich.«

»Deine Mutter ist sehr reich, oder?«

Sie hat die Angewohnheit, die Dinge einfach so auszusprechen, wie sie sind. Anders als andere.

»Großvater ist reich. Die beiden Villen und die Olivenplantage gehören ihm. Mama wirkt vielleicht nicht sehr sympathisch, dabei ist sie nur schüchtern. Sie redet nicht viel, liest aber eine Menge Bücher. Über Geschichte und Philosophie.«

»Ist sie Faschistin?«

Schon wieder diese Art. Papa würde es nicht begrüßen, wenn ich mit ihr verlobt wäre.

Ich schaue sie an.

»Hat das auch deine Mutter gesagt?«

»Nein, Papa. Er sagt, das sei eine Schande, weil deine Mutter eine Königin ist.«

»Eine Königin?«

»Ja, Papa sagt, wenn deine Mutter im sechsten Jahrhundert gelebt hätte, wäre sie eine Königin gewesen.«

Ich möchte nicht mehr über meine Eltern reden.

»Erzähl mir von deinem Vater und deiner Mutter. Wie haben die sich kennengelernt?«

»Das ist eine schöne Geschichte. Genau andersherum als bei deinen Eltern. Mama war arm und schön, und Papa kommt aus einer texanischen Familie, die mit Erdöl sehr reich wurde.«

»Außerdem ist er ein Kriegsheld. Das weiß ich von meiner Mutter.«

Laura scheint darauf nicht stolz zu sein. Nicht, wie ich es wäre.

»Die Auszeichnung haben sie ihm verliehen, als er mit den Marines in Korea war. Jetzt ist er eine Art Botschafter, aber kein richtiger. Er arbeitet zwar für die Wheelus Field Air Base, aber er verreist oft. Missionen nennt er das. Marlene und ich sind dann immer allein.«

»Deine Mutter ist wunderschön!«

Meine unverhohlene Begeisterung lässt sie schmunzeln.

»Mama ist siebenundzwanzig, fünfzehn Jahre jünger als Papa. Sie ist in Kalifornien geboren. Schon als sie auf die Welt kam, war sie so hübsch, dass ihre Eltern sie Marlene nannten, weil sie hofften, sie würde so berühmt werden wie Marlene Dietrich.«

»Mein Vater sagt, sie ähnelt eher dieser amerikanischen Schauspielerin, die er so mag, Ava Gardner. Und wie haben sie sich kennengelernt?«

»Als sie kaum sechzehn war, ging Marlene von zu Hause fort, um in Hollywood Schauspiel zu studieren. Um die Miete für ihr Zimmer bezahlen zu können, arbeitete sie in einem Schnellrestaurant.«

»Ein bisschen wie Papa!«

»Ja. Im Frühling 1951 brachte sie meinem Vater ein Steak an den Tisch. Er war übers Wochenende dort, machte gerade irgendeine Ausbildung in Langley, einer Stadt in Virginia.«

»Und dann kamst du auf die Welt.«

»Die Kinder werden doch nicht gleich nach einem Kuss geboren. Papa beendete seine Ausbildung in Langley und heiratete sie. Und Ende April 1952 kam ich dann auf die Welt.«

»Du siehst deiner Mutter sehr ähnlich. Aber Haut- und Augenfarbe hast du von deinem Vater geerbt.«

»Meine Eltern sagen, ich hätte auch den Charakter von meinem Vater geerbt.«

»Du tötest also deine Feinde?«

Sie schaut mich pikiert an.

»Mein Vater hat hoffentlich niemanden getötet. Und wenn, dann nur, um anderen das Leben zu retten.«

»Habt ihr in Amerika gelebt, bevor ihr hierherkamt?«

»Nein. Wir haben in London, Paris und Rom gewohnt. Papa ist immer viel gereist, und Mama ging auf Partys. Nach drei Jahren Rom sind wir nun hier gelandet.«

»Lebt deine Mutter gern in Libyen?«

»Überhaupt nicht, sie spricht immer nur von der Sandkiste. Zum Trost hat Papa ihr ein schönes Geschenk versprochen, ein neues Auto. Morgen wird es geliefert, es heißt Ferrari California.«

Inzwischen müssen Stunden vergangen sein. Draußen herrscht stille Nacht. Im Raum sind seltsame Geräusche zu hören, die ich nicht deuten kann. Ich bin in Panik. Mir schaudert, wenn ich an die Kakerlaken denke. Mein Bauch und meine Blase sind kurz davor zu platzen. Ich halte es nicht mehr aus, ich muss mich erleichtern. Wenn er zurückkommt, wird er mich auslachen. Draußen höre ich vertraute Geräusche. Ein Hahn kräht, eine Ziege meckert. Durch das Fensterchen sickert das fahle Licht eines neuen Tages herein. Seit über zwölf Stunden bin ich nun schon hier gefangen und stehe reglos auf dem Fleck. Ohne Essen, ohne Wasser, ohne Schlaf. Meine Beine sind hart wie Beton. Auf dem Boden sammeln sich meine Ausscheidungen und ziehen die Kakerlaken an. In der Morgendämmerung sind die Umrisse etwas deutlicher zu sehen. Auf dem Boden vor dem Tisch hat der Mistkerl eine Flasche Wasser abgestellt. Versuchungen. Bück dich, meine Liebe, wenn du Durst hast. Und erhäng dich selbst.

Sonntag, 27. Mai 1962

Der Ferrari California ist ein Sportwagen mit aufklappbarem Dach, und genau so einer steht am nächsten Morgen vor der Villa Hunt, in Feuerrot.

Sonntags sind Albert und ich regelmäßig zum amerikanischen Breakfast mit Cornflakes, Toast, bacon and eggs eingeladen, weilunsere Eltern am Sonntag nicht mit uns frühstücken. Papa besucht um sieben Uhr die Messe und setzt sich danach auf die Terrasse des Uaddan-Hotels, um das Giornale di Tripoli zu lesen. Später fährt er zu Don Eugenio in die Pfarrei von Sant’Anselmo, in der sich alle Italiener versammeln, die in der Stadt einen Namen haben. Mama wiederum verbringt die meiste Zeit allein. Signora Hunt scheint ihr nicht sehr sympathisch zu sein, warum, weiß ich nicht.

