Du & ich und das Ende der Welt - Brianna Bourne - E-Book

Du & ich und das Ende der Welt E-Book

Brianna Bourne

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Beschreibung

Faszinierend, geheimnisvoll und höchst romantisch - diese herzzerreißende Lovestory entführt ihre Leserinnen und Leser in eine apokalyptischen Welt! Ballerina Hannah erwacht in einer stillen, einsamen Stadt. Houston ist leergefegt, sie selbst der einzige Mensch. Erst der Sound einer E-Gitarre führt sie zu jemand anderem: dem coolen Metal-Fan Leo. Gemeinsam streifen sie durch die Straßen, erkunden Museen, das große Festivalgelände, suchen nach Antworten, Tag für Tag. Dabei kommen sie sich immer näher. Denn ihre Isolation hat auch etwas Befreiendes, plötzlich können Hannah und Leo – die sehr verschieden sind – neue Seiten zeigen. Doch dann verändert sich die Welt um sie herum wieder und es scheint, als würde Leo langsam verschwinden. Großes Geheimnis und großes Gefühlskino – einfühlsam und spannend aus zwei Perspektiven erzählt.

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Brianna Bourne

Du & ich und das Ende der Welt

Aus dem Englischen von Sylke Hachmeister

Ballerina Hannah erwacht in einer stillen, einsamen Stadt. Houston ist leergefegt, sie selbst der einzige Mensch. Erst der Sound einer E-Gitarre führt sie zu jemand anderem: dem coolen Metal-Fan Leo. Gemeinsam streifen sie durch die Straßen, erkunden Museen, das große Festivalgelände, suchen nach Antworten, Tag für Tag. Dabei kommen sie sich immer näher. Denn ihre Isolation hat auch etwas Befreiendes, plötzlich können Hannah und Leo – die sehr verschieden sind – neue Seiten zeigen. Doch dann verändert sich die Welt um sie herum wieder und es scheint, als würde Leo langsam verschwinden.

Faszinierend, geheimnisvoll und höchst romantisch – eine herzzerreißende Lovestory, einfühlsam und spannend aus zwei Perspektiven erzählt.

Wohin soll es gehen?

Buch lesen

Viten

Für die echte Hannah1988–2004

Hannah

Ich hätte zu Hause bleiben sollen.

Ich hätte diesen kleinen Wunsch ersticken sollen, diese Stimme in mir, die sagte: Na los, Hannah. Geh raus und besorg dir noch ein paar Bücher.

Es geht immer schief, wenn ich vom Plan abweiche. Wenn ich mich nicht an die Vorgaben halte. Schließlich habe ich alles so geplant, dass ich nicht über die Leere nachdenken muss.

Tja.

Jetzt denke ich doch darüber nach.

Die Straße, in der ich parke, ist so leblos wie ein Gemälde.

Licht dringt durch die gewundenen Äste der Eichen, die die Straße säumen und mir ein wenig Schutz vor der gnadenlosen Sommersonne Houstons bieten. Das Thermometer auf dem Armaturenbrett zeigt siebenunddreißig Grad, aber in dem großen weißen SUV meiner Mutter ist es schön kühl. Hundertmal habe ich hier schon geparkt, ein paar Schritte vom Antiquariat der Familie meiner besten Freundin Astrid entfernt.

All die anderen Male kommen mir jetzt vor wie aus einem anderen Leben.

Ich lasse die Scheibe einen Spalt weit herunter. Sofort schwappt die Hitze herein. Es ist viel zu heiß für April.

Ich schalte den Motor aus und lausche.

Es ist still. So eine Stille, die mich an lange Sommerferien und träge Mücken erinnert, an das Haus meiner Oma in den Backwoods von Osttexas. Eigentlich müssten die Highways dröhnen, wie das Rauschen eines alten Plattenspielers, das immer da ist, auch wenn man es nur zwischen den einzelnen Songs hört.

Jetzt gerade höre ich nichts.

Keine Autos. Keine Menschen.

Nur Stille, leer und heiß.

Ich halte das Schlüsselbund meiner Mutter in der Hand und drücke den Spitzenschuh-Anhänger, als könnte sich dadurch der berühmte Gleichmut meiner Ballerina-Mutter auf mich übertragen.

Wenn ich jetzt umkehre, erwartet mich nichts als das leere, hallende Haus und eine Routine, die sich bereits fad anfühlt. Ein Buch könnte vielleicht die Gedanken dämpfen, die sich nicht abstellen lassen.

Ich muss jetzt endlich aussteigen. Keine Ahnung, worauf ich warte – vielleicht klammere ich mich an einen Hoffnungsfetzen, dass doch noch etwas Normales passieren könnte. Zum Beispiel dass bei dem Haus gegenüber die Tür aufgeht, eine Frau mit Sonnenbrille und klimpernden Schlüsseln die Treppe runterkommt, in ihren Wagen steigt und davonbraust.

Aber natürlich passiert das nicht. Es sind jetzt schon fünf Tage, an denen ich keine Menschenseele gesehen habe. Hier ist niemand, und wenn ich weiter wie angewurzelt sitzen bleibe, besteht die Gefahr, dass meine Fantasie erneut ihr hässliches Haupt erhebt.

Wie aufs Stichwort huscht ein Schatten an der Beifahrertür vorbei, ich sehe ihn flüchtig aus dem Augenwinkel.

Schnell schaue ich hin.

Aber da ist nichts, nur ein knorriger Ast, der weiter als die anderen über die Straße ragt. Der Schatten war wohl nur das Flattern seiner Blätter.

Da ist nichts, Hannah. Das bildest du dir nur ein.

Das habe ich mir in den letzten Tagen oft gesagt. Tanzen ist das Einzige, was die Panik in Schach hält, aber ich kann mir ja schlecht die Spitzenschuhe anziehen und auf der Rückbank ein paar Sautés hinlegen. Also mache ich das Zweitbeste. Ich schließe die Augen und gehe die Choreografie vom Danse des petits cygnes – Tanz der kleinen Schwäne – aus Schwanensee durch.

Ich lasse meine Hände meine Füße sein, bewege sie mit fliegender Präzision. Es ist ein grober Entwurf dessen, was meine Beine und Füße täten, wenn ich die komplizierten Schritte tanzen würde. So machen wir Balletttänzerinnen das, wenn wir eine Choreografie durchgehen. Astrid sagt, es sieht wie eine richtig krasse Zeichensprache aus. Eine Hand an den Ellbogen des anderen Arms für die Passés. Für die Echappés mit einer Hand erst vorn, dann hinten über die andere streichen.

Entrechat, Relevé passé, Entrechat, Relevé passé, Piqué passé.

Echappé, Echappé, Echappé, Echappé.

Chassé Relevé Arabesque.

Als ich durch bin, mache ich die Augen auf und entspanne die Schultern.

Die Schatten sind weg.

Ich nehme meinen leeren Rucksack vom Beifahrersitz und setze ihn auf. Ich muss aussteigen, bevor ich wieder Schiss kriege.

Als ich die Tür aufmache, schlägt mir ein Schwall ofenheiße Texasluft ins Gesicht. Anstatt den Gehweg zu benutzen, laufe ich mitten auf der Straße. Mich überfährt ja sowieso keiner. Auf dem Seitenstreifen und in den Einfahrten parken Autos, aber sie bewegen sich nie. Wenn es eine Massen­evakuierung gegeben hätte, wären die Autos doch alle weg, oder? Es ist fast so, als ob …

Nein, Hannah.

