Du musst den Drachen reiten - Ute Engelmann - E-Book

Du musst den Drachen reiten E-Book

Ute Engelmann

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Beschreibung

Vom Leben in den Krisenmodus. Von jetzt auf gleich: Diagnose "Krebs": Was ist, wenn die Krankheit sich plötzlich ins Zentrum des Lebens drängt? Wie geht das, sich auf einmal um sich selbst zu kümmern, obwohl der Alltag ohnehin schon ein Balanceakt ist? Wie reagieren, wenn das Umfeld, Familie und Freunde nur gute Ratschläge geben? Wie schafft man es, Kontrolle abzugeben, aber weiter sich selbst treu zu bleiben? Vor allem aber, wie geht das – leben, mit dem was jetzt ist? Davon wollen sie erzählen: 25 Krebsbetroffene berichten ehrlich und ungeschminkt von ihren persönlichen Erfahrungen. Anhand ihrer Geschichten stellt das Buch das beträchtliche Repertoire an Bewältigungsstrategien dar, welche sich Krebspatienten in kürzester Zeit aneignen müssen. Ergänzend dazu bieten Fachbeiträge einer Psychoonkologin und eines Onkologen neben medizinischem Hintergrundwissen auch ganz praktische Werkzeuge und Denkanstöße.

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DU MUSSTDEN DRACHENREITEN

DIE HERAUSGEBERINNEN

Ute Engelmann ist langjährige Trainerin und Coach; sie lehrte bis 2017 an der European Business School in Bochum. Als Coach begleitet sie Einzelpersonen bei beruflichen und privaten Veränderungen und bietet Unternehmen Kommunikationstrainings und Organisationsberatung an. Im Jahr 2005 erkrankte sie zum ersten Mal an Brustkrebs, 2020 hatte sie ein Rezidiv mit Knochenmetastasen.

Annette Waschbüsch, geboren 1975, ist freie Journalistin und Autorin. In der Vergangenheit arbeitete sie in der Kunst- und Kulturszene, als Lokalreporterin und veröffentlichte ein Buch über Life-Hacks. 2016 ließ sie sich mit ihrem Mann in Irland nieder. Die Diagnose Brustkrebs bekam sie im Mater Misericordiae Hospital in Dublins Norden, wo sie sich auch durch die Therapie kämpfte.

Für Pia und Manu

Ein Gesamtverzeichnis der lieferbaren Titel schicken wir Ihnen gerne zu. Bitte senden Sie eine E-Mail mit Ihrer Adresse an:

[email protected]

Sie finden uns auch im Internet unter: www.koehler-books.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-7822-1489-6 (E-Book)

© 2023 von Koehler im

Maximilian Verlag GmbH & Co. KGStadthausbrücke 4, 20355 Hamburg, DeutschlandEin Unternehmen der

Alle Rechte vorbehalten.

Illustrationen: Charlotte GötzeSatz: Marisa Tippe

Ute Engelmann · Annette Waschbüsch (Hrsg.)

DU MUSSTDEN DRACHENREITEN

Diagnose Krebs – Vom Leben in der Krise

INHALT

Ein Vorwort?

Hummer und Champagner

7 Abgründe und 7 Auswege

Immer jetzt

Dreimal „hier“ gerufen und noch eine Zugabe

Ich bin gerne Pippi Langstrumpf

Du findest deinen Weg

Mama hat einen Affenbrotbaum

Auf einem Bein durchs Leben stehn

Aperol Spritz

Hausbesetzung

Mein Herz sagt, alles wird gut

Die andere Welt

Pia

Es kommt, wie es kommt

Eiche und Bambus

Rendezvous mit einem Knilch

Besuch vom Tumorschwein

Glückskind

Von guten Mächten

Furchtlos, stark und stolz

Maskottchen Hase

Mein Plan

The Big Bang

Höher als ein Dreitausender

Fass mich nicht an

WTF – oder einfach eine Mutmachgeschichte

Achterbahn

Erntezeit

Krebs hat keine Zielgruppe

Davonleben

Danksagung

Autorinnen und Autoren

SEITENBLICKE

Selbsthilfe rund um die Uhr

Psychoonkologische Unterstützung

Wie erklären Sie sich das?

Hilfen für Familien mit Kindern

Wenn die Forderung nach positivem Denken uns vergiftet

Einige hilfreiche Tools aus der Psychoonkologie

Ekstase mit Zähneknirschen

Man darf nicht lockerlassen

Die lila Hüte

Ein Hörbuch für Jonas

EIN VORWORT?

Seit Tagen überlege ich hin und her: Wie schreibt man ein Vorwort zu einem Buch von 30 völlig unterschiedlichen Krebsbetroffenen? Ein Buch, über das mir als Erstes einfällt, was es alles nicht ist: kein Krebsratgeber, kein Buch über die Krise als Chance, keine Schrittfür-Schritt-Anleitung, wie man diese Krankheit besiegt. Ein Buch, das immer noch etwas mehr und etwas anderes ist, je länger ich darüber nachdenke.

Schließlich frage ich meine Freundin und Mitherausgeberin Ute um Rat. „Warum schreibst du nicht genau darüber“, sagt sie. „Es gibt so viele Wege, mit dieser Diagnose umzugehen. Ich finde, das ist der Kern unseres Buches.“

Sie hat recht. In unserem Buch geht es nicht um den richtigen Weg, um die einzige Formel oder das korrekte Schema. Es geht um 30 Leben und um diesen einen Satz, der mitten hineinkracht: „Es ist Krebs.“

Dreißig Erkrankte, ihre Kinder, Eltern oder Partner haben aufgeschrieben, wie sich ihr Leben mit der Diagnose anfühlt. Wie es ist, sich zu fragen: und jetzt? Sterben? Wann? Schmerzen, Unsicherheit, Angst. Aber auch: Ich will nicht sterben. Ich will leben!

Wir leben mit Krebs, und niemand hat uns gesagt, wie das geht. Und so nutzen wir alles, was wir haben, um damit fertig zu werden. Wir folgen erst mal unseren üblichen Bewältigungsstrategien, stecken den Kopf in den Sand oder wollen mit dem Kopf durch die Wand. Wir suchen uns psychoonkologische Hilfe, wir vertrauen unser Leben den Ärztinnen und Ärzten an, und manchmal forschen wir selbst detektivisch nach zur Diagnose, zu Studien und zu möglichen Behandlungsmethoden. Auch darum geht es in diesem Buch, in den „Seitenblicken“ zwischen den Geschichten.

Für andere sind wir oft die Schwachen. Die Verzweifelten mit der Glatze, die auf Hilfe angewiesen sind. Um uns muss man sich kümmern, man muss uns bedauern und uns gute Ratschläge geben.

Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Denn wir sind auch noch etwas anderes, und zwar jeden Tag ein bisschen mehr: Wir sind Expertinnen für existenzielle Krisen. Ob wir wollen oder nicht. Denn immer, auf unserem Weg zur Arbeit oder zur Chemo, beim Schulausflug der Kinder oder bei der Fahrt zum Supermarkt, geht es für uns um die ganz großen Lebensthemen. Kontrollverlust, Überlebenswille und Todesangst haben sich ins Zentrum unseres Alltags gedrängt.

Ein Onkologe sagte mal zu einer von uns: „Sie müssen den Drachen reiten.“ Das wollen wir alle nicht. Aber wir tun es trotzdem. Und wie wir das machen, möchten wir anderen zeigen. Weil wir alle in einer Welt leben, die große Fragen stellt, in Zeiten von Krieg, Klimakrise und unsicherer Zukunft.

Wir Autorinnen und Autoren dieses Buches wissen, wie es ist, den Drachen zu reiten, jeden Tag, ohne dabei komplett durchzudrehen. Und davon erzählen wir.

Annette Waschbüsch und Ute Engelmann

 

Als Herausgeberinnen

HUMMER UND CHAMPAGNER

Ute Engelmann

Brustkrebs-Erstdiagnose mit 46, mit 61 Knochenmetastasen

Es ist Sommer, die Balkontür ist offen, die Abendsonne taucht den Tisch in goldenes Licht. Wir trinken Schampus und essen Hummer. Mein Mann Lutz, Karin und Marie. Wir sind uns nah.

