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Wohlbrücks Berlin-Roman gehört zu den bekanntesten Werken der Autorin. Mit stilistisch sicherer Hand beleuchtet sie die Gegenwart ihrer Zeit.
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Seitenzahl: 453
Veröffentlichungsjahr: 2012
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Du sollst ein Mann sein
Olga Wohlbrück
Inhalt:
Olga Wohlbrück – Biografie und Bibliografie
Du sollst ein Mann sein
Kinder
Menschen
Du sollst ein Mann sein, O. Wohlbrück
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849640217
www.jazzybee-verlag.de
Am 5. Juli 1867 in Wien geboren, verbrachte aber Kindheit und erste Jugend in Russland und schrieb schon als zehnjähriges Kind kleine Erzählungen in deutscher, französischer und russischer Sprache, deren Erfolg in ihr den Wunsch wach rief, Schriftstellerin zu werden. Durch einen Hauslehrer vorgebildet, bezog sie das Kiewer Mädchengymnasium und absolvierte es nach vollendetem 15. Lebensjahre. Ihre lebhafte Phantasie und der sich schon früh geltend machende Gestaltungsdrang zogen sie unwiderstehlich zur Bühne, der schon viele ihrer Familie seit über ein Jahrhundert angehörten. Sie erlangte auch die Erlaubnis ihrer Eltern, sich bei der in Paris lebenden Großmutter zur Bühne vorzubereiten. Nach drei Jahren angestrengten Studiums, trat sie ihr erstes Engagement am Théâtre National de l'Odéon an, siedelte aber nach ihrer Verheiratung mit dem deutschen Schriftsteller Maximilian Berg nach Berlin über, wo bei fortgesetzter schauspielerischer Tätigkeit ihr schriftstellerisches Talent voll zur Entwickelung gelangte. Durch ein Buch gesammelter Novellen und Skizzen führte sie sich in die deutsche Literatur ein, und 1894 erblickte ihre erste dramatische Schöpfung am »Berliner Theater« das Licht der Rampe: sie selbst kreierte die Hauptrolle ihres Schauspiels »Das Recht auf Glück«. Außerdem fungiert sie in dem unter dem Protektorate des Kultusministers stehenden Neusprachlichen Vereine als französische Vorleserin. Wohlbrück verstarb am 20. Juli 1933 in Berlin.
Wichtige Werke:
Aus drei Ländern, novellistische Sittenbilder, Novellen,Carriere, Roman.Du sollst ein Mann sein!, Roman,Der Roman der XII, Roman,Die Boyersen. Neue NovellenDas goldene Bett, RomanDes Ratsherrn Leinius Tochter, NovelleDas kleine Glück, RomanAus den Memoiren der Prinzessin ArnulfDie neue Rasse, RomanSonnenbrut, RomanBarbaren..., RomanDas ist RusslandDer große Rachen, RomanDie goldene Krone, RomanRomantik, RomanDie Primadonna, RomanDer König von Troplowitz, RomanAthletenRomanVor der Tat, RomanDie rote Glut, RomanHerr und Frau Wiedemann, RomanDie Frau des Schullehrers Tarnow, RomanDie Sukoffs. Ein sibirischer RomanDie Frau ohne MannRomanSchloß Borowitzky, RomanEr wurde auf einem großen Amerikadampfer geboren, während eines heftigen Sturmes. Der Arzt übergab das Kind der Stewardeß, die sich kaum auf den Füßen halten konnte.
»Werft mich ins Wasser! Werft mich ins Wasser!« schrie die junge, blonde Wöchnerin.
»Aber es ist ja alles vorüber«, beruhigte der Arzt.
Bald war auch alles vorüber. Der Sturm legte sich. – Auch die Frau wurde still, ganz still – und gegen Abend war sie tot. Am nächsten Morgen versenkte man einen großen, zusammengenähten Sack ins Meer. Der Wind wehte den wenigen Passagieren, die sich zu der düsteren Feier eingefunden hatten, einen feinen, kalten Sprühregen ins Gesicht. Der Kapitän machte es kurz: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes!« ... Die Hüte, Mützen und Kappen flogen von den Köpfen ...
