Du hast Unrecht getan - Barbara Hainacher - E-Book

Du hast Unrecht getan E-Book

Barbara Hainacher

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Beschreibung

Stell dir vor, du weißt nicht, was du letzte Nacht getan hast! Als es in der kalifornischen Kleinstadt Santa Barbara plötzlich zu bestialischen Morden an mehreren Ärzten kommt, führt die Spur bald zu der chinesischen Ärztin und Virologin Doktor Samantha Lee, die vor siebzehn Jahren von Hongkong nach Amerika ausgewandert war. Doktor Lee driftet immer mehr in ihre dunklen Alpträume und Flashbacks aus ihrer Kindheit ab. Als noch ein Toter auf ihrem Grundstück gefunden wird, zieht sich die Schlinge immer weiter zu. Ist es möglich, dass sie für die Morde verantwortlich ist?

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EPUB
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Seitenzahl: 383

Veröffentlichungsjahr: 2020

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BARBARA

HAINACHER

DU HAST

UNRECHT

GETAN

© 2020 Barbara Hainacher

Homepage: www.hainacher.com

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-11439-5

e-Book:

978-3-347-11441-8

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Über die Autorin:

Barbara Hainacher wurde 1972 in Salzburg geboren. Nach ihrer kaufmännischen Ausbildung arbeitete sie mehrere Jahre als Bürokauffrau und sammelte auch langjährige Praxis im Familienbusiness, bis sie sich ganz der Schriftstellerei widmete. Ihre vielen abenteuerlichen Reisen rund um die Welt finden sich in ihren Büchern wieder. Nebenbei gilt ihre Leidenschaft exotischen Pflanzen, Tieren, Fotografieren und Filmen. Weitere Bücher finden Sie auf ihrer Homepage unter www.hainacher.com. Und vergessen Sie bitte nicht, eine Rezension zu hinterlassen!

Über das Buch:

Nachdem die kalifornische Kleinstadt Santa Barbara von grausamen Morden an mehreren Ärzten erschüttert wird, verfolgen zwei Polizisten die Spur eines offensichtlichen Serienmörders. Wie sich herausstellt, quält er seine Opfer vor ihrem Tod mit rituellen Praktiken. Alles deutet vorerst auf einen Zusammenhang zwischen der Traditionellen Chinesischen Medizin und den darin verwendeten tierischen Produkten hin -

bis der Fall eine unerwartete Wendung nimmt

Die Handlung von „Du hast Unrecht getan“ ist frei erfunden und entstammt rein der Phantasie der Autorin, Barbara Hainacher. Darüber hinaus sind alle geschilderten Romanfiguren, Unternehmen, Ereignisse, Schauplätze, Behörden, Polizeireviere ebenso frei erfunden oder wurden fiktiv verwendet. Nichts davon ist als eine Anspielung auf die Politik oder das Verhalten von irgendwelchen Firmen, Institutionen, Universitäten, Behörden oder Ländern gedacht.

Für meine Eltern,

die es oft mit dem kleinen Skorpion, dessen Gerechtigkeitssinn sehr ausgeprägt war und noch immer ist,

nicht immer leicht hatten!

Du bist eine Spiegelung der Liebe

Wisse, dass alles, was im Universum ist, nichts als eine Spiegelung der Liebe ist und dessen, was sie hervorgebracht hat.

Rumi

Prolog

Hongkong Lantau Island

Der helle Mond beleuchtete den warmen Sandweg, auf dem sie barfuß vom Farmhaus weg und geradewegs auf die Gefahr zulief.

Hinter ihr schrien Hühner, Enten und anderes Geflügel aus Todesangst und flogen aufgeregt in ihren Ställen hin und her, die rund um das Haus verteilt waren. Neben den Eisengehäusen beleuchteten Fackeln das düstere Geschehen, dessen Lichtkegeln dutzende von Insekten anlockten. Lautlos schlich sie durch die Dunkelheit, während sie sich immer wieder ängstlich umsah.

Das Quaken der Frösche und das für die Singzikaden typische Trommeln wurde immer lauter, doch je weiter sie weglief, desto mehr wurde es von einem anderen Geräusch verdrängt. Ein Knistern und Knacksen durchdrang die Atmosphäre und dann sah sie es. Die Arbeiter hatten bereits ein großes Feuer entzündet. Schnell versteckte sie sich hinter einem nahegelegenen Strauch, damit sie niemand sah.

Kurz blickte sie sich noch einmal um, sah zu dem hell erleuchteten Farmhaus zurück und fragte sich, ob es ihm schon aufgefallen war, dass sie, entgegen seinen Vorschriften, das Haus verlassen hatte.

Sie wusste, dass sie nicht hier sein durfte, dass sie hier in Gefahr schwebte. Doch sie war schon fünf und konnte auf sich selbst aufpassen! Außerdem hielt sie es nicht mehr in dem Haus aus.

Mei Lee blickte hinauf in den dunklen Himmel, zu den hell leuchtenden Sternen und dachte an ihre Großmutter, nahm ihre rundliche Erscheinung mit dem breiten Grinsen wahr, die sie liebevoll ansah, erinnerte sich an die warmen Umarmungen, in denen sie sich geborgen fühlte, ihre angenehme Stimme und ihr freundliches Wesen.

Plötzlich huschten Schatten an ihr vorüber und Mei Lee sah ihnen nach. Die Arbeiter, die von den Ställen kamen, hielten das kopfüber hängende Geflügel mit einer Hand an den Füßen fest und mit der anderen Hand bedeckten sie Mund und Nase mit Tüchern. Sie gingen rasch an ihr vorüber, ohne sie zu bemerken. Sie blickte ihnen nach. Am Rand der Feuerstelle warfen sie die Hühner, Enten und anderes Geflügel bei lebendigem Leib in die züngelnden Flammen. Die Schreie der Vögel waren schrill vor Angst, doch sie verhallten sofort in dem permanenten Getöse. Düstere Rauchschwaden stiegen in den tristen Himmel, der sich jetzt pechschwarz gefärbt hatte. Ein unheimliches Bild brannte sich in ihre Netzhaut.

Traurig, aber zugleich auch fasziniert und ängstlich sah sie zu dem mittlerweile hoch in den Himmel emporragenden Feuer. Doch dann änderte sich die Windrichtung, sodass das Feuer in ihre Richtung geweht wurde! Ein Hitzeschwall hüllte sie im nächsten Moment ein und Flammen züngelten wild hin und her.

Panik ergriff sie und sie riss die Augen auf, während sie erschrocken zurückwich. Die extreme Hitze brannte heiß auf ihrer zarten Haut. Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn und lief zusammen mit ihren Tränen das Gesicht hinab, das sie mit dem Ärmel abwischte. Sie kniff die mandelförmigen Augen zusammen, denn der Rauch lag nun ätzend in der Luft. Sie hustete ein paar Mal und wich noch weiter zurück.

Immer heftiger hustend hielt sie sich die kleinen Kinderhände vor das Gesicht. Der Pony klebte nass an ihrer Stirn und Tränen liefen fortwährend ihre Wangen hinab. Schluchzend wischte sie den Rotz, der ihr aus der Nase lief, mit dem Ärmel ab, welcher schon ganz verklebt war.

