Du hättest es wissen können - Jean Hanff Korelitz - E-Book

Du hättest es wissen können E-Book

Jean Hanff Korelitz

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Beschreibung

Verfilmt mit Nicole Kidman und Hugh Grant! THE UNDOING aktuell auf Sky. Grace Reinhardt Sachs lebt auf der Manhattaner Eastside in dem Gefühl, alles richtig gemacht zu haben. Sie ist eine erfolgreiche Paartherapeutin, ihr Mann ein berühmter Kinderarzt, und ihr Sohn besucht eine renommierte Privatschule. Graces Beziehungsratgeber Du hättest es wissen können steht kurz vor der Veröffentlichung, und das Interesse ist groß. Als die Mutter eines Mitschülers ermordet wird und Graces Mann nicht zu erreichen ist, beginnt Grace zu ahnen, dass es vielleicht auch Dinge gibt, die sie hätte wissen können. Jean Hanff Korelitz erzählt von einer modernen Frau — klug, emotional, erfolgreich, die glaubt, alles im Griff zu haben. Erst eine große Krise hält sie davon ab, die Fassade weiterzupolieren, hinter der sie fast verschwunden war — endlich fängt sie wieder an zu leben. »Klug und raffiniert.« The New York Times

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Seitenzahl: 608

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Das Buch

Grace Reinhardt Sachs lebt auf der Manhattaner Eastside in dem Gefühl, alles richtig gemacht zu haben. Sie ist eine erfolgreiche Paartherapeutin, ihr Mann ein berühmter Kinderarzt, und ihr Sohn besucht eine renommierte Privatschule. Graces Beziehungsratgeber Du hättest es wissen können steht kurz vor der Veröffentlichung, und das Interesse ist groß. Als die Mutter eines Mitschülers ermordet wird und Graces Mann nicht zu erreichen ist, beginnt Grace zu ahnen, dass es vielleicht auch Dinge gibt, die sie selbst hätte wissen können.

Ein scharfsinniger Roman über eine kluge, starke Frau am Wendepunkt ihres Lebens.

Die Autorin

Jean Hanff Korelitz lebt in New York City und ist in den USA eine erfolgreiche Autorin. Die Verfilmung ihres Romans Admission kam dort im März 2013 in die Kinos. Du hättest es wissen können ist ihr vierter Roman. Hanff Korelitz ist mit dem Lyriker Paul Muldoon verheiratet.

Jean Hanff Korelitz

Du hättest es wissen können

Roman

Aus dem Amerikanischen von Elfriede Peschel

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1198-2

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016© 2014 by Jean Hanff KorelitzTitel der amerikanischen Originalausgabe: You Should Have Known (Hachette Book Group, New York)James Fenton »Ein deutsches Requiem«, aus: Englische und amerikanische Dichtung, Hrsg. Horst Müller, übersetzt von Ralph Pordzig, S. 242Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: © Benjamin Rondel/Corbis

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Für Asher

TEIL I

Davor

Kapitel 1

Du weißt es einfach

Es war ganz normal, dass die Leute weinten, wenn sie zum ersten Mal zu ihr kamen, und diese junge Frau sah nicht so aus, als wäre sie eine Ausnahme. Erhobenen Hauptes trat sie mit ihrer Aktentasche ein und gab ganz den kühlen Profi, als sie Grace die Hand schüttelte. Dann setzte sie sich auf die hellbeige Couch und schlug ihre behosten Beine übereinander. Um sich dann, ziemlich unvermittelt, offenbar darüber klarzuwerden, wo sie sich befand.

»O Mann«, sagte die junge Frau, deren Name – Grace hatte es erst vor wenigen Minuten überprüft – Rebecca Wynne war. »Ich bin seit dem College in keiner Therapiepraxis mehr gewesen.«

Grace nahm ihren üblichen Platz ein, schlug ihre deutlich kürzeren Beine übereinander und beugte sich vor. Was hätte sie sonst auch tun sollen.

»Das ist so bizarr! Sobald du reinkommst, möchtest du auch schon losheulen.«

»Nun, es ist doch nur ein Raum«, erwiderte Grace fröhlich. »Mit langweiligen Möbeln.«

»Genau.« Rebecca sah sich um, als bedurfte dies der Bestätigung. Der Raum – Graces Sprechzimmer – war mit viel Bedacht ausgestattet worden, so dass er diversen Ansprüchen gleichzeitig genügte: Er war komfortabel, aber nicht übertrieben einladend, warm ohne persönliche Note. Es gab einen Couchtisch mit Glasplatte, darauf einzig einen Lederbehälter für die Taschentücher und einen alten Kiefernschreibtisch im Landhausstil in der Ecke. Auf diesem Schreibtisch verwahrte sie ihre Stifte in einem reizlosen Keramikbecher, den ihr Sohn Henry in der ersten Klasse angefertigt hatte (ein Gegenstand, der ihren Klienten im Lauf der Jahre erstaunlich viele Kommentare entlockt und zahlreiche blockierte Erinnerungen freigesetzt hatte), und eine weiße Keramiklampe mit einem Juteschirm sorgte für diskrete Beleuchtung. Das einzige Fenster des Raums ging auf den Hinterhof, wo es nie etwas zu sehen gab.

Heute hatte sie ausnahmsweise Blumen mitgebracht: dunkelrosa Rosen, auf den Rat von Sarabeth hörend, die – da der Große Tag immer näher rückte – sich zunehmend bemüßigt fühlte, detaillierte Vorgaben zu machen. Es reichte nicht, dass Grace für diesen Anlass Blumen kaufte, es mussten Rosen sein, und die Rosen mussten rosa sein – dunkelrosa.

Dunkelrosa Rosen. Warum? hatte Grace sich gefragt. Sarabeth rechnete doch wohl nicht mit einem Farbfoto, oder? War es nicht schon unglaublich genug, dass die Zeitschrift »Vogue« sie eines Schwarzweißfotos für würdig erachtete? Trotzdem hatte sie den Rat befolgt und hatte sie in die einzige Vase gestellt, die sie besaß. Nun standen sie auf einem der Beistelltische und liefen Gefahr, von Rebeccas schwerem Wollmantel umgeworfen zu werden.

»Was das Weinen betrifft, haben Sie vollkommen recht«, sagte Grace. »Normalerweise setzt es den Leuten schon genug zu, hier überhaupt herzukommen. Oder im Falle meiner Praxis den Partner dazu zu bewegen, hierherzukommen. Ich erlebe es oft, dass die Leute loslassen, wenn sie zum ersten Mal durch diese Tür treten. Es ist absolut in Ordnung.«

»Nun, ein andermal vielleicht«, sagte die junge Frau. Grace schätzte sie auf um die dreißig, sie sah hübsch aus, wenn auch ein bisschen streng, und die Kleidung, die sie trug, war so raffiniert geschnitten, dass sie ihren tatsächlichen Körperbau mit den üppigen Formen und der großen Oberweite kaschierte und sie stattdessen jungenhaft schlank aussehen ließ. Ihre weiße Baumwollbluse und die braune Stoffhose wahrten perfekt den Schein und waren mit Sicherheit von jemandem entworfen worden, der genau wusste, was er tat – wenn man für die »Vogue« arbeitete, kannte man natürlich solche Leute.

Rebecca kramte in ihrer Aktentasche, die sie neben ihren in Stiefeln steckenden Füßen abgestellt hatte, und förderte dann einen alten Kassettenrekorder zutage, den sie auf den Tisch mit der Glasplatte stellte. »Es stört Sie doch nicht?«, fragte sie. »Ich weiß, der ist schon fast museumsreif, aber ich brauche das zur Absicherung. Einmal habe ich vier Stunden mit einem Popsternchen verbracht, das nicht gerade für seine Fähigkeit bekannt war, in ganzen Sätzen zu sprechen, und ich hatte nur solch ein kleines ultramodernes Gerät von der Größe einer Zündholzschachtel dabei. Als ich es später abspielen wollte, war absolut gar nichts drauf. Das war der schrecklichste Moment in meiner Karriere.«

»Kann ich mir vorstellen.« Grace nickte. »Aber Sie haben diese Schlappe offenbar erfolgreich weggesteckt.«

Rebecca zuckte mit den Schultern. Ihr feines blondes Haar war gekonnt zu einem perfekt arrangierten Durcheinander geschnitten, und sie trug eine silberne Kette, die unterhalb ihrer Schlüsselbeine auflag. »Das hätte ich wohl besser nicht sagen sollen«, sagte sie mit dem Anflug eines Lächelns. »Das kommt davon, wenn man in einer Therapiepraxis sitzt. Kaum sitzt du auf der Couch, sprudelt es schon aus dir heraus.«

Grace lächelte.

Es machte klick, als Rebecca auf die entsprechenden Knöpfe ihres Kassettendecks. Dann griff sie erneut in ihre Aktentasche und holte einen altmodischen Stenoblock sowie ein Leseexemplar mit glänzendem Umschlag heraus.

»Oh, Sie haben das Buch!«, staunte Grace. Es war noch so neu, dass es sie verwunderte, es in den Händen eines anderen zu sehen. Als ob sie all die Mühen auf sich genommen hätte, bloß um ihr persönliches Bedürfnis zu befriedigen und etwas für sich allein zu schaffen.

»Natürlich«, meinte die junge Frau cool. Offenbar hatte dieser Moment, in demselben Maß, wie er Grace als absoluten Neuling entpuppte, ihr ihre Professionalität und damit auch die Kontrolle über das Treffen zurückgegeben. Aber sie konnte nun mal nicht anders. Es war noch immer so befremdlich, das Buch tatsächlich in Buchform vor sich zu haben: ihr Buch, ihr eigenes Buch, zwar noch nicht ganz draußen in der Welt, aber kurz davor – Erscheinungstermin im neuen Jahr – die beste Zeit, um ein solches Buch auf den Markt zu bringen, wie Sarabeth, die Agentin, Maud, die Lektorin, und J. Colton, die Pressechefin, behauptet hatten.