Jetzt goß es nur so. Die wenigsten warteten das Ende ab. Später beim Grog sagte der Arzt:
»Ein blutjunges, dürftiges, kleines Frauchen war es, hatte mit ihrem Manne eine Reise nach Neuyork zu Verwandten gemacht, und da er plötzlich heimkehren mußte, war sie später allein nachgereist. Am Kind ist nichts dran, ein Wunder, wenn es durchkommt.«
Auf der Landungsbrücke in Bremerhaven stand ein großer, hagerer Herr mit einem Blumenstrauß. Der Kapitän und der Arzt schritten auf ihn zu, ihnen folgte die Stewardeß mit dem Kinde. Es wurden nur wenige Worte gewechselt. Der Herr wurde kreidebleich – der Blumenstrauß fiel zur Erde.
»Da es schwächlich war, habe ich die Nottaufe abgehalten und ihm den Namen ›Markus‹ gegeben«, sagte der Kapitän und schob die Stewardeß vor.
»Es ist ein liebes Kindchen«, murmelte sie.
Der Herr wendete sich ab und drückte Daumen und vierten Finger auf seine beiden Augen. Das dauerte nur eine Sekunde, dann sagte er gefaßt:
»Ich danke Ihnen, meine Herren«, und zur Stewardeß: »Wollen Sie bei meinem Kinde bleiben? Auf Gehalt kommt es mir nicht an.«
Sie nickte und neigte sich über das in Tücher gehüllte Paket.
So kam Maria Hindersin in das Haus des Bremer Großkaufmanns Reimar Lukas.
Das Haus Lukas war ein altes, kein schönes Patrizierhaus. Es hatten in diesem Jahre große Umbauten stattfinden sollen, aber nun die junge Hausfrau gestorben war, sprach man nicht mehr davon. Im Parterre lagen die Kontorräume, im ersten Stock stieß ein großes, saalähnliches Wohnzimmer mit dicken Butzenscheiben an eine Diele, die früher als Tanzsaal benutzt worden war, und von der aus verschiedene Türen in die anderen Zimmer führten: das Privatarbeitszimmer des Hausherrn, das Schlafzimmer und einen kleinen Salon, der mit seinen hellen, mit zarter Seide überzogenen Möbeln einen fast drolligen Gegensatz zu der übrigen schwerfälligen und dunklen Einrichtung bildete.
Eine alte Köchin und ein noch älterer Diener führten das Hauswesen. Jetzt war das Schlafzimmer ausgeräumt und für Maria Hindersin und das Kind eingerichtet. Herr Lukas ließ sich sein Bett allabendlich auf dem großen Ledersofa in seinem Arbeitszimmer aufschlagen und schloß den hellblauen Salon ab.
Das Haus befand sich in einer alten, engen Gasse Bremens, die wenig Licht gab. Die Wände waren rissig, und es roch muffig in den Zimmern. Die zwei Dienstboten waren immer schwarz gekleidet und gingen auf Filzschuhen. Ihre Gesichter waren wie aus Pergament. In der großen Wohnstube, die auch als Eßzimmer diente, brannten während des Essens die Kerzen im großen Kronleuchter. Es war ein sehr schönes, sehr ruhiges Licht, und es gab immer Weihnachtsstimmung.
Um zehn Uhr wurden die Kerzen vom Diener gelöscht. Dann brannten nur noch eine Lampe mit grünem Schirm in Herrn Lukas' Arbeitsstube und ein Nachtlicht im Kinderzimmer.
Der Vater betrat es nie. Er mochte das Kind wohl nicht, das der Mutter das Leben gekostet hatte. Er hatte Maria Hindersin eine reichliche Summe zur Verfügung gestellt, die sie allmonatlich für sich und das Kind ausgeben durfte.
Der kleine Markus hatte die feinste Wäsche aus holländischer Leinwand mit prachtvollen Schweizer Stickereien, einen federnden Wagen mit seidenen Vorhängen, im Winter eine Decke darüber aus kostbarem Pelz, wenn Maria Hindersin das Wägelchen aus dem äußersten Haustor rollte, versammelten sich alle Straßenkinder, um die Herrlichkeiten zu bewundern. Sie selbst trug weichen, schwarzen Kaschmir und ein kleines Samtbarett. Sie war sehr hübsch.
Solange Markus noch nicht bei Tische sitzen konnte, speiste sie mit ihm im Kinderzimmer, später in der Wohnstube am großen, runden Tisch unter dem Kronleuchter.
Der Diener servierte mit weißen Handschuhen und präsentierte die silberne Platte zuerst immer dem kleinen Markus. Der Kleine bediente sich und aß mit Anstand.
Der Hausherr speiste in der Stadt. Manchmal ließ er sich das Essen herunter ins Kontor bringen. Es vergingen oft Wochen, ohne daß Maria Hindersin und Markus ihn zu Gesicht bekamen.