Hinter sich konnte sie das noch lebende Geflügel in den Käfigen hören, das aufgeregt schrie und wild hin- und herflog, während die Arbeiter die Vögel abwechselnd holten. Sie wusste, dass es sein musste, doch es machte sie noch trauriger.

Kurz blickte sie wieder zum Farmhaus. Großvater würde böse sein, weil sie hier war, aber es war ihr egal. Eine tiefe Traurigkeit überschattete alles und brannte wie das Feuer in ihrer Seele. Sie war schlimmer als alles andere. Starr blickte sie in die Flammen. Dann sah sie ihre Großmutter, die ihr aus dem Feuer zuwinkte.

Plötzlich erschrak sie fürchterlich. Der Mann, der mit einem Mal neben ihr stand und sie am Arm packte, war Chuan, der Verwalter von Großvater. Er war ein warmherziger und freundlicher Mann. Seine Kleidung unterschied sich deutlich von denen der Arbeiter auf der Farm, seine Haare waren etwas länger, die Hände waren gepflegt und in seinen braunen Augen lag Mitgefühl und irgendwie erinnerte er sie sehr an ihren Vater.

»Mei Lee!«, brüllte er, um das immer lauter werdende Getöse des brennenden Feuers und das Geschrei der Vögel zu übertönen.

»Was machst du denn hier draußen? Komm mit, du sollst doch nicht hier sein!«

Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er sie an die Hand und führte sie zum Farmhaus zurück, in dem sie nun seit einem Jahr wohnte, seit ihre Eltern bei einem Fährunglück ums Leben gekommen waren.

Mei Lee hielt seine warme Hand fest umklammert und blickte beim Eintreten zu dem Zimmer auf der rechten Seite, in dem Großvater auf einem Schemel saß und gerade eine Arbeiterin behandelte. Das Zimmer diente ihm als Praxis und es war dasselbe Zimmer, in dem ihre Großmutter gestern an der Grippe verstorben war. Sie schluchzte herzzerreißend. Nun hatte sie niemanden mehr auf der Welt! Nur Großvater, aber vor ihm hatte sie Angst!

»Mei Lee!«, rief ihr Großvater erzürnt, als er sie mit rußverschmiertem Gesicht hereinkommen sah. »Ich habe dir doch verboten, zum Feuer zu gehen!«

Sie weinte nun noch heftiger als zuvor. Chuan sah zu dem Arzt, dann nahm er Mei Lee in die Arme und tröstete sie. Kurz darauf ging er schnellen Schrittes hinaus und auf das Feuer zu, während Großvater zu ihr kam und sie böse ansah. Kopfschüttelnd kehrte er kurze Zeit später in seine Praxis zurück und ließ sie allein.

Mei Lee legte sich auf ihr Bett und war unendlich traurig. Durch das Fenster hindurch konnte sie den riesigen Mangobaum sehen, der gespenstisch neben den Vogelkäfigen stand und von dessen Ästen riesige Früchte herabhingen, während in der Ferne das Feuer des Todes noch immer hell loderte.

Sie schloss die Augen. Bilder der Vergangenheit tauchten vor ihrem inneren Auge auf und sie ließ es zu, dass die Erinnerung sie davontrug. Sie sah sich im Schatten der Baumkrone stehen, sah die Enten, Hühner und andere Vögel, wie sie zusammengepfercht in ihren Ställen hin und her flatterten und aufgeregt schnatterten, als ihre Großmutter die Eier einsammelte und die Ställe ausmistete.

Doch von einem auf den anderen Tag lag sie krank auf dem Bett in Großvaters Praxis, ihre Wangenknochen waren eingefallen und sie sah blass aus. Das Haar hing in Strähnen herab.

Es schien, als könnte sie das dumpfe Husten und das Hecheln der sechzigjährigen Frau noch immer hören und ihr Magen zog sich zusammen!

Dann musste auch sie heftig husten.

Wie oft hatte sie ihr das letzte Jahr beim Eiereinsammeln und Ausmisten geholfen!

Mei Lee kullerten Tränen die Wange hinab und die Nase lief. Sie schnäuzte sich wieder in ihren Ärmel und wischte anschließend ihren Pony aus der Stirn. Ihr war so heiß! Ihr Körper schien zu glühen.

Ein kurzes Aufflackern in Großmutters Gesicht und ein gezwungenes Lächeln waren das Letzte, was sie von ihr durch das offene Fenster gesehen hatte. Am liebsten wäre sie zu ihr gegangen, hätte sie umarmt, doch Großvater hatte es ihr verboten. Sie könnte sich anstecken, hatte er ihr gesagt.

Nein!, schrie Mei Lee bei der Erinnerung an ihre Großmutter, die plötzlich extrem hustete und sich röchelnd an den Hals fasste. Ihr Gesicht war blau angelaufen und es hatte sich zu einer Grimasse verzogen! Schweiß rann ihre Schläfe hinunter. Dann konnte sie nichts mehr sehen. Chuan und ihr Großvater beugten sich hastig über sie und …

Plötzlich überkam sie ein heftiger Hustenanfall. Großvater kam kurze Zeit später ins Zimmer, sah sie seltsam an, nahm ihre Hand und fühlte ihren Puls.

»Leg dich ins Bett, Mei Lee! Ich hole Medizin!«

Schnell ging er wieder aus dem Zimmer.

Sie tat wie ihr geheißen. Nun würde auch sie sterben, wie ihre Großmutter!

1

Freitag, 28. November Kalifornien/Santa Barbara

Wie vom Blitz getroffen fuhr Samantha Lee hoch und sah erschrocken zum Fenster. Ein lautes Geräusch hatte sie aus ihrem seit beinahe zwanzig Jahren wiederkehrenden Albtraum gerissen. Etwas war gegen die Scheibe geflogen. Sie hüpfte mit erhöhtem Pulsschlag aus dem Bett, gefolgt von Laotse, ihrem Jack Russell Terrier, der laut bellte, und setzte ihre Brille auf. Aufgeregt ging sie auf das Fenster zu, durch das sie auf das türkisfarbene Meer blicken konnte. Das Fenster war zum Glück nicht gesprungen. Ein paar Federn hingen an der Außenseite der Scheibe. Sie öffnete es, nahm die Federn in die Hand und begutachtete sie.

Möwen, registrierte sie erleichtert und sah hinab auf den Sandstrand und das türkisfarbene Meer, das heute aufgepeitscht wirkte. Dann ließ sie ihren Blick auf den Felsen unter ihr wandern, auf dem ihr Haus stand und der in der Morgensonne leuchtete.

Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass sich der Vogel weder an der Steilwand noch am fünfzig Meter darunter befindlichen Sandstrand befand - sofern sie es von hier oben feststellen konnte - beschloss sie, wieder ins Bett zurückzukehren. Doch als sie die Fenster schließen wollte, wehte der Wind plötzlich einen Geruch heran, der sie an Sandelholz, Schwefel und einen würzigen Tabakrauch oder Räucherstäbchen erinnerte. Doch da war noch eine andere Nuance, die sie wahrnahm. Ein Geruch nach Tod und Verwesung und nach Bärenfellen!

Seltsam! Sie blickte noch einmal verwundert aus dem Fenster, zuerst nach links, doch da gab es nur den Felsvorsprung, dann nach rechts zur Straße, die sich an dem Felsen entlangschlängelte und an ihrem Haus vorbeiführte. Die Straße war noch unbefahren, was sich bald ändern würde, wenn der Berufsverkehr einsetzte. Niemand war zu sehen!

