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Seit Monaten steht die 16-jährige Emily heimlich am Fenster ihres Zimmers und beobachtet ihren neuen Nachbarn Eric. Er weiß noch nichts davon, aber Emily wird seine große Liebe sein. Eines Tages sind ihre Eltern außer Haus und Emily sieht sich schon fast am Ziel ihrer Träume. Doch dann entwickelt sich Erics Besuch zum Alptraum...
Nicht nur für Emily.
Für Fans der Kategorie Surprise, Suspense Mystery!
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Epilog
Danksagung
Du bist dran…
Stephanie van Outen
Impressum
© / Copyright: Berlin, 2017 - Stephanie van Outen
Anschrift:
Stephanie van Outen
c/o BJ-Autorenservice
Bianca Jantzen
Gildehauser Weg 140a
48529 Nordhorn
E-Mail: [email protected]
Korrektorat:
Gitte Riedel, Benjamin Wolff
Coverdesign:
Erster Entwurf: Andreea Vraciu
Bearbeitung: Sarah Schemske, http://buecherschmiede.net
Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
»Ich kann nicht fassen, dass ich sogar in ihn verliebt war. In so ein Monster.« Tränen laufen Emily unaufhörlich über die Wangen. Immer wieder streift sich das blasse, dünne Mädchen eine widerspenstige Strähne ihrer langen blonden Haare hinter ihr Ohr, als könne sie damit gleichzeitig die Erinnerungen abstreifen.
»Jetzt untersuche ich dich erst mal und dann sehen wir weiter.« Die Stimme der Gynäkologin ist sanft.
Emily bleibt wie festgeklebt auf ihrem Stuhl sitzen. Die Angst vor dem Ergebnis steht ihr ins Gesicht geschrieben. Anstatt aufzustehen und sich zu dem Untersuchungsstuhl zu begeben, zieht sie ihre dicke, lange Strickjacke noch fester um ihre schmalen Schultern.
Die Gynäkologin schaut Emily prüfend von ihrer Seite des Schreibtisches an. Sie ist fast eine junge Frau, und dennoch wirkt sie unheimlich jung und in sonderbarer Weise beschützenswert. So kommt sie nicht weiter. Sie blickt auf die Karteikarte mit den Informationen des Mädchens. »Wie ich sehe, bist du vor ein paar Monaten 16 geworden. Gehst du noch zur Schule?«
Emily nickt. Sie wendet den Blick nicht von ihren Händen ab, die zusammengefaltet in ihrem Schoß liegen.
»In welcher Klasse bist du?«
»In der 10. Klasse. Auf der Gesamtschule.«
»Gefällt dir die Schule denn?«
Emily zuckt, als wolle sie heftig mit dem Kopf schütteln, aber dann scheint sie es sich im selben Moment anders zu überlegen. »Geht so. Die Lehrer sind ganz okay.«
Die Ärztin hakt mit sanfter Stimme nach. »Und deine Mitschüler? Sind die auch okay?«
Emily zögert. Ihr Blick wandert hin und her. Sie scheint zu überlegen, was sie ihr, der Frauenärztin, anvertrauen kann und was nicht.
Sie kommt ihr zuvor: »Weißt du Emily, ich bin an etwas gebunden, das sich ärztliche Schweigepflicht nennt. Das heißt, ich muss der Polizei das Ergebnis der Untersuchung mitteilen. Aber alles was du mir sonst erzählst, bleibt unter uns… wenn du das möchtest.«
Zum ersten Mal, seit die blasse Schülerin den Behandlungsraum betreten hat, blickt Emily auf.
»Sie hänseln mich«, sagt sie so schnell, dass Brigitte sie fast nicht versteht. »Sie machen Witze über mich, weil ich so klein und dürr bin und keine Brüste habe und weil ich noch keinen Freund hatte und deswegen noch Jungfrau bin.«
So schnell, wie die Worte aus Emily hinausfließen, so schnell zieht sie sich wieder zurück in ihr Schneckenhaus.