Ein paar Stunden zuvor war ich zum Termin bei Dr. Markus, einem Orthopäden. Wir wollten über die Einzelheiten einer Reha für meine Rückenschmerzen reden. Er hatte eine andere Idee: „Ich habe leider keine guten Nachrichten. Sie haben Knochenmetastasen.“ Bäm. Ich sagte: „Das habe ich mir schon gedacht.“ Hä? Nix hatte ich gedacht, hatte monatelang die Augen vor den Symptomen verschlossen. Und die Ohren auch.

Im Auto rief ich Lutz an: „Scheiße, ich hab Knochenmetastasen!“ Ich fuhr rechts ran, heulte. Dann kamen mein Trotz und der alte Kampfgeist. Ich rief noch mal meinen Mann an: „Ich möchte heute Abend Hummer essen und Champagner trinken. Und ich möchte meine Mädels um mich haben und dich. Ich hab keine Ahnung, wie lange ich jetzt noch lebe, dann fang ich mit Carpe diem gleich mal an. Ich will mir nicht das Leben von diesem Krebs bestimmen lassen.“

Wir lachen viel an diesem Abend. Ja. Ich habe Krebs und kann trotzdem lachen. Aber wir weinen auch. Ich bin unsicher, hab keinen Schimmer, wie es jetzt weitergeht. Ich will leben. Auf jeden Fall leben.

Meine Erstdiagnose Brustkrebs hatte ich 2005. Die Ärztinnen versicherten mir, dass Brustkrebs zu 95 Prozent heilbar sei. Behandlung nach den Leitlinien. OP, Tumor raus, Wächterlymphknoten waren frei. Es folgten sechs Zyklen Chemo alle drei Wochen immer am Freitag, mein Heilchemotag. Danach Bestrahlungen der Brust, die noch da war. Es ging mir ganz gut. Hatte durch die Chemo wenig Nebenwirkungen. Und wenn es welche gab, suchte ich, so schnell es ging, eine Lösung. Zum Beispiel versagte meine Peristaltik. Ich hatte tagelang keinen Stuhlgang, und als ich endlich konnte, dauerte es ewig und tat weh. Ich fand einen milchsauer vergorenen Sauerkrautsaft. Der half. Malaise festgestellt, Problemlösung gesucht, gefunden und abgehakt.

Ich war ein Jahr krankgeschrieben und genoss das auch irgendwie. Endlich hatte ich Zeit für mich. Mein Beruf war jetzt Patientin sein. Ich organisierte für mich eine Fußreflexzonenmassage, nutzte Imagination bei einer befreundeten Therapeutin. Sie führte mich behutsam durch meine Fantasie. Damals fand ich einen riesengroßen Gnomen, in dessen Hand ich sicher und behütet liegen konnte. Dadurch fühlte ich mich so sicher, dass ich tief im Inneren spürte: Alles wird gut.

Nach der Diagnose, aber vor den Therapien begann ich eine Coaching-Ausbildung. Ich hatte mich schon lange zuvor dafür angemeldet und wollte es auch durchziehen. Eine gute Entscheidung. Ich durfte mich zurückziehen, wenn es mir nicht gut ging. Das war ungewohnt für mich. Ich war sonst diejenige, die Adressenlisten erstellte, organisierte und immer alle im Blick hatte. Jetzt hatte ich die offizielle Erlaubnis, mich nur um mich selbst zu kümmern. Ich tastete mich da vorsichtig ran. Und es fühlte sich gut an.

Ich bat die anderen Teilnehmerinnen, mich als Lernende genau wie sie selbst zu betrachten. Auch wenn ich mit einer Glatze käme. Manche hat das überfordert. Sie suchten nie das Gespräch mit mir, tuschelten, wenn ich in die Nähe kam. Einige kritisierten mich. Sie fanden, dass ich die Gruppe belasten würde. Ich lernte, mich davon abzugrenzen. Nur auf mich zu achten. Anfangs fühlte sich das egoistisch an. Aber mit der Zeit ging das immer besser.

Nach zwei Rehas sortierte ich mein Leben neu, kündigte meinen Job, machte mich selbstständig und arbeitete von da an als Trainerin und Coach. Die Nachsorge stellte ich irgendwann ein. Es war ja nix. Jahre vor dem Champagner-Hummer-Abend bemerkte ich, dass neben der operierten Brust etwas wuchs. Eine kleine Delle, außen, eher am Busen als an der Brust. Ich fasste mir ein Herz und ging zum Radiologen. Zum selben, der den ersten Tumor entdeckt hatte. Ein MRT mit Kontrastmittel sollte Klarheit bringen. Ich musste es vorzeitig beenden. Herzrasen, Schweißausbruch, ich hyperventilierte. Auf dem Heimweg kreisten schon die Gedanken, wie ich das ein zweites Mal durchstehen sollte. Ich fuhr rechts ran und schlief 15 Minuten. Ich war fertig, mein Blutzucker im Keller. Ich schaffte es gerade noch zum Pommesstand. Ich stopfte mit zitternden Händen die heißen Pommes in mich rein. Mit viel Salz. Himmlisch. Das Zittern hörte auf.

Der Radiologe rief an, er habe genug gesehen, nichts gefunden. Ich bräuchte nicht noch mal ins MRT. Ich war so glücklich. Was ich mir nicht klarmachte: Im MRT konnte die Delle gar nicht zu sehen sein. Sie lag außerhalb der Brust, daneben. Ich wollte erleichtert sein. Damals schon meldete sich mein Unterbewusstsein mit einer winzigen Stimme – die ich mühelos überhörte. Ich kniff. Immer mal wieder fiel mir auf, dass das Teil langsam größer wurde. Mein Unterbewusstsein wurde lauter. Unter der Dusche hielt ich ein Zwiegespräch mit meinem Inneren: Lass das untersuchen! Nein! Und wenn was ist? Dann ist das so, und ich werde sterben. Ich halte das nicht noch mal aus.

Mit der ersten Diagnose war bei mir Schuppenflechte ausgebrochen. Mehr oder weniger hatte ich das über die Jahre im Griff gehabt. Doch im April 2020 gab es einen massiven Ausbruch. Ich hatte kaum eine Stelle am Körper ohne Flechten, offene Fersen, die Kopfhaut übersät, und es juckte überall. Dann kamen die Rückenschmerzen. Physiotherapie half nicht. Die Schmerzen wurden schlimmer. Wenn ich nachts aufs Klo musste, tat es so weh, dass ich nicht aufrecht gehen konnte. Ich musste mich an der Wand entlangtasten. Ich gönnte mir Osteopathie. Brach mir in dieser Zeit eine Rippe, unbemerkt. Noch mehr Schmerzen. Ein Orthopäde röntgte. Nichts zu sehen. Natürlich war ich erleichtert und signalisierte nach innen: „Wusst ich’s doch, alles okay.“ Vielleicht ein Bandscheibenvorfall.

Ich konnte kaum mit dem Hund raus, ein paar Schritte, und schon wieder tat alles weh. War zweimal beim Orthopäden, der mich einrenkte. Es half nicht. Termin im Rückenzentrum. Um keinen pathologischen Bruch zu übersehen, schickte man mich zum MRT. Das überstand ich diesmal, weil ich mich stur aufs Atmen konzentrierte und zählte. Einen Tag später spricht es Dr. Markus endlich aus. Ich habe wieder Krebs, nun mit Knochenmetastasen. Ich habe eine Diagnose. Und was für eine.

In diesem Moment beginne ich, meine Augen wieder zu öffnen. Ich werde aktiv. Starte die Überlebensphase. Die ratlose, kneifende, ängstliche und realitätsverweigernde Ute kann abgeben an die aktive, lebensbejahende, selbstfürsorgliche Ute. Es fühlt sich wie eine Wiederauferstehung an.

Warum habe ich so lange gewartet? Wovor hatte ich solche Angst? Ich wollte nicht krank sein. Ich krümmte mich innerlich bei der Vorstellung, ich könnte Metastasen haben. Bei der Erstdiagnose war ich so erleichtert gewesen, dass mein Krebs heilbar war. Unendlich froh, keine Metastasen zu haben. Genau das hatte mich damals aufrecht gehalten, grenzte mich ab zu den armen Frauen mit Metastasen. Ich hatte Glück im Unglück. Und jetzt sollte ich eine dieser Bemitleidenswerten werden? Niemals. Ich wollte einfach leben, mich nicht mit Krankheit befassen, nicht mit dem Tod, Leiden, Siechtum, dem Mitleid in den Augen meiner Freunde. Davor fürchtete ich mich am meisten. Diese Blicke, die Erleichterung der anderen, selbst nicht betroffen zu sein, der Schreck, die Distanz.