Sie sog den intensiven Geruch tief ein und versuchte sich zu erinnern, wo sie ihn früher schon einmal gerochen hatte. Laotse schien ihn ebenso wahrzunehmen, denn er bellte laut und hüpfte am Fenster hoch.

Als es ihr nicht einfallen wollte, ging sie nachdenklich und mit beschleunigtem Puls mit den Federn wieder zurück zu ihrem Bett. Alles ist wieder normal, versuchte sie sich zu beruhigen, während sie die Brille und die Federn auf den Nachttisch legte.

Die kleine Mei Lee von damals gibt es nicht mehr!

Eine Welle der Panik durchfuhr ihren Körper. Es war wie immer. Sie kam und ging ohne eine Ursache. Manchmal blieb sie auch tagelang. Sie konnte es nicht genau beschreiben, aber eine unbegründete Angst nahm von ihr Besitz und zog sie hinab in unergründliche Tiefen. Aus der Schublade nahm sie rasch ein halbes Beruhigungsmittel heraus, ohne das ihr ein normales Leben gar nicht mehr möglich gewesen wäre und schluckte es ohne Wasser hinunter. Lao leckte ihr über die Hand und wimmerte leise. Sein weißes Fell mit dem braunen Fleck um das linke Auge glänzte im Morgenlicht. Er schien ihre Traurigkeit wie immer zu spüren. Sam drückte ihn kurz an sich. Doch als sie ihn wieder auf den Boden setzte, lief er rasch aus dem Schlafzimmer.

Kurz blickte sie auf den Wecker. Es war fünf Uhr dreißig. Das bedeutete, dass sie noch eine Stunde schlafen konnte, bevor sie aufstehen musste. Müde schloss sie die Augen und schlief kurze Zeit später wieder ein. … Großvater, …, nein, nein! Hör auf!

Schreiend schlug sie die Augen auf und stöhnte. Ein Albtraum, schon wieder! Vergebens versuchte sie sich an den Traum zu erinnern, doch es gelang ihr nicht. Sie hatte ihren Großvater gesehen, doch weiter kam sie nicht, ein tiefes schwarzes Loch klaffte in ihrem Bewusstsein! So ging es ihr immer und sie fühlte sich, als wäre alle Lebensenergie aus ihr gewichen. Was sie damals nach dem Tod ihrer Großmutter erlebt hatte, hatte sie vergessen oder verdrängt! Was immer damals geschehen war, es war in den Tiefen ihres Unterbewusstseins vergraben.

Sie hatte hier in Amerika ein neues Leben aufgebaut und alles andere war Vergangenheit! Sollte sie der Traumatherapeutin Anna Rossi heute absagen? Oder war sie nun bereit für einen Blick in die Vergangenheit? Wollte sie wirklich wissen, was damals geschehen war?

Mit zusammengezogener Stirn stieg ihr plötzlich der Geruch von vorhin wieder in die Nase. Er hing immer noch im Raum und erinnerte sie an jemanden oder an etwas, aber sie wusste nicht woran. Generell war das Meiste aus ihrer Kindheit und Jugend in Hongkong aus ihrem Gedächtnis verschwunden. Vielleicht war es der Geruch ihres Großvaters? Ihr einziger lebender Verwandter! Sie hatte ihn die ganzen Jahre, die sie hier in Kalifornien gelebt hatte, verdrängt. Und das mit Großvater war nun mehr als siebzehn Jahre her. Sie hatte ein Leben weit weg von dem eigenartigen, seltsamen Mann gewählt.

Plötzlich läutete ihr Wecker. Erschrocken tastete sie danach und schaltete ihn aus. Doch dann nahm sie noch ein anderes Geräusch wahr. Ihr Mobiltelefon, das auf dem Nachtkästchen lag, vibrierte und leuchtete. Sie nahm ihre Brille und das Handy vom Nachttisch und sah auf das Display. Ted! Seufzend ließ sie sich wieder auf ihr Kissen fallen. Wieso respektierte er ihren Entschluss nicht!, dachte sie wütend.

Es läutete einige Male, dann erlosch seine Nummer am Display. Sie drückte auf lautlos, legte das Mobiltelefon und ihre Brille zur Seite und atmete aus. Plötzlich läutete die Haustürglocke. Lao, der wieder ins Schlafzimmer gekommen war und an ihrer Decke zog, ließ sie los und bellte aufgeregt. Ted! Sie wusste genau, dass er es war und wieder leuchtete seine Nummer am Display auf. Rasch zog sie sich ihren Sarong über, befahl Lao im Schlafzimmer zu bleiben und schlich nach unten durch das große Wohnzimmer, dessen Terrasse auf der Meeresseite lag. Die Sonne schien bereits ins Zimmer. Sie durchquerte es und passierte den Eingang zur Küche, die große Wandbibliothek und die alte chinesische Truhe mit Intarsien, bis sie im Eingangsbereich stand. Vorsichtig spähte sie durch den Türspion. Es war Ted!

Ein gemischtes Gefühl beschlich sie. Er sah wie immer umwerfend aus mit seinem weißen T-Shirt, seinem blauen Schal und seiner enganliegenden Jeans. Für sein Alter war er wirklich noch sehr adrett! Seine graumelierten Haare hatte er zurückgekämmt, die sein gebräuntes Gesicht und seine funkelnden Augen magisch unterstrichen. Doch sein Verhalten im Moment glich dem eines Stalkers und passte nicht zu dem charismatischen Arzt und Wissenschaftler, der er war! Warum war er hier und nicht bei seiner Frau?

Sie hatte genug gesehen und schlich leise wieder nach oben in ihr Schlafzimmer, legte sich ins Bett, zog die Bettdecke über den Kopf und begann hemmungslos zu schluchzen.

Gemischte Gefühle von Wut und Trauer erfüllten sie. Sie hatte mit ihm Schluss gemacht. Warum akzeptierte er das nicht! In all den Jahren hier in Amerika war er ihr einziger Vertrauter, dem sie sich vollständig anvertraut hatte, was sonst nicht ihre Art war. Und das wahrscheinlich nur, weil er ihr gleich zu Beginn von seiner seltsamen Familie erzählt hatte, bei der er aufgewachsen war. Seine Eltern mussten wirklich schrecklich gewesen sein!

Wie oft hatte sie versucht, die Beziehung zu beenden, doch irgendwie kam sie nicht los von ihm, war ihm und seinem Charme ausgeliefert. Aber vor kurzem hatte sie all ihren Mut zusammengenommen und zeigte eine Entschlossenheit nach all den Jahren, worauf sie jetzt stolz war. Endlich war es ihr gelungen, sich von ihm zu lösen. Sam seufzte, zog das Laken von ihrem Kopf und wischte die Tränen beiseite. Sie lauschte angestrengt, doch es war ruhig. Er musste gegangen sein! Sie atmete tief aus.

Sie hatte Ted als einzigem von ihrem Großvater erzählt, was nicht viel war, denn sie konnte sich kaum erinnern. Ted wusste nur darüber Bescheid, dass ihr Großvater ein eigenartiger Mann war, der mit vollem dunklem Haar, bis auf seinen kreisrunden Haarausfall, einem glatt rasierten Gesicht, zäh, aber auch vor Kraft strotzend, mit einer Zornesfalte auf der hohen Stirn, zu den Menschen gehörte, den sie am meisten von allen Menschen verabscheute. Der Choleriker war tief in sein Gesicht eingebrannt. Und dann hatte sie noch Erinnerungen daran, wie er ihr Unterricht in der TCM, der Traditionellen Chinesischen Medizin, gab. Das war seine andere Seite, denn er war ein hervorragender Arzt und Lehrer!