Alberto probiert nur winzige Portionen von allem, was man ihm anbietet. Er fragt Dottor Hunt, wie die Wolkenkratzer in den Vereinigten Staaten konstruiert sind, in dem großen fernen Land. Er fragt ihn nach dem neuen jungen Präsidenten, John Fitzgerald Kennedy. William Hunt hält nicht sehr viel von ihm.

Ich höre zu und bediene mich nach Herzenslust, ohne lang zu fragen. Cornflakes, french toast, pancakes mit Sirup. Lauras Mama mag mich, sie nennt mich Michelino take it all.

Nach einem Grapefruitsaft und einer Scheibe ungesäuertem Brot ist Marlene zu ihrem unverzichtbaren Jogging aufgebrochen. Sie läuft immer den Weg hinter den Villen entlang, zwei Kilometer durch die Ödnis bis zur Hütte von Ahmed und der Jauchegrube. Diese Strecke läuft sie zwei Mal hin und zurück. Das macht acht Kilometer jeden Tag. In bedeutend weniger als einer Stunde.

»Sollte ich irgendwann länger als eine Stunde brauchen, weiß ich, dass ich alt werde«, sagt sie.

Dann kommt sie zurück, keuchend und strahlend. Das Turnhemd klebt ihr am Leib, und ihre langen Beine, die aus kurzen Hosen herausragen, glänzen vor Schweiß. Mein Vater hat recht, sie sieht aus wie Ava Gardner, nur schöner.

Marlene gibt Alberto einen Klaps auf die Schulter und Laura einen Kuss. Mir lächelt sie zu. Ihr Mann geht leer aus. Dann nimmt sie eine Dusche, um in Jeansshorts und einem rosafarbenen T-Shirt mit nichts drunter wiederzukehren.

»Soll ich euch ans Meer fahren, Kinder?«, schlägt sie vor.

Ich laufe nach Hause, um Badehose und Strandlatschen zu holen.

»Sag Großvater Bescheid, dass wir ans Meer gefahren sind«, trage ich der mabruka auf.

Wir steigen alle vier in den Ferrari, Marlene und Laura vorne, Alberto und ich hinten. Auf der Straße von Sidi el-Masri fliegen wir auf Tripolis zu und überholen ein paar alte Fiats, Hillmans und Morris. Der Wind peitscht uns ins Gesicht, die Eukalyptusbäume am Straßenrand verschwimmen.

»Too fast?«, schreit Marlene.

Wenn es nach mir ginge, könnte sie noch schneller fahren.

Zwei Minuten später sind wir am anderen Ende von Sidi el-Masri und vor den Toren der Stadt angelangt. An der Esso-Tankstelle halten wir kurz an.

Vito Gerace, der Tankwart, ist ein Sizilianer um die fünfzig, der aus demselben Armenviertel in Palermo stammt wie mein Vater. Er ist sein Schützling, ein primitiver Kerl mit struppigem Haar und buschigen Augenbrauen, die über der Nase zusammenwachsen. Man sagt, er würde sich jeden Samstagabend im Bordell betrinken.

Die Geraces sind zusammen mit Ingegner Balistreri von Palermo nach Libyen ausgewandert. Vitos zehn Jahre jüngere Ehefrau Santuzza ist eine entfernte Cousine meines Vaters, eine einfache, lebenslustige Frau, die für die reichen Italiener und Amerikaner als Schneiderin arbeitet.

Ihr Sohn Nico ist genauso alt wie ich und sitzt in der Schule neben mir. Die ebenmäßigen Gesichtszüge hat er von seiner schönen Mutter, aber sein väterliches Erbe – krauses Haar, buschige Augenbrauen und starke Körperbehaarung – und ein ausgeprägter Sprachfehler sorgen dafür, dass der schüchterne Junge unter schweren Komplexen leidet.

Vito Gerace zieht die pechschwarzen Augenbrauen zusammen und mustert erst den Ferrari California, dann Marlene Hunt. Beim Putzen der Windschutzscheibe lässt er sich viel Zeit, um ausgiebig Marlenes lange, sonnengebräunte Beine anzustarren.

Auch Nico mustert sie voller Bewunderung, weil er weiß, dass Marlene in Hollywood als Schauspielerin gearbeitet hat. Er ist vollkommen besessen von weiblichen Kinostars. Unter unserer Sitzbank in der Schule kleben Fotos von Rita Hayworth, Ava Gardner, Marilyn Monroe, Brigitte Bardot und Sophia Loren. Allesamt stets zu seiner Verfügung.

Wir erreichen Tripolis von der Gartenstadt aus, und Marlene muss das Tempo drosseln. Vor dem Königspalast mit den zwei goldenen Kuppeln fahren wir auf den Platz vor der Kathedrale mit dem klobigen Postamt, das die Faschisten erbaut haben. Autos sieht man hier nur wenige, dafür verstopfen Kutschen, Eselskarren, Fahrräder und Fußgänger die Straßen.

Wir nehmen die Sciara Istiklal, die von den meisten Italienern in Tripolis Corso Vittorio genannt wird. Die italienischen Geschäfte unter den Arkaden haben geschlossen, weil heute Sonntag ist, aber die jüdischen und arabischen Läden sind alle geöffnet. Auch das Girus, unsere Lieblingseisdiele.

Marlene parkt den Ferrari zwischen einem Maultier und einem Seicento, und wir steigen aus. Alle Blicke sind auf uns gerichtet. Eigentlich nicht auf uns, sondern auf den Ferrari California und auf Marlene Hunt, die schön ist wie eine Göttin.