Jetzt werde ich wieder lebendig, unternehme etwas, kümmere mich. Und noch etwas passiert nach der Diagnosestellung: Ich habe keine Schmerzen mehr. Abgestellt. Bereits zwei Tage nach der Verkündung habe ich einen Termin bei einem Onkologen. Beginne, mich wieder einzulesen in Behandlungsmethoden, Ernährung, Therapieoptionen, melde mich bei einem sehr hilfreichen Forum an. Starte mit gesunder Ernährung, esse viel Gemüse, Obst, koche viel selbst. Ich achte auf gute Fette, meide konsequent Fast Food. Ich bin beschäftigt. Ich brauche diese radikale Änderung. Nach vier Wochen ist die Schuppenflechte komplett symptomfrei.

Das Rezidiv und die Knochenmetastasen werden unter Vollnarkose biopsiert. Zwischen Biopsie und Ergebnis gönne ich mir zehn Tage Auszeit auf Sylt, mit Mann und Hund. Ich kann diese Tage genießen, lebe leicht. Es ist für mich so befreiend, wieder durchatmen zu können, wieder aktiv zu sein. Resultat der Biopsien: alles vom selben ursprünglichen Tumor, stark hormonpositiv. Das nennt man Glück im Unglück. Weil das gut behandelbar ist.

Ich starte Ende August 2020 mit den Medikamenten: ein Aromatasehemmer, ein CDK4/6-Hemmer und ein Antikörper für die Knochenmetastasen. Ich suche mir Unterstützung für meine Mikronährstoffe. Im Januar wird mittels Kontroll-CT geschaut, ob die Medikamente tun, was sie sollen. Mir geht der Arsch auf Grundeis. Ich bin fahrig, vergesse Termine. Stehe plötzlich im Schlafzimmer und weiß nicht mehr, was ich hier will. Ich entdecke Malen nach Zahlen wieder, vergesse dabei die Zeit und alles andere auch. Die Forumsfrauen warnen mich vor, es dauere seine Zeit, bis meine Therapie anspräche. Doch die Onkologin strahlt mich an. Das Rezidiv neben der Brust, das ich so lange ignoriert habe, ist verschwunden. Nach sechs Monaten ist nur noch Narbengewebe da. Knochenmetastasen beginnen zu sklerosieren, was sie auch sollen. Es folgen vier weitere CTs, und bis heute ist alles stabil.

Noch ist nix mit Siechtum und Tod. Ich lebe überraschend gut. Ich lauf auf dünnem Eis und mach mich leicht. Manchmal kracht es im Eis, und ich weiß nicht, ob es mich noch hält. Aber stehen bleiben geht nicht, Gewicht gut verteilen, damit die Eisdecke nicht bricht. Mein Mann ist immer an meiner Seite. Egal welche verrückte Idee ich habe, er geht mit. Manchmal fliehe ich alleine für ein paar Tage an die See und komme zur Ruhe. Sitze stundenlang am Strand und denke gar nichts. Entspanne mich, genieße den Wind, höre auf die Wellen.

Ich habe keine Ahnung, wie lange das so gut geht. Manchmal kommen düstere Gedanken hoch. Doch das passiert nicht häufig. Es gibt sogar Zeiten, da vergesse ich, dass ich Krebs habe. Auch, weil ich kaum Nebenwirkungen der Medikamente habe. Okay, die Gelenke stöhnen manchmal, vor allem wenn ich lange sitze. Dann fühle ich mich 80 Jahre alt und vollkommen steif. Ein paar Schritte und es geht wieder. Ich horche ab und an nach innen. Da ist aber Ruhe.

Kontrolltermine kann ich inzwischen gut ertragen, ich habe gelernt zu warten. Zu warten und nicht zu wissen, ob es stabil bleibt oder nicht. Mich abzulenken. Auf dünnem Eis laufen und leicht machen. Wenn der Besprechungstermin zum Befundergebnis des Kontroll-CTs ansteht, gucke ich hochgradig alarmiert in das Gesicht der Ärztin. Bisher hat sie jedes Mal gelächelt. Wie wunderbar. Wieder ein halbes Jahr normales Leben. Bis zum nächsten CT-Termin in sechs Monaten. Aber abends gibt’s erst mal Hummer und Champagner.◼

7 ABGRÜNDE UND 7 AUSWEGE

Jasmin Karoline Knuppinski

Alter bei Brustkrebs-Erstdiagnose: 33

Abgrund Nummer eins: Diagnose Brustkrebs. „War’s das jetzt?“, schoss es mir durch den Kopf. „Frau Knuppinski, es ist ein Mammakarzinom“, sagte meine Gynäkologin. „Verstehen Sie, was ich Ihnen sage? Sie müssen sich in einem Brustzentrum vorstellen, am besten noch heute.“

Meine Augen brannten. Ich konnte kaum atmen. „Also, muss ich sterben?“ Mir war, als würde ich fallen. Tief fallen. Einen endlosen Abhang hinunter. Ich musste mich verhört haben. Ich war doch erst 33 Jahre alt. Krebs gibt es nicht in unserer Familie, das bekommen doch ältere Leute, ich war doch wegen meines Kinderwunschs hier. Warum jetzt Krebs?

Die Ärztin unterbrach meine Gedanken: „Frau Knuppinski“, sagte sie. „Sie müssen im Brustzentrum unbedingt ihren Kinderwunsch ansprechen. Eventuell versetzt man Sie in die künstliche Menopause. Das schießt Sie von jetzt auf gleich in die Wechseljahre, aber es kann helfen, Ihre Eierstöcke zu schützen.“ Sie reichte mir einen Überweisungsschein, während sie weiter auf mich einredete. „Für eine Kinderwunsch-Sprechstunde. Überlegen Sie sich, wie wichtig Ihnen eigene Kinder sind. Die Therapie kann Ihre Fruchtbarkeit zerstören. Vielleicht müssen die Eierstöcke entfernt werden.“ Ich hörte nur noch halb zu. Ich sei noch jung, der Tumor sei sehr aggressiv, sie redete von einem BRCA-Gen, von Tumorbiologie und Chemotherapie. Die Worte prasselten auf mich ein. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie mein Mann Johannes Notizen machte. Er hatte in den Funktionsmodus geschaltet. Ich starrte vor mich hin.

Seit ich die harte, stecknadelgroße Stelle zum ersten Mal in meiner rechten Brust ertastet hatte, war da dieses schlechte Gefühl. Zwar hatte ich mir die Hoffnung erlaubt, dass ich mich irrte. Doch es ließ sich irgendwann nicht mehr leugnen, dass da etwas war. Und nun, mit dem Ergebnis der Stanzbiopsie, gab es keinen Platz mehr für Hoffnung. Es war Brustkrebs, und ich musste mich der Sache stellen, ob ich wollte oder nicht. Ich umklammerte Johannes’ Hand. Benommen und ängstlich verließen wir die Praxis. Ich hing am Arm meines Mannes und taumelte. Aus den losen Zetteln, die er im Sprechzimmer der Ärztin mit Notizen gefüllt hatte, sollte später ein dicker Aktenordner prall gefüllt mit Unterlagen werden. Aber noch standen wir ganz am Anfang.

Ausweg Nummer eins: Kämpfen! Am besten nicht allein. Ich sah Johannes an, als wir am Auto ankamen. „Hat sie echt gesagt, dass ich Krebs habe? Ich will nicht sterben.“ Er schüttelte den Kopf: „Das wirst du nicht. Wir fahren jetzt erst mal heim. Dann machen wir einen Termin im Brustzentrum. Und dann sehen wir weiter.“ Da wusste ich, dass ich nicht allein gefallen war und dass es einen Plan gab. Das beruhigte mich. Ich hatte jetzt viele Termine, da konnte ich nicht einfach sterben. Ich beschloss, nicht kampflos aufzugeben. Ich wollte leben.