Anscheinend sprach sie oft in ihren Träumen, laut Ted. Doch was genau, verschwieg er ihr die ganzen Jahre. Das hatte sie am meisten an ihm geärgert, denn ihre Träume waren der Schlüssel zu ihrer Vergangenheit, in der, außer dem Tod ihrer Großmutter, noch etwas Gravierendes geschehen sein musste, sodass sie alles vergessen hatte. Nur ein paar vereinzelte Fetzen aus der Vergangenheit kamen ab und zu in ihr Bewusstsein. Aber damit konnte sie nichts anfangen. Deswegen hatte sie vor kurzem die Nummer einer Psychologin ausfindig gemacht. Doktor Anna Rossi hatte einen sehr guten Ruf als Traumatherapeutin und behandelte Menschen mit Traumata mittels Hypnose. Sie spürte, dass etwas Schreckliches in ihrer Kindheit geschehen sein musste. Und diese Panikattacken, die sie in den letzten Jahren immer öfter verfolgten, wurden immer schlimmer, je älter sie wurde. Mittlerweile stellten sich auch Kreuzschmerzen ein. Sie sah sich selbst nicht als depressiven Menschen, doch diese Angstzustände … Sie musste etwas dagegen unternehmen! Nach der Arbeit hatte sie einen Termin bei Anna Rossi und sie war jetzt schon das reinste Nervenbündel!

Da sie sowieso nicht mehr schlafen konnte, nahm sie müde die Fernbedienung und drückte auf ON. Mit zusammengekniffenen Augen lag sie da und sah die Nachrichten verschwommen von ihrem Bett aus. Ihre Brille lag auf dem Nachttisch, doch sie war zu müde, um sie aufzusetzen. Lao turnte wahrscheinlich schon im Garten herum Ein paar Minuten wollte sie noch rasten.

Eine schlecht gestylte Nachrichtensprecherin, sofern sie es ohne Brille feststellen konnte, berichtete von Erdbeben, Überschwemmungen und einem Terroranschlag. Schreckliche Nachrichten, die sie auf andere Gedanken brachten. Schön langsam begann das Beruhigungsmittel zu wirken. Der Fernseher an der Wand zeigte nun ein Bild eines Mannes, der ihr bekannt vorkam, doch durch die erweiterten Pupillen verschwamm er komplett vor ihren Augen.

Was sagte die Reporterin da?

Ihr fielen bereits die Augen zu, doch in ihrem Hinterkopf vernahm sie die Stimme der Nachrichtensprecherin, die sie noch sagen hörte:

»… ist der Schauspieler Bernie Raynold nach einer längeren Erkrankung an Krebs gestorben. Er war erst fünfundfünfzig Jahre alt…«

Sie konnte den Rest nicht mehr hören. Ihr Bewusstsein gab die Kontrolle über ihren Körper auf und sie driftete in einen tiefen, unruhigen Schlaf.

Ein Zauberer, der wie aus einem Märchen zu kommen schien, hüpfte um die Holzbank eines jüngeren Mannes, der bis auf eine Stoffhose, die sein Geschlecht verbarg, nackt war, zitterte und stöhnte. Er schien hohes Fieber zu haben, hustete und er röchelte. Der Medizinmann, der einen blau gemusterten seidenen Umhang trug, aus dem dünne Hände und Finger wie Kraken hervorschossen, schmiss mit Schildkrötenpanzern und Muschelschalen um sich. Am Ringfinger saß ein breiter goldener Ring mit einem Emblem. Auf einem Beistelltisch standen Holzschüsseln mit Pulvern, Muschelschalen, Schildkrötenpanzern und Tinkturen.

Der alte Mann schien um die neunzig Jahre alt zu sein, doch er bewegte sich athletisch, aber vorsichtig wie eine Raubkatze. Seine wild zerzausten längeren weißen Haare und sein langer weißer Bart erinnerten sie an Laozi, den legendären chinesischen Philosophen. Sam sah ihm zu, wie er zuerst durchs Feuer hüpfte und mit Muschelschalen und Knochen um sich schmiss, dann begann er mit der Akupunktur, indem er goldene Nadeln an verschiedenen Stellen in den Körper des Kranken stach. Danach massierte er ihn flink, um daraufhin Beifußkraut mittels Kegeln auf die Haut aufzusetzen, die er dann entzündete. Moxibustion, er wendete die drei Grundprinzipien der alten chinesischen Medizin an. Sie beobachtete, wie er sie einsammelte, nachdem sie abgebrannt waren.

2

Freitag, 28. November Kalifornien/Santa Barbara/Calpe Beach

Ihr blauer Beetle mit offenem Sonnenverdeck stand vor der Villa, die sich an den Abhang der Steilküste schmiegte. Samantha Lee setzte ihre Sonnenbrille auf, ließ sich elegant auf den Fahrersitz gleiten und startete den Motor. Der Highway schlängelte sich direkt an ihrem Haus vorbei. Langsam fuhr sie aus der breiten Einfahrt und beschleunigte. Bald gab sie immer mehr Gas, bis sie den Wind in ihren Haaren spüren konnte. Es war ein sonniger Tag und ein Gefühl der Freiheit ließ sie entspannen. Sie atmete die Meeresbrise tief ein, sah hinab auf die brechenden Wellen und seufzte. Die Panikattacke war zum Glück verschwunden, wahrscheinlich nur aus dem einen Grund, weil das Barbiturat noch wirkte. Zum anderen kehrten ihre Gedanken wieder zu Ted und ihren Träumen zurück.

Sie war wieder in Hongkong, sah ihre Großmutter, die an dem damals neuartigen Erreger gestorben war!

Vogelgrippe!

Ein damals als Geflügelpest bekannter Virus, der sich plötzlich vom Tier auf den Menschen übertragen hatte! Eine Zoonose mit vierzig Prozent Sterblichkeitsrate! Großvaters Vermutung war richtig gewesen, denn es handelte sich um Vogelgrippe. Der Veterinär hatte es einen Tag nach Großmutters Tod festgestellt. Doch das Neue an diesem Virus war, dass es auf ihre Großmutter übergesprungen war! Nachdem zuerst ihre Großmutter und noch mehrere Dorfbewohner an der Vogelgrippe gestorben waren, musste ihr Großvater das ganze Geflügel, an die zwanzigtausend Vögel, töten beziehungsweise verbrennen lassen! Sie träumte oft noch davon, wie das Federvieh in Flammen aufging. Es roch bestialisch. Was blieb, war verkohlte Erde, Trauer um ihre Großmutter und die Verbitterung ihrem Großvater gegenüber, der ihr mit der üblichen Kräutertinktur gegen Grippe nicht hatte helfen können!

Manche im Dorf hatte er geheilt, auch sie, denn sie war mit ihren fünf Jahren ebenso daran erkrankt, doch nicht ihre Großmutter!

Mit achtzehn Jahren hatte sie ihren Großvater verlassen, hatte sich Samantha Lee genannt und hatte hier in Amerika ein neues Leben aufgebaut und Ted hatte ihr dabei geholfen!