Ich habe mir fest vorgenommen nicht darüber nachzudenken. Morgens nach dem Frühstück habe ich eine Viertelstunde, um meine verschiedenen Theorien zu durchdenken. Jetzt steht das nicht auf dem Plan.

Schwarzer Asphaltgeruch steigt auf, während ich die Straße entlanggehe. Sie ist zu beiden Seiten von kleinen, ordentlichen Häusern gesäumt, wie fröhliche Klöße sitzen sie hinter ihren Eisenzäunen. Houston ist ein Flickenteppich wie alle anderen Städte auch und diese idyllische Häuserreihe führt auf eine Straße mit einer heruntergekommenen Ladenzeile. Der Buchladen ist geradeaus an der Kreuzung.

Ein Kaffeebecher aus Pappe kullert über die Straße, taumelt durch die Stadt wie ein urbaner Steppenläufer. Ich fasse die Riemen des Rucksacks und gehe schneller. Ich weiß nicht, warum ich nicht einfach direkt vor dem Buchladen geparkt habe. Das heißt, ich weiß schon, warum – die Straße ist gepflastert mit Parkverbotsschildern. Aber hier ist ja niemand, der mir einen Strafzettel verpassen könnte.

In meinem Nacken kribbelt es. Jedes Mal wenn ich das Haus verlasse, habe ich das paranoide Gefühl, dass mir jemand folgt.

O nein.

Ich hätte nicht daran denken sollen. Denn jetzt höre ich jedes Mal, wenn meine Converse leise auf dem von der Hitze rissigen Asphalt aufkommen, ein noch leiseres Echo.

Schritte.

Das bildest du dir nur ein. Das bildest du dir nur ein.

Ich gehe weiter, widerstehe dem brüllenden Drang zu rennen. Die Schritte werden lauter. Als ich schneller gehe, werden sie auch schneller.

Jetzt klingen sie näher.

Und dann fühlen sie sich auch näher an. Der Boden vibriert. Es scheint jemand Kleines zu sein. Ein Kind?

Nein.

Da ist niemand. Nerv nicht, Einbildung. Nerv nicht, Hannah.

Am Ende der Straße gehe ich langsamer und kneife die Augen zu, mit hämmerndem Herzen und schmerzender Lunge.

Ich bleibe stehen, die Schritte auch.

Diesmal sage ich es laut: »Das bilde ich mir nur ein.«

Ich fahre herum.

Panisch scanne ich die verlassene Straße. Da ist nichts, aber mein Herz zieht sich trotzdem zusammen, die Angst vor Gespenstern ist nicht sein größter Kummer.

Jetzt bin ich fast beim Buchladen. Weitergehen. Da sind keine Schritte da sind keine Schritte da sind keine Schritte.

Obwohl mir das Blut gegen das Trommelfell pocht, gucke ich nach links und nach rechts, bevor ich die Straße überquere. Selbst in einer leeren Stadt halte ich mich noch brav an die Regeln.

Als ich vor dem Laden stehe, lege ich die Hände wie einen Trichter an die gläserne Eingangstür und spähe hinein. Es brennt kein Licht, aber alles sieht normal aus. Versuchsweise drücke ich die Türklinke. Abgeschlossen. Ich bin erleichtert. Endlich ist mal etwas so, wie es sein sollte. Das einzige andere Geschäft, bei dem ich bisher war, ist der Supermarkt, und wenn ich dort auf die automatische Schiebetür zugehe, öffnet sie sich jedes Mal, als ob nichts wäre, und begrüßt mich mit Kühlthekenluft, gut gefüllten Regalen und leeren Gängen.

Ich habe immer noch die Schlüssel meiner Mutter in der Hand, die rot und feucht ist und in der sich die Bänder des kleinen Spitzenschuhs abgedrückt haben. Es ist ein Reserveschlüssel zum Buchladen dabei, für den Notfall. Ich glaube aber kaum, dass das hier der Notfall ist, den Astrids Eltern im Sinn hatten, als sie ihn uns gaben.

Ich drehe mich noch mal zu der verlassenen Straße um, dann schließe ich auf und schlüpfe hinein.

Sofort bin ich von Braun umhüllt. Alles hier ist braun: die holzvertäfelten Wände, der Teppich, die schiefen Regale aus altem Sperrholz. Selbst der Name des Antiquariats, Wortschätze, steht in brauner Schablonenschrift an der Laden­theke.

Am liebsten würde ich mich an die Wand lehnen oder auf den Boden setzen, bis Angst und Anspannung sich lösen, aber ich zwinge mich, aufrecht stehen zu bleiben. Ich bin gekommen, um mich mit Büchern zu versorgen.

Während ich durch die Gänge laufe, packe ich alles ein, was annehmbar aussieht. Ich will so viele Bücher mitnehmen, dass ich nicht noch mal herkommen muss. Obwohl ich ja nicht mehr sehr lange allein sein werde.

Wenn heute Donnerstag ist, sind es keine achtundvierzig Stunden bis zum wichtigsten Vortanzen meines Lebens. Übermorgen. Mein Leben lang habe ich darauf hingearbeitet: auf ein Engagement in einer bedeutenden Ballettcompagnie. Und ich tanze nicht irgendwo vor, sondern bei der Ballettcompagnie, von der ich immer geträumt habe. Beim South Texas City Ballet, wo auch meine Mutter ihre Karriere gestartet hat. Ich kenne schon die Ballettmeister und die Gastchoreografen und den Grundriss des Gebäudes. Ich weiß genau, wo ich hinpasse.

Bis Samstag muss einfach alles wieder normal sein. Jeden Moment werde ich wieder in meinen Alltag switchen, als wäre das alles nicht passiert. Daran muss ich glauben. Denn die Alternative ist … was?

Darüber darf ich auf keinen Fall nachdenken, also gehe ich schnell in den nächsten Gang.

Ein Buch auf einem Verkaufsständer sticht mir ins Auge. Auf dem Cover ist eine Blume, eine Pfingstrose, die aus der Dunkelheit hervorbricht, bestäubt mit Puderrosa und Perlmuttblau. Dieses Buch steht schon länger auf meiner Liste. Ich habe den Kauf immer wieder verschoben, wollte warten, bis ich mehr Zeit zum Lesen habe. Als hätte man, wenn man jeden Tag fünf Stunden tanzt und nebenbei noch zur Schule geht, jemals Leerlauf.

Ich klappe den Buchdeckel auf, die Worte ziehen mich unwiderstehlich an. Ehe ich umblättere, schaue ich aus dem Fenster. Ich muss das Stück, das ich vortanze, noch mal üben, aber ich habe ja den ganzen Nachmittag vor mir. Ein bis zwei Kapitel kann ich mir gönnen.

Ich winde mich durch das Labyrinth der Gänge bis zu der Nische mit dem gelben Stoffsessel. Das ist mein liebster ­Leseplatz im ganzen Laden. Sonntagnachmittags machen Astrid und ich hier immer zusammen Hausaufgaben.