Die Gynäkologin greift zu Stift und Zettel.
Das scheint Emilys Aufmerksamkeit zu erregen.
»Sie finden das auch nicht normal, oder? Deswegen schreiben sie das auf.«
»Was soll ich nicht normal finden?«
»Jetzt fragen sie doch nicht so blöd. Sie wissen genau, was ich meine.«
Erstaunt zieht die Ärztin die Augenbrauen nach oben.
»Entschuldigung.« Emily blickt sie erschrocken aus großen, runden Augen an. »Es ist nur… alle haben schon. Nur ich nicht. Kein Junge findet mich attraktiv, weil ich aussehe, wie eine 12-Jährige. Ich darf mich ja nicht mal schminken. Meine Eltern erlauben es nicht.« Emilys Wangen sind rot vor Aufregung. »Und dann kam Eric und ich dachte, dass er anders wäre.« Ihre ohnehin schon brüchige Stimme wird von heftigem Schluchzen erstickt.
Die Frauenärztin seufzt. Fälle wie dieser gehen ihr immer nah. Mit einem unauffälligen Blick schaut sie auf die Wanduhr, die sich hinter Emilys Rücken über der Tür befindet. »Manchmal hilft es, mit jemand anderem über so ein Erlebnis zu sprechen als mit den Eltern oder der Polizei. Mit jemand Fremden.«
Emily schaut auf, nur kurz, bevor sie hastig wieder ihren Blick senkt. »Ja«, sagt Emily schließlich leise. »Ich glaube, sie haben recht.«
Um 19 Uhr waren wir verabredet. Jetzt ist es bestimmt schon eine Viertelstunde nach sieben und er ist immer noch nicht da. Ich bin schon seit mehr als einer Stunde fertig und warte. Den halben Tag habe ich mich für ihn hübsch gemacht. Ich habe sofort angefangen, nachdem meine Eltern – also mein Vater und meine Stiefmutter – aus dem Haus waren. Mein Vater hat irgendeinen wichtigen Kongress mit anschließendem Empfang. Mein Vater ist Arzt. Der Kopf ist sein Fachgebiet – wie auch immer das heißt. Sie werden nicht vor Mitternacht zurück sein.
Zurück zu mir. Ich habe Klamotten rausgesucht, Haare geglättet, mich heimlich an der teuren Schminke meiner Stiefmutter bedient und, nachdem ich eine Stunde lang Online-Tutorials angesehen habe, sogar den perfekten Lidstrich hinbekommen. Wenn meine Eltern wüssten, wie ich jetzt aussehe! Ich bin die Einzige in meiner Klasse, die sich nicht schminken darf, und ich hasse meine Eltern dafür. Nicht nur dafür. So finde ich mich viel, viel schöner. Viel erwachsener. Aber das wollen meine Eltern nicht verstehen – vor allem mein Vater nicht. Ich glaube, er will nicht, dass ich erwachsen werde, denn ich bin die Einzige, die noch da ist. Von unserer alten Familie. Meine ältere Schwester ist schon aus dem Haus, meine richtige Mutter ist gestorben, als ich klein war. Mit meiner Stiefmutter Anna hat er keine neuen Kinder bekommen, obwohl sie deutlich jünger ist als er. Wahrscheinlich wollte sie sich ihre Figur nicht versauen, das würde zu ihr passen. Mein Vater will, dass ich ein Kind bleibe. Aber ich bin jetzt 16, verdammt!
Eric – so heißt er – ist immer noch nicht da. Ich halte die Spannung echt nicht mehr aus. So langsam beschleicht mich ein ungutes Gefühl. Was, wenn er unsere Verabredung vergessen hat? Oder es sich anders überlegt hat? Das darf er nicht! Auf keinen Fall! Das darf einfach nicht passieren. Ich habe so lange darauf gewartet, ihn treffen zu können. Ihn kennenzulernen.