War das Verlagswesen nicht eigentlich tot? Das konnte man jedenfalls ständig in den Zeitschriften lesen. Sarabeth hatte gelacht. Das Verlagswesen würde tatsächlich keine großen Sprünge mehr machen, wie sie Grace versicherte, außer es gelang einem zufällig, den Zeitgeist zu treffen. Und offensichtlich hatte ihr Buch Du hättest es wissen können das Zeug dazu.

Es zu schreiben hatte gut zwei Jahre gedauert, entweder saß sie hier in der Praxis zwischen ihren Terminen am Schreibtisch in der Ecke vor dem offenen Laptop oder am wasserfleckigen schweren Eichentisch in ihrem Zimmer am See, mit Blick auf den Steg. Oder zu Hause an der Küchentheke, nachts, wenn Jonathan noch im Krankenhaus war oder erschöpft vom Tag schon im Bett lag und Henry mit einem aufgeschlagenen Buch auf der Brust im Schein der Leselampe eingeschlafen war. So hatten ihre lange vertretenen Theorien Gestalt angenommen, erst grob gehauen und dann immer detaillierter, bis sie für sich selbst sprachen. Es waren Volksweisheiten, die sich ihr erst als ihre eigenen offenbarten, als sie diese schwarz auf weiß vor sich sah, Schlussfolgerungen, über die sie bereits verfügt hatte, bevor sie vor fünfzehn Jahren zu praktizieren begann. Wie sie es anstellen musste, hatte sie schon immer gewusst, sie konnte sich nicht erinnern, es nicht gewusst zu haben. Womöglich hätte sie auch gleich unmittelbar nach der Highschool in dieser kleinen aufgeräumten Praxis anfangen können und wäre in ihrem Beruf genauso effektiv gewesen, wie sie das heute war, hätte genauso vielen Paaren geholfen und genauso viele Frauen davor bewahrt, Männer zu heiraten, die sie niemals glücklich machen würden. Ihr war bewusst, dass dies sie noch lange nicht zu etwas Besonderem oder Klügerem machte. Sie sah ihre Fähigkeit nicht als gottgegeben an (für sie war Gott nie etwas anderes als ein Gegenstand historischen, kulturellen und künstlerischen Interesses gewesen), sondern als eine Durchdringung von Ambition und Veranlagung. Aus welchen Gründen auch immer – oder wahrscheinlich völlig grundlos – hatte Grace Reinhart Sachs einen angeborenen Hang zur sozialen Beobachtung und Erkenntnis, die sich dann weiterentwickeln in einem Kosmos aus Ideen und Gesprächen. Sie war nicht musikalisch, wie ihr Sohn, konnte nicht, wie ihr Ehemann, das Leben todgeweihter Kinder retten – beides Fähigkeiten, die sie nur zu gern gehabt hätte und demütig bewunderte. Aber sie konnte sich mit Menschen zusammensetzen und für gewöhnlich sehr schnell und außerdem mit verunsichernder Klarheit erkennen, welche Fallen sie sich selbst stellten und wie man diese am besten vermied. Oder wenn sie bereits in der Falle saßen – und typischerweise war dies bereits geschehen, wenn sie hier bei ihr landeten –, wie sie sich daraus befreien konnten. Dass sie dem schriftlichen Festhalten dieser offensichtlichen Dinge nun den Besuch der Zeitschrift »Vogue« hier in ihrem unbedeutenden kleinen Büro verdankte, war faszinierend und natürlich auch ein bisschen aufregend, aber vor allem auch etwas skurril. Wieso gab man jemandem eine nationale Plattform für die Aussage, dass auf den Tag die Nacht folgte oder dass die Wirtschaft Umschwüngen unterworfen war oder irgendwelche anderen ganz offenkundigen Dinge? (Wenn sie an ihr Buch dachte und daran, wie die Frauen, die es lasen, es aufnehmen würden, schämte sie sich fast, als würde sie eine Wunderkur vermarkten, die bereits seit langem in den Regalen der Drogerien stand.) Aber es waren auch Dinge, die man nicht oft genug oder laut genug aussprechen konnte.

»Meine Redakteurin hat es mir vor ein paar Wochen geschickt«, sagte Rebecca und legte das Leseexemplar neben den Taschentüchern auf die Tischplatte. »Es hat mir gefallen. Wissen Sie, normalerweise sagt einem keiner: Sieh zu, dass du es nicht schon am Anfang vermasselst, dann bekommst du später auch keine Probleme. Das ist schon sehr direkt. Das typische Buch zu diesem Thema nähert sich diesem auf etwas freundlichere, sanftere Weise.«

Grace, die sich klarmachte, dass das Interview nun tatsächlich begonnen hatte, versuchte, die richtige Kopfneigung einzunehmen und sich in kurzen, prägnanten Zitaten zu äußern. Als sie sprach, war es nicht mit der Stimme, die sie ihrem echten Leben zuordnete, es war eine situationsbezogene Stimme. Das, was sie unter ihrer Therapiestimme verstand. »Ich verstehe, was Sie meinen. Aber ehrlich gesagt finde ich nicht, dass freundlicher-und-sanfter uns weitergebracht haben. Ich denke, dass die Frauen bereit dazu sind, sich anzuhören, was mein Buch ihnen zu sagen hat. Man muss uns nicht mit Samthandschuhen anfassen. Wir sind erwachsen, und wenn wir es vermasselt haben, dann sollten wir auch fähig sein, eine kleine diesbezügliche Wahrheit zu verkraften und unsere eigenen Entscheidungen zu treffen. Ich erkläre meinen Klienten immer wieder, dass sie, sollten sie nur die Bestätigung hören wollen, alles werde gut oder für alles gebe es einen Grund, oder wie auch immer der müßige Jargon im Moment lautet, nicht zu mir in die Praxis kommen und mich für meinen Sachverstand bezahlen müssen. Und sie brauchen wohl auch mein Buch nicht zu kaufen.« Sie lächelte.

»Ja, aber Ihr Titel ist ziemlich … konfrontativ, oder? Du hättest es wissen können. Ich meine, das fragen wir uns doch jedes Mal, wenn wir uns eine Pressekonferenz ansehen und irgendein Politiker hat gerade ein Foto von seinem Penis in die Welt getwittert und wurde einer zweiten Familie überführt, und die Frau steht daneben und macht ein erstauntes Gesicht. Also wirklich, das überrascht Sie?«

»Ich ziehe gar nicht in Zweifel, dass die Frau überrascht ist. Die Frage ist nur, muss es sie überraschen? Hätte sie es vermeiden können, sich in dieser Lage wiederzufinden?«

»Dann haben Sie also diesen Titel gewählt?«

»Nun, ja und nein«, erwiderte Grace. »Eigentlich war es meine zweite Wahl. Ich hätte Das Gebot der Achtsamkeit besser gefunden. Aber das wollte keiner haben. Es hieß, das sei zu literarisch. Nun, wir haben uns geeinigt. Wenn jemand etwas tut, was wir nicht kommen sehen, sagen wir uns doch immer: Man kann nie wissen, nicht wahr? Wir sind entsetzt, wenn er sich als ein Frauenheld entpuppt oder Geld unterschlägt. Drogenabhängig ist. Nie die Wahrheit sagt. Oder einfach nur auf ganz normale Weise egoistisch ist und auch die Tatsache, dass er mit dir verheiratet ist und ihr womöglich gemeinsame Kinder habt, ihn nicht davon abzuhalten scheint, sich so zu verhalten, als wäre er noch immer ein alleinstehender, naiver Teenager?«

»O ja«, sagte Rebecca. Und es klang, wie Grace fand, recht persönlich. Was kaum überraschend war. Genau das war ja der Punkt.

»Und wenn das der Fall ist, werfen wir einfach die Hände in die Luft: wie schockierend! Und sprechen uns von jeder Verantwortung frei. Wir sagen: Mensch, man kann doch in keinen reinsehen. Diese Uneinsichtigkeit, diese Brechung, sorgt dafür, dass wir uns von jeglicher Verantwortung freisprechen, getäuscht worden zu sein. Aber wir müssen lernen, Verantwortung zu übernehmen. Wenn wir das nicht tun, können wir nicht zu unserem eigenen Besten handeln. Und nicht verhindern, dass es auch ein nächstes Mal geben wird.«

»Oh-oh.« Rebecca hob ihren Kopf und fixierte Grace mit offener Ablehnung. »Aber wir werden doch nicht dem Opfer die Schuld geben, oder?«