Nach dem Eis fahren wir den Corso Vittorio hinunter bis zu den faschistischen Arkaden der Piazza Italia. Wir drehen eine Runde um den Brunnen und folgen dem Corso Sicilia, den nicht einmal die Libyer Sciara Omar al-Mukhtar nennen. Als das Zentrum hinter uns liegt, rasen wir dem Meer entgegen, vorbei an öffentlichen Stränden, dem Lido und den Schwefelbädern mit ihrem Geruch, der vom Flussbett des Uadi Megenin herübergetragen wird. Dann geht es weiter zu den mondänen Strandclubs, dem Beach und dem Underwater.

Nach zehn Minuten haben wir das Underwater erreicht. Die Badesachen haben wir schon an und steigen gleich in den Meerwasserpool. Dottor Hunt, der kurz darauf mit seinem Land Rover eintrifft, bleibt die ganze Zeit über angekleidet und raucht auf der schattigen Terrasse Zigarre.

Der große blonde Texaner mit den stahlblauen Augen schätzt an Libyen eher die Wüste als das Meer. Und das Öl, von dem man so viel reden hört. Als Marlene ihre üblichen fünfzig Bahnen geschwommen ist, breitet sie ihr Handtuch aus und legt sich in die Sonne.

Sie ist wahrhaftig eine Göttin, man muss sie nur ansehen. Obwohl ich erst zwölf bin, ist mir das vollkommen bewusst. Diese Augen, die einen zu durchdringen scheinen, das wallende, glänzend schwarze Haar, das ihr fast bis zur Taille reicht, und diese schlanken Beine. Für eine nahtlose Bräune hat sie das Bikini-Oberteil geöffnet und den Bund des Höschens etwas nach unten geschoben, gerade so weit, wie es die Grenzen des Anstands erlauben.

Laura sagt, ihre Eltern seien völlig unterschiedlich. Marlene langweilt sich und möchte all die schönen Partys besuchen, die in den Botschaften, den Salons der großen Hotels und auf den Terrassen der Strandcafés stattfinden, aber William rümpft darüber die Nase und meint, da würde nur »über anderer Leute Angelegenheiten getratscht«.

Die Blicke der Männer kleben an ihr. Ich glaube, Dottor Hunt ist sich dessen sehr wohl bewusst und Laura sicher auch. Wer weiß, wie sie das finden.

Wir verbringen den ganzen Vormittag am Meer, dann fahren wir wieder heim. Nach dem Mittagessen gesellen sich Ahmed und Karim zu uns. Sie besuchen die libysche Schule in der Sciara Ben Asciur und haben sonntagmorgens Unterricht.

Auf dem unasphaltierten Platz vor den Villen spielen wir Fußball. Zwei gegen zwei, Ahmed und ich gegen Alberto und Karim. Der Ball rollt zwischen Kakerlaken und Eidechsen umher, und eigentlich wäre alles in bester Ordnung, wenn nicht Laura den Schiedsrichter machen und nach Lust und Laune mit einer alten Trillerpfeife dazwischengehen würde, ohne das Geringste von Fußball zu verstehen. Bei ihr enden alle Partien unentschieden. Unsere Spielzeit richtet sich nach einer italienischen Fußballsendung im Radio, Tutto il calcio minuto per minuto. Wenn die Partie von Juventus vorbei ist, machen wir auch Schluss.

Laura hört, dass die letzte Minute läuft. Karim stolpert über den Ball. Laura gibt Strafstoß. Ahmed regt sich auf.

»Du bist wirklich vollkommen crazy, Laura!«

Jet liegt schlapp vor seiner Hundehütte und hechelt, weil ihm die Hitze zu schaffen macht. Er sabbert unglaublich. Heute Nachmittag haben Ahmed und ich eine Stunde gebraucht, um ihm mit einer Pinzette die verdammten Zecken aus den Ohren zu entfernen.

»Gehen wir raus, Jet?«

Zwei große Augen schauen uns an. Normalerweise springt er sofort auf, wenn er diese Frage hört, aber heute bleibt er liegen, keuchend und sabbernd.

»Ihm ist zu heiß«, sagt Karim.

Ahmed schüttelt skeptisch den Kopf. »Jet rennt sogar herum, wenn der Gibli pfeift.«

Der Hund gehört mir, aber Ahmed fühlt sich für ihn verantwortlich. Wehe dem, der ihn anrührt.

»Vielleicht nach Sonnenuntergang, Ahmed.«

Wir treten durch das Törchen auf der Rückseite der Villen. Der Tümpel ist fast ausgetrocknet, die Frösche quaken traurig. Wir gehen den Weg entlang bis zu der Hütte, in der Ahmed und Karim mit ihrer Familie leben.

Von dort durchqueren wir die große Olivenplantage der Bruseghins, vorbei an den Baracken der Hirten, die hier ihre Ziegen auf die Weide führen. Man sollte tunlichst keine Oliven von der Erde aufsammeln, weil sie den Ziegenkötteln so ähnlich sehen.

Die Sonne geht unter, genau die richtige Zeit für das Massaker. Ich kümmere mich mit meinem Luftgewehr um die Tauben auf den Ästen der Eukalyptusbäume. Ahmed widmet sich den Skorpionen. Er zielt mit einem Messer auf sie. Aus Fairness immer aus mindestens zwei Metern Entfernung.

Karim macht bei so etwas nicht mit. Er liest lieber den Koran, arabische Gedichte und Geschichten über die libyschen Helden, die von den Italienern erhängt wurden wie Omar al-Mukhtar. Deshalb tötet er nicht, sondern begnügt sich damit, die bluttriefende Kriegsbeute aufzusammeln.

Als wir Jet abholen wollen, steht Großvater vor der Hundehütte. Neben ihm erkenne ich den jungen Tierarzt. Mit einem Gummihandschuh streichelt er meinem Hund über den Kopf. Jet sieht uns aus traurigen Augen an, seine Schnauze liegt auf dem Boden. Großvater schüttelt den Kopf. Der Arzt wendet sich zu ihm um.