Dann war da noch der andere Traum, in dem ein Wu-Zauberer einen Kranken heilte. Und dann blutete der Kranke plötzlich aus allen Poren! Er sah irgendwie wie Ted aus.

Alleine die Kleidung und die ganze Szenerie erinnerte sie an das alte China, das sie aus Geschichtsbüchern kannte! Vor irgendetwas hatte sie panische Angst gehabt. War es der Zauberer, der den Mann mittels Chinesischer Medizin von den Dämonen oder einer Virenerkrankung befreit hatte? Außerdem lag auf einem Holzschemel ein sehr alt wirkendes Medizinbuch, das ihr bekannt vorkam. Es ähnelte dem Buch sehr, das bei ihr in der Bibliothek stand!

Sam versuchte, diesen seltsamen Traum beiseite zu schieben. Im Moment war nur ihre Arbeit wichtig. Als erstes hatte John Smith heute einen Termin bei ihr in der Praxis, ein Bär von einem Mann mit einer kurzen Stoppelfrisur. Er arbeitete als Pfleger in einem Seniorenheim und musste oft körperlich schwer arbeiten. Und nun hatte er sich vor kurzem extrem verrissen und sie behandelte ihn mit einer Kräutertinktur, Massage und Akupunktur, auf die er gut ansprach. Der Mann war eine Quasselstrippe, erzählte oft Geschichten vom Seniorenheim und würde ihr heute gut tun!

Dann ging sie in Gedanken die anderen Patienten durch und der Wagen fuhr praktisch wie von selbst die Straße entlang.

Ein paar Minuten später sah sie gedankenverloren die gefährliche Kurve vor sich auftauchen. Ihr Puls schnellte in die Höhe, doch sie reagierte sofort konzentriert, indem sie schnell bremste. Sie kannte die Kurve in- und auswendig, weil sie die Strecke jeden Tag fuhr. Doch heute war sie so in Gedanken versunken gewesen, dass sie sie ganz vergessen hatte. Sie war außerdem zu schnell dran! Die Straße entlang der Steilküste verleitete geradezu zum Schnellfahren und gerade jetzt in ihrer Situation, wo sie so unaufmerksam war und das Beruhigungsmittel intus hatte, wollte sie nichts riskieren. Schon einige Menschen hatten hier ihr Leben gelassen und waren die Steilküste hinabgestürzt. Die Reifen quietschten bei ihrem abrupten Bremsmanöver. Hinter sich sah sie im Rückspiegel einen schwarzen Ferrari auf sich zurasen.

»HILFE!«, rief sie laut vor Schreck.

Da sie nicht wusste, was mit dem Fahrer los war, gab sie wieder etwas Gas, da der Ferrari keine Anstalten machte, sie zu überholen und da sie Angst hatte, von dem Fahrzeug gerammt zu werden. Ihr Herz raste. Sie hielt das Lenkrad mit beiden Händen fest. Wieder blickte sie in den Rückspiegel. Der schwarze Ferrari wirkte aggressiv. Es war ein seltsamer Gedanke, aber in diesem Moment empfand sie es so und er schien immer näher zu kommen. Beinahe verkrampft lenkte sie den Beetle in die Kurve. Das Fahrzeug schlingerte wild nach außen, die Reifen quietschten. Sie schrie kurz auf, als sie die Leitplanke immer näherkommen sah.

Das geht sich nicht mehr aus!

Gerade noch riss sie das Lenkrad auf die andere Seite.

»AHHHHH!«, schrie sie entsetzt, als die Karosserie des Beetles die Leitplanke streifte.

Ihr Herz hämmerte wie wild. Sie hatte den Absturz gerade noch verhindert, doch nun drohte das Fahrzeug gegen die steile Felswand zu krachen! Da begann es, sich um die eigene Achse zu drehen. Verkrampft hielt sie sich am Lenkrad fest und schrie. Sie versuchte gegenzulenken. Der Beetle drehte sich noch immer mit immenser Geschwindigkeit. Gerade noch rechtzeitig bekam sie das Fahrzeug wieder unter Kontrolle, bevor es gegen die Felswand krachte.

Zu Tode erschrocken atmete sie erleichtert auf. Wo war das andere Fahrzeug? Der musste sie doch längst überholt haben! Bevor sie noch in den Rückspiegel blicken konnte, hörte sie die quietschenden Reifen des hinteren Fahrzeugs. Das Adrenalin hatte ihre Sinne aufs Äußerste geschärft.

Der VW Beetle war wieder auf gerader Spur. Sie zitterte aufgeregt und versuchte sich wieder zu beruhigen. Ein Blick in den Rückspiegel verriet ihr, dass der Ferrari ihr immer noch dicht auf den Fersen war. Es kam ihr fast vor, als würde der Fahrer des Ferraris wieder mehr Gas geben.

Es war ein Albtraum. Was wollte der Lenker von ihr?

Sie versuchte, den Fahrer zu erkennen, was aber bei der hohen Geschwindigkeit nicht möglich war, da sie sich auf die kurvenreiche Straße konzentrieren musste. Wimmernd hielt sie sich verkrampft am Lenkrad fest.

»BITTTEEEEE!«

Der Augenblick erschien ihr wie zehn Minuten. Fast wäre sie gegen die Leitplanke gefahren, dann gegen die Felswand gedonnert, da formte sich die Kurve endlich zu einer Geraden aus und verlief wieder normal. Im nächsten Moment überholte sie der Ferrari mit einer Mordsgeschwindigkeit. Sie war so überrascht, dass sie den Fahrer nicht erkennen konnte. Es ging alles extrem schnell.

Danach brauchte sie einige Minuten, bis sie ihre Fassung wiedergewonnen hatte. Galt der Anschlag ihr? War es überhaupt ein Anschlag? Sie versuchte sich innerlich zu beruhigen, doch die Panik drohte sie zu erdrücken.

Mit Logik versuchte sie sich wieder zu beherrschen. Warum sollte sie jemand umbringen oder nur erschrecken wollen? Das hatte nichts mit ihr zu tun! Das war sicher nur ein Wahnsinniger, der Macht ausüben und demonstrieren wollte, wie gut er mit seinem Ferrari umgehen konnte! Ein Besoffener vielleicht?

Wieder blickte sie in den Rückspiegel. Zwei PKWs befanden sich hinter ihr. Sie sah sich die Fahrer im Rückspiegel genauer an, dann schüttelte sie den Kopf und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Leider hatte sie das Nummernschild des Ferraris nicht genau gesehen. Sie musste die Polizei informieren.

Kurz vor neun Uhr erreichte sie zitternd den Parkplatz vor ihrer Praxis, die in der Kensington Road, im Süden lag. Es war ein eingeschossiges Haus. Hübsch von außen und innen hoch modern eingerichtet. Bevor sie noch etwas wackelig auf den Beinen hineinging, sah sie sich die rechte Seite des Beetles an.

»Hilfe!«, entfuhr es ihr erschrocken. Gleichzeitig führte sie ihre Hand zu dem Schutzamulett, das an der Kette um ihren Hals hing.

Wie knapp sie dem Tod entgangen war, wurde ihr erst jetzt bewusst. Ihre Knie zitterten noch immer.