Dabei liebe ich ihn jetzt schon! Seit dem ersten Tag, seit er vor genau zwei Monaten, einer Woche und fünf Tagen uns gegenüber eingezogen ist und ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, liebe ich ihn. Ah, ich habe noch gar nicht erwähnt, dass er unser Nachbar ist.
Wie auch immer, er hat eine Gitarre aus seinem Auto in das Haus getragen. Ein Auto! Und eine Gitarre! Das fand ich unheimlich toll. Und das Beste ist: Er ist wirklich ein richtiger Musiker – das hat er mir vor ein paar Wochen erzählt, als wir das erste Mal miteinander gesprochen haben. Es war unglaublich aufregend. Mein ganzer Körper hat gekribbelt. Mein Freund, der Musiker. Alle werden erblassen vor Neid. Und vielleicht wird er irgendwann sogar mal ein Lied für mich schreiben! Er ist einfach mein Ein und Alles!
Eric hat einen süßen, dunkeln Lockenkopf, helle Augen, er trägt immer eine abgewetzte Lederjacke, T-Shirts von Bands, die ich nicht kenne und die ich mir dann immer sofort anhöre, und Jeans mit Rissen. Er sieht aus wie ein richtiger Rockstar – wild, unabhängig, frei von allen Zwängen, von allen Verpflichtungen. Seit er in mein Leben getreten ist, denke ich den ganzen Tag an ihn. Morgens, in der Schule, auf dem Weg nach Hause, abends in meinem Bett. Seit es ihn gibt, kann ich es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Nicht, weil ich so gern zuhause bin. Im Gegenteil. Meine aufgetakelte Stiefmutter nervt mich unglaublich. Ich darf mich nicht schminken – obwohl ich trotzdem jeden Morgen heimlich etwas braune Wimperntusche auftrage – aber Hauptsache sie verbringt jeden Tag Stunden vor dem Spiegel.
Zuhause bin ich eigentlich nur in meinem Zimmer. Mein Vater ist sowieso kaum da. Und von hier kann ich ihn heimlich beobachten! Also Eric. Er wohnt auf der anderen Seite der Straße in einer Wohnung im ersten Stock direkt gegenüber von meinem Zimmer. Seitdem stehe ich Tag für Tag, Stunde für Stunde am Fenster und verfolge durch einen kleinen Spalt zwischen Vorhang und Fensterrahmen, was er macht. Ich kenne ihn in- und auswendig. Oft ist er ewig weg, dann bin ich traurig und warte stundenlang auf ihn. Manchmal werde ich richtig böse, weil er mich so lang allein lässt – eingesperrt in diesem Zimmer, in diesem Haus, in diesem Leben.
Ich blicke auf die leuchtend roten Ziffern meines Weckers. Schon 20 Minuten. Seine Wohnung ist dunkel. Er ist nicht zu Hause. Ist er nochmal losgegangen, um ein Geschenk für mich zu kaufen? Ein paar Blumen vielleicht oder Schokolade? Ich fühle, wie wieder ein Kribbeln in meinem Bauch aufsteigt. Das muss es sein. Vielleicht musste er nochmal zur Bank, um Geld für ein Geschenk zu besorgen, und ist deswegen so spät dran. Bestimmt taucht er gleich auf. Und dann wird er an der Haustür klingeln und ich werde ihm öffnen und er wird mich ganz verlegen anschauen, weil er genauso aufgeregt ist wie ich. Aber so aufgeregt wie ich kann er gar nicht sein! Ich habe seit zwei Tagen quasi nicht mehr geschlafen und gegessen. Er ist mein erster Freund. Also eigentlich ist er ja noch gar nicht mein Freund, heute ist unser erstes Date, aber für mich gibt es gar keinen Zweifel: Er ist es!