Markus wurde fünf Jahre alt. Ein feingliedriger, blonder Junge, hochaufgeschossen für sein Alter, mit dunklen, tiefblauen Augen und dünnen, festgepreßten Lippen.
Im Wohnzimmer auf einer hohen Etagère seltsamer Form lag die Bibel mit den Illustrationen von Doré.
Maria Hindersin blätterte oft darin wie in einem Bilderbuch; der Knabe saß auf ihrem Schoß und stellte Fragen. Sie erzählte ihm die heilige Geschichte mit phantastischer Ausschmückung wie ein Märchen. Die Bilder besprachen sie. An den Kapitelüberschriften lernte er lesen.
Eines Tages kam der Hausherr unerwartet ins Wohnzimmer. Die beiden saßen noch vor den halbgefüllten Tellern. Maria Hindersin erhob sich ehrerbietig. Er machte ihr ein Zeichen, sich wieder zu setzen, und bestellte beim Diener einen Grog. Er fühlte sich nicht wohl.
Markus fing einen erschreckten Blick seiner Pflegerin auf.
»Hast du den Vater gern?« fragte er sie später, während sie ihn auszog und ins Bett legte.
Sie wurde sehr rot, aber sie antwortete nicht.
Er zerbrach sich den Kopf darüber, wie es nur sein konnte, daß sie den Vater gern hatte, während er ihn gar nicht liebte. Er konnte doch keinen fremden Mann lieben. War er denn nicht auch fremd für sie? Er fing an, aufzupassen.
Den ganzen Tag über verließ sie ihn nicht, aber abends, wenn er im Bett lag, dann saß sie noch im Wohnzimmer und las ... Ob sie die Bibel las?
Einmal wachte er erschreckt auf. Er hörte Gehen auf der Diele. Schwere, harte Schritte und andere leichtere, dann ging die Tür zu seinem Zimmer auf.
Sie kam herein, die Hand vor der Kerze. Ihre Wangen waren gerötet.
Er setzte sich auf in seinem Bett und beugte sich vor.
»War Vater oben?«
»Nein ... Ja ... wie kommst du darauf ... schlaf ... Du sollst schlafen,« wiederholte sie ungeduldig und löschte das Licht aus.
Am andern Tage wurden die hübschen Möbel aus dem Salon hinausgetragen, und Markus bekam sein eigenes Zimmer. Er war schon zu groß, um in einem Zimmer mit »Mami« zu schlafen.
Er nannte sie »Mami« von der Zeit ab, da er die ersten Laute stammelte. Und dabei war es geblieben.
Er liebte sie leidenschaftlich, eifersüchtig. Er küßte sie zum Ersticken; sie mußte ihn oft in den Arm kneifen, damit er sie losließ.
Manchmal zeigte sie ihm ein Bild seiner Mutter.
»Du bist viel hübscher«, sagte er.
Ihn interessierte nur, daß er auf dem Schiff geboren war, und daß man seine Mutter ins Meer versenkt hatte.
»Jetzt haben die Fische sie aufgefressen, nich?«
Sie gab ihm einen Klaps.
»Du sollst nicht so reden, dummer Junge.«
Der Vater speiste jetzt öfter zu Hause. Er war ernst und wortkarg. Markus wußte, daß sogar die alten Dienstboten vor ihm Angst hatten. Er selbst zitterte vor ihm. Wenn er seinem Blick begegnete, blieb ihm der Bissen im Halse stecken. Es kam vor, daß er nach dem Abendbrot zum Spielen auf die Diele hinausgeschoben wurde. Man hatte dort ein paar Ringe und ein Trapez für ihn angebracht. Aber er liebte das Turnen nicht und fürchtete sich vor dem spärlich erleuchteten Raum mit den rissigen, dunklen Wänden, den gespenstischen Bildern und altertümlichen Schränken.
An den Schränken knabberten manchmal Mäuse. Er sang dann ganz laut und falsch vor sich hin, um sie zu vertreiben, aber sie waren so zahm, daß sie im Gegenteil näher kamen oder vergnügt mit ihren langen Schwänzchen über den Estrich huschten.
Nun brüllte er erbärmlich, bis Mami ihn hereinholte, und er sich zitternd in ihren Armen verbarg.
»Es spukt, es spukt!« schrie er dann noch immer, ganz blaß vor Angst.
»Wer setzt dir den Unsinn in den Kopf?« fragte der Vater streng.