»Es gibt kein Opfer«, sagte Grace. »Sehen Sie, ich praktiziere jetzt seit fünfzehn Jahren. Immer und immer wieder haben mir Frauen von den anfänglichen Interaktionen mit ihrem Partner und ihren ersten Eindrücken ihres Partners berichtet. Und wenn ich ihnen zuhörte, sagte ich mir immer: Du wusstest es doch von Anfang an. Sie wusste, dass er nie damit aufhören würde, anderen Frauen hinterherzuschauen. Sie wusste, dass er nicht Geld sparen konnte. Sie wusste, dass er sie mit Geringschätzung behandelte – seit sie sich das erste Mal gesprochen hatten oder seit ihrem zweiten Treffen oder seit dem ersten Abend, als sie ihn ihren Freunden vorstellte. Aber dann hat sie irgendwie dafür gesorgt, dass dieses Wissen gelöscht wurde. Sie hat zugelassen, dass etwas anderes diese frühen Eindrücke, diese grundlegende Erkenntnis überlagerte. Sie redete sich ein, dass das, was sie von diesem Mann, den sie kaum kannte, intuitiv erfasst hatte, überhaupt nicht stimmte, sobald sie ihn – Zitat – besser kennenlernte. Dieser Impuls, die eigenen Eindrücke zu negieren, ist sehr mächtig. Und seine Auswirkung auf das Leben der Frau kann höchst destruktiv sein. Es ist tatsächlich eine Art von ›nicht wissen wollen‹. Und wir entziehen uns der Verantwortung selbst dann noch, wenn wir eine andere getäuschte Frau sehen und uns sagen: Das hätte sie doch wissen müssen. Wir müssen diesen Standard auch an uns anlegen, und zwar bevor wir hereingelegt werden, nicht erst danach.«

»Aber wissen Sie«, Rebecca blickte von ihrem Block auf, während ihr Stift weiterschrieb, was sehr beeindruckend war, »es sind doch nicht nur die Männer. Auch die Frauen lügen, oder?«

»Richtig. Natürlich. Und auch darüber spreche ich in meinem Buch. Aber Tatsache ist, dass in neun von zehn Fällen die Frau hier auf meiner Couch sitzt und völlig am Boden ist, weil ihrer Ansicht nach ihr männlicher Partner etwas vor ihr verborgen hat. Und deshalb habe ich mir von Anfang an vorgenommen, dass dies ein Buch für Frauen sein wird.«

»Okay.« Sie wandte sich wieder ihrem Block zu. »Verstehe.«

»Ich bin wohl etwas schulmeisterlich«, meinte Grace und lachte kleinlaut.

»Sie sind leidenschaftlich.«

Genau, sagte sich Grace. Das durfte sie nicht vergessen.

»Auf jeden Fall«, fuhr sie bedächtig fort, »habe ich einen Punkt erreicht, wo ich es nicht mehr aushielt, so viele anständige Frauen voll guter Absichten in monate- oder jahrelanger Therapie leiden zu sehen, in der es ihnen ans Eingemachte ging und für die sie ein Vermögen ausgaben, nur um dann festzustellen, dass ihr Partner sich kein bisschen verändert hat, womöglich nicht mal ernsthaft versuchte, dies zu tun, oder auch nur die Bereitschaft zu einer Veränderung bekundete. Diese Frauen sind genau wieder an dem Punkt angelangt, an dem sie waren, als sie hierhergekommen sind und sich dorthin setzten, wo Sie jetzt sitzen. Diese Frauen haben es verdient, die Wahrheit zu hören, nämlich dass ihre Situation sich nicht verbessern wird – jedenfalls nicht annähernd so, wie sie sich das wünschen. Sie müssen erfahren, dass der Fehler, den sie begangen haben, womöglich irreparabel ist.«

Sie hielt inne, teils, damit Rebecca mithalten konnte, teils aber auch, um die Wirkung ihrer »Bombe« auszukosten (wie Sarabeth, ihre Agentin, es bei ihrem ersten Treffen im letzten Jahr formuliert hatte). Das Nachbeben war noch immer leicht zu spüren. Grace konnte sich noch gut an den Moment erinnern, als sie beschloss, niederzuschreiben, was sie wirklich dachte, dieses Offensichtliche, das mit jedem verstreichenden Berufsjahr, mit jedem Dating-Ratgeber (die dies nie ansprachen) und jedem Eheleitfaden (die dies auch nie ansprachen), den sie in Vorbereitung ihres Buches durchgearbeitet hatte, und jeder Konferenz der »Internationalen Vereinigung von Ehe- und Familientherapeuten«, an der sie teilgenommen hatte (und wo dies auch nie zur Sprache kam), noch offensichtlicher wurde. Diese Sache, über die keiner sprach, aber von der sie annahm, dass ihre Kollegen sie genau so erkannten wie sie. Sollte sie das in ihrem Buch ansprechen und damit Kollegenschelte betreiben? Oder einfach den lächerlichen Mythos wiederkäuen, dass jede Beziehung zu retten war?

»Wählen Sie nicht den Falschen«, warnte sie Rebecca jetzt, ermutigt durch die Anwesenheit von »Vogue« in ihrem nichtssagenden kleinen Büro, der so kunstvoll in die Länge gezogenen schlank wirkenden Frau auf ihrer hellbeigen Couch mit ihrem Retro-Stenoblock und dem Kassettendeck. »Wählt man den Falschen, kommt es nicht mehr darauf an, wie sehr man sich wünscht, die Ehe zu retten. Es kommt auch nicht mehr darauf an, wie sehr der Partner sich wünscht, sie zu retten. Es wird nicht funktionieren.«

Kurz darauf blickte Rebecca auf und meinte: »Das ist ziemlich schonungslos.«

Grace zuckte mit den Achseln. Es war schonungslos, das wollte sie nicht bestreiten. Es musste schonungslos sein. Wenn eine Frau den falschen Partner wählte, würde er immer der falsche Partner sein: Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Auch der fähigste Therapeut der Welt würde nicht mehr bewirken können, als ein Abkommen auszuhandeln. Und das wäre bestenfalls schrecklich traurig, schlimmstenfalls aber eine Bestrafung – eine lebenslängliche Bestrafung. Und das war keine Grundlage für eine Ehe. Wenn diese Paare kinderlos waren, sollte eine Trennung in Erwägung gezogen werden. Waren Kinder da: gegenseitiger Respekt und gemeinsames Sorgerecht. Und Trennung.

Was nicht hieß, dass sie kein Mitleid mit ihnen hatte. Sie fühlte mit ihnen, zumal mit ihren eigenen Patienten, denn sie waren hilfesuchend zu ihr gekommen, und sie konnte nur noch die Utensilien fürs Aufräumen bereitstellen. Was ihr jedoch am meisten zusetzte, war die Tatsache, dass dieses ganze Elend hätte vermieden werden können. Ihren Patienten fehlte es nicht an Intelligenz. Sie waren gebildet und hatten einen klaren Blick auf andere. Und es machte sie fassungslos, dass diese Menschen in ihrem jüngeren Leben einen potentiellen Gefährten gefunden hatten, der ihnen sicher oder sehr wahrscheinlich Schmerz zufügen würde, und sie zu diesem sicheren oder sehr wahrscheinlichen Schmerz ja gesagt hatten und somit den sicheren oder sehr wahrscheinlichen Schmerz, der ihnen versprochen war, auch bekommen hatten. Fassungslos hatte es sie immer gemacht und wütend dazu. Manchmal hätte sie alle am liebsten gepackt und durchgeschüttelt.

»Stellen Sie sich vor«, sagte sie zu Rebecca, »Sie setzen sich zum ersten Mal mit jemandem an einen Tisch. Vielleicht ist es ein Date. Vielleicht im Haus einer Freundin – wo auch immer Ihr Weg sich mit dem des Mannes kreuzt, den Sie womöglich attraktiv finden. In jenem ersten Moment gibt es Dinge, die Sie an diesem Mann wahrnehmen, intuitiv an ihm erfassen. Sie wahrzunehmen ist nicht schwer. Sie können spüren, ob er anderen gegenüber offen ist, Interesse zeigt an der Welt, ob er intelligent ist oder nicht – ob er seine Intelligenz zu nutzen versteht. Sie können feststellen, ob er freundlich oder abweisend, anmaßend oder neugierig oder großzügig ist. Sie können sehen, wie er Sie behandelt. Anhand dessen, was er Ihnen von sich erzählt, können Sie lernen: die Rolle, die Familie und Freunde in seinem Leben spielen, die Frauen, mit denen er früher zu tun hatte. Sie können wahrnehmen, wie er für sich sorgt – seine eigene Gesundheit und sein Wohlbefinden, sein finanzielles Wohlergehen. Das sind alles zugängliche Informationen, die wir nutzen können. Aber dann …«

Sie wartete. Rebecca schrieb noch, den blonden Kopf über den Block gebeugt.

»Dann?«

»Dann kommt die Geschichte. Er hat eine Geschichte. Er hat viele Geschichten. Und ich unterstelle damit nicht, dass er Dinge erfindet oder freiheraus lügt. Er könnte es – aber selbst wenn er es nicht tut, tun wir es für ihn, weil wir als Menschen ein so tief verwurzeltes Bedürfnis nach einer Geschichte haben, vor allem dann, wenn wir in dieser Geschichte eine wichtige Rolle spielen werden, Sie wissen schon: Die Heldin bin ich bereits, und hier kommt mein Held. Also, selbst wenn wir Fakten in uns aufnehmen und Eindrücke gewinnen, haben wir diesen hartnäckigen Impuls, diese in einen Kontext zu stellen. Daher spinnen wir eine Geschichte drumherum, wie er aufgewachsen ist, wie Frauen ihn behandelt haben, wie Arbeitgeber mit ihm umgegangen sind. Und so, wie er uns im Moment erscheint, wird er Teil dieser Geschichte. Auch wie er morgen leben möchte, wird Teil dieser Geschichte. Und dann greifen wir in diese Geschichte ein: Keiner hat ihn je genug geliebt, bis ich kam. Keine seiner anderen Freundinnen konnte ihm intellektuell das Wasser reichen. Ich bin nicht hübsch genug für ihn. Er bewundert meine Unabhängigkeit. Nichts davon ist ein Faktum. Es ist alles eine Kombination aus dem, was er uns erzählt hat, und dem, was wir uns selbst einreden. Diese Person wurde zu einer erfundenen Figur in einer erfundenen Geschichte.«