Ich lasse den Rucksack fallen und kauere mich in die Kissen, endlich sicher in meiner Bücherbucht. Auf der Armlehne des Sessels sind Flecken von roter Haarfarbe. Als Astrid und ich das letzte Mal hier waren, hing sie mit dem Kopf in einem Wischeimer, um die Paste auszuspülen, mit der sie den Ansatz nachgefärbt hatte, obwohl ihre Mutter ihr verboten hat, die Haare im Laden zu färben.

Ich hatte Bauchweh vor Lachen. Astrid erzählte mir eine wilde Geschichte von ihrem Besuch einer Uni in Massachusetts in der Woche davor und wie sozial inkompetent sie sich angeblich aufgeführt hatte, als ein paar Studentinnen sie in ihr Wohnheim eingeladen hatten.

Astrids Stimme hallte aus dem Wischeimer. Sie hat noch immer diesen starken nordenglischen Akzent, den ich damals, als wir uns mit fünf kennenlernten, nicht verstehen konnte. Jetzt, zwölf Jahre später, ist ihre Stimme für mich die vertrauteste der Welt.

»Du hättest mich sehen müssen, Hannah. Ich war so was von uncool.«

»Warst du bestimmt nicht.« Mit den rotglänzenden Doc Martens und den dazu passenden 40er-Jahre-Pin-up-Girl-Haaren kann sie gar nicht anders sein als cool.

Sie hob den Kopf aus dem Eimer und nahm das Handtuch, das ich ihr hinhielt. »Na ja. Du hast mich auch dann noch gern, wenn ich keinen Plan hab, was ich mit meinem Leben anfangen soll, oder?«

»Na klar. Ich hab dich für immer und ewig gern.«

Ich weiß nicht mehr, welchen Studiengang sie sich in Massachusetts angesehen hat, Ethisches Hacken oder Marionettentheater. Es ist mir ein Rätsel, wie man so viele verschiedene Ideen haben kann, was man nach der Schule machen will. Für mich kam immer nur Ballett infrage.

Ich streiche mit dem Daumen über die roten Farbflecke. Mir schnürt sich die Kehle zu. Wann werde ich meine beste Freundin wiedersehen?

Jetzt könnte mein Gehirn besser mal Ruhe geben. Ich schnappe mir das Buch, schlage es auf und verschlinge eine Seite nach der anderen. Ich lasse mich von den Worten einhüllen und davontragen.

Das hilft. Wenn ich mich in das Leben eines anderen flüchte, kann ich genauso gut abschalten wie beim Tanzen, wo die Anstrengung meine Gedanken zum Schweigen bringt, wo die Bewegungen meinen ganzen Atem beanspruchen, sodass ich die Stimmen in meinem Kopf ignorieren kann, die Ich bin ganz allein schreien.

Als mir vor lauter Buchstaben der Kopf schwirrt, kuschele ich mich tiefer in den Sessel und lehne den Kopf an.

Und da höre ich die Musik.

Hannah

Es ist ein einzelner, vorsichtiger Akkord: die Bewegung eines Daumens über die Saiten einer elektrischen Gitarre.

Schnell drehe ich den Kopf nach links, dorthin, wo der Klang herkommt. In mir erstarrt alles.

Nachdem der Akkord verklungen ist, dringt ein schweres, dumpfes Geräusch durch die Wände.

Kalte Panik fährt mir in die Knochen. Das Geräusch habe ich nicht nur gehört – ich habe es auch gespürt. Wie versteinert sitze ich da, doch es wird wieder still.

Die Stille breitet sich aus wie ein Herzschlag, der langsamer wird. Ich kneife die Augen zusammen und schüttele den Kopf hin und her. Das hast du dir nur eingebildet, Hannah.

Ich muss nach Hause. Es war keine gute Idee, hierzubleiben und zu lesen. Ich nehme meinen Rucksack und will ihn gerade aufsetzen, als ein weiterer Ton durch die dünnen Wände des Ladens dringt. Wieder die Gitarre mit einem jaulenden, höllisch schnellen Riff. Es ist so laut, dass ich mir die Ohren zuhalten will, aber meine Arme gehorchen mir nicht.

Das bilde ich mir jetzt eindeutig nicht ein.

Offenbar funktioniert mein Kampf-oder-Flucht-Instinkt nicht, denn ich bin gerade ein lehrbuchmäßiges Beispiel für die weniger bekannte dritte Option: Man gerät derart in Panik, dass man weder atmen noch sich bewegen kann. Ich sitze einfach nur da und halte den Rucksack in der Luft, während es in meinem Brustkorb vibriert.

Als das Jaulen kurz darauf verstummt, brennt meine Lunge und verlangt nach Sauerstoff.

Einen weiteren langen Moment sitze ich reglos in der Stille. Ich will mich gerade bewegen und zum Ausgang rennen, als die Musik wieder losgeht. Die Gitarre ist eine andere – eine akustische mit sanftem Klang, der durch die Wand noch gedämpft wird. Das ist jetzt ein richtiger Song, melancholische Mollakkorde, traurig und eindringlich.

Zahllose Vorstellungen davon, wer die Musik wohl macht, zucken mir in schnell eskalierendem Horror durch den Kopf. Ein Axtmörder. Ein verrückter Clown mit spitzen Zähnen. Der Sensenmann, aber nicht mit dem üblichen Kapuzenumhang, sondern mit limettengrünen Stachelhaaren und Lederjacke. Vielleicht ist ihm die Sense zu langweilig geworden und er schleppt stattdessen eine Gitarre herum, und genau dieses Lied spielt er immer, bevor er zuschlägt. Ein Hard­rocker als Todesbote.

Nein, nein, nein. Reiß dich zusammen, Hannah. Nebenan ist ein Musikladen, die logische Erklärung ist also, dass jemand da drin Gitarre spielt. Es könnte jemand Gruseliges sein, aber es könnte auch jemand ganz Normales sein. Jemand Nettes.

Ich schaue zum Ausgang. Ich könnte mich davonschleichen und er oder sie würde nie erfahren, dass ich hier war. Aber … mein Zuhause ist verlassen. Meine Eltern sind weg. Wenn dieser Jemand in Ordnung ist, bin ich nicht mehr allein.

Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, mal nachzuschauen, ohne mich zu zeigen. So wie Astrid und ich es gemacht haben, als wir klein waren, mit der Spionageausrüstung, die sie zum achten Geburtstag bekommen hatte.

Ich stehe auf und schleiche auf Zehenspitzen durch den Laden. An der Ladentheke schnappe ich mir den Baseballschläger, der unter der Kasse versteckt ist. Hier gibt es kein ausgefeiltes Sicherheitssystem, nur einen mit Schellack überzogenen schweren Ahornschläger von den Houston Astros aus dem Jahr 2005.

Ich klettere auf die Theke und trete zwischen Stapel von Büchern, die darauf warten, in die Regale geräumt zu werden. Der Musikladen ist jenseits dieser Wand, und die beiden Läden teilen sich den Raum über den Deckenplatten.

Die Platten sind schon ganz ausgebleicht und weisen gelb-bräunliche Wasserspuren auf. Ich mache mich auf alles gefasst, als ich eine Platte löse und zur Seite schiebe. Hoffentlich zerbröselt sie nicht und geht als Staubregen auf mich nieder. Ich stelle mich mit dem linken Fuß fest auf einen Stapel Hardcover. »Entschuldigung«, sage ich leise.