Ich nehme eine Bewegung auf der Straße wahr. Nur aus dem Augenwinkel. Sie reißt mich aus meinen Gedanken. Der Schein der Straßenlaterne blendet mich. Ich kann kaum etwas erkennen. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen. Ein Schatten nähert sich unserem Haus. Das muss er sein, gleich wird er klingeln! Ich greife nach dem Vorhang, will ihn zurückziehen, aber Moment mal – das sind zwei Schatten, nicht einer. Dann kann er es doch nicht sein. Meine Mundwinkel zieht es schlagartig nach unten. Was soll das? Wieso kommt er nicht? Habe ich mich im Tag geirrt? Ich habe ihm doch vorgestern nach der Schule, als er…
Es klingelt. Erschrocken drehe ich mich um und blicke durch mein dunkles Zimmer in Richtung des Lichtscheins im Flur. Habe ich Eric auf der Straße übersehen? Da waren doch nur diese zwei Schatten. Kam er von der anderen Seite der Straße? Aber da ist eine Sackgasse. Na egal. Er ist da! Ich höre mein Herz laut schlagen. Bestimmt wird er es mitbekommen und sofort wissen, wie aufgeregt ich bin.
Mit einem Hüpfer löse ich mich aus meiner kurzen Schockstarre und laufe mit federnden Schritten die Treppe runter. Kurz vor der Haustür schaue ich im Vorbeigehen nochmal schnell in den Spiegel. Ich streiche das Kleid glatt, das mir meine Stiefmutter zum Geburtstag geschenkt hat und überprüfe mein Gesicht. Das Make-Up fühlt sich komisch auf der Haut an. Ich muss dringend daran denken, mir nicht im Gesicht rumzuwischen, vor allem nicht in den Augen. Dann würde ich aussehen wie ein Panda und das wäre megapeinlich.
Ich atme noch einmal tief durch und greife nach der Türklinke. Gerade als ich die Haustür öffnen will, höre ich… Lachen. Ich halte inne und lausche. Ich überlege, die Tür doch nicht aufzumachen, aber jetzt ist es zu spät. Das Licht im Flur ist automatisch angegangen, als ich die Treppe runtergekommen bin. Ich habe plötzlich einen schlechten Geschmack auf der Zunge. Mein Herz klopft. Es gibt bestimmt eine Erklärung. Vielleicht ist es ein Missverständnis, falscher Eingang oder so.
Ich schlucke und mache die Tür auf. Ich sehe braune Wuschellocken. Es ist tatsächlich Eric. Und er ist nicht allein.
Er. Ist. Nicht. Allein!
Die zwei Menschen auf der Straße, das waren doch er und – ein anderes Mädchen. Alles in mir krampft sich auf einen Schlag zusammen. Jetzt stehen sie hier in der Tür und er hat einen Arm um sie gelegt. Ich kann es nicht fassen. Ich kann nicht beschreiben, was gerade in mir vorgeht. Ich spüre, wie mein Magen sich innerhalb einer Sekunde zu einem festen Knoten zusammenzieht.
»Na Kleine, willst du uns nicht endlich reinlassen? Ich hab noch jemanden mitgebracht, damit es lustiger wird.«
Ich schnaufe aus vor Empörung. Ist es ihm mit mir nicht lustig genug? Er kennt mich doch noch gar nicht. Und überhaupt – seine Stimme. Was ist mit seiner Stimme? Sie klingt anders als die beiden Male, die ich bisher mit ihm gesprochen habe. Hat er etwa Alkohol getrunken? Am liebsten möchte ich ihm und dieser… blöden Schlampe die Tür vor der Nase zuschlagen. Aber ich traue mich nicht. Was würde er dann von mir denken? Dass ich eine Spielverderberin bin? Dann hätte ich es doch versaut, gleich am Anfang. Ich bin so wütend!