»Sie meinen, wie eine Romanfigur.«

»Genau. Es ist keine gute Idee, eine Romanfigur zu heiraten.«

»Aber … bei Ihnen klingt das so, als wäre es unvermeidbar.«

»Ist es aber nicht. Würden wir dieser Situation nur einen Bruchteil der Aufmerksamkeit widmen, die wir zum Beispiel bei unseren Kaufentscheidungen an den Tag legen, gäbe es viel weniger Probleme. Ich meine, was machen wir da? Wir probieren zwanzig Paar Schuhe an, bevor wir welche kaufen. Wir lesen Berichte von völlig fremden Leuten, bevor wir uns entscheiden, wer unseren Teppich verlegt. Aber wir schalten unseren Dummheiten-Detektor aus und schlagen unsere unvoreingenommenen Eindrücke in den Wind, weil wir jemand anziehend finden oder weil er sich für uns zu interessieren scheint. Er könnte auch ein Plakat hochhalten, auf dem steht: Ich werde dir dein Geld abknöpfen, deine Freundinnen anbaggern und dich ohne Hilfe und Unterstützung zurücklassen, und wir fänden noch immer einen Weg, zu vergessen, dass wir das alles gewusst haben. Wir werden einen Weg finden, es nicht wissen zu wollen.«

»Aber …«, begann Rebecca. »Zweifel haben die Menschen doch sehr wohl. Vielleicht lassen sie sich nur nicht von ihnen leiten.«

Grace nickte. Zweifel tauchten in ihrer Praxis oft auf: sehr alte, vertrocknete Zweifel, gespeichert und konserviert und vorgebracht von sehr verletzten, sehr verzweifelten Frauen. Es war ein Thema mit zahllosen Variationen: Ich wusste, dass er zu viel trank. Ich wusste, dass er seinen Mund nicht halten konnte. Ich wusste, dass er mich nicht liebt, nicht so sehr, wie ich ihn liebte.

»Viele Menschen haben Zweifel«, stimmte sie ihr zu. »Das Problem ist nur, dass die wenigsten von uns erkennen, was so ein Zweifel bedeutet. Der Zweifel ist ein Geschenk unseres tiefsten Selbst, so empfinde ich das. Wie die Angst. Sie wären erstaunt, wie viele Menschen Angst verspüren, kurz bevor ihnen etwas Schlimmes zustößt, und wenn sie sich später wieder an diesen Moment erinnern, begreifen sie, dass sie eine Gelegenheit verpasst haben, das abzuwehren, was dann geschah. Beispielsweise: Geh diese Straße nicht hinunter. Lass dich von diesem Typen nicht nach Hause fahren. Wir scheinen über eine hochentwickelte Fähigkeit zu verfügen, das zu ignorieren, was wir wissen oder vermuten. Unter dem Aspekt der Evolution betrachtet, ist das faszinierend, aber mein Interesse ist mehr praktischer Natur. Ich halte den Zweifel für ein ganz besonderes Geschenk. Ich denke, wir müssen lernen, auf unsere Zweifel zu hören und sie nicht einfach abzutun, auch wenn dies bedeutet, eine Verlobung aufzulösen. Wissen Sie, eine Hochzeit abzusagen ist wesentlich einfacher, als eine Ehe zu beenden.«

»Also da wäre ich mir nicht so sicher«, warf Rebecca sarkastisch ein. »Ich war in letzter Zeit auf einigen Hochzeiten. Ich glaube, da könnte man noch eher die Olympischen Spiele absagen.«

Das könnte stimmen – auch ohne Näheres über Rebeccas Freunde zu wissen, die kürzlich geheiratet haben. Graces eigene Hochzeit hatte im ganz kleinen Rahmen stattgefunden, weil ihre Familie nur aus ihrem Vater und ihr bestand und Jonathans Familie es vorgezogen hatte, der Feier fernzubleiben. Aber auch sie hatte einige völlig irrsinnige Hochzeitsfeiern mitgemacht.

»Zweifel kann ein Geschenk sein«, diesen Satz sprach Rebecca laut aus, als würde sie ihn auf sein Gewicht und seine Wiederholbarkeit überprüfen. »Das ist gut.«

Rebeccas Zynismus lastete schwer auf ihr. Aber ihr eigener nicht weniger.

»Es ist ja nicht so, dass ich nicht an die Wandlungsfähigkeit des Menschen glaube«, sagte sie, bemüht, sich ihre Verteidigungshaltung nicht anmerken zu lassen. »Dass Menschen sich verändern, ist möglich. Es gehören großer Mut und Selbstlosigkeit dazu, aber es kommt vor. Wir investieren unverhältnismäßig viel in diese kleine Möglichkeit der Korrektur, aber gar nichts in die Prävention. Empfinden Sie das nicht auch als Diskrepanz?«

Rebecca nickte geistesabwesend, sie war beschäftigt. Ihre Hand flitzte übers Papier, der Stift füllte die Zeilen. Dann hatte sie beendet, was sie hatte festhalten wollen, blickte auf und sagte mit therapeutischer Intonation: »Können Sie das noch weiter ausführen?«

Grace holte tief Luft und fuhr fort. »Es ist eine besonders augenfällige Ironie meines Berufs«, erklärte sie, »dass man, wenn man die Leute fragte, was sie sich von ihrem Partner wünschten, meist sehr nüchterne, reife und einsichtige Wahrheiten zu hören bekam: Schutz und Kameradschaft, sagten sie, Fürsorge und Anregung, einen einladend geöffneten, gemütlichen Hafen. Aber wo waren diese Dinge, wenn man sich dann ihre tatsächlichen Partnerschaften ansah? Die gleichen einsichtigen und eloquenten Leute waren auf sich allein gestellt oder im Streit und wurden ständig kleingemacht. Es gab Verlassenheit, Reibereien, Konkurrenzkampf sowie Behinderungen, und alles nur, weil sie irgendwann einmal zur falschen Person ja gesagt haben. Und dann kamen sie zu mir mit diesem Bruch, der geheilt werden musste, und da war nicht viel gewonnen, wenn man ihnen das alles erklärte. Man musste es ihnen erklären, bevor sie zur falschen Person ja sagten.«

»Ich heirate bald«, sagte Rebecca unvermittelt, als sie alles niedergeschrieben hatte.

»Gratuliere«, sagte Grace zu ihr. »Das ist wunderbar.«

Die junge Frau brach in Gelächter aus. »Ach ja?«

»Ja. Wirklich. Ich hoffe, Sie haben eine wunderbare Hochzeit und, was noch viel wichtiger ist, eine wunderbare Ehe.«

»So wunderbar, wie das bei Ehen möglich ist?«, sagte sie amüsiert.

»Natürlich. Wenn ich daran nicht glauben würde, wäre ich nicht hier.«

»Und verheiratet wären Sie vermutlich auch nicht.«

Grace lächelte. Es hatte sie schon große Mühe gekostet, die wenigen Informationen preiszugeben, auf denen ihre Verlegerin bestanden hatte. Therapeuten werben nicht mit ihrem Privatleben. Autoren offensichtlich schon. Sie hatte Jonathan versprochen, dass ihr Leben als Paar, als Familie so privat wie irgend möglich bleiben würde. Doch es hatte ihn offensichtlich weniger beunruhigt als sie selbst.

»Erzählen Sie mir von Ihrem Mann«, forderte Rebecca sie nun auf, wie Grace das auch erwartet hatte.

»Er heißt Jonathan Sachs. Wir haben uns auf dem College kennengelernt. Also ich war auf dem College. Er hat Medizin studiert.«

»Dann ist er also Arzt?«

Er sei Kinderarzt, sagte Grace. Den Namen des Krankenhauses wollte sie nicht preisgeben. Bei jeder Interneteingabe ihres Namens erfuhr man es ohnehin, da sie in einem kurzen Artikel erwähnt worden war, der vor ein paar Jahren im »New York Magazine« mit der jährlichen Liste der besten Ärzte erschien. Auf dem Foto war Jonathan in seinem Arztkittel zu sehen, das gelockte dunkle Haar so lang, dass sie ihn eigentlich schon längst hätte zum Friseur schicken müssen. Über dem Kittel hing das allgegenwärtige Stethoskop, und aus seiner Brusttasche guckte ein großer bunter Lutscher heraus. Erschöpft versuchte er, sich ein Lächeln abzuringen. Auf seinem Schoß saß ein kahler, grinsender Junge.

»Kinder?«

»Ein Sohn. Henry ist zwölf.«

Sie nickte, als würde das etwas bestätigen. Der Summer auf Graces Schreibtisch meldete sich.

»Ah, gut«, sagte Rebecca. »Das wird vermutlich Ron sein.«

Ron dürfte der Fotograf sein. Grace stand auf, um ihn reinzulassen.

Er stand draußen in der Eingangshalle, umgeben von schweren Metallkoffern. Als sie öffnete, hielt er das Telefon in der Hand und textete.

»Hallo«, sagte sie, hauptsächlich, um auf sich aufmerksam zu machen.

»Hey«, sagte er sanft und blickte auf. »Ich bin Ron. Man hat Ihnen doch gesagt, dass ich komme?«

»Hi.« Sie schüttelte ihm die Hand. »Wie, und niemand für die Haare und fürs Make-up?«

Er sah sie verdutzt an, merkte offenbar nicht, dass sie scherzte.

»War nur ein Scherz«, lachte sie, war aber insgeheim doch enttäuscht, auf diese Schönheitsexperten verzichten zu müssen. Sie hatte sich das so perfekt ausgemalt. »Kommen Sie rein.«

Mit zwei Koffern beladen, trat er ein, dann ging er, um die anderen zu holen. Er war etwa so groß wie Jonathan und hatte womöglich auch dessen Statur, überlegte Grace, nur dass ihr Ehemann gewissenhaft darauf achtete, einen solchen Bauchansatz zu vermeiden.