Dank der Bücher komme ich hoch genug, um mich mit dem Oberkörper in die Zwischendecke zu quetschen. Mit zitternden Händen lange ich hinüber und löse eine Platte über dem Musikladen.

Der Song geht, ohne zu stocken, weiter. Immer noch diese traurigen Töne. Mit angehaltenem Atem bewege ich den Arm langsamer als beim elegantesten Port de bras und verbreitere die Lücke, sodass ich in den Musikladen spähen kann.

Dort brennt kein Licht. Das einzige Fenster ist mit Bandpostern zugeklebt, doch eine Reihe elektronischer Geräte werfen einen bläulichen Schein über den Raum.

Überall sind Gitarren: mit U-förmigen Haken an allen vier Wänden angebracht, in Ständern auf dem Boden. Sogar von der Decke hängen ein paar herunter, reglos und schwer.

Mitten in dem Gitarrenwald sitzt auf einer blau schimmernden Lichtung neben einem Verstärkerturm die Quelle der Musik.

Mir bleibt das Herz stehen.

Es ist ein Mensch. Ein lebendiger, atmender Mensch.

Der Mensch sitzt mit dem Rücken zu mir auf einem Schlagzeughocker und wiegt sich beim Spiel der Gitarre.

Es ist das erste menschliche Wesen seit fünf Tagen. Mein Mund verzieht sich nach unten, wie immer, wenn ich versuche nicht zu weinen. Ich bin nicht allein. Am liebsten würde ich es laut rufen, denn das bedeutet, dass es vorbei ist. Die entsetzliche, beängstigende Leere ist zu Ende.

Vor lauter Begeisterung hätte ich wirklich fast gerufen, doch da schaltet sich meine altbekannte Wachsamkeit ein. Erst brauche ich mehr Informationen. Das Gitarrenwesen könnte ja immer noch ein Axtmörder sein.

Ich schaue so lange hin, bis meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben.

Okay. Erstens: Es handelt sich um ein männliches Wesen. Er ist weiß und ungefähr in meinem Alter. Er hat dunkle Wuschelhaare und lange Finger, die sich schnell über die Bundstäbe bewegen.

Er sieht stark aus, aber auf andere Art als meine Tanzpartner. Er hat breite Schultern und seine Armmuskeln sind voll und warm, nicht so sehnig wie die eines Tänzers. Er sieht aus, als könnte er einen Schlag wegstecken und nicht nur auf der Bühne rumspringen wie eine überzuckerte Gazelle.

Und dann … singt er.

Seine Stimme ist unglaublich. Tief und doch klar gleitet sie mit der Anmut eines Eiskunstläufers über die Töne. Er singt über den Versuch, jemanden zu beruhigen, der die Fassung verliert. Traurigkeit liegt in jedem Wort, in jedem bewegenden Mollakkord. Er singt so inbrünstig, dass ich glaube, er hat den Song selbst geschrieben.

Seine Finger gleiten über den Gitarrenhals, drücken und spreizen sich in wechselnden Mustern. Er dreht sich auf dem Schlagzeughocker herum und ich sehe die Linie seiner Wange. Als er sich das nächste Mal umdreht, um seine linke Hand zu überprüfen, ist dieser Typ, der irgendwer hätte sein können – ein Axtmörder, ein Psycho, der Sensenmann –, plötzlich nicht mehr irgendwer. Er ist jemand Bestimmtes.

Jemand, den ich kenne.

Leo

Es war ein Fehler, diesen Song zu spielen.

Er gibt mir das Gefühl, als würde ich gleich meine Haut sprengen. Mein linker Fuß ist dem Beat ein wenig voraus, will das Ganze vorantreiben, und mein Knie hüpft wie ein Kaninchen im Kaffeerausch.

Das ist jetzt mein Leben. Leo Sterling, der mit einer Fender gegen die Stille ankämpft. Seit Tagen stehe ich unter Strom, jage durch Houston, die Musik immer voll aufgedreht. Ich bin in diesen Laden gekommen, um mir elektrische Gitarren zu besorgen, schwere Subwoofer und fette Verstärker­türme – alles, was die schallende Leere ausfüllen kann.

Anstatt mir das zu schnappen, was ich brauche, und wieder abzuzischen, hat mein genialer Arsch beschlossen, sich hinzusetzen und meinen langsamsten, traurigsten Song zu spielen. Den Song, den ich für mich behalte.

Jeder im Großraum Houston weiß, dass Leo Sterling, Frontsänger der 80er-Jahre-Rockband Rat Skillet, keine leisen Töne anschlägt. Daran ist nur die akustische Gitarre schuld, die ich gerade spiele. Als ich sie mitten im Laden sah, wie sie im Schatten glänzte, konnte ich es kaum fassen. Dunkles Mahagoniholz mit Nitrolack. Perlmutt am Kopf, Stern-Inlays im Hals. Ihr Klang ist satt und volltönend und mein Song klingt darauf besser denn je.

Er klingt so gut, dass ich mir fast wünsche, jemand anders würde ihn hören – aber es hat schon seine Gründe, dass ich ihn für mich behalte.

Sehnsüchtig betrachte ich die elektrischen Gitarren um mich herum. Ich will mit allen Fasern aufhören und was Schnelleres spielen. Was Lauteres. Ich will nichts als raus hier und selig die Tatsache ignorieren, dass ich allein bin. Aber ich hab da so eine Macke – wenn ich einen Song spiele, kann ich nicht einfach mittendrin aufhören. Ich muss weiterspielen und ihn bis zum Ende abspulen. Damit treibe ich die anderen in meiner Band regelmäßig in den Wahnsinn.

Als die dritte Strophe anfängt, hüpft mein Bein wie ein wild gewordener Presslufthammer und ich trete aus Versehen gegen den Futternapf, den ich aufgefüllt habe, als ich herkam. Das Metall quietscht mörderisch und Hundefutter fliegt in alle Richtungen, aber meine Finger spielen irgendwie weiter. Sie kennen den Song zu gut, um aufzuhören.

Die Ladenbesitzer, das Punkrock-Traumpaar Sheena und Jett, haben einen Hund namens Muttley Crüe (nach Mötley Crüe, zufällig die Nummer fünf auf Leo Sterlings Liste der besten Rockbands der 80er). Ich kenne Muttley, seit ich im zarten Alter von zwölf auf der Suche nach einer billigen Einsteigergitarre in den Laden gestolpert bin. Muttley kam als kleiner brauner Welpe auf mich zugefetzt und es war Liebe auf den ersten Blick.

Ich komme jeden Tag her, um Muttleys Napf aufzufüllen, aber bisher ist sie nicht aufgetaucht. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Seit Tagen hab ich niemanden zu Gesicht bekommen. Keine Menschen, keine Hunde, nichts.

Doch falls Muttley vorbeikommt und was fressen will, soll sie nicht hungrig bleiben. Trotz des Rock-’n’-Roll-Namens hat sie rein gar nichts von einem Rock-’n’-Roll-Hund. Sie ist ein Zwergdackel mit chronischen Rückenproblemen und auf den verlassenen Straßen von Houston würde sie keine fünf Minuten überleben.

Scheiße, selbst ich kann ja kaum fünf Minuten da draußen überleben.

Ich ziehe die Luft ein. Es ist so dunkel hier drin. Ich hätte wenigstens das Deckenlicht einschalten sollen. Die Gitarren über meinem Kopf machen mich wahnsinnig.