Im Vorzimmer saß Larissa Mansfield, ihre Empfangsdame und blätterte gerade im Kalender.

»Ah, Sam, Guten Morgen! Ich wollte gerade nachsehen, wann Sie den nächsten Urlaub haben.«

»Guten Morgen Larissa.«

»Sie sehen etwas angespannt aus!«

»Hm, …«

Sam atmete tief aus. Ihr fiel es im Moment schwer, mit der Normalität konfrontiert zu werden. Sie wollte jetzt an keinen Urlaub denken und auch die Patienten nervten sie jetzt schon. Und Larissa. Sie war immer zuverlässig, aber auch hochgradig engagiert. Eine Eigenschaft, die sie zurzeit extrem an ihr nervte.

»Wir reden später darüber, Larissa! Schicken Sie Herrn Smith zu mir, danke!«

Die Sprechstundenhilfe sagte noch:

»Ja, aber … «

Doch Sam hatte bereits die Türe von ihrem Ordinationszimmer von innen geschlossen. Es war unhöflich und sonst gar nicht ihre Art, aber heute war ihr Larissa einfach zu anstrengend.

Dann klopfte es und Smith öffnete die Türe.

»Hallo Doc, ich habe Ihnen etwas mitgebracht!«, sagte er mit seiner tiefen Stimme.

Sam sah ihn verwundert an. Smith hielt einen Kuchen in der Hand, den er ihr überreichte.

»Danke, das ist aber nett!«

Er gehörte erst seit kurzem zu ihren Patienten.

»Bitte…, nehmen Sie Platz!«, sagte sie etwas beherrschter.

Smith nickte und setzte sich auf den Stuhl gegenüber von ihr. Sie stellte den Kuchen beiseite.

»Dann strecken Sie mal die Zunge raus und zeigen Sie mir Ihre Handflächen, bitte!«

Sam musste sich extrem beherrschen, um ruhig zu wirken. Sie blickte kurz auf ihre Hände, die zum Glück nicht mehr zitterten. Sie sah sich Smiths Handflächen und seine Zunge an.

»Wie sieht es mit den Schmerzen aus? Geht es Ihnen schon etwas besser?«, fragte sie Smith nun ruhiger.

»Ich bin begeistert, hätte nie gedacht, dass es sich so schnell bessert! Ich kann jetzt wieder arbeiten, meistens ohne Schmerzen!«, sagte er mit einem Lächeln.

»Sehr gut!«

Dann stand sie auf und richtete alles für eine Akupunktur her. Die goldenen Nadeln gab sie in eine Schüssel mit einer Flüssigkeit, während sie Smith bat, den Oberkörper frei zu machen. Sie hatte eine eigene Technik entwickelt, eine Mischung aus der Schule ihres Großvaters und dem, was sie bei ihrem Studium hier in Amerika mitgenommen hatte. Die Salbe, die sie schon vor zwei Tagen angerührt hatte, strich sie mit einem Stäbchen auf die betroffenen Stellen auf und massierte diese dann ein. Smith gab ein wohliges Geräusch von sich. Nach einer halben Stunde Massage, während Smith ihr lustige Geschichten über seine Patienten im Seniorenheim erzählt hatte, tupfte sie ihn ab und holte die Nadeln aus der Schüssel, trocknete sie mit einem sterilen Tuch ab und setzte sie an den Oberkörper des Patienten an.

»Wir werden jetzt ihren Energiefluss in Schwung bringen, Herr Smith!«, sagte sie etwas entspannter.

Als Smith nach einer Stunde Behandlung gegangen war, atmete Sam tief durch, dann nahm sie ihr Mobiltelefon zur Hand und rief bei der Polizei an.

»Polizeidienststelle Santa Barbara. Hier spricht Seargent Franklin. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ja, hallo, hier ist Doktor Samantha Lee. Ich wurde heute früh von einem Ferrari Fahrer bedrängt. Er ist viel zu schnell gefahren und hat keinen Abstand eingehalten. Er hätte mich beinahe gerammt, deshalb wäre ich fast die Steilklippe hinabgestürzt. Leider konnte ich weder das Nummernschild noch sein Gesicht erkennen. Der Ferrari war schwarz. Mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen.«

»Hallo Doktor Lee, langsam, ist Ihnen etwas passiert?«, fragte die besorgte Männerstimme am anderen Ende der Leitung.

»Nein, nur die rechte Seite meines VW-Beetles hat etwas abbekommen.»

Das war die Untertreibung des Jahrhunderts!, dachte Sam. Die Reparatur würde sie eine Menge Geld kosten.

»Gut, ich werde einen Akt anlegen und Anzeige gegen Unbekannt erstatten. Sie müssen dann bitte aufs Revier kommen und den Akt unterzeichnen! Wenn Ihnen zu dem Fall noch etwas einfällt, rufen Sie an. Passen Sie auf sich auf, Doktor Lee! Guten Tag!«

Als Sam aufgelegt hatte, wurde ihr erst bewusst, dass sie nicht einmal den Namen des Polizisten kannte, dem sie ihre Geschichte erzählt hatte. Falls ihr noch etwas einfiel, nach welchem Namen sollte sie fragen? Sie musste sich wirklich beruhigen! Heute war nicht ihr Tag. Normalerweise war sie besonnen und überlegt, aber heute eben nicht.

Obwohl das Radio leise lief, hörte sie den Namen Bernie Raynold, woraufhin sie es lauter drehte. …

“ ist der berühmte Schauspieler Bernie Raynold an seiner Krebserkrankung gestorben.“

Im selben Augenblick klopfte es und Sam drehte das Radio wieder leiser. Harryman wurde von Larissa angekündigt und da er sowieso von Natur aus sehr nervös war, ließ sie ihn sofort eintreten.

Der Vormittag verging schneller als gedacht. Menschen wie Smith, Harryman und dieser Ferrari Fahrer beschäftigten sie neben ihren anderen Patienten bis Mittag.

Als sie nach der Arbeit in ihren VW-Beetle stieg, fühlte sie sich ausgelaugt. Erst jetzt, mitten auf dem Highway, kam die Erinnerung an die rasante Verfolgungsjagd vom Morgen zurück. Eine Erinnerung, die sie immer wieder ängstlich in den Rückspiegel blicken ließ, doch niemand folgte ihr. Schön langsam entspannte sie sich etwas und die wärmende Sonne tat ihr Übriges dazu. Sollte sie Anna Rossi kurzfristig absagen? Sie hatte im Moment wirklich keine Lust, über ihre Vergangenheit zu sprechen …

3

Freitag, 28. November Kalifornien/Giant Forest

Der Himmel hatte sich verfinstert und es sah aus, als ob es jeden Moment zu schneien beginnen würde. Donnergrollen war aus der Ferne zu hören und ein plötzlich einsetzender Wind peitschte die riesigen Bäume hin und her. Es war einer dieser Wintertage, an denen man nicht gerade auf 2200 Meter Höhe in den Bergen herumfuhr, sondern sich bei noch angenehmen Temperaturen am Strand in der Sonne aalte!

Das Unwetter war nun sehr nahe. Dicke Schneeflocken bedeckten die Bergstraße innerhalb von Sekunden. Genau wie es der Wetterbericht vorhergesagt hatte.