Abgrund Nummer zwei: ade Kinderwunsch. „Kommen Sie bitte?“ Wir folgten Dr. Brandt in ihr stilvoll eingerichtetes Behand-lungszimmer. Die junge Ärztin im Kinderwunschzentrum sollte uns erklären, wie die Chancen auf eine Schwangerschaft nach einer Brustkrebstherapie standen. Mir kam es absurd vor, mich jetzt über meine Zukunft zu unterhalten. „Macht das alles denn überhaupt Sinn?“, fragte ich. „Soll ich ein Kind in die Welt setzen, das dann vielleicht als Halbwaise aufwachsen muss?“ Das könne mir niemand beantworten, sagte Dr. Brandt. Aber die Heilungschancen bei Brustkrebs stünden mittlerweile gut. Sie lächelte mit traurigem Blick, überreichte uns einige Broschüren und begann, verschiedene Möglichkeiten aufzuzählen.

Es gebe, sagte sie, eine Spritze, die die Hirnanhangsdrüse so manipuliere, dass die Eierstöcke ihre Aktivität herunterfahren und vermutlich nicht so stark von der Chemotherapie geschädigt würden. Diese Option zahle die Krankenkasse, allerdings sei der Nutzen umstritten. Besser sei es, Eizellen einzufrieren. Am besten befruchtete, da diese stabiler seien. Zur Sicherheit könne man auch ein paar unbefruchtete Eizellen mit einfrieren für den Fall, dass die Beziehung zu meinem Mann die Therapie nicht überstehen sollte. Entschuldigend blickte sie in Johannes’ Richtung. Man müsse jedenfalls umgehend mit einer Hormonstimulation starten, um vor Beginn der Chemo möglichst viele Eizellen ernten zu können. Hormonstimulation. Mein Instinkt riet mir von dieser Methode ab. Ich hatte gelesen, dass viele Tumore abhängig von Geschlechtshormonen wachsen. Würde ich damit dem Krebs nicht unfreiwillig helfen? Auch müssten die Eizellen unter Vollnarkose entnommen werden. Routine, sagte Dr. Brandt. Aber noch eine Operation? Abgesehen davon gab es ein weiteres Problem: Woher sollten wir das Geld nehmen? Es würde ein vierstelliger Betrag an Selbstbeteiligung anfallen. „Wie ungerecht“, dachte ich. „Die aussichtsreichsten Methoden sind für Menschen, die Geld haben.“

„Es gibt noch eine dritte Methode.“ Dr. Brandt riss mich aus meinen Gedanken. „Man entnimmt operativ Eierstockgewebe, friert es ein und transplantiert es nach den Therapien wieder zurück. Mit Glück wächst es an. Es hat dann die Therapien nicht miterlebt und ist deshalb auch nicht geschädigt.“ Dr. Brandt gab sich alle Mühe, aber ich hatte bei keiner der Alternativen ein gutes Gefühl. Ich sah Johannes an, dann die Ärztin: „Was passiert, wenn wir gar nichts machen?“ „Die Chancen, dass Sie dann noch auf natürlichem Wege schwanger werden können, sind nicht null, aber deutlich reduziert.“

Wieder war ich im freien Fall. Endlich hatte ich mich bereit für eigene Kinder gefühlt, und jetzt war alles nur noch eine geplatzte Seifenblase. Der Krebs griff nicht nur in mein jetziges Leben ein, sondern auch in meine Zukunftspläne und, für mich am schlimmsten zu ertragen, auch in die meines Mannes.

Ausweg Nummer zwei: auf den Instinkt vertrauen. Wir beschlossen, so schnell wie möglich mit den Therapien zu starten. Keine Verzögerung – denn der Tumor wuchs aggressiv. Ihn zu bekämpfen, hatte höchste Priorität. Sollte das Schicksal Kinder für Johannes und mich vorgesehen haben, würde sich dieser Wunsch irgendwie erfüllen, da war ich sicher. „Mir ist wichtig, dass du lebst“, sagte er. „Das hat jetzt Vorrang vor allem anderen!“

Abgrund Nummer drei: Tumore in beiden Brüsten. Ich musste zum MRT und kurz darauf ins Brustzentrum zur Befundbesprechung. Das Wartezimmer war voll. Viele der Frauen hier waren schon mitten in der Therapie. Sie trugen Perücken, Haarbänder, Mützen und Tücher. Meine Ärztin war hochschwanger. Na toll. Sie setzte sich hinter den Schreibtisch, und ich sah auf ihre Brüste. „Wie ironisch, sie trägt Leben in sich, ich den Tod“, dachte ich. „Moment“, sagte sie und schaute auf ihren Monitor. „Ah, okay. Also hier steht, rechts sind es vier Tumorherde und links vermutlich zwei, also insgesamt sechs in beiden Brüsten.“ Ich erstarrte. Sechs. Hatte sie gerade sechs gesagt? Es war doch bislang nur die Rede von einem Tumor. Die Tränen schossen mir in die Augen.

Ich hatte das Gefühl zu ersticken. Waren die anderen Tumore in der kurzen Zeit seit der Diagnose entstanden? Wie aggressiv ist dieser scheiß Krebs? Die Tür ging auf, und die Oberärztin betrat den Raum. Sie lächelte mich an und strahlte eine unglaubliche Ruhe aus. Ich atmete tief ein. „Wenn ich es richtig lese, sind es insgesamt sechs Tumorherde. Also beidseitige Mastektomie, oder?“, fragte die schwangere Ärztin. „Ja. In jedem Fall“, sagte die Oberärztin. Mir wurde schwindelig. Ich fiel noch weiter den Abhang hinunter.

Ausweg Nummer drei: aktive Patientin sein. Später im Gespräch erfuhr ich, dass ein plastischer Aufbau erfolgen würde. Ich las mich schnell und intensiv ins Thema ein, hörte mich um. Gelächter, als ich den Mitarbeiter meiner Krankenkasse am Telefon nach einem „Kassengestell“ fragte. Mit der Oberärztin spielte ich alle möglichen Wege durch, und ich konnte aktiv mitentscheiden. Trotzdem war es schwer. Nach Ende meiner Chemotherapien schob man mich in den OP. Glatzköpfig, ohne Wimpern, ohne Augenbrauen, aufgeschwemmt vom Kortison und gleichzeitig abgemagert von der Chemo. Ich musste mich hinlegen und die Arme abwinkeln. Einmal sah ich noch an mir herunter, auf meine Brüste. Eine Träne lief mir über die Wange. Die Schwester sah es, streichelte mir übers Gesicht, und dann schlief ich ein.

Ich vermisse meine ursprüngliche Brust. Es ist nicht dasselbe wie früher, und das ist schwer zu akzeptieren. Selbst einen schönen BH zu finden, der nicht nach beigefarbenem Sanitätshausmodell aussieht, ist plötzlich frustrierend langwierig. Aber ich habe gelernt, meine großen Narben zu pflegen, und habe mir mit Physiotherapie meine Beweglichkeit zurückerobert. Und letztendlich habe ich meinen Frieden mit meinem neuen Körperbild gemacht.

Abgrund Nummer vier: ein Fleck in der Lunge – unheilbar krank? Eine Ärztin betrat das Krankenzimmer. Ich solle mitkommen. Etwas stimmte nicht, das sah ich ihr an. „Viel Glück!“, rief mir meine Zimmernachbarin hinterher, als ich mich hinausschleppte. Auch sie hatte die ernste Miene der Ärztin bemerkt. Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten. Die letzten zwölf Stunden hatte ich mit dem Kopf über einem Eimer verbracht. Noch immer war mir übel von der Vollnarkose, und ich hatte Schmerzen. Man hatte mir Lymphknoten entnommen und einen Dauer-Venenzugang für die Chemotherapie am Schlüsselbein implantiert. Um festzustellen, ob mein Krebs bereits gestreut hatte, war ich außerdem gründlich durchleuchtet worden: CT, Knochenszintigrafie, Brust-MRT. Ich wusste, dass es für die Überlebenswahrscheinlichkeit einen enormen Unterschied machte, ob es Metastasen gab oder nicht. Lag die Heilungschance ohne Metastasen bei 80 bis 90 Prozent, sank sie dagegen rapide, sobald der Tumor gestreut hatte.