Seit ich allein aufgewacht bin, ist es das erste Mal, dass ich stillsitze. Bilder jagen durch meinen Kopf. Verlassene Highways. Die leeren Gänge meiner Schule, in denen es hallt wie in einem Pool ohne Wasser. Wie ich in dem riesigen Doppelbett in der Suite in dem Nobelhotel aufgewacht bin und nicht den leisesten Ton gehört hab.

Mein Herz fängt an zu rasen. Mir ist elend.

Scheiße. Es hat ja seine Gründe, dass ich die ganze Zeit durch die Gegend fetze wie der Duracell-Hase. Ich merke, wie es sich anschleicht: eine leere schwarze Verzweiflung und lauter Fragen: Was ist passiert? Wo sind die anderen alle?

Jetzt weiß ich, dass ich das Tempo nie drosseln darf. Sobald ich auch nur ein kleines bisschen zur Ruhe komme, stürzen diese Gedanken auf mich ein. Ich muss immer schneller sein als sie.

So eine Scheiße.

Ich muss diesen verdammten Song abbrechen.

Es kostet mich übermenschliche Anstrengung, die Hand mit dem Plektron sinken zu lassen. Die darauffolgende Stille saugt alles Leben aus dem Raum. Ich muss aufstehen. Muss schleunigst hier weg. Mit zitternden Händen ziehe ich den Gurt der Gitarre über den Kopf.

Und da höre ich irgendwo hinter mir eine Stimme. Die Stimme eines Mädchens, und sie …

Sagt meinen Namen?

Ich zucke zusammen. »Na super«, murmele ich. »Jetzt hör ich schon Stimmen. Früher oder später musste es ja wohl so kommen.«

Ich bücke mich, um die Gitarrentasche zu öffnen, die auf dem Boden liegt. Wenn ich schon gehen muss, nehme ich wenigstens diese göttliche Gitarre mit.

Ich hab alles zusammen und will gerade los, als vor mir auf dem Boden etwas EXPLODIERT.

Ich schreie auf und gucke mich wild im Raum um, die Gitarre schützend vor dem Körper. Dann schaue ich dorthin, wo das Ding neben meinem Fuß explodiert ist. Der weiße Staub drum herum legt sich gerade. Moment mal – das ist doch ein Stück aus der Decke.

Ich gucke hoch. Da – eine Deckenplatte ist schief und halb abgebrochen. Dahinter nur Dunkelheit. Na bitte, da ist keiner. Reiner Zufall, dass das genau in dem Moment passiert ist, als ich auf einmal anfing Stimmen zu hören.

Da schiebt sich ein bleicher Arm durch die Lücke, lange Finger strecken sich nach mir aus.

Panisch taumele ich einen Schritt rückwärts.

Scheiße. Etwas zu hören, das nicht da ist, ist eine Sache – etwas zu sehen noch mal eine andere.

Die Finger wackeln. »Siehst du? Ich bin echt«, sagt die Stimme, drängend, gedämpft.

Ich lache, pruste regelrecht los. »Und warum genau bist du da oben?«, frage ich.

Sie klingt etwas verlegen. »Hier drüben ist ein Buchladen. Ich hab gelesen und da hab ich deine Musik gehört, und ich wollte sehen, ob du … na ja, ob du echt bist.«

Das wird ja immer schöner. Die hat gedacht, ich wäre nicht echt?

»Okay, okay, Frau Hand aus der Decke, vielleicht bist du also echt. Dann spring mal hier runter und beweis mir, dass du kein achtköpfiges Monster bist.«

»Ich kann doch nicht springen«, sagt sie. »Da brech ich mir die Beine.«

»Falls du Beine hast«, sage ich lachend.

»Ich hab Beine«, sagt sie beleidigt.

Jetzt, wo sich meine Angst legt, fällt mir auf, dass sie eine tolle Stimme hat. Rau und ein bisschen kratzig, mit genau dem richtigen Grad Heiserkeit. Ich spitze die Ohren. Ich sammle interessante Geräusche, alles, was ich mit dem ­Mikrofon aufnehmen kann.

Diese Stimme muss ich aus der Nähe hören.

»Wenn du nicht springst, komme ich rüber zum Buchladen«, sage ich.

Sie will etwas sagen, aber da bin ich schon halb zur Tür raus.

Ein episches Gitarrensolo tobt in meinem Innern. Das ultimative Shredding. Wie wenn meine Hardrock-Helden mit halsbrecherisch fliegenden Fingern grandiose Sweep Picking Arpeggi runterreißen, nie-nilly-nie-nilly-nie-nilly-nie. Uli Jon Roth, Synyster Gates, Zakk Wylde, Slash. Eddie Van Halen. Buckethead. Und ihre Fans bejubeln ihr virtuoses Können. Deshalb spiel ich mit meiner Band Hair Metal aus den 80ern – weil das mein Grundgefühl ist. Fette Powerchords, wild und verzerrt, glühend schnell, exzessiver Tremolo-Einsatz. Divebombs, bei denen du das Gefühl hast, bis ins Zentrum der Erde zu rauschen.

Okay, ich geb zu, ich glotze zu viele MTV-Rockdokus. Typen mit Leoparden-Leggings und toupierter Mähne. Schweißbänder und Glitzer und Roadies und Drogen und zerlegte Hotelzimmer. Es ist das chaotischste und geilste Gefühl der Welt.

Dafür gibt es nur ein Wort: Es ist glamtastisch. Ich hab einen Kumpel, einen Sidekick, und jetzt können wir zusammen um die Häuser ziehen. Ich kanns gar nicht erwarten, die Kleine kennenzulernen.

Selbst wenn sie ein achtköpfiges Monster ist.

Immer noch lachend stürme ich zur Tür hinaus auf die knallheiße Straße.

Hannah

Moment mal, was? Der kommt jetzt hier rüber?

Ehe ich protestieren kann, hat Leo, der Leo Sterling, sich schon die Gitarrentasche auf den Rücken geschnallt. Dann ist er weg und ich höre nur noch die knallende Tür und das Bimmeln der altmodischen Ladenglocke in dem leeren Raum.

Sofort schalte ich auf Aktionsmodus, krieche wieder aus der Decke und steige von der Ladentheke.

Ich nage an der Unterlippe und warte darauf, dass Leo vor dem Buchladen auftaucht. Unfassbar, dass ich mit einer Deckenplatte nach ihm geworfen habe. Es schien mir die einzige Möglichkeit, ihn zum Bleiben zu bewegen. Ich wollte die Gelegenheit nicht verpassen, mit ihm zu reden, doch kaum hatte die Platte meine Hand verlassen, wurde ich am ganzen Körper knallrot. Ich hab noch nie irgendwas mutwillig zerstört. Was ist bloß mit mir los?

Das passiert jetzt nicht wirklich. Der erste Mensch, der mir nach Tagen über den Weg läuft, soll ausgerechnet Leo Sterling sein? Das gibts doch nicht. Er geht auf meine Schule, in meine Jahrgangsstufe. Wie wahrscheinlich ist es, dass der einzige andere Mensch in Houston jemand aus der Zwölften an der Grand Willows High ist?