»Die Hedwig sagt's – die weiß es gewiß ...«
»Das dumme Frauenzimmer fliegt, wenn sie so etwas noch einmal wiederholt ...«
Hedwig war seit fünfzig Jahren im Hause; sie hatte schon bei den Eltern des jetzigen Herrn gedient, als sie noch junge Leute waren. Sie hatte viele sterben sehen in dem Haus und hatte den Lebenden treu gedient.
Markus begriff nicht, daß der Vater sie hinauswerfen konnte. Er hatte immer gedacht, die Hedwig gehöre zum Hause wie einer der alten Schränke auf der Diele ... Warum warf er nicht lieber die alten Schränke hinaus? ...
Nachts, wenn es draußen stürmte, knarrten die Dielen so unheimlich, manchmal pfiff es auch ganz leise und traurig ... Markus sprang aus seinem Bett und lief mit schlotternden Knien an die Tür, die zu Mamis Schlafzimmer führte. Einmal drückte er die Klinke herunter. Er wollte zu Mami ins Bett. Er fror. Er hatte Angst. Die Tür war zugeschlossen. Er rüttelte an ihr wie von Sinnen.
»Mami, Mami! ...«
»Was ist ... was willst du? ...«
Ihre Stimme klang so verändert. Er hörte, wie sie das Streichholz entzündete, dann einen Stuhl rückte ... Er schrie immer noch: »Mami, Mami! ...«
Sie drehte den Schlüssel um, stand auf der Schwelle, sehr blaß, einen dunklen Schlafrock um die Schultern.
»Was ist dir? Bist du krank ...?«
»Laß mich zu dir, ich habe Angst ... laß mich zu dir ...«
Er wollte sich an ihr vorbeidrängen und in ihr Zimmer laufen. Sie hielt ihn mit eisernem Griff fest.
»Bleib da, du bist ein feiger, dummer Bengel!« Sie gab ihm eine Ohrfeige.
Er starrte sie an, fassungslos. Sie hatte ihn noch nie geschlagen. Sie hatte ihn früher des Nachts oft an ihren weichen, warmen Körper gedrückt, hatte oft stundenlang an seinem Bettchen gesessen, wenn er über Schmerzen geklagt hatte. Warum jetzt? Warum ...
Er blickte sie feindselig an. Sie lenkte ein:
»Du hast mich so erschreckt ... Wie kann ein Junge so furchtsam sein ... Komm, gib mir einen Kuß. Nur nicht reden. Und jetzt geh schlafen ...«
Sie deckte ihn fürsorglich zu und hielt ihm ihre Wange hin.
»Nun, warum bockst du?«
»Ich bocke nicht.«
Er berührte ihre Wange flüchtig mit seinen kalten Lippen. Er mochte jetzt seine Arme nicht um ihren Hals schlingen wie früher. – – – – –
»Mami« ging jetzt abends manchmal aus. Dann zog sie ein wunderhübsches helles Kleid an und weiße Handschuhe – sie sah reizend aus.
Markus durfte zusehen, wenn sie sich fertigmachte. Sie steckte sich dann meistens noch eine Blume an die Brust, lachte und war so lieb... so lieb...
»Kannst du deine französischen Vokabeln?«
»Ja, und du, Mami?«
Sie überhörten sich gegenseitig.
Eine alte, buckelige Französin kam seit einiger Zeit zweimal wöchentlich auf einen halben Tag ins Haus.
Mami lernte mit und lernte auch das erstaunlich leicht.
»Wenn wir erst mehr können, dann wollen wir jeden zweiten Tag nur Französisch zusammen sprechen«, sagte Mami. »Und später lernen wir Englisch.«
»Warum lernst du das alles, Mami?«
»Du sollst nicht auf mich herabsehen, Markus.«
Warum sollte er denn auf sie herabsehen? Er verstand das nicht...
Es war sehr still im Hause, wenn Mami nicht da war.
Hedwig strickte an einem langen, grauen Strumpf, und Albert, der Diener, legte Patience in der Küche mit ganz alten, schmutzigen Karten.
Markus saß unter dem Kronleuchter und spielte mit seinen Bausteinen... Manchmal schlich er sich in die Küche. Der Diener stand respektvoll auf, Hedwig aber wischte einen Stuhl mit der Schürze ab.
»Das ist schön, Markus, daß du nicht stolz bist.«
»Albert soll Karten mit mir spielen«, sagte Markus.
»Wenn der gnädige Herr das sieht, gibt's Schelte.«
»Vater kommt nicht. Spielen wir ›Schwarzer Peter‹.«
»Spielen Sie nur, Albert, das arme Kind langweilt sich ja tot«, sagte auch Hedwig. Und sie blickte den Spielenden interessiert zu und gab Markus ab und zu einen Rat. Dann ärgerte sich der Alte.