Als ich es mit der Ärztin ins Sprechzimmer geschafft hatte, schlug mir das Herz bis zum Hals. Was hatten sie gefunden? „Im CT ist ein Fleck auf der Lunge zu sehen“, sagte sie ruhig. „Der Fleck ist metastasensuspekt. Wir müssen das abklären.“ Eine Lungenmetastase. Wieder fühlte ich den Boden unter mir wegbrechen. „Eine einzelne Metastase ist noch nicht so tragisch“, hörte ich die Ärztin sagen. Sie wollte mich trösten. „Es gibt schlimmere Befunde. Wir haben immer noch Optionen.“

Ausweg Nummer vier: Warten aushalten lernen. Später kam der Befund der Lymphknotenuntersuchung. Man hatte keine Tumorzellen gefunden. Es war damit sehr unwahrscheinlich, dass der Fleck eine Metastase war. Die meisten Tumorzellen wandern über das Lymphsystem. Nur wenige über das Blut. Mir fiel eine schwere Last vom Herzen. Ich fiel meiner Ärztin in die Arme. Wir schluchzten beide vor Freude. Es würde noch viele solcher Situationen geben. Unerträglich lange Stunden und Tage des Wartens, mit den Nerven am Ende, das ganze Leben hängt ab von nur einem Befund. Aber dennoch: Diese Zeit ist Lebenszeit. Und wenn mir der Krebs eines gezeigt hat, dann dass Lebenszeit nicht selbstverständlich ist. Ich lernte, im Moment zu leben, nicht in den Ängsten von morgen. Achtsamkeitsübungen und Yoga halfen mir dabei. Und so schaffte ich es mit der Zeit immer besser, das Warten Stück für Stück mit Leben zu füllen – und sogar mit schönen Momenten.

Abgrund Nummer fünf: ade Job, hallo Geldnot. Seit meiner Diagnose war ich krankgeschrieben. Der Krebs und die anstrengenden Therapien hatten meinen Alltag übernommen. Ich war im Überlebensmodus. Eines Tages, kurz nach meiner zweiten Chemo, überkam mich dennoch ein seltsames Pflichtgefühl. Ich öffnete mein E-Mail-Programm und fand eine Nachricht meiner Chefin. Sie machte mir Vorwürfe. Was mit dem befristeten Anschlussvertrag sei, die Frist sei abgelaufen, noch eine Deadline, denk an das Team. Die Buchstaben auf dem Bildschirm verschwammen. Mir wurde schwindelig, übel, und ich konnte mein Herz pochen hören. „Was ist los?“, fragte Johannes erschrocken. Ich zeigte auf die E-Mail. Er las sie und atmete tief durch. „Ruh dich aus“, sagte er dann ruhig und ernst. „Du bist krankgeschrieben. Du musst der Frau nicht antworten. Das ist unnötiger Stress. Was soll diese Drängelei? Sechs Monate? Da bist du noch nicht mal mit der Therapie durch. Sie weiß, dass du Krebs hast. Du hattest vor sechs Tagen deine letzte Chemo. Du legst dich jetzt hin!“ Ich war zu müde, um zu widersprechen, und irgendwie wusste ich auch, dass er recht hat. Ich ging offline.

Dennoch kreisten mir Gedanken durch den Kopf. Nun verliere ich auch noch meinen Job. Wie sollen wir uns das leisten? Wieder brach der Boden unter mir weg. Ich liebte meine Arbeit. In ihr hatte ich auch Halt gefunden nach der Diagnose. Nun also waren meine Tage gezählt. Krebskrank, glatzköpfig, vermutlich unfruchtbar, schwerbehindert – und bald auch noch arbeitslos. All das innerhalb von vier Wochen. Konnte es schlimmer werden?

Ausweg Nummer fünf: Trennung von dem, was nicht guttut. Auch später hielt sich die Hilfsbereitschaft meiner Chefin in deutlichen Grenzen. Ich lehnte ihr Vertragsangebot ab.

Ein Kündigungsschutz, wie ihn die meisten in meiner Situation gehabt hätten – Krebskranke genießen in Deutschland Schwerbehindertenstatus –, galt nicht für mich. Ich hatte einen befristeten Arbeitsvertrag gehabt, und der wurde nicht verlängert. Natürlich war es schwierig, ohne Arbeit über ein Jahr allein mit dem Krankengeld und später dann mit Arbeitslosengeld zu überbrücken. Ich musste mich verschulden. Mittlerweile, fünf Jahre später, habe ich meine Schulden beglichen, ich habe einen neuen Job, der mich unfassbar glücklich macht. Ich werde gefördert, die neue Arbeit tut mir gut, und für meine Karriere war der Wechsel sogar hilfreich.

Der Krebs enthüllt auf wundersame Weise den wahren Charakter eines Menschen. Im Lauf der Zeit trennte ich mich von Personen, die mir zeigten, dass ich ihnen egal war. Als ich meiner Freundin Manja von meiner Diagnose erzählte, sagte sie, es sei schon alles nicht so schlimm. Danach war Funkstille. Erst als man bei ihrer Mutter etwas Suspektes im Unterleib gefunden hatte, meldete sie sich wieder bei mir und bat um Hilfe.

Ein Bekannter riet mir strikt von herkömmlichen Therapien ab, überschüttete mich ungefragt mit Ratschlägen zu obskuren Diäten und Fastenkuren und referierte darüber, wie ein unerfüllter Kinderwunsch und nicht gelebtes Frausein angeblich Brustkrebs auslösen könnten. Seiner Ansicht nach war ich also offenbar selbst schuld an meiner Misere, schließlich war ich nicht früh genug schwanger geworden.

Andere waren schlichtweg überfordert. Ich merkte ihnen an, dass ihnen der Kontakt nicht leichtfiel. Es tat weh. Doch sah ich auch, wer meine echten Vertrauten sind, Menschen, die sich nicht abwenden, wenn es schwierig wird. Und ich habe auch Beziehungen zu anderen Betroffenen aufgebaut. Was wir erlebt haben, schafft eine Verbindung, die selten zu finden ist.

Abgrund Nummer sechs: Genmutationsträgerin. Es war nur ein einfacher Bluttest, der mir kaum Angst gemacht hatte. Sie wollten mein Erbgut nach Mutationen durchsuchen, die Krebs begünstigen – eine reine Vorsichtsmaßnahme, weil ich jünger als 35 Jahre gewesen war, als ich Krebs bekam. Brustkrebs hatte in meiner Familie noch nie jemand gehabt. Eigentlich kein Grund zur Sorge. Routine.

Als der Humangenetiker mir die Ergebnisse der Tests präsentierte, trafen mich seine Worte wie ein Blitz. „Sie haben eine sehr seltene Genmutation“, sagte er, „die Li-Fraumeni-Mutation. Das bedeutet, sie haben nicht nur ein erhöhtes Risiko für Brust- und Eierstockkrebs, sondern für alle Krebsarten, auch seltene und sehr gefährliche.“ Mir verschwamm der Blick, als er fortfuhr. „Die Mutation ist in allen Körperzellen. Also kann der Krebs in allen Körperzellen auftreten. Möglicherweise muss die Chemotherapie geändert werden, weil der Krebs durch die Mutation resistent sein könnte. Eventuell müssen die Eierstöcke präventiv entfernt werden.“

Ich ertrank in den Worten. Verzweifelt versuchte ich, nach einem Rettungsring zu greifen. „Aber es kann auch sein, dass ich nur noch mal Darmkrebs oder so bekomme und dann Ruhe habe?“ Der Mann begann, mir allerhand Krebsarten aufzuzählen, darunter sehr aggressive Sarkome, für die ebenfalls ein hohes Risiko bestünde. Ich setzte noch mal anders an: „Aber es ist nur ein erhöhtes Risiko. Es muss nicht so sein, oder?“ Er lächelte belehrend und schaute mich an, als sei ich ein wenig naiv. Ich bohrte weiter: „Aber in meiner Familie gibt es kaum Krebsfälle und schon gar keine schweren.“ Es musste einfach alles ein großes Missverständnis sein. Möglicherweise sei die Mutation bei mir neu aufgetreten, sagte er. Ich müsse nun entscheiden, ob ich meine Familie informieren wolle.

An diesem Tag dachte ich zum ersten Mal, dass der ganze Scheiß ja doch nichts bringt. Dass ich aufgeben sollte. Warum noch kämpfen, wenn ich dazu verdammt wäre, immer wieder Krebs zu bekommen? Kämpfen, bis der Krebs eines Tages siegt? Ich begann, mich vor meinem eigenen Körper zu fürchten. Ich war verstört und ängstlich, aber um mich wirklich aufzuregen, fehlte mir die Kraft. Die drei vorangegangenen Chemo- und Antikörperzyklen hatten mich maßlos erschöpft. Ich fühlte mich zum ersten Mal in meinem Leben leer und hoffnungslos.