Nicht dass ich ihn besonders gut kennen würde. Ich hab noch nie ein Wort mit ihm gewechselt. Wir sind 862 Schüler und Schülerinnen in der Zwölf und Leo befindet sich nicht in meinem wohl kalkulierten Radius zwischen Spind und Kursraum. Unsere Wege kreuzen sich nur selten, aber wenn ich ihn mal im Flur sehe, kann ich den Blick nicht von ihm wenden. Immer strahlend und strotzend vor Selbstbewusstsein – und er sieht absolut heiß aus.

Ich hab ihn noch nie ohne die schwarze Gitarrentasche auf dem Rücken gesehen und normalerweise ist er mit einem Typ namens Asher zusammen, einem massigen Kiffer mit schönen, blassblauen Augen. In der Zehnten hatte ich mit ­Asher zusammen Englisch und er hat sich kaum beteiligt, aber seine Ruhe war so spürbar wie Leos Strahlkraft. Sie spielen zusammen in irgend so einer Rockband – vor drei Wochen hat sich die ganze Schule aufgeregt, weil ihnen der Sieg beim Battle of the Bands aberkannt wurde. Es gab Gerüchte von einer Drogenrazzia, aber niemand ist von der Schule geflogen, also war es wohl nur irgendwas Langweiliges wie Schwänzen oder Zuspätkommen.

Ich bin nervös. Was wird Leo sich denken, wenn er mich sieht? Jedes Mal wenn ich ihm begegnet bin, hat er irgendwas Grenzwertiges gemacht. Hat in der Aula während der Versammlung lässig an der Cola genippt. Lief mit Kopfhörern durch den Flur. Tauchte aus einem Treppenhaus auf und zog einen merkwürdigen Gummigeruch hinter sich her. Astrid hat sich kaputtgelacht, als sie mir erklären musste, dass es Gras war. Man kann sagen, er ist genau das Gegenteil von mir.

Seinen Namen kenne ich nur, weil ich Astrid mal nach ihm gefragt habe. Spätabends, als ich bei ihr übernachtet habe, und ganz leise, in der Erwartung, sie wäre zu müde und würde es einfach überhören. Aber sie fuhr mit einem Ruck von ihrer Isomatte hoch und johlte vor Begeisterung. Ihre knallroten Haare waren total strubbelig.

»Willst du mir im Ernst erzählen, dass du jetzt erst gemerkt hast, wie schnuckelig Leo Sterling ist? Ein absoluter Schuft, nach allem, was man so hört. Wickelt die Mädchen reihenweise um den kleinen Finger.« Sie seufzte übertrieben. »Aber geile Haare hat er wirklich.«

Da hat sie recht. Seine Haare sind dick und dunkel und ein bisschen gewellt und sie sehen immer so aus, als wären sie gerade zerzaust worden. Sie gehen ihm ein Stück über die Ohren, die perfekte Länge für einen Bad-Boy-Rocker.

»Und er muss eine Granate im Bett sein«, sagte Astrid. »Angeblich hat er jeden Monat eine Neue am Start. Meist Tussis von der Uni, an der Schule hat er wahrscheinlich alle schon durch, die ihm gefallen.« Sie stutzte. »Äh, Moment mal. Stehst du etwa auf ihn?«

Ich wurde knallrot. »Du weiß doch, dass für mich nur Tänzer infrage kommen.«

»Hmm-hmm. Und du weißt, wie beknackt ich diese Regel finde.« Sie grinste anzüglich. »Er muss ja nicht gleich infrage kommen. Leo Sterling ist sowieso eher der Typ für eine heiße Nummer als für eine feste Beziehung. Du könntest dich einfach von ihm flachlegen lassen – solange es dir nichts ausmacht, dass er dich hinterher wahrscheinlich nicht mehr kennt.«

Ich merkte, dass ich gereizt wurde, und ärgerte mich, dass ich überhaupt nach Leo gefragt hatte. Dass ich eine weitere dumme Tussi war, die ihn anschmachtete.

Leo ist genau der Typ, den Eltern nicht leiden können. Wenn es nach ihnen ginge, müsste er einen Warnhinweis auf der Stirn tragen: ACHTUNG, EIN AUGENZWINKERN ZERSTÖRT DEN GUTEN RUF, AUF DEN IHR HINARBEITET.

Manche Mädchen mögen solche Jungs, ich nicht. Es hat schon seine Gründe, dass für mich nur Tänzer infrage kommen. Andere Jungs würden gar nicht verstehen – oder akzeptieren –, was für eine große Rolle das Tanzen in meinem Leben spielt. Leo Sterling würde mich bestenfalls zerstreuen, schlimmstenfalls zerstören.

Und gleich taucht er hier im Buchladen auf. Ich atme tief durch. Zum Glück besteht keine Gefahr, dass er sich für mich interessiert.

Und vielleicht weiß er ja, wo die anderen alle sind.

Als Leo an die Scheibe klopft, erschrecke ich mich fast zu Tode, aber ich straffe die Schultern und richte mich auf.

Leo Sterling ist zwar kein Typ, der in meine Welt passt, aber zurzeit gibt es in meiner Welt keinen anderen. Ich schließe die Tür auf und lasse ihn herein.

Er sieht genauso aus wie in der Schule, bis hin zu der ­Gitarrentasche auf dem Rücken. Ich sehe ihn an, diesen Jungen, mit dem ich nie gesprochen hätte, wenn er nicht der einzige andere Mensch in Houston wäre, und hebe das Kinn.

In seinem Blick blitzt Erkennen auf. »Ach, du bist das! Dich kenn ich doch!«

Damit hatte ich nicht gerechnet, es bringt mich aus dem Konzept. »Äh … echt?«

»Ja! Die Ballerina!«

Die Ballerina. Klar. Wenn meine Mitschüler mich anschauen, sehen sie nur das. Haare zu einem straffen Knoten gebunden, Haarspray drauf und fertig. Feste Muskeln statt Kurven. Schwanenhals.

Aus irgendeinem Grund versetzt mir die Ballerina aus seinem Mund einen Stich.

»Hannah heiße ich eigentlich«, sage ich. »Hannah Ashton.«

»Hannah? Ah. Ich hätte jetzt eher einen Namen wie … Hey, egal. Hannah. Cool.«

Etwas unbeholfen gehen wir ins Ladeninnere, damit sich die Tür schließt. Schließlich sind wir aus Houston und von klein auf dazu erzogen, kein bisschen schön gekühlte Luft rauszulassen.

Die Gänge zwischen den Büchertischen sind schmal und zu zweit ist es plötzlich zu eng. Leo verlagert das Gewicht auf ein Bein. Lässige Standbein-Spielbein-Haltung. Seine Energie nimmt mehr Raum ein als sein Körper, sonnig und laut. Er hat schwarze Jeans an und ein abgetragenes graues T-Shirt, das nur eine ausgerissene Kante am Halsausschnitt hat, der bis über das Brustbein geht.

Schutzschild, Hannah. Auf keinen Fall soll er denken, dass ich ihn anschmachte, als wäre er eine Art Gott, nur weil er Gitarre spielt und unverschämt schöne Haare und ein sehr hübsches Brustbein hat.

Ich verschränke die Arme und versuche die Ballerina-Gelassenheit meiner Mutter auszustrahlen.