Nachdem ich ein paar Momente unschlüssig rumstehe, gehe ich schließlich ohne ein Lächeln zur Seite und lasse die beiden ins Haus. Ich spüre, wie meine Beine zittern. Ich schließe schnell die Tür und betrachte sie von hinten. Sie ist älter als ich, das sehe ich sofort. Und im Gegensatz zu mir sieht sie auch so aus. Bestimmt ist sie schon volljährig. Außerdem ist sie größer als ich, sie hat blondere Haare, längere Beine, sie trägt Klamotten, die mir meine Eltern nie kaufen würden. Ich hasse sie!
»Emma, das ist Annabelle.«
»Emily. Ich heiße Emily«, sage ich gepresst, während ich mich gleichzeitig darüber ärgere, dass Eric nicht nur meinen Namen vergessen hat, sondern auch, dass an diesem Mädchen alles schöner zu sein scheint als an mir. Sogar ihr Name.
»Ach ja, stimmt. Wo ist das Klo, E-mi-ly?« Er betont meinen Namen jetzt so sehr, dass ich mir blöd vorkomme, ihn berichtigt zu haben. Annabelle kichert. Ich atme tief durch. »Dort vorne, rechte Tür.«
Er verschwindet und ich stehe mit ihr allein da. Ich weiß nicht, was ich sagen oder tun soll. Am liebsten möchte ich mich in meinem Zimmer unter der Bettdecke verkriechen und nie wieder aufwachen.
»Der Typ gehört mir, ist das klar?«
Ich schaue Annabelle erstaunt an, dann gleich wieder weg. Ich kann ihrem Blick nicht standhalten, so herausfordernd, wie sie mich anschaut. Ich habe das Gefühl, dass diese blonde Giftschlange gleich auf mich losgeht, wenn ich jetzt etwas Falsches sage.
»Klar«, sage ich matt. Etwas Anderes fällt mir nicht ein. Und ich will keinen Ärger. Trotzdem kann ich mir ein kleines Lächeln nicht verkneifen und schaue schnell auf den gefliesten Fußboden des Flurs, damit Annabelle es nicht sieht. So sicher scheint sie Eric ja doch noch nicht in ihrem Netz zu haben, sonst würde sie mir diese Ansage nicht machen. Sie scheint mich als Konkurrenz zu sehen! Blut schießt mir in die Wangen. Ich schöpfe plötzlich wieder Hoffnung und versuche, Eric so süß wie möglich anzulächeln, als er ein paar Sekunden später aus dem Gäste-Bad zurückkommt.
»So, meine Hübschen, dann kann die Party ja losgehen«, sagt er, während er seinen rechten Arm um mich und den anderen Arm um Annabelle legt und uns in Richtung Wohnzimmer schiebt.
»Hast du was zu trinken im Haus?«
Fast will ich Wasser und Orangensaft sagen, aber ich kann es mir gerade noch so verkneifen. Ich werde nervös. Ich weiß, dass meine Eltern Alkohol im Haus haben und auch, wo sie ihn verstecken. Aber ich bin mir sicher, dass sie merken würden, wenn etwas fehlt. Gerade nach einem solchen Abend wie heute, an dem ich allein zuhause bin, werden sie bestimmt nachschauen, ob ich etwas Dummes gemacht habe.
»Ich weiß nicht«, antworte ich ausweichend.
»Das war ja klar.« Annabelles Stimme klingt so schneidend, dass ich zusammenzucke, »dass dieses Kindergartenkind nicht mal weiß, wo ihre Alten den Schnaps versteckt haben. Du hast doch bestimmt noch nie was getrunken, weil du Angst hast, dass Mami und Papi dann enttäuscht von dir sind.« Sie beugt ihren Oberkörper in meine Richtung und verzieht ihre vollen Lippen zu einer Schnute, als ob sie mit einem Baby sprechen würde.
»Natürlich war ich schon mal betrunken«, sage ich trotzig, obwohl es nicht stimmt. Meine Eltern würden mich umbringen.
Annabelle lacht in einer übertriebenen, widerlichen Art und Weise. »Warst du schon einmal betrunken, ja? Was gab es denn? Kindersekt?« Sie spricht immer noch in Babysprache.