Ausweg Nummer sechs: Suche nach kompetenten Personen. Nachdem ich geschlafen hatte, packte mich erneut der Überlebenswille. Ich war fest entschlossen, wieder selbst die Führung zu übernehmen. Die Li-Fraumeni-Mutation ist äußerst selten, vielleicht war der Humangenetiker einfach überfordert und kannte sich nicht aus, dachte ich. Ich beschloss, Informationen zu sammeln und rief bei einem Selbsthilfenetzwerk an, das auf familiäre Krebserkrankungen spezialisiert ist. Die Frau am Telefon hörte ruhig zu. Sie kannte sich aus und machte mir Mut. Eine Genmutation, sagte sie, sei kein Todesurteil.

Im Lauf der Zeit lösten sich viele meiner Befürchtungen in Luft auf. Ich beendete meine Chemotherapie, und sie war trotz Mutation sehr wirkungsvoll. Auch meine Eierstöcke musste ich nicht opfern. Die Schreckensbilder, die mein erster Humangenetiker an die Wand gemalt hatte, bewahrheiteten sich nicht. Ich suchte mir erfahrene Fachleute und fühle mich bis heute von ihnen bestens betreut.

Manchmal ist die Art, wie man Dinge gesagt bekommt, ebenso entscheidend wie die Dinge selbst. Sie kann den Unterschied ausmachen zwischen Mut und Kampfwillen – oder Hoffnungslosigkeit und Selbstaufgabe. Heute empfehle ich allen, bei Unklarheiten eine Zweitmeinung einzuholen, sich Spezialistinnen und Spezialisten zu suchen. Ich habe gelernt, dass die Menschen mit den vermeintlich genauesten Prognosen nicht unbedingt die mit der größten Expertise sind. Krebs ist unberechenbar. Das macht ihn so tückisch. Aber es lässt auch Raum für Hoffnung.

Abgrund Nummer sieben: was die Therapie übrig ließ. Die alte, traurige, dicke Frau? Ich hatte es geschafft. Anderthalb Jahre Therapie, Chemo, beidseitige Mastektomie, Antikörperinfusionen, dazu noch ein zusätzliches, neuartiges Medikament, das mir einen weiteren minimalen Überlebensvorteil bringen sollte. Nur noch eine Tablette täglich für die nächsten zehn Jahre, das war’s. Und eines Tages verkündete man mir, dass keine Tumorzellen mehr im Brustgewebe nachgewiesen werden konnten. Ich war offiziell in Remission.

Der Tag, an dem ich das erfuhr, war einer der schönsten in meinem Leben. Mein zweiter Geburtstag. Mein Kopf war voller Pläne. So viele Dinge, die ich jetzt wieder anpacken könnte, dachte ich. Endlich wollte ich mein Dasein wieder mit Leben füllen, dem Krebs davontanzen. Doch es sollte sich herausstellen, dass das alles nicht so einfach war wie gedacht.

Kurz nach dem Start der Antihormontherapie war ich plötzlich nicht mehr dieselbe. Fast über Nacht schien ich uralt geworden zu sein. Ich hatte Gelenkschmerzen, meine Hüfte war steif, ich litt unter Migräne, ständig wurde mir schwindelig. Ich schlief schlecht, dauernd war mir übel. Ich nahm zu, denn mein Sättigungsgefühl war auf einmal weg. Meine Haut machte Probleme. Auch emotional verlor ich die Balance. Meine Stimmung kippte manchmal innerhalb von Sekunden. Und oft konnte ich mich zu nichts aufraffen, ich war schnell erschöpft, fühlte mich überfordert. Wenn ich in den Spiegel schaute, erkannte ich mich nicht mehr. Wer war diese alte, traurige, dicke Frau? Ich schämte mich. Was musste ich für eine Belastung für alle anderen sein? Wie sollte ich in dieser Verfassung den beruflichen Neustart schaffen? Überhaupt irgendetwas schaffen?

„Du siehst schon wieder viel gesünder aus“, hörte ich oft, wenn ich auf Bekannte traf. Was sicher gut gemeint war, löste in mir unglaubliche Schuldgefühle aus. Die Haare sind dünner, die Augenbrauen nur spärlich nachgewachsen und die Wimpern kaum der Rede wert – aber „Du bist doch jetzt gesund, oder?“ Für Außenstehende ist das sicher schwer nachzuvollziehen. Aber ich bin eben nicht wieder gesund. Ich bin krebsfrei und in Remission. Gesund bin ich erst fünf Jahre nach den Akuttherapien. Und ich bin fest davon überzeugt, dass man diesen Zeitraum auch braucht, um wieder auf die Beine zu kommen.

Ausweg Nummer sieben: die Wellen surfen, wie sie kommen. Die Zeit nach dem Ende der Akuttherapie stellte mich vor ganz eigene Herausforderungen. Irgendwie sollte ich zurück ins Leben finden. Gleichzeitig musste ich weiter Medikamente nehmen, deren Nebenwirkungen genau dies verhinderten. Früher war ich leistungsfähig und belastbar gewesen, hatte immer alles im Griff. Es war schwierig zu akzeptieren, dass nun vieles langsamer ging, dass nicht mehr alles parallel funktionierte, dass Dinge liegen bleiben mussten und dass es Tage gab, an denen ich mich einfach furchtbar fühlte. Ich musste einen Ausweg finden, die Kontrolle zurückerlangen. Es ist schließlich mein Leben!

Und so begann ich, mich selbst zu beobachten. Ich führte Tagebuch, füllte Excel-Tabellen mit Ereignissen und versuchte so, Zusammenhänge zu erkennen. So hatte ich nachts oft starke Hitzewallungen. Ich musste mich dann komplett umziehen, mehrmals pro Nacht. Am nächsten Tag fühlte ich mich wie gerädert, und die Müdigkeit verschlimmerte die Nebenwirkungen der Medikamente. Ich fand heraus, dass diese Hitzewallungen vor allem dann kamen, wenn ich abends Kohlenhydrate gegessen hatte. Die ließ ich nun weg.

Auch merkte ich, wie hilfreich Sport für mich war, denn durch die Bewegung setzte der Körper Glückshormone frei. Um den erlösenden Effekt zu erreichen, mussten es allerdings mindestens 30 Minuten sein – was hart war, wenn ich es gerade ohnehin kaum schaffte, mich zu irgendetwas aufzuraffen. Ich zwang mich – jeden Tag aufs Neue. Ich brachte meine schmerzenden Glieder durch Bewegungen so lange in Schwung, bis ich merkte, wie mich ein Glücksgefühl überkam und der dunkle Vorhang im Kopf verschwand. Ich lernte, wie wichtig regelmäßige Pausen sind. Ich lernte zu delegieren.

Es gibt sie, diese Tage ohne Gelenkschmerzen. Tage, an denen ich mich nicht aus dem Bett hieven muss und dann erst einmal die Hüftgelenke durch Bewegung aufwärmen muss. Tage, an denen ich mich konzentrieren kann und mich sogar richtig gut fühle. Tage, an denen ich überhaupt etwas fühle. Diese Tage feiere ich. Die schlechten Tage akzeptiere ich als Teil der Lebenszeit, die ich durch die Behandlung erkaufe. Ich weiß, dass alle Dinge endlich sind, auch die schlechten. Am Morgen weiß ich nie, ob mich ein guter oder schlechter Tag erwartet. Es ist wie beim Surfen: Ich muss die Wellen surfen, wie sie kommen.

Ich bin gelassener und nachsichtiger geworden. Mit anderen, aber vor allem mit mir selbst. Diese Frau dort im Spiegel, sie fühlt sich nicht mehr immer alt. Der dicke Wechseljahresbauch ist dank regelmäßigem Sport Vergangenheit. Auch ist sie immer seltener traurig. Sie weiß, dass sie kämpfen kann. Und sie hat den unbedingten Willen, sich ihr Leben zurückzuholen.◼

IMMER JETZT

Bettina

Erstdiagnose mit 47: Brustkrebs mit Knochenmetastasen

„Wie kannst du damit leben?“ Als meine Freundin Meike mich das fragte, im Mai 2022, saßen wir bei schönstem Wetter in Heidelberg auf ihrem Balkon und aßen Erdbeertörtchen. Ich wusste darauf keine Antwort. Diese Frage stelle ich mir selbst manchmal.