»Pass auf, wir fangen einfach noch mal von vorn an«, sagt Leo. »Was würden wir in einer normalen Welt sagen? Schön dich zu treffen?«

»So was in der Art.«

»Also dann. Es ist echt schön dich zu treffen, Hannah.«

Er lächelt so breit und so strahlend, dass meine Mundwinkel sich automatisch nach oben ziehen. O Mann. Der ist wirklich charmant. Ich halte meinen Schutzschild noch ein Stück höher.

Er reicht mir die Hand, und in dem Moment begegnen sich unsere Blicke.

Wie angewurzelt stehe ich da, gefangen in seinem Blick. Wir sind uns so nah. Viel näher als in der Schule, wenn wir uns im Flur begegnet sind. Meine Gedanken geraten ins Stolpern. Denn von Nahem ist sein Anblick fast zu viel. Ich muss hinsehen, jede Einzelheit aufsaugen.

Er sieht nicht aus wie ein Filmstar, aber unscheinbar ist er wirklich nicht. Alles an ihm ist ein bisschen zu viel. Die Lippen zu voll. Der Kiefer zu markant geschnitten. Die Augen zu groß und die Wimpern zu dicht. Es ist ein Gesicht, das in eine Fotoausstellung passen würde. Ein Gesicht, das eine Geschichte erzählt und von dem man den Blick lange nicht wenden kann.

Leo zuckt nicht mit der Wimper, er gibt keinen Laut von sich und schaut auch nicht weg. Er hält meinem Blick einfach stand. Es ist selten, dass jemand sich so zeigt wie ein offenes Buch. Seine Augen sind blaugrau, wie Schiefer, doch bei ihm wirkt die Farbe warm.

Ich lege meine Hand in seine und bei der Berührung passiert etwas. Wie meine Hand in seine passt … es fühlt sich richtig an. Vertraut.

Meine Güte. So verzweifelt sehne ich mich also nach menschlichem Kontakt.

»Schön dich zu treffen, Leo«, bringe ich schließlich heraus.

Wie wirkt diese kleine Szene von außen betrachtet? Der letzte Junge und das letzte Mädchen auf der Welt reichen sich in einem düsteren Buchladen die Hand wie Geschäftsleute.

»Im Ernst, ich bin so froh, dass du da bist«, sagt er. »Ich hab mich allmählich gefragt, ob ich den Verstand verliere. Es sei denn, du bist gar nicht echt, was natürlich gut sein kann.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich echt bin«, sage ich. Das kommt abweisender heraus als beabsichtigt, aber Leo redet einfach weiter.

»Hey, machen wir doch einfach den Kneiftest.« Er streckt mir seinen Arm hin. »Nur zu. Ich halt das aus. Sollen wir gleichzeitig?«

Als ich den ersten Tag allein war, hab ich mich zigmal gekniffen. Wie man sieht, bin ich nicht auf magische Weise erwacht, aber ich versuche es gern noch mal.

Ich strecke den Arm aus. Im selben Moment, als Leo mir in die dünne Haut am Handgelenk kneift, kneife ich ihn.

»Aua, verdammte Scheiße!«, schreit er und zieht den Arm weg.

»Entschuldige«, sage ich und schlage mir eine Hand vor den Mund, aber ich glaube, so schlimm ist es nicht, denn er lacht.

»Kneifen kannst du, Ballerina.« Mit einer schnellen Kopfbewegung wirft er die Haare aus den Augen. »Also gut. Nachdem wir uns gegenseitig unserer Existenz versichert haben, sag mir jetzt bitte, dass du weißt, was hier los ist. Weißt du, wo alle hin sind?«

Mir rutscht das Herz in die Hose. Ganz kurz hatte er mich die Leere vergessen lassen. Vergessen lassen, dass ich keine Ahnung habe, wo meine Eltern und die anderen zweieinhalb Millionen Einwohner von Houston sind.

Ich schüttele den Kopf. Es ist schrecklich zu sehen, wie sein Lächeln erstirbt.

Leo

Erst wird mir kotzübel, aber dann fasse ich mich wieder.

Wir wissen nicht, was los ist, na und? Viel wichtiger ist: ICHBINNICHTMEHRALLEIN!

Ich wende mich einem Bücherstapel auf dem Tisch neben mir zu und tue so, als würde ich mich brennend für 101 Häkelmuster für Fortgeschrittene interessieren, während ich insgeheim nur die Ballerina unter die Lupe nehmen will.

Wir gehen auf dieselbe Schule, sind uns aber noch nie so nah gekommen wie jetzt. Ich wusste, dass sie groß ist, aber aus der Nähe sieht sie aus wie eine Statue. Schön und stolz. Eine seltsame Kombination aus gertenschlanker Eleganz und harten Muskeln, und sie hat ganz feine Gesichtszüge, mit einer Nase, die mich an einen Fuchs erinnert.

Jetzt, wo wir nur einen Meter voneinander entfernt sind, habe ich nicht den Eindruck, dass wir auf der gleichen Wellenlänge sind. Sie sieht nicht so aus, als ob sie sich auch mal locker macht. Genau wie ihre Haare – die sind zu einem festen Knoten gebunden und mit so viel Haarspray eingesprüht, dass es wie eine harte Schale aussieht.

Ein paarmal hätte ich sie in der Schule anquatschen können, aber irgendwas hat mich immer abgehalten. Jeder, der uns sähe, wüsste sofort, warum – wir haben nichts gemeinsam. Mit ihrer perfekten Ballerina-Haltung ist sie wie eine Marmorsäule – kühl, sauber, verlässlich –, und ich bin … nichts davon. Vermutlich hört sie nur Tschaikowsky und flucht nie. Sie schreibt garantiert lauter Einsen und passt im Unterricht immer auf, während ich abends mit meinem besten Freund Asher abhänge, mit ihm in irgendeiner Garage jamme oder auf dem Sofa hänge und irgendein verbotenes Zeug rauche, und dann komme ich zu spät ins Bett und penne in der ersten Stunde ein. Und in der zweiten. Na gut, und immer wenn ich mich langweile, was oft der Fall ist.

Ich lege das Häkelbuch wieder hin und lächele sie versuchsweise an. Sie wird ganz steif und macht den Rücken noch gerader.

Mist. Mich beschleicht der Verdacht, dass die Ballerina die reinste Spaßbremse ist.

»Hast du außer mir schon irgendwen gesehen?«, fragt sie.

Was ihre Stimme angeht, hab ich mich nicht getäuscht. Das raue, dunkle Timbre würde in einem Tonstudio unglaublich klingen. Das macht das Ganze nur noch ungerechter. Hätte ich nicht jemand Lustiges treffen können?

»Ähm … nee«, sage ich.

»Ich auch nicht«, sagt sie. »Seit fünf Tagen.«

Fünf Tage. So lange ist das her? Kann hinkommen. Ich hab nicht so richtig mitgezählt. Das ist alles irgendwie verschwommen. Jetzt gerade bin ich zwar nicht high, aber ich hab ziemlich viel Gras geraucht. Ob man das an meinen Klamotten riecht? Wir reden zum ersten Mal miteinander, da soll sie nicht denken, ich wär nur ein blöder kiffender Musiker.

Ich mache einen halben Schritt zurück. Ich bin nicht für meine Ruhe, meine Gelassenheit und meinen Gleichgewichtssinn berühmt, und tja, es gibt ein ziemliches Desaster.