Ich spüre, wie meine Wangen feuerrot werden.
»Also, was ist jetzt? Hast du was da oder nicht?«, schaltet sich Eric ein. Er klingt leicht genervt. »Sonst müssen wir woanders hingehen. Und das wäre doch schade, wo es hier so schön gemütlich ist.« Er schaut mir tief in die Augen und lächelt mich an mit seinen schönen, vollen Lippen, während er das sagt. Meine Knie werden plötzlich weich.
»Also gut«, höre ich mich sagen und bereue es sofort. Aber jetzt gibt es wohl kein Zurück mehr. »Ich gehe nachschauen.«
***
Ein paar Minuten später komme ich mit ein paar Flaschen Bier und einer kleinen, angebrochenen Flasche Wodka aus dem Keller zurück. Eigentlich will ich kein Bier trinken, aber wenn ich nur zwei Flaschen mitgebracht hätte, hätten sie mich bestimmt gleich wieder aufgezogen. Ich sehe Eric und Annabelle auf dem hellbraunen Ledersofa meiner Eltern sitzen und kichern. Sie sitzen viel zu eng beieinander, Eric hat den Arm in ihre Richtung ausgestreckt und spielt mit einer ihrer unglaublich hellblonden Haarsträhnen. Von einer Sekunde auf die andere fühle ich mich wie ein Stier, der Rot sieht: Ich muss dazwischen.
»Ich hab was gefunden«, rufe ich laut und knalle demonstrativ die Flaschen auf den flachen Couchtisch.
»Na also, geht doch«, sagt Eric und öffnet zwei Biere mit einem Feuerzeug, das er aus seiner schwarzen Jeans zieht. Er drückt erst Annabelle, dann mir eine Flasche in die Hand. Ich blicke unschlüssig auf das Etikett. Die grüne Flasche liegt kalt und schwer in meiner Hand. Ich habe bisher nur diese bunten Biere mit Grapefruit- oder Kirschgeschmack getrunken. Richtiges Bier mag ich überhaupt nicht, nachdem ich einmal einen Schluck probiert habe auf einer Familienfeier vor ein paar Jahren. Es hat widerlich bitter geschmeckt und meine Familie hat darüber gelacht, wie ich angeekelt das Gesicht verzogen habe.
Eric greift nach seiner Flasche auf dem Couchtisch und zieht mich in derselben Bewegung an sich auf seinen Schoß. Mir wird plötzlich ganz anders. Ich sitze auf seinem Schoß! Und Annabelle nicht. Ich sehe sie nicht an, sondern habe nur Augen für Erics weiche, dunkelbraune Haare, denen ich nun so nah bin wie noch nie. Aus dem Augenwinkel kann ich genau erkennen, wie es in ihren Augen blitzt.
Er riecht so gut. So herb und männlich. Ich lege meinen Kopf auf seine Schulter. Einfach so. Und natürlich, um Annabelle zu ärgern. Ich möchte seinen Duft in mir aufsaugen, seine Haut berühren, in seine traumhaft schönen Augen blicken. Jetzt bin ich ihm endlich so nah… und dann sitzt diese dämliche Kuh neben uns.
»Wollen wir ein Spiel spielen?«, fragt Eric.
Ich blicke erstaunt von seiner Schulter auf. Ich bin ein bisschen sauer darüber, dass er diesen – unseren – Moment mit so einer Frage kaputtmacht.
Annabelle springt natürlich sofort darauf an: »Klar, warum nicht.« Sie würde wahrscheinlich zu allem Ja sagen, nur um mich von seinem Schoß runterzubekommen.
Sie sieht mich herausfordernd an. Auch Erics Blick ist auf mich gerichtet. Nervös schaue ich zwischen beiden hin und her. Ein ungutes Gefühl breitet sich in meinem Magen aus. Ich weiß nicht, was Eric vorhat, aber ich kann mir denken, dass er nicht Mau Mau spielen will.