»Es tut mir leid. Jet hat die Tollwut.«

Großvater, meine Eltern, mein Bruder Alberto und der Tierarzt schließen die Salontür hinter sich.

Ahmed, Karim und ich setzen uns zu Jet. Ahmed redet ihm auf Arabisch gut zu.

Nach einer Weile kommen die Hunts aus der Nachbarvilla. William und Marlene betreten unser Haus, vielleicht haben meine Eltern sie hergebeten. Laura setzt sich zu uns.

»Er hat eine Bisswunde, hier an der Seite«, sagt sie und zeigt auf eine Stelle im dunkelbraunen Fell.

»Das war eine dieser läufigen Hündinnen da draußen«, antwortet Ahmed und zeigt zur rückwärtigen Mauer. In der Tat ertönt seit ein paar Wochen jeden Abend bei Sonnenuntergang das Gejaule der Hündinnen. Auch jetzt ist ihr Winseln zu hören.

»Sie sind läufig«, hat Laura vor ein paar Tagen gesagt. Als sie sah, dass ich das nicht verstand, erklärte sie mir den Sachverhalt. In ihrer direkten und sanften Art, als hätten Worte kein Gewicht, solange sie ehrlich sind.

Der Tierarzt kommt heraus, gefolgt von Großvater. Sie machen ein so bekümmertes Gesicht, dass sich jedes weitere Wort erübrigt.

»Jet hat die Tollwut. Er würde sich noch zwei, drei Tage quälen. Wir müssen ihn einschläfern, damit sein Leiden ein Ende hat.«

Ahmed steht auf und verschwindet wortlos.

»Leider ist Jets Speichel infektiös«, fährt der Arzt fort. »Wenn er euch abgeleckt hat und ihr habt auch nur eine kleine offene Wunde irgendwo …«

»Wir müssen uns alle impfen lassen«, kürzt Großvater die Sache ab.

Vierzig Spritzen. Das ist nichts, verglichen mit dem Schmerz der Trauer. Laura und Karim kraulen Jet. Ich trage immer noch mein Luftgewehr mit mir herum. Im nächsten Moment laufe ich hinter die Villen, auf das Törchen in der Mauer zu.

Als ich hinaustrete, verwandelt sich das Jaulen der Hündinnen in ein Knurren. Ahmed wird von dreien umringt. In der Hand hält er eine große Heuschrecke, die er gefangen hat. Ein Leckerbissen für die Hündinnen. Als er sie gegen die Mauer wirft, nähert sich die größte und mutigste von ihnen. Erst wittert sie misstrauisch, dann beugt sie sich zu der toten Heuschrecke hinab.

Ahmed hat das Schweizer Taschenmesser gezückt und die längste Klinge ausgeklappt. Er wirft sich auf die Hündin und rammt ihr das Messer ins Genick. Das Tier bricht in ein wildes Gebell aus und versucht Ahmed abzuwerfen, aber er krallt sich mit beiden Beinen und dem rechten Arm an seinem Rücken fest.

Mit der Linken – er ist Linkshänder – zieht Ahmed die Klinge wieder heraus. Aus der Wunde spritzt Blut, er muss eine Arterie erwischt haben. Die Hündin lässt sich auf die Seite fallen, wirft Ahmed ab und versucht, ihn zu beißen.

Doch Ahmed ist sehr schnell, stößt dem Tier die Klinge ins rechte Auge und dreht es heraus. In dem Moment setzen die beiden anderen Hündinnen zum Sprung an. Ich ziele mit dem Gewehr auf die aggressivere der beiden, auf ihre Nase, weil ich weiß, dass es dort am meisten wehtut.

Und eine Kugel aus einer Diana 50 aus fünfzig Metern Entfernung tut höllisch weh. Die Hündin winselt und flüchtet. Ich lade schnell nach, aber das ist gar nicht nötig. Die dritte Hündin sucht ebenfalls das Weite.

Die erste jault erbärmlich. Die Wunden an Nacken und Auge bluten stark. Sie reagiert nicht einmal, als Ahmed sich erneut auf ihren Rücken setzt und ihr die Klinge in die Kehle stößt.

Ich sehe ihn mit aller Kraft zerren, bis die Kehle aufreißt und das Tier zusammenbricht.

Ahmed zieht das Taschenmesser heraus, putzt es mit ein bisschen Gras ab, klappt es zusammen und verstaut es wieder in der Tasche seiner kurzen Hose.

»Danke, Mike.«

Damit dreht er sich um und folgt dem Weg, der zu seiner Hütte führt.

Weitere Stunden sind vergangen. Hin und wieder taucht der Mistkerl auf, mit einem spöttischen Grinsen im Gesicht. Draußen muss die Sonne in den Himmel aufgestiegen sein. Vielleicht geht sie auch unter, ich weiß es nicht mehr. Gelblicher Staub hängt in der Luft, durchdrungen vom Licht, das durch das schmutzige Glas des Fensterchens fällt. Und mich daran erinnert, dass draußen alles ist, was ich ersehne. Das Leben. Jetzt kann ich auch erkennen, wo das Seil endet, das sich von meinem Hals über das dicke Rohr an der Decke zieht. Ich kann es bis zu einem anderen, sehr kleinen kahl rasierten Schädel verfolgen. Eine zweite Schlinge, die mit der meinen verbunden ist, liegt um den anderen Hals herum.

Es ist der Hals eines Mädchens. Die Kleine ist fast zehn Monate alt und wiegt etwa neun Kilo. Ich sechzig, sie neun. Sobald ich mich bücke oder auf den Tisch setze, spannt sich das Seil und wir werden alle beide erdrosselt. Die Kleine schläft ruhig, vielleicht hat er ihr ein Schlafmittel ins Fläschchen getan. Das waren die Geräusche, die ich in der Nacht gehört habe. Die Geräusche meiner Tochter.