»Hey Ron«, begrüßte Rebecca ihn im Vorraum, der noch kleiner als ihr Behandlungszimmer war. Offenbar war Ron über das, was er sah, nicht sehr glücklich: ein paar Stühle im »Mission«-Stil, ein Navajoteppich und alte Exemplare von »The New Yorker« in einem Flechtkorb auf dem Boden.

»Ich hatte an drinnen gedacht?«, meinte Rebecca.

»Dann wollen wir uns das mal ansehen.«

Das Behandlungszimmer schien eher seinen Vorstellungen zu entsprechen. Er stellte einen Scheinwerfer und einen gebogenen weißen Schirm auf und holte Kameras aus einem der Koffer. Grace stand nervös neben der Couch, war nun eine Fremde in ihrem eigenen Reich und sah zu, wie ihr Ledersessel in den Vorraum verbannt wurde. Er verrückte ihren Schreibtisch, um seinen Scheinwerfer aufzustellen, und quetschte den Schirm an die entgegengesetzte Wand. »Normalerweise habe ich einen Assistenten«, erklärte er ungefragt.

Billiglohn-Job, überlegte sie automatisch. Unbedeutend.

»Hübsche Blumen. Die werden gut aussehen vor der Wand. Ich werde sie mit ins Bild nehmen.«

Grace nickte. Diese Sarabeth. Wirklich erstaunlich.

»Möchten Sie nicht …« Er unterbrach sich und sah Rebecca an, die ihre Arme unter ihrem üppigen Busen verschränkt hatte.

»Sich ein bisschen herrichten?«, beendete Rebecca den Satz für ihn. Sie war in die Rolle der Bildredakteurin geschlüpft.

»Oh. Richtig.«

Grace ließ sie allein und ging in ihr Badezimmer, das sehr klein und nicht besonders gut beleuchtet war. Dies bedauerte sie jetzt, denn selbst wenn sie gewusst hätte, wie sie ihr momentanes Selbst in ein Selbst verwandeln sollte, das vor ihren eigenen Augen als »Vogue«-Leserin bestehen konnte, bezweifelte sie, dies in einem so engen, schummrigen Raum bewerkstelligen zu können. Da ihr nichts Besseres einfiel, wusch sie sich das Gesicht mit der Handseife und trocknete es mit den Papierhandtüchern aus ihrem Spender. Mutlos musste sie sich beim Blick in den Spiegel eingestehen, dass dies ohne erkennbare Wirkung geblieben war. Sie holte aus ihrer Handtasche eine Abdeckcreme, die sie unter den Augen verteilte, aber auch das brachte nicht viel: Jetzt sah sie aus wie eine etwas müde Frau mit Abdeckcreme unter den Augen. »Vogue« hatte definitiv was Besseres verdient. Und was sollte sie mit ihren Haaren anstellen? Sollte sie diese zugunsten einer klaren Linie wie üblich straff zusammengerollt und mit ihren großen Haarklammern aufgesteckt lassen oder offen tragen, was ihr immer das Gefühl gab, strubbelig und wie ein Kind auszusehen?

Sie sollte froh sein, überlegte sie zerknirscht, dass sie wie ein Kind aussah.

Sie war jung genug. Sie war attraktiv genug. Sie wirkte kompetent genug. Und das musste reichen. Sie kehrte zu den anderen zurück.

Nun saß Rebecca in Graces Stuhl und war in das Display ihres Telefons vertieft, den Couchtisch hatte man von der Couch weggeschoben und den Krug mit den Rosen sowie das Leseexemplar nach vorne geschoben. Keiner musste ihr sagen, wo sie Platz nehmen sollte.

»Ihr Ehemann ist bewundernswert«, sagte Rebecca.

»Oh. Ja.« Sie ließ sich nicht gern in Verlegenheit bringen. »Danke.«

»Wie kann er das tun?«, fragte sie.

Ron, der bereits durch die Linse einer seiner Kameras schaute, erkundigte sich: »Was tun?«

»Er ist Arzt und behandelt krebskranke Kinder.«

»Er ist pädiatrischer Onkologe«, sagte Grace in ruhigem Ton. »Im ›Memorial‹.«

Im »Memorial Sloan Kettering« mit anderen Worten. Sie hoffte inständig, sie würde davon ablassen.

»Das könnte ich nie. Er muss eine Art Heiliger sein.«

»Er ist ein guter Arzt«, warf Grace ein. »Es ist ein schwieriges Gebiet.«

»Jesus«, sagte Ron. »Das könnte ich niemals.«

Wie gut, dass dich auch gar keiner darum gebeten hat, dachte sie gereizt. »Ich habe mich gefragt, was ich mit meinen Haaren machen soll«, sagte sie in der Hoffnung, die beiden abzulenken. »Was meinen Sie?«

Sie berührte die straffe Nackenrolle. »Ich kann sie auch offen tragen. Ich habe eine Bürste.«

»Nein, das ist gut so. Ich kann ihr Gesicht sehen. Okay?«, fragte er. Aber die Frage war an Rebecca gerichtet, nicht an sie.

»Lass es uns versuchen«, bestätigte sie.

»Okay«, sagte er.

Er griff wieder nach der Kamera, sah hindurch und meinte: »Das ist jetzt nur ein Versuch, in Ordnung? Keine Panik.« Und ehe sie antworten konnte, klickte es schon metallisch.

Und sofort wurde Grace steif wie ein Brett.

»Nicht doch«, lachte Ron. »Es tut doch nicht weh. Fühlen Sie sich nicht wohl?«

»Ehrlich gesagt nicht«, sagte sie und lächelte bemüht. »Ich habe das noch nie gemacht. Ich meine, mich für eine Zeitschrift fotografieren lassen.«

»Nun, eine bessere Zeitschrift können Sie für den Einstieg kaum finden!«, verkündete Ron fröhlich. »Und ich werde Sie so umwerfend aussehen lassen, dass Sie denken werden, ein Supermodel habe Ihren Platz eingenommen.«

Grace brach daraufhin in falsches Gelächter aus und veränderte ihre Sitzposition auf der Couch.

»Sehr hübsch!«, meinte Rebecca strahlend. »Aber schlagen Sie bitte Ihre Beine zur anderen Seite hin übereinander. Der Winkel ist besser.«

Grace tat es.

»Und los geht’s«, sagte Ron putzmunter. Rat-tat-tat machte es, als er ein Foto nach dem anderen schoss. »So«, sagte er, als er sich bückte und vorbeugte, um – soweit sie es beurteilen konnte – winzige Variationen aus derselben Perspektive zu erzielen. »Und wie heißt Ihr Roman?«, fragte er.

»Roman? Oh, ich habe keinen Roman geschrieben. Könnte ich auch gar nicht.«

Ihr kam in den Sinn, dass sie wohl besser nicht redete. Wie würde ansonsten ihr Mund auf den Fotos aussehen?

»Dann haben Sie also gar kein neues Buch?«, sagte er, ohne aufzublicken. »Ich dachte, Sie sind Schriftstellerin.«

»Nein. Das heißt ja, ich habe ein Buch geschrieben, aber ich bin keine Schriftstellerin. Ich meine«, Grace runzelte die Stirn, »es geht in diesem Buch um die Ehe. Ich bin darauf spezialisiert, mit Paaren zu arbeiten.«

»Sie ist Therapeutin«, sprang Rebecca ihr bei.

Aber war sie nicht auch Schriftstellerin?, überlegte Grace plötzlich verstört. Machte das Schreiben eines Buches sie nicht zur Schriftstellerin? Dann fiel ihr etwas anderes ein. »Ich habe niemand anderen damit beauftragt, es zu schreiben«, sagte sie nachdrücklich, als hätte er sie dessen beschuldigt. »Ich habe es selbst geschrieben.«

Ron hatte aufgehört zu knipsen und widmete sich nun dem Digitalmonitor.

»Ich bräuchte Sie ein bisschen weiter links«, sagte er, ohne aufzusehen. »Verzeihung, von mir aus links. Und könnten Sie sich ein wenig zurücklehnen? Okay«, überlegte er. »Ich denke, mit der Frisur lagen wir falsch.«

»Schön«, sagte Rebecca.

Grace griff nach hinten und entfernte geschickt die drei großen Haarklammern, und eine schulterlange Rolle dunkelbrauner Haare fiel herab. Sie wollte sie auseinanderziehen, aber er stoppte sie. »Lassen Sie das«, sagte er. »So ist es besser. Es hat was von einer Skulptur. Sie können es nicht sehen, aber das dunkle Haar ist ein schöner Kontrast zur Farbe Ihrer Bluse.«

Sie korrigierte ihn nicht. Natürlich war es keine »Bluse«. Es war ein weicher, dünner Pullover aus hellbeiger Kaschmirwolle – einer von fünfen, die sie besaß. Aber sie wollte sich mit Ron nicht über Blusen unterhalten, auch wenn er für die »Vogue« fotografierte.

Dann wurde die Vase noch mal zurechtgerückt. Eine kleine Verschiebung des Buchs auf dem Tisch. »Gut«, verkündete er. »Dann mal los.«

Er fing wieder an. Rebecca sah zu, sagte nichts. Grace versuchte zu atmen.