Erst mal stoße ich an den Tisch neben mir und ein Bücherstapel purzelt zu Boden. Als ich mich bücke, um die Bücher aufzuheben, bleibe ich mit der Gitarrentasche an irgendwas hinter mir hängen. Gerade als ich denke, dass der Elefant im Porzellanladen sich jetzt mal ausgetobt hat, rutsche ich auf ein paar Seiten aus, die aus einem uralten Schinken gefallen sind, und drohe umzuknallen.

Sofort fasst sie mich am Ellbogen und ich bleibe mitten im Fall hängen, als hätte jemand die Pausetaste gedrückt.

Ihre Berührung bringt mich wieder ins Gleichgewicht. Der warme Druck ihrer Hand hält mich aufrecht. Das Mädchen hat echt ein Gefühl für Balance.

Sie sieht mich an. Große, hypnotisierende Seen voller Sorge.

»Ich glaub, ich komm hier nicht mehr los …«, sage ich, und das klingt, als ginge es um sie, dabei meine ich nur meine Gitarrentasche.

Ich schaue nach hinten. Die Tasche hat sich in einem komischen Garnteppichding an der Wand verhakt, das aussieht, als wäre es von Kindergartenkindern gebastelt worden.

Ehe ich etwas sagen kann, eilt mir die Ballerina zu Hilfe.

»Der Reißverschluss hat sich im Garn verhakt«, sagt sie und fummelt hinter meinem Rücken daran herum. Kurz darauf bin ich befreit. Ich richte mich auf und merke, dass der Gurt meiner Gitarrentasche verdreht ist und sich unangenehm in meine Schulter gräbt, doch ehe ich ihn richten kann, kommt die Ballerina mir schon wieder zur Hilfe. Diesmal zucke ich zurück.

»Ich wollte nur schnell …«

Geschickt macht sie sich an meiner Schulter zu schaffen und im Nu ist der Gurt wieder gerade.

Das ist so … nett vor ihr. Ich fühle mich unbehaglich.

Sie ist so nah. Sie riecht so sauber, wie eine eben erst reife Birne. Sie trägt ein enges cremefarbenes T-Shirt, das auch ein Leotard sein könnte, und direkt am Rand des spitzenbesetzten Ärmels hat sie ein Sternbild aus vier Sommersprossen.

Scheiße. Klar landet Leo Sterling mit einem hübschen Mädchen allein in einem Raum. Das muss ja wohl schiefgehen.

Als sie fertig ist, klopft mir die Ballerina – Hannah – leicht auf die Schulter. Die Geste ist mir so fremd, dass ich nur schlucken kann.

Darauf folgt eine lange, peinliche Stille, und diesmal durchbricht Hannah sie, indem sie die heruntergefallenen Bücher aufsammelt. Ich bücke mich und helfe ihr und keiner von uns sagt ein Wort, bis alle Bücher wieder auf dem Tisch gestapelt sind.

Sie weicht meinem Blick aus, stattdessen schaut sie hinaus auf die sonnenüberflutete Straße.

»Und … was glaubst du, was los ist?«, fragt sie.

Alles in mir sträubt sich. Das ist eine der wenigen Fragen, die ich nicht beantworten will. Ich versuche die ganze Zeit die Situation zu ignorieren.

»Ich glaub, das ist ziemlich offensichtlich«, sage ich. »Wir sind tot.«

Ich zucke die Achseln. Tot. Na gut. Und wenn schon.

Sie holt zitternd Luft, fasst sich aber schnell wieder. »Das hab ich auch erst gedacht. Aber ich … ich fühle mich lebendig. Alles ist genauso wie vorher, nur ohne die anderen.«

»Ich glaube, ich hab noch nicht so richtig darüber nachgedacht. Ich war ziemlich beschäftigt. Hab die meiste Zeit Gitarre gespielt.«

»Der Song, den du vorhin gespielt hast …«

»Ach, das war nichts …« Den sollte keiner hören.

»Der war echt schön«, sagt sie. »Ich hätte mich wahrscheinlich gar nicht aus meinem Versteck gewagt, wenn ich deinen Gesang nicht gehört hätte.«

»Wer singt, dem kann man vertrauen, hm?«

»Na ja … Wer singt, ist jedenfalls ein Mensch und kein Zombie.«

»Das hast du gedacht? Zombies?«

»Nee, eigentlich nicht.«

Das scheint nicht ganz die Wahrheit zu sein, denn als sie es sagt, läuft ihr ein leichtes Schaudern über den geraden Rücken.

»Ich hoffe ja irgendwie, dass es eine Evakuierung gegeben hat, die wir verpasst haben«, sagt sie. »Wegen einem Hurrikan oder Tornado oder so.«

»Das wär wohl möglich. Aber es wär viel cooler, wenn wir in der Matrix wären.«

Darüber denkt sie nach. »Irgendeine virtuelle Realität steht auch auf meiner Liste. Vielleicht sind wir Schachfiguren von intelligenteren Wesen, die Lichtjahre entfernt auf ihren Chaiselongues sitzen, auf holografische Projektionen von uns starren und uns mit Klicks hin und her schieben. Vielleicht merken sie ja nicht, dass es einen Fehler in der Software gegeben hat, durch den alle anderen Figuren unsichtbar geworden sind, oder vielleicht sind es Alienkinder, die Hausarrest haben und jetzt nicht mehr mit uns spielen dürfen.«

Ich pruste los. Was für ein schräges Szenario.

Das gefällt mir.

Was ihre Aliens jetzt wohl gerade machen? Klicken sie mit der rechten Maustaste auf meinen Kopf und schieben mich drei Schritte nach links? Vielleicht sind sie mal so nett und halten mich davon ab, auf Hannahs Handgelenk zu schauen, das sich, während sie einen Bücherstapel geraderückt, bewegt wie eine herabschwebende Feder.

Ich klopfe einen Rhythmus auf der Kante eines Regals. Gerade betrachte ich wieder das Sternbild auf ihrem Arm, als die Fenster hinter ihr dunkel werden.

Und zwar richtig dunkel. Wie tiefste Nacht. Vor einer Sekunde war noch brütend heißer Nachmittag und jetzt … nicht mehr.

Wir erstarren beide und gucken uns an. Ihre Wangen leuchten orange vom Licht der Straßenlaternen, das zum Fenster hereinscheint. Ihre Sommersprossen sehe ich nicht mehr, aber ich lese Was zur Hölle in ihrem Gesicht.

Ich renne zur Tür und lege die Hände an die Scheibe. Die Straße hat sich in eine merkwürdige, elektrische Nacht verwandelt.

Das kann nicht sein. Eine Sonne wird nicht einfach ausgeknipst, sie hat langsam unterzugehen. Hat sich eine Wolke davorgeschoben? Aber als ich rübergekommen bin, war der Himmel klar, und das müsste schon eine Mordswolke sein, damit es so dunkel wird.

Ich mache die Tür auf. »Nein!«, schreit Hannah, aber ich stürme trotzdem raus auf die Straße.

Sobald ich draußen bin, ist alles wieder normal. So schnell wie ein Schlag auf eine Snare. Schlag eins: mitternachtfinster. Schlag zwei: mittaghell.

Es ist so grell, dass ich ein Auge zukneifen muss, wie wenn ich total verkatert bin und vergessen habe, mein Rollo runterzulassen.

Graziös und misstrauisch wie eine Katze kommt Hannah zu mir raus auf den Gehweg.