Montag, 28. Mai 1962

Gestern Abend haben wir Jet begraben, und heute sitze ich wieder in der Schule. Zum Glück ist das verdammte Schuljahr bald vorbei. Die Schule ist ein gewaltiger, kalter Bau mit langen Korridoren und hohen Decken zum Schutz vor der stickigen Hitze des Gibli.

Neben der Schule befindet sich der Fußballplatz mit dem Zementboden und den Eukalyptusbäumen als Seitenlinien. Am Spielfeldrand muss man also nicht nur den Gegner ausdribbeln, sondern auch noch die Bäume.

Ferner gibt es hier die Boccia-Bahn für die Alten und auf der anderen Seite die Bar mit Kicker und Billardtisch, an dem die Großen mit Queues spielen und die Kleinen die Kugeln mit der Hand rollen.

Mein Bruder Alberto, der bald die Mittelschule beendet, ist in allen Fächern der Beste und der Star der ganzen Schule. Er riskiert höchstens mal einen Tadel, weil er die anderen bei Klassenarbeiten abschreiben lässt. Seinen dümmsten Kameraden erteilt er kostenlos Nachhilfestunden.

Ich hinke in allen Fächern hinterher. Meine Freude am Lernen hält sich in Grenzen. Die an meinen Klassenkameraden ebenfalls. Ahmed ist mir lieber. Wir lernen auch zusammen, aber nur Kampfkünste. Darin sind wir ziemlich gut.

Mein einziger Schulfreund ist Nico Gerace, der so für Schauspielerinnen und Sängerinnen schwärmt. Der Sohn des Tankstellenwärters und der Schneiderin, der einzigen armen Italiener in ganz Tripolis. Wenn mein Vater ihnen nicht unter die Arme greifen würde, hätten sie nichts zu essen. Der behaarte und etwas unbeholfene Nico, der außerdem auch noch lispelt. Vielleicht bin ich deshalb sein Freund.

Religionsunterricht haben wir bei Don Eugenio, dem Pfarrer von Sant’Anselmo, einer Kirche in der Nähe der Schule.

Er ist mit meinem Vater befreundet und kommt jeden Samstagabend zu uns. Mein Vater besucht ihn sonntags. Nicht zur Messe, denn die feiert Papa in der Kathedrale, wo er von mehr Leuten gesehen wird. Danach geht er ins Uaddan-Hotel und später dann zu Don Eugenio.

Don Eugenio ist noch jung, keine dreißig, und hat ein glattes, pausbäckiges Milchgesicht, das von blondem Haar eingerahmt wird. Seine himmelblauen Augen wirken freundlich, sein breites Lächeln gutmütig. Er tritt sehr demütig auf und trägt stets Soutane und Sandalen.

Obwohl er Theologie studiert hat, ist er sehr gut in Mathematik und gibt einigen Kindern Nachhilfestunden, auch Nico und mir. Weil er nur von den vermögenden Familien Geld nimmt, muss Nico nichts bezahlen.

Papa bezeichnet ihn als den intelligentesten Priester, den er kennt. Und als den größten Wohltäter. Er sagt, Don Eugenio würde die Spendengelder hervorragend verwalten, investieren und vermehren, was dann den Armen im Sudan, im Niger und im Tschad zugutekomme.

Entscheidend ist aber etwas anderes. Unter den Arkaden des Corso Vittorio und im Circolo Italia geht das Gerücht, dass Don Eugenio ein Neffe von Alcide De Gasperi sei, des ersten Chefs der italienischen Christdemokraten und der Nachkriegsregierung. Niemand weiß, ob das stimmt, aber angeblich reist Don Eugenio ein Mal im Monat nach Rom und soll sogar der persönliche Beichtvater des Präsidenten sein, eines der wichtigsten Politiker Italiens.

Das könnte der Grund dafür sein, warum außer meinem Großvater alle Italiener, die in Tripolis etwas zählen, von den Grundbesitzern bis hin zu den Wirtschaftsbossen, bei ihm die Beichte ablegen. Und warum sie sich sonntagnachmittags in Sant’Anselmo treffen, Kaffee trinken, Karten spielen und Geschäfte machen.

In der Schule sitze ich neben Nico. Der Rest der Klasse behandelt ihn wie einen Aussätzigen, aber ich rede mit ihm und bin auch der Einzige, der ihn nicht auf den Arm nimmt, sondern vor den Gemeinheiten der anderen beschützt. Über alles machen sie sich lustig, über die schwarzen Augenbrauen, die über der Nase zusammenwachsen, über die Locken, die er vergeblich glatt zu kämmen versucht, über die Behaarung an Armen und Beinen und über sein groteskes Lispeln. Außerdem stinkt er auch noch nach Benzin, weil sein Vater diesen Mief jeden Abend mit nach Hause bringt.

Ich weiß nicht, warum ich ihn verteidige. Vielleicht nur, um mich von der Mehrheit abzusetzen. Mehrheit, wie ich das Wort schon hasse. Wenn ich es nur höre, fühle ich mich bereits unfrei und genötigt, die Dinge zu nehmen, wie sie sind.

Don Eugenio lässt uns aus dem Schulbuch vorlesen. Jeder einen Satz, eine Bank nach der anderen. Im Stillen rechnen sich alle schon aus, welchen Satz Nico abbekommen wird, und hoffen insgeheim, dass er kompliziert und voller s-Laute sein möge. Wir nehmen gerade die Kreuzzüge durch, und Nicos Satz lautet: »Das italienische Wort für Mörder, assassino, stammt von dem Ausdruck hashishiyyin ab, der im christlichen Abendland für die Anhänger des Imam Hasan as-Sabbah benutzt und von dessen Namen oder auch von dem Ausdruck hashish hergeleitet wurde.«

Nico weiß schon, was für eine Katastrophe ihm bevorsteht. Er sieht mich an wie ein Kalb auf dem Weg zur Schlachtbank. In Erwartung des bevorstehenden Schauspiels verbreitet sich aufgeregtes Kichern.