Der Jeep raste mit hoher Geschwindigkeit auf der beschneiten Straße durch die Landschaft, vorbei an Bäumen, die rechts und links in den Himmel wuchsen. Das Schneegestöber, das hier oben im Giant Forest Nationalpark immer heftiger wurde, bedeckte innerhalb kürzester Zeit die Vorderscheibe des Jeep Cherokees, der nun nach rechts in den Wald abbog. Die Person, die am Steuer saß, schaltete den Scheibenwischer und das Gebläse der Heizung auf die höchste Stufe, um dem Beschlagen der Windschutzscheibe entgegenzuwirken und legte einen niedrigeren Gang ein. Kalt blickten die dunklen Augen kurz in den Rückspiegel und sahen den bewusstlosen Mann am Boden des Fahrzeuges liegen. Zufrieden gab die Person wieder mehr Gas, sodass das Allradfahrzeug über die Wurzeln der achtzig Meter hohen Mammutbäume hinein in den immer dunkler werdenden Wald schoss.

Einige Zeit später erwachte Doktor Ian Stratter aus seiner Betäubung. Als er sich noch benommen im Inneren des Fahrzeugs umsah, ergriff ihn ein schauriges Gefühl. Im vorderen Bereich auf dem Fahrersitz saß eine Gestalt bekleidet mit einer Art Taucheranzug, von der er nur die Augen sehen konnte, als sie sich zu ihm umdrehte. Es waren dunkle kalte Augen, die Stratter frösteln ließen!

Lauf! schrie eine innere Stimme. Hektisch riss er an der hinteren Türe, die sich entgegen all seiner Bedenken leicht öffnen ließ. Verwundert und etwas wackelig auf den Beinen hüpfte er aus dem fahrenden Jeep, wobei er auf kalten Schnee fiel, auf dem er sich einige Male um seine eigene Achse drehte. Kurz lag er am schneebedeckten Boden, bevor er sich einen Ruck gab und sich benommen aufrichtete. Sogleich begann er zu laufen, wusste, dass er fliehen musste. Seine Gedanken kreisten wild durcheinander, während er, gehetzt wie ein Hase, fröstelnd davonlief. Er befand sich mitten in einem Wald mit Mammutbäumen. Der Sequoia Nationalpark!, schoss es ihm unmittelbar.

Doch das Quietschen der Reifen und das Öffnen der Autotür etwas entfernt von ihm unterbrachen seine Gedanken.

Lauf so schnell du kannst!, meldete sich sein Unterbewusstsein.

Der Entführer hatte eine Vollbremsung hingelegt und war aus dem Fahrzeug gesprungen. Er konnte die Geräusche deutlich aus einiger Entfernung hören.

Lauf schneller, meldete sich sein Unterbewusstsein wieder.

Stratter blickte sich rasch nach dem Froschmann um. Er schien schnell zu sein. Zum Glück war etwas Abstand zwischen ihnen. Während er versuchte, schneller zu laufen, fühlte er, wie ihm beim Atmen die Kälte in die Lunge schoss. Dazu kam die Panik, dass ihn der Verfolger bald einholen würde. Die Angst ließ sein Herz schneller schlagen und schien ihn gleichzeitig zu lähmen.

Nicht nur die Kälte, sondern auch der Gedanke an seine Entführung drückten auf sein Gemüt, ebenso wie auch die riesigen Mammutbäume, die aus dem schneebedeckten Waldboden hervorwuchsen. Am liebsten hätte er laut geschrien, aber er musste sich konzentrieren, um nicht auszurutschen. Panisch drehte er sich wieder nach seinem Verfolger um. Er hatte sich einen minimalen Vorsprung erkämpfen können, doch die Person in dem Taucheranzug lief ziemlich schnell.

Nach einem kurzen Sprint erschien es ihm, als würden seine Füße die Arbeit komplett verweigern. Das musste der einsetzende Schock sein!

Lauf, kam der nächste Impuls seines Gehirns paradoxerweise. Und das versuchte er jetzt trotz des Schocks und der glatten Sohlen an seinen Sommerschuhen, die sich mittlerweile mit Wasser vollgesaugt hatten. Doch es wollte ihm nicht gelingen. Außer Atem versuchte er zumindest schnell zu gehen, denn das Laufen war ihm unmöglich, doch dann klingelte plötzlich sein Mobiltelefon schrill, was ihn in seiner Bewegung einen kurzen Augenblick erstarren ließ. Hektisch riss er es mit tauben Fingern aus seiner Hosentasche, atmete panisch ein und aus und drückte auf die Anruftaste.

Die frostige Kälte passte zu der Stimme seiner Frau, die laut aus dem Handy hallte.

»Ich habe schon hundert Mal versucht, dich zu erreichen! Warum gehst du denn nicht ran, Ian?«

»Susan, hör mir zu! Jemand hat mich entführt und ist mir auf den Fersen! Ich glaube, ich bin im Sequoia Nationalpark! Mammutbäume überall! Ruf die Polizei!«

»Was? Aber… «

Seine glatten Halbschuhe glitten im selben Moment unter seinen Füßen weg, als er hektisch telefonierend durch eine vereiste Bodensenke lief und anschließend die unter dem Schnee begrabene Wurzel des riesigen Mammutbaumes übersah und darüber stolperte. Das Mobiltelefon plumpste ihm aus der Hand und er sah sich kurz darauf auf dem Boden liegen.

Noch bevor er nach dem Mobiltelefon greifen konnte, aus dem die Stimme seiner Frau noch immer krächzte, sah er zwei Füße, die in schwarzen Neoprenstiefeln steckten und sein Handy mit einem Tritt wegkickten. Er sah hoch zu der Gestalt im Taucheranzug, von der nur diese dunklen hasserfüllten Augen zu sehen waren und als er aufstehen wollte, warf sich der Froschmann auf ihn und schlug ihm einen rechten Haken ins Gesicht, sodass Stratter mit dem Schädel benommen auf das Eis zurückfiel. Ein kurzes taubes Gefühl nahm von ihm Besitz.

Als er wieder zu sich kam, hatte er eine Empfindung, als wäre ein Presslufthammer in seinem Kopf explodiert. Dennoch schaffte er es irgendwie, den Kopf unter Schmerzen anzuheben. Im selben Moment bemerkte er, dass seine Hände nach hinten gefesselt waren. Mit weit aufgerissenen Augen schrie er hysterisch »HIIILFEEEE!«, und strampelte mit den Füßen.

Der Entführer, den sein Geschrei unbeeindruckt ließ, hantierte gerade mit irgendwelchen Nägeln, die ein klimperndes Geräusch verursachten. Im selben Moment begann er, die Stahlnägel im Halbkreis um seine Füße ins Eis zu hämmern.

Doch bis Stratter klar wurde, was der Entführer vorhatte, band der Froschmann bereits seine Füße mit einem Strick an die Nägel, sodass sie in einem V voneinander abstanden. Panisch versuchte Stratter wieder, sich durch Strampeln und Ziehen zu befreien, doch es war sinnlos. Der Entführer hatte ihn bewegungsunfähig gemacht. So musste sich ein Tier in der Falle fühlen! Und er dachte kurz an seine Bären.

Unmittelbar darauf spürte er eine Eiseskälte seinen Körper hinaufwandern. Das Eis und der Schnee, auf dem er lag, waren nass und bitter kalt und zogen sich durch seine Kleidung bis in seine Knochen! Bis jetzt hatte er sich nur auf seinen Entführer und seine Flucht konzentriert, sodass er das Kältegefühl vollständig ignoriert hatte, doch nun spürte er es ganz deutlich!