»Ehe«, sagte er unvermittelt. »Große Sache. Man könnte meinen, dazu wäre schon alles gesagt.«

»Man kann immer noch mehr dazu sagen«, warf Rebecca ein. »Schließlich will man da bloß nichts falsch machen.«

Er ging auf ein Knie und schoss seine Fotos aus diesem Winkel. Grace versuchte sich zu erinnern, ob ihr Hals auf diese Weise kürzer oder länger wirkte. »Da habe ich vermutlich nie allzu viel drüber nachgedacht. Ich dachte immer, du triffst jemanden, und wenn es die Richtige ist, dann weißt du das einfach. Ich meine, ich wusste es, als ich meiner Frau begegnet bin. Ich ging nach Hause und erzählte meinem Freund, mit dem ich damals zusammenwohnte: ›Das ist das Mädchen.‹ So eine Art Liebe auf den ersten Blick.«

Grace schloss ihre Augen. Dann erinnerte sie sich, wo sie war, und schlug sie wieder auf. Ron legte seine Kamera ab und nahm die nächste, an der er dann herumhantierte. Jetzt konnte sie offenbar sprechen.

»Problematisch wird es, wenn Leute auf dieses ›Du weißt es einfach‹ zählen und dabei all diejenigen außer Acht lassen, auf die sie nicht sofort anspringen. Ich bin nämlich der Meinung, dass es für jede Person eine Menge passender Partner gibt, deren Wege die unseren auch ständig kreuzen, aber wir sind der Idee einer Liebe auf den ersten Blick so verhaftet, dass wir womöglich großartige Menschen übersehen, die nicht wie ein Blitz einschlagen.«

»Können Sie den Kopf mal hierhin drehen?«, sagte Rebecca.

Mit anderen Worten, kannst du den Mund halten?, sagte sich Grace. Sie sah zu Rebecca hin, die in Graces Sessel an Graces Schreibtisch saß. Wie um diese unangenehme Tatsache auszugleichen, verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln. Das war allerdings noch unangenehmer.

Aber da war noch etwas, und als sie in diesem unbequemen Winkel so angespannt verdreht und völlig deplatziert auf ihrer eigenen Couch dasaß, verdrängte dieses Etwas zunehmend die momentane Ablenkung, für die »Vogue« fotografiert zu werden (auf deren Seiten, da war sie sich ziemlich sicher, keine einzige Leserin sie für ein Supermodel halten würde), bis sie es unleugbar vor Augen hatte. Dieses Etwas war die unveränderliche Tatsache, dass sie selbst, wie Ron der Fotograf und wie viele ihrer Patienten hier in diesem Raum und ein unbekannter Teil der zukünftigen Leser ihres Buchs, einfach gewusst hatte, als sie Jonathan Sachs zum ersten Mal sah, dass sie ihn heiraten und für den Rest ihres Lebens lieben würde. Dies war eine Wahrheit, die sie ihrer Agentin Sarabeth und ihrer Lektorin Maud und der Pressefrau J. Colton verschwiegen hatte, genauso wie sie das jetzt vor Rebecca, der bald verheirateten Journalistin, und Ron geheim hielt, der – wie sie auch – es einfach wusste, dass er die Frau getroffen hatte, die er heiraten würde. In jener Nacht Anfang Herbst war sie mit ihrer Freundin Vita und deren Freund auf die andere Seite des Charles River gefahren, zu einer Halloween-Party in einem gruseligen Kellergewölbe der medizinischen Fakultät. Die anderen waren bereits hineingegangen, sie aber wollte zuerst auf die Toilette, verirrte sich auf der Suche nach einer dann im Keller, und als sie wie eine Maus orientierungslos durch die unterirdischen Korridore huschte, wurde sie immer gereizter, immer ängstlicher. Aber dann war sie auf einmal nicht mehr allein, sondern in Gesellschaft eines Mannes, den sie sofort erkannte, obwohl sie sich ziemlich sicher war, ihn noch nie zuvor gesehen zu haben. Er war ein schlaksiger Typ mit ungepflegten Haaren und einem Mehrtagebart. Er trug ein »Johns Hopkins«-T-Shirt und hatte einen Plastikeimer voll schmutziger Wäsche dabei, auf der wackelig ein Geschichtsbuch über den Klondike-Goldrausch lag, und als er sie sah, lächelte er: Es war ein Lächeln, das die Erdrotation stoppte, den trostlosen Flur hell erleuchtete, sie in Sekundenschnelle zum Stehen brachte und ihr Leben veränderte. Bevor Grace ihren nächsten Atemzug tat, war dieser noch immer namenlose Mann zur vertrauensvollsten, am meisten geschätzten und begehrten und einfach unerlässlichen Person geworden. Sie wusste es einfach. Und sie hatte ihn auserwählt und führte deshalb jetzt genau das richtige Leben mit dem richtigen Ehemann, dem richtigen Kind, dem richtigen Zuhause, der richtigen Arbeit. In ihrem Fall war es tatsächlich so passiert. Aber das konnte sie nicht sagen, auch wenn es für sie die ganze Wahrheit war.

»Hey, können wir ein paar Nahaufnahmen machen? Was dagegen?«, fragte Ron.

Sollte sie was dagegen haben?, überlegte Grace. Hatte sie was zu sagen?

»In Ordnung«, sagte Rebecca und bestätigte damit, dass die Frage nicht ihr gegolten hatte.

Grace beugte sich vor. Die Linse schien so nah zu sein, nur zentimeterweit entfernt. Dann fragte sie sich, ob sie das genauso empfinden würde, wenn Jonathan die Kamera hielte, Jonathans haselnussbraunes Auge sich so intim mit ihrem verbände, aber sie konnte sich nicht erinnern, dass Jonathan auch nur ein einziges Mal eine Kamera gehalten hätte, klick, geschweige denn so dicht vor ihr Gesicht. Sie war die Fotografin vom Dienst in ihrer Familie, wenn auch ohne all den Schnickschnack, der momentan ihr kleines Behandlungszimmer in Beschlag nahm, und ohne Rons augenfällige Professionalität und ohne jede Leidenschaft für das Formale. Sie war diejenige, die die Geburtstagsfotos machte und im Ferienlager an den Besuchswochenenden fotografierte, das Foto von Henry, der in seinem Beethovenkostüm schlief, und klick, das Foto von ihm, wie er mit seinem Großvater Schach spielte, klick, ihr Lieblingsfoto von Jonathan, nur Minuten nach dem Ende des »Memorial Day«-Straßenrennens oben am See aufgenommen, nachdem er sich einen Becher Wasser über den Kopf gekippt hatte, den Ausdruck von unmissverständlichem Stolz und verhaltener Begierde in seinem Blick. Erst im Nachhinein, überlegte Grace, klick, hatte sie die Begierde in diesem Foto erkannt, denn als sie später nachrechnete, war ihr klargeworden, dass gleich darauf Henry gezeugt wurde, nur Stunden, nachdem es aufgenommen worden war. Nachdem Jonathan etwas gegessen und lange Zeit unter der heißen Dusche gestanden hatte, sie dann zum Bett ihrer Kindheit geführt und klick, sich auf sie gestürzt und immer und immer wieder ihren Namen gesagt hatte, und sie erinnerte sich daran, wie glücklich sie gewesen war, und das nicht nur, weil sie sich anschickten, das Kind zu machen, das sie sich so sehnlich wünschte, sondern weil in diesem speziellen Augenblick nicht einmal das zählte, nur er und klick, sie beide und das, und jetzt die Erinnerung daran, die an die Oberfläche kam: das Auge und das andere Auge, das durch die Linse schaute.

»Das ist hübsch«, sagte er und senkte die Kamera. Sie konnte sein Auge wieder sehen: braun immerhin, aber unscheinbar. Grace hätte vor Verlegenheit beinahe gelacht. »Nein, das war gut«, sagte er, weil er sie missverstand. »Sie haben es geschafft.«

Kapitel 2

Was gibt es Besseres, als Kinder großzuziehen?

Die absichtsvolle Vernachlässigung von Sally Morrison-Goldens Stadthaus in der East 74th Street war bereits außen an den Blumenkästen vor den Fenstern zu erkennen, die voller Grünzeug waren, das entweder schon abgestorben war oder vor sich hin welkte, sowie an einem schlaffen roten Ballon, der vorn an einer Eisenstange über dem Eingang baumelte. Gleich hinter der Tür, die das stämmige deutsche Au-pair-Mädchen (Hilda? Helga?) für Grace öffnete, herrschte dieselbe trotzige Unordnung. Doch dahinter steckte eine Absicht, wie Grace sich beim Eintreten sagte. In dieser vom Reichtum geprägten Stadt war Sally womöglich die wohlhabendste Person, die Grace persönlich kannte, mit genügend Personal, zu dem ganz sicher mindestens eine Person gehörte, deren Aufgabe es war, auch trotz der hier lebenden vier Kinder für Ordnung, wenn nicht Sauberkeit zu sorgen. Und dennoch bevorzugte Sally diese auffällige Unordnung.

Grace folgte den Geräuschen einer Zusammenkunft, die im hinteren Teil des Hauses bereits in vollem Gang war, wo man die Küche durch einen Anbau zu einem kleinen Garten hin erweitert hatte. Dort saß Sally zwischen der unterwürfigen Amanda Emery und Sylvia Steinmetz, alleinerziehende Mutter der brillanten Daisy Steinmetz, als Einjährige aus China adoptiert und – nach dem Überspringen der dritten Klasse – die bisher jüngste Schülerin an der »Rearden« Mittelschule.

»Gott sei Dank«, lachte Sally und blickte hoch. »Jetzt können wir endlich produktiv werden.«

»Bin ich so spät dran?«, fragte Grace, obwohl sie wusste, dass sie es nicht war.