Don Eugenio hört nicht einmal zu, weil er ganz in die Lektüre eines anderen Buchs vertieft ist: Ertragsrechnung und Bilanz.

Als ich an der Reihe bin, beende ich meinen Satz und lese danach einfach weiter: »Das italienische Wort für Mörder, assassino, stammt von dem Ausdruck hashishiyyin ab, der im christlichen Abendland …«

»Don Eugenio!«

Das ist Walter, unser Klassensprecher, der Primus mit den besten Noten.

Der Priester schaut von seinem Buch auf.

»Ja, Walter, was ist denn?«

Walter steht auf. Im Gegensatz zu meinem ist sein Schulkittel immer bis zum obersten Knopf geschlossen, und seine weiße Schleife ist weder zerkaut noch schief.

»Das ist Nicos Satz. Michele hat seinen schon gelesen.«

Er zieht eine Grimasse in Richtung der Klasse. Mir ins Gesicht zu sehen, wagt er nicht. Ringsum Grinsen und Gekicher.

Dann höre ich meine Stimme sagen: »Du bist ein richtiges Arschloch, Walter!«

Das Buch rutscht Don Eugenio aus der Hand und fällt polternd zu Boden. Seine Gesichtsfarbe ist unverändert rosig, nur seine himmelblauen Augen blitzen kurz auf. In der Stille hört man das Brummen der Fliege, die im Klassenraum umherschwirrt.

Wortlos steht er auf und kommt in seiner schwarzen Soutane auf mich zu. Damit alle es sehen und sich die Lektion gut merken, greift er mit Daumen und Zeigefinger nach dem Ohrläppchen.

Nach Nicos Ohrläppchen, nicht nach meinem. Langsam dreht er es herum. Immer weiter und weiter, vollkommen mühelos, während Nicos Ohr rot anläuft und seine Augen gegen die Tränen des Schmerzes und der Scham ankämpfen. Ich komme mit einem vorwurfsvollen Blick davon.

Du bist der Sohn von Ingegner Balistreri, dich kann ich nicht anfassen.

Nachdem er Nicos Ohr losgelassen hat, leuchtet es noch mindestens zehn Minuten lang knallrot. Und in diesen ewigen zehn Minuten, in denen Don Eugenio seine spannende Lektüre unterbricht, um etwas zu erklären, sehe ich die Blicke, mit denen die anderen Nico anschauen. Manche spöttisch, andere mitleidig, aber keiner solidarisch. Ich beginne, meine Klassenkameraden in Kategorien einzuteilen: in Idioten und Bösartige, in Nichtsnutze und in diejenigen, die ich umbringen werde.

Nach dem Unterricht müssen Nico und ich noch bleiben. Don Eugenio gibt mir eine schriftliche Mitteilung, die meine Eltern unterschreiben sollen. Aber das reicht ihm nicht. Er winkt uns nach vorne zu seinem Pult. Ich gehorche. Mein Instinkt sagt mir, dass es besser ist, zu schweigen und abzuwarten. Nico steht neben mir und zittert. Der Priester lächelt uns aus seinem Kindergesicht mit den himmelblauen Augen an.

»Du hast etwas sehr Schlimmes getan, Michelino, ausgerechnet jetzt, wo du ein Diener des Herrn werden sollst. Nur Ungebildete benutzen Schimpfwörter.«

Er sieht Nico an, der viel fleißiger ist als ich, aber der Sohn von Ungebildeten.

In zehn Tagen soll ich bei der Messe dienen, dabei hat mich niemand gefragt. Don Eugenio hat mich ausgewählt, um meinem Vater einen Gefallen zu tun, weil er viel Geld für die Renovierung seiner Kirche gespendet hat. Papa möchte, dass ich Messdiener werde, so wie mein Bruder Alberto. Um allen wichtigen Bürgern der Stadt zu bekunden, dass die Familie Balistreri gesunde katholische Werte vertritt.

»Ich werde keine Schimpfwörter mehr benutzen, Don Eugenio«, verspreche ich ohne jeden Enthusiasmus. Ich möchte raus auf den Pausenhof, es bereitet mir Unbehagen, hier mit ihm allein zu sein. Unter Tränen hat Nico mir anvertraut, dass ihn Don Eugenio, um ihn für seine Fehler während der Mathe-Nachhilfe zu bestrafen, neulich gezwungen hat, die Hosen runterzulassen, um ihm dann den Hintern zu versohlen.

»Natürlich wirst du keine Schimpfwörter mehr benutzen, Michelino, davon gehe ich aus.«

Don Eugenio vertreibt eine Fliege, die um Nicos Gesicht herumschwirrt, dann fährt er ihm mit der Hand durch die struppigen Locken. Nico sieht mich unter den grotesken Büscheln seiner Augenbrauen verwirrt an. Ich bändige meinen Zorn und beiße in die weiße Schleife meines verhassten schwarzen Schulkittels – in das vor Angst vollkommen zerkaute Ende. Ich fürchte mich, aber ich weiß nicht, was ich tun soll. Er ist der Lehrer.

»Als Ministrant musst du rein sein, Michelino. Vergiss nicht, dass Gott alles sieht und am Ende das Jüngste Gericht auf uns wartet.«

Ich sage nichts. Die Hand immer noch in Nicos Haaren fixiert er mich mit seinen himmelblauen Augen. Wer weiß, was er jetzt am liebsten mit mir anstellen würde. Er merkt nicht, dass ich die Hände zu Fäusten balle, die Knie aneinanderpresse, die Zähne aufeinanderbeiße. Wenn er wüsste, was mir durch den Kopf geht, würde er schnell das Weite suchen.

Nur der Gedanke an meinen Vater hält seine Hand zurück. Er lächelt mich an.

»Du kannst jetzt Fußball spielen gehen, Michelino.«

»Und Nico?«

Die himmelblauen Augen wandern zu meinem Freund.