Im Herbst 2021 war mein Leben noch in ruhigen Bahnen verlaufen. Ich arbeitete seit 20 Jahren als Lehrerin, war seit Längerem zufriedener Single und besaß ein Pferd, einen etwas unberechenbaren Haflinger namens Aurelius, der einen großen Teil meiner Freizeit beanspruchte. Das einzige Störende waren meine Rückenprobleme, mit denen ich schon seit einer Weile zu kämpfen hatte – vermutlich durch das viele Sitzen während des Distanzunterrichts in der Corona-Zeit. Weshalb ich in meinem ohnehin schon vollen Tagesplan noch manuelle Therapie und Rückentraining unterbrachte. Als ein Vorsorgetermin bei meiner Gynäkologin anstand, schmerzten auch meine Hüften. Oder war es doch eine Leistenzerrung?

Das Ergebnis der Untersuchung kam völlig unerwartet: In meiner linken Brust war am äußeren oberen Rand ein Knoten tastbar, der im Ultraschall nicht eindeutig als gutoder bösartig zu erkennen war. Ich sollte eine Mammografie durchführen lassen. Gedanken machte ich mir deshalb keine – schließlich hatte es in meiner erweiterten Großfamilie noch nie eine Krebserkrankung gegeben. Einige Tage später, beim Termin in der Radiologie, sah die Ärztin das Ganze allerdings weniger locker: Zur weiteren Abklärung musste eine Biopsie vorgenommen werden. Das änderte erst mal nichts an meiner festen Überzeugung, dass der Knoten schon etwas Harmloses sein würde: Krebs kriegen ja nur die anderen, ich doch nicht!

Um die Sache kurz zu machen: Es war Krebs. Mindestens ein Lymphknoten, der im Ultraschallbild zerfleddert aussah und gleich mit biopsiert worden war, war ebenfalls befallen. Der Arzt, der die Aufnahme untersuchte, schien besorgt, und allmählich kroch in mir doch Angst hoch. Ein zweiter Arzt, der mir ein paar Tage später die schlechte Botschaft überbringen durfte, war hingegen zuversichtlich: „Brustkrebs ist heute gut behandelbar. Die starke Hormonabhängigkeit der Krebszellen ist auch positiv für Sie. Viele Frauen haben das, was Sie haben. In den allermeisten Fällen ist das heute heilbar.“ Ich bekam noch Termine für ein CT des Oberkörpers und für eine Knochenszintigrafie. Danach wurde ich ins lange Wochenende geschickt. Montag war Allerheiligen.

Dieses Wochenende war eines der härtesten meines Lebens. Ich konnte an nichts anderes denken, kaum essen. Natürlich telefonierte ich mit Freundinnen, traf mich mit einigen von ihnen auf einen Kaffee und fuhr zu meiner Mutter, um die Hiobsbotschaft zu überbringen. Das war das Allerschlimmste, ich wollte ihr auf keinen Fall Sorgen bereiten. An Schlaf war kaum zu denken. Und bei alldem die Ungläubigkeit: Ich habe Brustkrebs? Ich? Das kann doch nicht wahr sein!

Trotz allem Aktionismus blieb an diesen Tagen und Nächten noch viel zu viel Zeit übrig, um exzessiv im Internet zu recherchieren. Dabei stieß ich auf die Information, dass Brustkrebs häufig in die Knochen metastasiert. Und fand gleich, dass das eine passende Erklärung für meine diversen Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule und in den Hüftgelenken sein konnte. Ich recherchierte den Begriff „Knochenmetastasen“ und stieß sofort auf die Frage: „Wie lange lebt man noch mit Knochenmetastasen?“ Die dazugehörige Antwort: „in der Regel sechs bis 48 Monate“. Monate! Mein Gehirn hatte mir beim Lesen zunächst automatisch „Jahre“ signalisiert – bevor ich dann auf einen Schlag den tatsächlichen kurzen Zeitraum realisierte. Ich war fassungslos. Auf das Internetforum der Frauenselbsthilfe, bei dem ich mich später anmeldete, war ich da noch nicht gestoßen. Mir hatte also noch niemand den Rat gegeben: „Nicht googeln! Die Ergebnisse im Netz sind zu einem großen Teil veraltet!“ Während der folgenden Tage verbrachte ich also noch viel Zeit mit der Suche nach Begriffen wie Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und Hospiz. Ich lebe allein, wie soll ich das nur machen? Und wie geht es eigentlich Leuten, die Chemo gemacht haben? – Die Fragen ratterten durch meinen Kopf. Das Recherchieren wurde fast manisch, als könnte ich die Kontrolle wiedergewinnen, wenn ich mir nur schnell genug Wissen aneignete. Es heißt immer, die Zeit des Wartens auf den Beginn der Behandlung sei die schlimmste. Das stimmt.

Irgendwann war das Warten vorbei, und meine Gynäkologin teilte mir die Ergebnisse der Staging-Untersuchungen mit: Dass ich Knochenmetastasen habe, hat mich da schon nicht mehr überrascht. Dass ein Brustwirbel bereits gebrochen war und einer bruchgefährdet, genau wie die Hüftgelenke, dann schon. Aber hier, in der Frauenarztpraxis, erhielt ich auch die Information, dass Knochenmetastasen zwar nicht heilbar, aber gut behandelbar sind. Auch wenn ich fortan also chronisch krank sein werde: Viele Patientinnen können damit noch viele Jahre ein Leben mit guter Lebensqualität führen. Paradoxerweise verließ ich mit der sicheren Diagnose, unheilbar an Krebs erkrankt zu sein, die Praxis in viel besserer Stimmung, als ich sie betreten hatte. Endlich hatte ich Gewissheit. Und immerhin waren „nur“ die Knochen betroffen.

Die Suche im Netz wurde konkreter. Mit den Befundberichten der Biopsie und des CT recherchierte ich unverständliche Begriffe. Innerhalb weniger Wochen hatte ich meinem bisherigen Fachgebiet der Hobbyvirologie, das ich in langen Stunden während der Corona-Pandemie erworben hatte, noch das der Hobbyonkologie hinzugefügt. Ich war über mich selbst erstaunt, wie viel Wissen ich mir in kurzer Zeit aneignen konnte, wenn es mich existenziell betraf.

Vor Beginn der Behandlung standen weitere Untersuchungen und ein Gespräch mit einem Unfallchirurgen an. Er sollte beurteilen, ob meine Wirbelsäule zunächst operativ stabilisiert werden müsste. Glücklicherweise war das nicht der Fall, mir wurde aber eine Bestrahlung der instabilen Teile der Brustwirbelsäule und der Hüftgelenke empfohlen. Außerdem sollte ich mich nur vorsichtig bewegen und mich sofort ins Krankenhaus begeben, falls meine Füße gefühllos werden würden. Super! Kaum hatte ich mich an den Gedanken gewöhnt, unheilbar krebskrank zu sein, schwebte schon die nächste Bedrohung über mir. Mein erster Gedanke nach dem Aufwachen war jetzt nicht mehr: „Das kann doch alles nur ein schlechter Traum sein“, sondern die beängstigende Frage: „Kann ich meine Füße noch bewegen, oder bin ich schon querschnittsgelähmt?“

Dann – endlich – erhielt ich einen Termin am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg. Am Tag zuvor war auch die Empfehlung der Tumorkonferenz meiner Kleinstadtklinik eingetroffen, die ich nun direkt mit ins NCT nehmen konnte. Die vorgeschlagene Behandlung folgte den Leitlinien für die Erstlinientherapie bei hormonpositivem Brustkrebs. Ich hatte Glück und wurde zusätzlich in eine Studie aufgenommen, in der es um personalisierte Krebstherapie ging. Sollte also die aktuelle medikamentöse Behandlung nicht mehr wirken, würde dann die weitere Behandlung passend zu den genetischen Eigenschaften der Tumorzellen ausgewählt werden. Die Teilnahme an der Studie ermöglicht mir, in den Genuss der „Krebstherapie der Zukunft“ zu kommen, bevor diese zum Behandlungsstandard wird. Ich erhoffe mir viel davon.