»Nein, nein, aber ohne Ihren beruhigenden Einfluss geht es hier zu wie in einem Taubenschlag.«

Das Au-pair-Mädchen Hilda/Helga brachte Kaffee und stellte ihn auf dem langen Landhaustisch ab. Grace legte die Schachtel mit den Butterkeksen dazu, die sie in »Greenberg’s« Delikatessenladen gekauft hatte, was wohlwollend aufgenommen wurde.

»Sollen wir loslegen?«, fragte Sally.

Blöcke wurden hervorgeholt und Füller aufgeschraubt. Alle sahen Sally ehrerbietig an, die nicht nur den Vorsitz ihres Komitees innehatte, sondern auch noch Gastgeberin ihres Treffens war. »Gut. Uns bleiben noch zwei Tage. Und wir sind …« Sie tat es mit einem mädchenhaften Achselzucken ab. »Aber ich mache mir keine Sorgen.«

»Ich schon ein bisschen«, gab Sylvia zu.

»Nein, alles bestens. Seht mal«, Sally drehte ihren gelben Block um und zeigte auf die ordentliche, mit blauem Edding geschriebene Liste. »Die Leute kommen und wollen Geld spenden. Das ist die Hauptsache. Der Rest sind nur Kleinigkeiten. Und wir haben zweihundert. Fast zweihundert Leute. Das allein ist schon ein Erfolg.«

Graces Blick wanderte zu Sylvia. Von allen dreien kannte sie Sylvia am besten oder jedenfalls am längsten. Besonders nah standen sie sich nicht. Sie wusste, dass Sylvia sich bedeckt halten würde.

»Ich war also gestern Morgen bei den Spensers. Und habe mir mit Sukis Assistentin und der Hausdame einen Überblick verschafft.«

»Suki war gar nicht da?«, fragte Sylvia.

»Nein, aber ich bin mit den Angestellten alles durchgegangen.«

Grace nickte. Allein Zugang zum Domizil der Spensers zu bekommen war schon ein größerer Coup und mit Sicherheit ein gewaltiger Anreiz für die zweihundert geladenen Gäste, dafür dreihundert Dollar springen zu lassen. Suki Spenser, dritte Ehefrau von Jonas Marshall Spenser und Mutter von »Rearden«-Vorschülern, residierte in einem der größten Apartments der Stadt (es waren tatsächlich drei sich über zwei Etagen erstreckende Wohnungen über die ganze Hausbreite an der Fifth Avenue). Sie hatte sich im vergangenen Monat überraschend gemeldet – nun, ihre Assistentin hatte sich gemeldet – und gemeint, da Mrs Spenser sich nicht in der Lage sähe, am Komitee teilzunehmen, würde sie sich freuen, Gastgeberin des Events zu sein. Ihr Personal werde sich um das angelieferte Essen kümmern und könnte auch den Wein servieren. Die Spensers hatten ihr eigenes Weingut in Sonoma.

»Kennen Sie sie?«, erkundigte Grace sich bei Sally.

»Nein, nicht wirklich. Ich bin ihr ein paarmal in den Gängen der Schule begegnet, mehr nicht. Und natürlich habe ich ihr eine E-Mail mit der Einladung geschickt, im Komitee mitzuarbeiten, ohne dass ich mit einer Reaktion gerechnet hätte, geschweige denn einem solchen Angebot.« Die geladenen Gäste mussten sich im Vorfeld einem Sicherheitscheck unterziehen, was ein ziemliches Theater war. Aber es war die Sache wert.

»O mein Gott, ich bin ja so aufgeregt«, flötete Amanda. »Hast du die Jackson Pollocks gesehen?«

Es gab zwei davon, sie hingen sich an den Wänden des Speisezimmers gegenüber. Grace hatte sie im »Architectural Digest« gesehen.

»Ich meine schon«, sagte Sally wahrheitsgetreu. »Und Ihr Freund, Sylvia, ist der startklar? Es ist einfach großartig, dass er das für uns macht.«

Sylvia nickte. Sie hatte einen Bekannten bei Sotheby’s, der eingewilligt hatte, die Auktion durchzuführen.

»Und die Auktion selbst?«, hakte Grace nach, weil sie die Sache vorantreiben wollte.

»Richtig. Ich habe hier ein Konzept für den Katalog. Wo habe ich das jetzt bloß, Amanda?«

Amanda zeigte auf das Büchlein mit den Eselsohren, das unter den auf dem Tisch verstreuten Papieren lag.

»Also gut. Das ist noch nicht endgültig, bis morgen früh können wir noch was ergänzen, aber er druckt sie uns morgen Nachmittag und … Sylvia?«

»Und holt sie am Samstag um eins für uns ab«, ergänzte diese geschäftig.

»Gut. Das hätten wir.« Sally setzte ihre Brille auf und vertiefte sich in den Ausdruck vor ihr.

Blumen von »L’Olivier« und »Wild Poppy«. Übernachtungen in nicht weniger als sechs Hampton-Ferienhäusern, eins auf Fire Island, jeweils eins in Vail und Aspen und eins in Carmel, NY. Es gab eine Designberatung von einem erstklassigen Innenraumgestalter (Tochter in der zwölften Klasse), Kochunterricht für acht Personen in einem unglaublich angesagten Restaurant in Tribeca (Sohn des Pressesprechers des Chefkochs in der Neunten), die Gelegenheit, einen Tag lang den Bürgermeister von New York zu begleiten (die Zwillinge des Polizeianalytikers bewarben sich um zwei der äußerst wertvollen Plätze für das nächste Jahr in der Vorschulklasse), und etwas, das sich »Stammzellen-Facelift« bei einem Arzt an der »New York University« nannte und sich so haarsträubend und auf fesselnde Weise schräg anhörte, dass sie sich vornahm, Jonathan zu fragen, was das war.

»Und … ich glaube, ich habe euch das als E-Mail geschickt«, sagte Sally. »Vielleicht aber auch nicht. Aber Nathan Friedberg hat uns einen Platz in seinem Camp angeboten.«

»Das ist ja wunderbar, Sally!«, sagte Amanda.

»Welches Camp?«, hakte Grace nach.

»Sie wissen doch, dieses Feriencamp? Das er ins Leben ruft?«, sagte Amanda ihr zugewandt.

»Es stand in der ›Avenue‹«, sagte Sally.

»Und es soll 25000 Dollar für den Sommer kosten«, ergänzte Sylvia.

»Das ist aber … häufiges Wasserskifahren«, bemerkte Grace.

»Kein Wasserskifahren. Keine Knoten knüpfen. Kein Lagerfeuer«, sagte Sylvia amüsiert. »Kinder von normal Sterblichen brauchen sich da gar nicht zu bewerben.«

»Aber … entschuldigt, ich verstehe nicht. Das ist doch ein Feriencamp?«, sagte Grace bedächtig.

»Ich denke, da steckt eine recht brillante Idee dahinter«, warf Amanda ein. »Ich meine, das sind schließlich die Kids, die mal das Ruder übernehmen werden. Sie müssen wissen, wie das Geschäft funktioniert und wie man zum Wohltäter wird. Nathan hat mich deswegen angerufen. Er hat mich gefragt, ob die Zwillinge da nicht mitmachen wollen. Ich sagte ihm, mir würde das gefallen, aber sie würden mich umbringen, wenn ich sie um ihr Ferienlager in Maine bringe. Sie haben da schon ihre Gangs.«

Grace begriff es noch immer nicht. »Was genau passiert denn in diesem Camp? Was machen sie da?«

»Oh, sie bleiben alle zu Hause wohnen. Morgens werden sie von einem Bus abgeholt. Und dann kommen all diese großartigen Leute zu den Kindern und sprechen mit ihnen«, führte Sally aus. »Leute aus der Wirtschaft und aus dem Kunstleben. Sie erfahren was über Businesspläne und Investments. Sie unternehmen Ausflüge zu den Firmen in und außerhalb der Stadt. Ich weiß, dass sie mindestens einmal raus nach Greenwich fahren werden. Die Wochenenden sind frei, damit sie tun können, was sie sonst auch tun. Ich habe Ella angemeldet. Piper möchte lieber den ganzen Sommer am Strand verbringen. Sie hat dort ihr Pferd stehen. Aber dann habe ich mir überlegt, ob er nicht einen Platz stiften könnte. Ich meine, im Wert von fünfundzwanzigtausend Dollar! Sollten wir das für die Schule einnehmen, wäre das großartig.«

»Bravo, Sally!« Amanda lächelte. »Das ist absolut brillant.«

»Ja«, brachte Grace über die Lippen. Sie konnte es noch immer nicht fassen.

Sie wandten sich wieder der Liste zu. Ein Berater für die Wahl des Colleges. Ein Vorschulberater. Eine Ahnenforscherin, die mit ihrem Computer ins Haus kam, damit man sich nicht mit der ganzen Onlinerecherche befassen musste, und einen wunderbaren Stammbaum erstellte, den sie wie ein Traummuster der Shaker malte. (Grace überlegte kurz, ob sie sich den nicht selbst leisten sollte – denn wahrscheinlich würde auch sie was erwerben müssen, und wäre das nicht eine schöne Sache für Henry? –, aber der Gedanke an Jonathans schreckliche Familie hielt sie davon ab. Diese hassenswerten Menschen im Shaker-Stammbaum ihres Sohnes zu wissen weckte erst Wut, dann Schuldgefühle in ihr, dann war sie seinetwegen nur noch traurig. Schlimm genug, dass er nur noch einen Großelternteil hatte. Zu wissen, dass es diese Leute noch immer gab, nur wenige Autostunden entfernt, diese aber dennoch nicht das kleinste Interesse an ihrem Enkelsohn zeigten, machte es noch schlimmer.) Und dann die Ärzte: Dermatologen, Schönheitschirurgen. Und jemand, von dem Amanda als »Dr. Zeh« sprach. »Er hat eine Tochter in der dritten Klasse und eine in Daphnes Klasse«, erklärte sie Sylvia.