»Nico muss lernen, nicht zu betrügen und zu lesen, wenn er an der Reihe ist. Das werde ich ihm begreiflich machen. Und morgen kommt er zu mir ins Pfarrhaus, um die Beichte abzulegen.«

Als ich das Klassenzimmer verlasse, spüre ich Nicos verzweifelten Blick in meinem Rücken.

Eigentlich sollte ich an seiner Stelle sein.

»Wo hast du bloß dieses Wort gehört, Michelino?«

Mein Vater liest die Mitteilung von Don Eugenio und verzieht das Gesicht. Alberto wohnt der Szene schweigend bei. Italia liest ein Buch und raucht. Großvater ist in der Stadt, auf der Boccia-Bahn.

Ich sage nichts. Nach einer Weile wiederholt er seine Frage.

»Wo hast du es gehört?«

Ich sehe ihm in die Augen.

»Bei dir, Papa.«

Alberto lächelt mir zu. Mein Bruder ist immer auf meiner Seite. Manchmal offen, manchmal auf subtilere Art und Weise.

Papa zuckt unmerklich zusammen. Er mustert mich lange und überlegt, ob ich lüge. Er könnte es abstreiten und seine Autorität geltend machen. Mittlerweile kenne ich ihn aber. Mein Vater lässt sich immer ein Hintertürchen offen. Er wird nie wütend. Und wenn, sieht man es ihm nicht an.

»Und wann soll ich dieses Wort benutzt haben, Michelino?«

»Vor ein paar Tagen, als du mit Mama im Schlafzimmer Radio gehört hast. Die Tür stand offen.«

»Hast du gelauscht, Michelino?«

Alberto mischt sich ein.

»Ich war auch dabei, Papa. Im Radio wurde darüber berichtet, dass in Italien ein neuer Präsident gewählt wurde. Du hast zu Mama gesagt, dass dieser Segni nur mit den Stimmen der Faschisten und dieser Geisteskranken, die sich den König zurückwünschen, gewinnen konnte.«

Unglaublich! In den Augen meines Vaters sehe ich so etwas wie Wertschätzung für mich aufblitzen. Wie damals, als ich mit meiner Diana 22, als ich die Diana 50 noch nicht hatte, die erste Taube erwischt habe.

Jetzt, wo Alberto mir zur Seite steht, fühle ich mich stark, deshalb spreche ich es laut aus.

»Und dann hast du gesagt: Dieses Arschloch von Segni wird sich ohnehin nicht lang halten.«

Papa lächelt uns an, leicht verlegen. Im Grunde ist er aber stolz auf die Solidarität unter seinen Söhnen. So verschieden, und doch halten sie immer zusammen. Für ihn muss eine Familie zusammenhalten. Unter allen Umständen. Das wiederholt er immer wieder. So haben sie es ihm in Sizilien von klein auf eingeschärft. Seine Eltern, die vier größeren Brüder, die Eltern seiner Freunde und die Leute, die seinem Vater Geld borgten, wenn seine Arbeit als Schuster nicht genug einbrachte zum Leben.

Die Familie muss zusammenhalten, immer.

Papa lächelt. »Habe ich das wirklich gesagt? Nun gut, das hätte ich nicht tun sollen. Manche Wörter sagt man eben nicht. Und Präsident Segni ist ein guter Katholik und wurde vom Parlament gewählt.Gott sei Dank haben wir in Italien ja jetzt eine freie Demokratie.«

Das Wort »Demokratie« benutzt er häufig. Und immer in Verbindung mit dem Wort »frei«, als müsste er etwas Hässliches schönreden. Wie eine unverlangte Rechtfertigung klingt das.

Er setzt ein sanftes und gütiges Gesicht auf. Ein Lächeln, das ihn wie Clark Gable aussehen lässt.

»Michelino, deiner Mutter gefällt es bestimmt auch nicht, wenn du wie ein Gassenjunge sprichst.«

Wie ein Gassenjunge. Ausgesprochen mit der Verachtung desjenigen, der in den finstersten Winkeln Palermos aufgewachsen ist.

Meine Mutter legt das Buch zur Seite, drückt ihre Zigarette aus und wirft meinem Vater einen raschen Blick zu.

»Michelino, überlass solche Schimpfwörter den Ungebildeten. Hast du Probleme mit Don Eugenio?«

Sie versteht immer, was ich meine, ohne dass ich viele Worte verlieren müsste.

Papa gefällt die Frage nicht.

»Ich wüsste nicht, was für Probleme Michelino mit Don Eugenio haben sollte. Er ist eine tragende Säule unserer Gemeinde und ein Menschenfreund.«

Meine Mutter antwortet nicht. Sie nimmt wieder ihr Buch, zündet sich eine Zigarette an und schenkt sich ein wenig von der goldenen, scharf riechenden Flüssigkeit ein, die mein Vater Gift nennt.

Schließlich verlangt mein Vater, dass ich mich für das Schimpfwort entschuldige, bei Don Eugenio die Beichte ablege und den Katechismus lerne, um ein guter Messdiener zu werden.

Im Gegenzug darf ich mich im Kampfsportverein anmelden. Und ich darf Ahmed mitnehmen, auf Papas Kosten. Er versteht zwar nicht, wozu das gut sein soll, aber er findet immer einen Weg, alle zufriedenzustellen. Nicht im Traum würde er auf die Idee kommen, dass wir es bis zum schwarzen Gürtel schaffen könnten und die tae und kwon uns helfen würden, unseren Weg zu finden.

Unseren eigenen Weg.

Heute Abend wird unser großer Garten nur von den kleinen Lichtern auf der Mauer beleuchtet. Der Gibli ist aufgekommen, der Südwind, der den Sand der Sahara in die Stadt bläst.

Nico, Ahmed, Karim und ich ziehen uns in die dunkelste Ecke hinter den Villen zurück. Die Überdachung, die William Hunt für den Ferrari und den Land Rover bauen ließ, bietet nur dürftigen Schutz vor den sandigen Böen.