Zwei Wochen vor Weihnachten begann schließlich meine Behandlung, zunächst mit der Bestrahlung meiner instabilen Knochen. Hierfür waren zehn Termine vorgesehen, eine lockere Sache – dachte ich. Und beschloss, so weit wie möglich zum Alltag zurückzukehren: Nach der ersten Bestrahlung fuhr ich zum Reitstall. Während ich dort mein Pferd putzte und die Box ausmistete, unterhielt ich mich mit der Pächterin des Stalls und versicherte ihr, dass meine erste Bestrahlung ganz problemlos verlaufen war und ich mich völlig normal fühlte. Tatsächlich hatte ich bei meinen Internetrecherchen mehrfach gelesen, dass die Bestrahlungen ja ein Spaziergang seien. Ich ging also davon aus, dass das auch für mich gelten musste und ignorierte das seltsame Gefühl von Benommenheit, das sich in mir ausbreitete. Am Abend schlug es dann in Übelkeit um. Über der Kloschüssel hängend, fühlte ich mich zum ersten Mal richtig krebskrank.

Glücklicherweise erhielt ich Medikamente gegen die Übelkeit, und mein Körper gewöhnte sich nach zwei Tagen an die ungewohnte Belastung durch die Strahlentherapie. Es blieb eine seltsame Erschöpfung, die sich mit jedem Tag ein bisschen stärker in mir ausbreitete. Allmorgendlich den Weg zur Praxis für Strahlentherapie zu gehen, fiel mir daher schwer, auch wenn ich wusste, dass die Bestrahlungen wichtig für mich waren. Gegen Ende der Behandlung kam noch eine verbrannte Speiseröhre mit starken Schluckbeschwerden hinzu – ausgerechnet an Weihnachten. Aber ich hatte Glück: Zwei, drei Tage nach der Behandlung war die Müdigkeit verflogen und die Speiseröhre war nach einer Woche verheilt.

Ende Dezember begann meine medikamentöse Behandlung. Die Funktion der Eierstöcke wurde blockiert, die Östrogenproduktion meines Körpers heruntergefahren. Dazu bekam ich den CDK4/6-Hemmer Ibrance. Das Mittel hemmt die Zellteilung der Krebszellen und soll so das Tumorwachstum hemmen. Vor den im Beipackzettel aufgelisteten Nebenwirkungen hatte ich großen Respekt. Die erste Tablette schluckte ich widerwillig am alkoholfreien Silvesterabend, von Partystimmung keine Spur. Ich war allein, hatte mir ein magenschonendes Süppchen mit Karotten- und Kartoffelstücken gekocht und, nach den Erfahrungen mit der ersten Bestrahlung, sicherheitshalber einen Eimer in Griffweite gestellt. Minütlich rechnete ich mit beginnender Übelkeit. Nichts geschah. Ich war erleichtert. Nach zwei Wochen waren dann allerdings meine durch die Bestrahlung ohnehin schon angeschlagenen Blutwerte so schlecht, dass ich zur Erholung eine Ibrance-Pause einlegen musste. Eine skurrile Nebenwirkung der verlangsamten Zellteilung hält bis heute an: Der Fingerabdrucksensor meines iPads erkennt meinen Daumen nicht mehr. Später erfuhr ich, dass es vielen behandelten Frauen so geht.

Zur Vorbereitung auf die „Knochenspritze“, deren Wirkstoff den Abbau der Knochen verhindern soll, musste ich zunächst zahllose Zahnarzttermine absolvieren. Eine Nebenwirkung dieser Spritze ist die gefürchtete Kiefernekrose. Um ein solches Absterben der Hart- und Weichgewebe im Kiefer zu verhindern, müssen die Zähne vor der Behandlung top in Schuss sein.

Von jetzt auf gleich in die Menopause geschossen zu werden, habe ich erstaunlich gut vertragen. Hitzewallungen sind selten und verursachen nicht mehr als ein kurzes Wärmegefühl. Schlafstörungen waren anfangs heftig, haben sich aber schnell wieder abgemildert. Meine Haut ist trockener geworden, und nach dem Aufstehen muss ich meine Fußgelenke kurz einlaufen. Das nehme ich aber gern in Kauf dafür, dass meine Schmerzen in der Wirbelsäule und in den Hüftgelenken fast vollständig weg sind. Vor der Behandlung konnte ich nur hinkend und langsam gehen; vor allem das Treppensteigen war unangenehm. Jetzt fühlte sich das Gehen wieder normal an, und ich konnte erstaunlich schnell ausgedehnte Spaziergänge unternehmen. Nur Rennen ging noch nicht. Das sollte ich aber ohnehin nicht, solange meine Knochen nicht alle wieder stabil waren. Bei einem CT im Februar war dann zu sehen, dass eine Sklerosierung der geschädigten Knochen begonnen hatte. Die Löcher im Skelett füllen sich also allmählich, und ich habe Hoffnung, dass sie sich wieder vollständig schließen werden. Auch Reiten wird vielleicht irgendwann wieder möglich sein, wenn auch nicht mit meinem unberechenbaren Aurelius, sondern einem ruhigeren Pferd.

Trotz dieser erfreulichen Entwicklung bleibt es dabei: Meine Krankheit ist unheilbar. Die Behandlung ist nicht kurativ, also auf Heilung ausgerichtet, sondern palliativ. Dieses Wort war zunächst ein großer Schock für mich, bedeutete es doch für mich: austherapiert, nur noch Schmerzlinderung möglich. Ich habe aber gelernt, dass das gar nicht der Fall ist. Palliativ bedeutet, durch die Behandlung Lebenszeit zu gewinnen bei möglichst großer Lebensqualität. Und natürlich setze ich viel Hoffnung auf den rasant voranschreitenden medizinischen Fortschritt. Vielleicht wird es in ein paar Jahren möglich sein, auch eine metastasierte Krebserkrankung zu heilen oder wenigstens dauerhaft zu stoppen. Bis dahin hoffe ich, dass mein Zustand stabil bleibt oder dass nach einem Progress wieder gut wirksame Medikamente gefunden werden. Dass es irgendwann ein Fortschreiten der Krankheit geben wird, ist klar. Die Frage lautet, wann? Und auch, wie lange es bei einer Metastasierung der Knochen bleibt, die leichter zu therapieren ist als zum Beispiel Lebermetastasen. Ob ich mit meiner Erkrankung noch fünf, zehn oder vielleicht sogar 20 Jahre leben werde, kann niemand wissen. Und genau dieses Damoklesschwert, das nun dauerhaft über mir schwebt, meinte Meike mit ihrer Frage: Wie kannst du damit leben?

Wie also lebe ich mit dem Krebs? Die vergangenen Monate waren geprägt von meiner Diagnose, von vielen Sorgen und Ängsten. Es gab Phasen, in denen ich mich körperlich sehr gut gefühlt habe. Aber auch immer wieder gesundheitliche Probleme. Da war die Clostridieninfektion, nachdem ich Antibiotika einnehmen musste wegen eines Infekts, mit dem mein Körper aufgrund der schlechten Blutwerte nicht allein fertig wurde. Dann war da dieses Kribbeln in meinen Beinen, von dem niemand so recht wusste, woher es kam. Die Neurochirurgen, die mich bei einem kurzen Krankenhausaufenthalt untersuchten, befürchteten, dass ein von Metastasen befallener Wirbel aufs Rückenmark drücken könnte. Sofort war sie wieder da, die Angst vor der Querschnittslähmung. Oder zumindest die vor einer aufwendigen Operation der Wirbelsäule. Ein MRT der Brust- und Lendenwirbelsäule ergab zum Glück keine Auffälligkeiten, alles war stabil und der Spinalkanal durchgehend frei. Wo das Kribbeln herkam, blieb weiter unklar.

Heute weiß ich vom Strahlentherapeuten, dass es sich wohl um eine Nervenreizung infolge der Bestrahlung gehandelt hatte. Die Oberärztin im Krankenhaus vermutete eine andere Ursache: „Wild guess“, sagte sie beim Entlassungsgespräch, „es kommt von Ihren Medikamenten.“ Was sie wohl dazu gebracht haben mag, den jugendlich anmutenden Anglizismus zu verwenden? Meine ganz und gar nicht jugendliche Erscheinung nach einer schlaflosen Nacht im harten Krankenhausbett war sicher kaum der Grund dafür, wohl eher der junge Assistenzarzt in ihrer Begleitung.