Sylvia zog die Stirn kraus: »Und er wird Dr. Zeh genannt?«

»Er ist dafür berühmt, dass er den zweiten Zeh kürzer macht als den großen. Also habe ich gewartet, bis ich beim Abholen seine Frau sah, und sie gefragt, ob er nicht eine Zehenverkürzung stiftet.«

Nur eine?, überlegte Grace. Was ist mit dem anderen Fuß?

»Ich meine, ich wollte einfach jeden fragen. Warum auch nicht? Sie können doch nur ja oder nein sagen. Aber nein sagt fast keiner. Warum sollten sie auch, es ist die Schule ihrer Kinder! Da sollten sie ihre Dienste doch mit Freuden spenden. Und was macht es schon für einen Unterschied, ob sie von einem Installateur oder einem Arzt kommen, stimmt’s?«

»Nun, aber …«, Grace musste das einfach einwerfen, »Sie sprechen hier von wählbaren Leistungen. Die meisten Ärzte befassen sich …« Fast hätte sie gesagt »nicht mit menschlicher Eitelkeit«, hielt sich aber noch rechtzeitig zurück und sagte stattdessen: »… mit Dingen, derentwegen die Menschen normalerweise zum Arzt gehen.«

Amanda lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und sah Grace offen an. Sie wirkte nicht wütend, nur verdutzt.

»Das stimmt nicht«, sagte sie. »Ich meine, wir wollen doch alle unsere Gesundheit erhalten. Auch wenn es ein … ich weiß nicht … ein Bauchdoktor oder ein Herzdoktor ist, es geht immer nur darum, auf sich aufzupassen, und man möchte stets den Besten haben, ob es nun um Finanzberatung oder um einen Arzt geht. Viele Frauen würden doch für ihre Ehemänner eine Konsultation bei einem berühmten Herzdoktor bezahlen, oder?«

»Graces Ehemann ist Arzt«, warf Sylvia sachlich ein, und Grace wusste genau, warum. Jetzt beobachteten sie beide den unvermeidbaren Effekt, den diese Information hatte.

»O ja richtig, das hatte ich vergessen«, sagte Amanda. »Was für ein Arzt ist er noch mal?

»Jonathan ist pädiatrischer Onkologe.«

Einen verdutzten Moment lang zog Amanda die Stirn kraus, dann seufzte sie. Offenbar war sie zu dem Schluss gekommen, dass keiner die Dienste eines pädiatrischen Onkologen haben wollte, egal wie berühmt dieser war.

Sally meinte kopfschüttelnd: »Ich vergesse es immer wieder. Wenn ich ihn sehe, ist er immer so fröhlich. Wie macht er das nur?«

Grace wandte sich ihr zu. »Was machen?«

»Mit diesen kranken Kindern arbeiten und mit ihren Eltern. Ich könnte das nicht.«

»Ich auch nicht«, sagte Amanda. »Ich komme kaum damit klar, wenn eins meiner Kinder Kopfschmerzen hat.«

»Es ist etwas anderes, wenn es das eigene Kind ist«, sagte Grace. Hierfür hatte sie Verständnis, denn es war ihr immer unerträglich gewesen, wenn Henry krank war, obwohl das gar nicht oft vorkam. Er war ein gesundheitlich stabiles Kind. »Wenn es ein Patient ist und man über den Sachverstand für seine Krankheit verfügt, ist das etwas völlig anderes. Man ist da, um zu helfen. Man versucht, sein Leben zu verbessern.«

»Ja«, meinte Amanda widerstrebend. »Aber dann sterben sie.«

»Aber man hat es wenigstens versucht«, beharrte Grace. »Egal, was die Ärzte leisten, die Leute werden dennoch krank und sterben, und einige davon sind Kinder. An dieser Wahrheit wird sich nichts ändern. Aber ich hätte viel lieber jetzt ein krebskrankes Kind als vor zwanzig Jahren. Und ich hätte lieber ein Kind mit Krebs in New York als irgendwo anders.«

Amanda, die diesem Argument gegenüber immun war, schüttelte nur den Kopf. »Ich könnte damit nicht umgehen. Ich hasse Krankenhäuser. Ich hasse ihren Geruch.« Sie schauderte, als wäre sie hier, inmitten der exklusiven Vernachlässigung von Sally Morrison-Goldens Stadthaus, der Geruchsattacke einer Pfütze Lysol ausgesetzt.

»Nur schade, dass wir nicht mehr Künstler und Schriftsteller haben«, sagte Sylvia, die, nachdem sie dieses Thema aufgeworfen hatte, nun offenbar versuchte, es zu vertiefen. »Mittagessen mit einer Opernsängerin oder ein Besuch in einem Maleratelier. Warum haben wir nicht mehr Künstler?«

Weil die ihre Kinder nicht auf die »Rearden«-Schule schicken, sagte sich Grace gereizt. In der Topographie von New Yorks Privatschulen war »Rearden« auf einem Bergpass zwischen der Wall-Street-Gebirgskette und den Gipfeln des Körperschaftsrechts angesiedelt. Auf die anderen Schulen – »Fieldston«, »Dalton«, »Saint Ann’s« – gingen die Kinder von kreativen Eltern, Theaterleuten und Romanciers. Als Grace hier Schülerin gewesen war, war diese Unterscheidung noch nicht so klar umrissen gewesen. Eine ihrer Freundinnen war die Tochter eines Dichters gewesen, der an der »Columbia«-Universität lehrte, ein Freund war der unmusikalische Sohn zweier Orchestermusiker der New Yorker Philharmoniker. Die Klassenkameraden von Henry jedoch wuchsen in den Häusern von Vermögensberatern und Hedgefondskriegern auf. Das war nicht besonders erfreulich, aber auch nicht zu ändern.

»Also, ich denke, wir sind ziemlich gut aufgestellt«, verkündete Sally. »Vierzig Auktionslose – da ist doch für jedermann was dabei, oder? Sofern ich nichts vergessen habe. Es ist immer noch Zeit, möchte vielleicht noch jemand etwas beitragen?«

»Ich habe überlegt«, begann Grace und wurde plötzlich von einer Woge der Befangenheit erfasst. »Ich meine, wenn es erwünscht ist … Ich habe mein Buch. Im Moment nur als Leseexemplar, aber ich könnte eines beisteuern. Ein signiertes Exemplar.«

Alle drei sahen sie an.

»Oh, stimmt«, sagte Amanda. »Ich hatte ganz vergessen, dass Sie ein Buch schreiben. Was ist das denn für ein Buch? Ein Krimi? Ich suche immer nach einem guten Buch für den Strand.« Grace spürte, wie sich ihre Stirn in Falten legte. Damit ließ sich das Bedürfnis, laut loszulachen, noch am besten in Schach halten.

»Nein, nein. Ich bin keine Schriftstellerin. Ich bin Therapeutin, wissen Sie. In diesem Buch geht es um die Ehe. Es ist mein erstes Buch«, sagte sie und hörte dabei den Stolz in ihrer Stimme, was ihr jedoch sofort peinlich war. »Es hat den Titel: Du hättest es wissen können.«

»Was?«, sagte Amanda.

»Du hättest es wissen können«, wiederholte sie, lauter diesmal.

»Nein, ich habe Sie schon verstanden. Ich meine, was hätte ich wissen müssen?«

»Oh. Es ist … am Anfang einer Beziehung kennt man die Leute immer besser.«

Das klang, wie ihr auffiel, absolut idiotisch.

In dem langen Schweigen, das darauf folgte, hatte Grace genügend Zeit, ihren Titel, ihre These und so ziemlich alles, was ihr wichtig war – in beruflicher Hinsicht jedenfalls –, noch einmal zu überdenken.

»Könnten Sie vielleicht eine Therapiesitzung anbieten?«, hakte Sally begierig nach. »Sie wissen schon, ›Autorität in Ehefragen bietet Paartherapie an‹?«

Grace war so schockiert, dass sie Mühe hatte, nicht mit dem Kopf zu schütteln. »Ich denke nicht, dass das angemessen wäre.«

»Nun gut, schon, aber darauf würden die Leute sicherlich abfahren.«

»Tut mir leid. Nein.«

Ein zartes Kräuseln von Amandas Stirn verriet, dass sie diese Haltung missbilligte. Dann hörten sie alle, wie vorne im Haus die Glocke läutete, ein tiefer, träger Ton. Grace spürte voller Dankbarkeit, wie die Spannung aus ihrer kleinen Gruppe wich. »Hilda?«, rief Sally. »Siehst du bitte mal nach?«

In die Küche kam Bewegung.

»Erwarten wir denn noch jemanden?«, fragte Amanda.

»Nein«, sagte Sally. »Eigentlich nicht.«

»Aber uneigentlich?«, meinte Sylvia und lachte dabei ein wenig.

»Nein, ich meine, es gab welche, die sagten, vielleicht, aber da sie sich dann nicht mehr gemeldet haben, dachte ich …«

Jetzt waren Stimmen zu hören, gedämpft und nicht zu unterscheiden. Und noch etwas: ein quietschendes Geräusch, wie von etwas mit einer Federung. Dann tauchte Hilda auf. »Sie lässt den Kinderwagen im Flur stehen. Ist das okay?«, fragte sie Sally.

»Oh.« Sally war ihr Erstaunen anzumerken. »Okay.« Sie schüttelte den Kopf. »Okay.« Als sie wieder aufblickte, hatte sie ein strahlendes Willkommenslächeln aufgesetzt. »Hallo!«, sagte sie und sprang auf.