Alberto ist nicht dabei, er lernt. Und Laura ist in Wheelus Field, um sich mit ihren Eltern das Baseballspiel anzusehen. Wir können also ein bisschen offener reden.

Nico erzählt, dass ihm Don Eugenio, nachdem ich weg war, wieder die Hose runtergezogen und den Hintern versohlt hat. Und dass er morgen nach der Schule zu ihm ins Pfarrhaus kommen soll, um zu beichten.

Ich bin außer mir vor Wut und schaue zu Ahmed hinüber. Das Bild, wie er der Hündin das Auge herausschneidet und die Kehle durchtrennt, habe ich noch genau vor Augen.

»Dieses Schwein muss damit aufhören. Ich habe einen Plan.«

Während uns der Sand in die Kleider kriecht, hören mir alle aufmerksam zu. Karim sieht mich bewundernd an, Ahmed nickt schweigend, nur Nico ist noch nicht überzeugt.

»Das gefällt mir nicht. Ich habe Angst.«

Ich rede ihm Mut zu.

»Wenn du es nicht tust, wirst du immer Angst vor ihm haben, Nico. Dann kann er weiter solche Dinge mit dir anstellen. Wenn du auf mich hörst, wirst du keine Angst mehr haben, weder vor ihm noch vor sonst jemandem.«

»Kannst du das nicht für mich machen, Mike?«

Vor lauter Angst lispelt er wieder.

Nein, Nico. Ich bin der Sohn von Ingegner Salvatore Balistreri. Das würde Don Eugenio nicht wagen. Der Paria bist du.

»Wir sind Libyer, Mike«, mischt Karim sich ein. »Was, wenn Don Eugenio uns verhaften lässt?«

»Ihr seid durch mich geschützt. Wenn er euch anzeigt, muss er auch mich anzeigen. Und das würde er nie tun.«

Ahmed zieht das Taschenmesser hervor, mit dem er die Hündin getötet hat. Ich habe es ihm zu seinem letzten Geburtstag geschenkt.

»Wenn das nicht reicht, kümmere ich mich um diesen Priester.«

Ich sehe meine drei Freunde an. Der Gibli pfeift unter dem Dach hindurch, der Sand beißt uns in den Augen.

»Wir schließen einen Pakt«, schlage ich vor und lasse mir von Ahmed das Messer geben.

Wir hocken uns zwischen den Ferrari und den Land Rover, aber nicht einmal hier sind wir vor dem Sand sicher.

Wortlos schneide ich mir mit dem Messer in die Oberseite des linken Handgelenks. Blutstropfen treten aus der Wunde.

Nach mir ist Nico an der Reihe. Inzwischen lächelt er sogar. Er schneidet sich ins Handgelenk und betrachtet zufrieden das Blut. Für ihn ist es eine Frage der Ehre, alles zu tun, was ich tue.

Karim ist weniger begeistert. Die Vorstellung, sein Blut mit dem von zwei Christen zu vermischen, gefällt ihm nicht. Er begnügt sich mit einem kleinen Schnitt und mustert verblüfft das wenige Blut, das austritt.

Dann reicht er das Messer an Ahmed weiter, der uns, ernst wie immer, in die Augen sieht. Er hat keine Angst, ihm gefällt die Idee. Schweigend nimmt er das Taschenmesser in die linke Hand und fügt sich einen viel längeren und tieferen Schnitt zu als wir. Aus seinem rechten Handgelenk quillt Blut.

Die einzige, von gelbem Sand bedeckte Glühlampe, die unter der Überdachung der Hunts baumelt, spendet trübes, flackerndes Licht. Es riecht nach Öl und Benzin. Ringsum pfeift der Gibli, die Palmblätter schlagen aneinander, und die Eukalyptusbäume biegen sich.

Wir legen unsere vier Handgelenke aufeinander. Unser Blut vermischt sich, und mit ihm der Sand.

Sand und Blut. Für immer.

Wieder sind Stunden vergangen. Er hat sich einen Korbstuhl geholt und sitzt vor uns. Mit einem Messer spitzt er einen Stock an, um ab und zu einen gelangweilten Blick auf die Kleine und mich zu werfen. Wenn ich mich auf den Tisch hocke, sterben wir. Die Kleine und ich. Warum, frage ich ihn in seiner verdammten Sprache. Er sieht mich nicht einmal an. Nun spüre ich wirklich Panik in mir aufsteigen. Meine Knie zittern, kalter Schweiß läuft mir in Bächen den Rücken hinunter, an meinen Beinen klebt Urin, die Tränen fließen ungehemmt. Ich muss die Augen offen halten und starre auf den Lichtstreifen unter der Tür, diese wenigen Millimeter zwischen Leben und Tod. Nur nicht nachgeben. Ich muss die Augen offen halten. Ganz einfach.

Dienstag, 29. Mai 1962

Wir haben alles gut geplant. Jeder hat seine Aufgabe. Nico ist das Opfer, Karim der Fotograf, Ahmed der Bedroher, und ich bin derjenige, der nicht angezeigt werden kann.

Vier kleine Bastarde gegen einen großen. Das wird reichen.

Nach dem Unterricht teilt Nico Don Eugenio mit, dass er für die Beichte bereit ist.

Wir wissen, wo der Priester mit ihm hingehen wird. Nach Sant’Anselmo, ganz in der Nähe. Ins Pfarrhaus, in das Zimmer im ersten Stock, das Don Eugenio für seine Nachhilfestunden nutzt. Dort steht auch ein kleiner Beichtstuhl.

Als sie ankommen, sind wir längst da. Gut versteckt.

Er lässt ihn eintreten und schließt die Tür ab. Dann setzt er sich in den Beichtstuhl. Nico kniet sich davor und beginnt unverzüglich mit seinem Sermon, mit gelispeltem S.

»Wir haben uns angefasst. Mike, Ahmed, Karim und ich.«