Er würde sich eine Lungenentzündung holen!

Innerlich lachte er im selben Moment hysterisch auf!

Eine Lungenentzündung! Geistig zeigte er sich selbst einen Vogel. Du bist entführt worden! Gefesselt an Händen und Füßen! Du hast keine Ahnung, was dein Entführer mit dir vorhat und machst dir Sorgen um deine Gesundheit?

Da bückte sich der Froschmann zu ihm hinunter. Mit einem Ruck zog er den Gürtel seiner Hose auf, öffnete den Reißverschluss und zog sie ihm bis zu den Knien hinab.

Stratter schrie auf, denn er lag nun entblößt und fror. Der nasse Schnee drückte auf sein Kreuz und seinen Po. Klatschnass krochen Kälte und Nässe sein Rückgrat hinauf. Eine Gänsehaut zog sich über seinen gesamten Körper.

Was wollte der Irre nur und wieso hatte er ihn in die Berge gebracht?, dachte er panisch vor Angst.

Seine Augen blickten kurz zur Seite, ohne dass er den Wahnsinnigen aus seinem Blickfeld ließ. Der Wald war in einen Albtraum aus Schnee gehüllt, der in dem teilweise durch die Mammutbäume herabfallenden Sonnenlicht schimmerte. Verdammt!

Seine Gedanken überschlugen sich. Da hier Schnee lag, musste er wirklich im Sequoia Nationalpark, wahrscheinlich im Giant Forest, sein, denn in Santa Barbara war es heute früh angenehm warm gewesen!

Plötzlich blitzte etwas im Sonnenlicht auf, als der Entführer sich vor ihm aufbaute. Schlagartig nahm er das Beil wahr, das der Froschmann in der gehobenen Hand hielt, das über seiner Scham schwebte, bereit seinen schlimmsten Albtraum wahr werden zu lassen.

»Was …? Lass mich los! HILFFFFEEEEEEE!«, schrie Stratter in einem Anflug von Panik. Doch sein Peiniger blickte nur still auf ihn hinab.

Sein Herz begann zu rasen. Die Situation erschien ihm unwirklich, ein böser Traum, aus dem er hoffentlich bald erwachen würde. Doch zu tief waren die Empfindungen, um irreal zu sein. Diese schaurige Kälte, die von ihm Besitz ergriffen hatte und sein Rückgrat hinabkroch, und die Angst, die ihn in die Tiefe hinabdrückte, waren real! Diese Kälte war unerträglich!

Tränen traten in seine Augen. Er versuchte zu seiner Scham zu blicken, indem er den Kopf wieder anhob. Als er den Schnee rund um sich herum sah, fröstelte ihn immer mehr. Panisch streckte er seinen Nacken und reckte den Kopf noch etwas weiter wie eine Taube. Was er erblickte, ließ ihn weiter frösteln. Weit und breit warfen riesige Mammutbäume vereinzelt ihre Schatten. Keine Menschenseele war zu sehen.

Hier würde ihn niemand finden! Ian Stratter schluchzte.

Hör auf damit!, versuchte er sich zu beruhigen, als er zu dem in Sonnenlicht getauchten Froschmann blickte, der ihn unentwegt musterte, was ihn immer nervöser werden ließ. Die Anspannung war unerträglich.

Du musst jetzt stark sein! Zeig keine Schwäche vor diesem Wahnsinnigen!, flüsterte seine innere Stimme.

Seine Sinne waren aufs Äußerste angespannt. Seine Ohren filterten jedes Geräusch, doch es gab kein Anzeichen von anderen Menschen. Nicht einmal ein Vogel war zu hören. Die Stille war deprimierend und ließ all seine Hoffnung schwinden. Stratters Herzschlag beschleunigte sich. Hoffentlich hatte Susan die Polizei verständigt!

Susan!

Steckte sie etwa hinter all dem? Vielleicht hatte sie etwas von seiner Affäre mitbekommen? Aber es ging ihr doch gut!

Instinktiv versuchte er wieder, sich zu befreien, bog sich wie eine Schlange hin und her, zerrte an den Seilen, während der Irre ihn beobachtete, doch er konnte sich nicht losreißen.

Seltsam, dass der Wahnsinnige alles ruhig mit ansah! Er musste sich seiner Sache ziemlich sicher sein!

Stratter drehte den Kopf schräg nach hinten. Ein großer Baum ragte hinter ihm in die Höhe. Dahinter sah er aus den Augenwinkeln in einiger Entfernung den dunklen Jeep, dessen Heckklappe offen stand.

Wahrscheinlich gehörte er ihm, dem Monster, das über sein Leben entscheiden würde!

Tränen traten wieder in seine Augen, sodass er das Nummernschild nicht erkennen konnte. Es sah nicht gut für ihn aus, gar nicht gut, deshalb schrie er, so laut er konnte: »HIIIIILFFFEE!«

Der Vermummte stand nun schon zirka fünf Minuten bei seinen Füßen, ohne sich zu bewegen.

Vielleicht wollte er ihm nur Angst einjagen, was ihm auch gelungen war!

Die Kälte, die sich durch seinen Körper zog, stammte nicht nur von den niedrigen Temperaturen. Es war Angst, pure nackte Angst, die immer stärker wurde. Wieso verlangte er nicht einfach Geld von ihm? Er hatte genug davon. Doch dieser Entführer wollte kein Geld! Aber was wollte er sonst? War dieser Wahnsinnige etwa der Mann von Pam, seiner Affäre und musste er nun aus Rache auf diese bestialische Weise sterben?

»HIIIIILFFFEE!«

Schweißperlen rannen trotz der Kälte über sein Gesicht. Die Angst war unerträglich. Die Vorstellung, dass der Psychopath sein Glied abtrennen wollte, ließ ihn gleichzeitig schwitzen und zittern!

»Bitte, was wollen Sie von mir?«

Er musste ihn in ein Gespräch verwickeln. So konnte er Zeit schinden.

Die Person, die über ihm mit erhobener Hand stand, in der sie das Beil noch immer hielt, blickte ihn kalt an. Dann ließ sie sich auf seine Frage tatsächlich ein.

»Du hast Unrecht getan und verdienst es zu sterben!«

Es war nur ein Flüstern, das er nicht zuordnen konnte.

»Was? Was habe ich denn gemacht?«

»Das weißt du ganz genau!«

Ian Stratter überlegte, ob ihm die Stimme bekannt vorkam. Aber er konnte nicht einmal sagen, ob es eine männliche oder eine weibliche Stimme war, denn es war nur ein leises monotones Flüstern.

»HIIIILFEEEE!«

Stratter zitterte, als hätte er Schüttelfrost und wimmerte wie ein verletztes Tier. Er war erst vierunddreißig Jahre alt und wollte noch nicht sterben! Gerade jetzt, wo sein Geschäft so gut lief!

Was wollte der Entführer nur von ihm?

Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Das war doch nicht möglich!

Die Antwort, die nun wie eine Rakete tief aus seinem Unterbewusstsein schoss, war so abartig, dass sie ihm irreal erschien. Zu weiteren Gedankengängen kam er nicht mehr. Im selben Moment ließ der Froschmann das Beil knapp neben seinen Körper fallen. Stratter schrie auf.