»Markus kann ganz gut allein, wenn zwei gegen mich spielen, muß ich ja verlieren.«
Er verlor sehr ungern, denn Markus schenkte ihm den schwarzen Schnurrbart um keinen Preis, und das wollte sich nicht recht mit seiner Würde vertragen.
An einem solchen Abend durchgellte einmal die elektrische Klingel das stille Haus.
»Der gnädige Herr...«
Die zwei alten Leute sprangen auf. Der Strickstrumpf flog in eine Ecke, die Karten in die andere.
»Bin ich sauber? Sitzt das Halstuch gut?«
Hedwig und Markus beruhigten ihn, und in vornehmer Dienerhaltung, das eben noch so freundliche Gesicht in ehrerbietige Falten gelegt, schritt Albert auf den Fußspitzen hinaus.
»Hat Albert Angst?« fragte Markus mit einem seltsam peinlichen Gefühl.
»Vor dem Herrn hat man immer Angst«, sagte Hedwig.
»Warum?«
»Wenn wir aus dem Hause müssen, verlieren wir unser Brot. Wir sind alt.«
»Aber früher ... als ihr jung wart ...?«
»O Gott, das ist lange her... Da war alles anders, wenn ich deine Großmutter zum Ball anzog und nicht geschickt war – sie mit der Stecknadel ritzte oder die Frisur verdarb, bekam ich eine Ohrfeige. Und wenn sie vom Ball kam, brachte sie mir Schokolade mit und süße Sachen, wie dem jungen Herrn.«
»Das war wohl Vater?«
»Jawohl, Markus.«
»Kam er auch zu dir in die Küche, Vater?«
»Nein, nie.«
»Vater war stolz?«
»Ja.«
»Hast du Vaters Frau gekannt?«
» Wen, Markuschen?«
»Meine Mutter ...«
Es kam stotternd von seinen Lippen. Er nannte den Namen nicht gern.
»Ja, freilich.«
»War sie hübsch?«
»Ach ja ...«
»Aber nicht so hübsch wie Mami?«
»Nein, so hübsch nicht.«
»Gefällt dir Mami auch?«
»Die gefällt allen.«
»Auch dem Vater?«
»Nein, was der Junge alles wissen will, halt den Mund jetzt ... es ist Zeit ...«
Albert kam zurück, etwas bleicher als sonst, bestürzt.
Hedwig sah ihm gerade in die Augen: »Was ist los?«
»Fräulein Hindersin ...?«
Markus blinzelte verständnislos von einem zum andern:
»Wer ist Fräulein Hindersin?«
Hedwig legte dem Knaben ihre knochige Hand auf den Scheitel.
»Deine Mami ist das ...«
»Ach, Mami ...«
Markus atmete erleichtert auf. Und zum ersten Male wurde der ehemaligen Stewardeß, Maria Hindersin, vom Diener des Großkaufmanns Reimar Lukas der Theatermantel im Vestibül gehalten.
Markus hatte keine Spielgefährten. Nicht einmal einen Hund. Nichts Junges, Lebendes um ihn herum. Mami war von allen, die er sah, die Jüngste. Sein Vater machte ihm den Eindruck eines alten Mannes, obwohl er kaum vierzig zählte. Man sah ihn nie lachen, nie scherzen. Er sprach überhaupt wenig.
Zweimal im Jahre gab es ein großes Essen im Speisesaale für die Verwandten. Auch die Verwandten waren alt. Markus' Vater – der Jüngste unter ihnen.
Der Junge speiste an diesen Abenden mit Maria Hindersin in seinem Zimmer und ging, wenn der Plumpudding serviert war, in einem schwarzen Samtkittel hinein, seinen Kratzfuß machen. Maria Hindersin fragte ihn dann aus, wie es gewesen war; er mußte ihr die Leute schildern, die er einen kurzen Augenblick an der feierlichen Tafel gesehen hatte. Aber eigentlich kannte sie sie besser als er selbst. Den alten tauben Onkel Dutschmann, der immer nur lächelte und Brotkügelchen drehte, die zwei Tanten, Elsa und Laura Dutschmann, dessen Frau und Schwester, die immer ganz steif auf ihren Stühlen saßen und den kleinen Markus je mit dem rechten oder linken Zeigefinger in das Hälschen hineinkitzelten; dann ein großer, sehr feiner Onkel mit vielen Orden und einer schönen Marineuniform, der ihm eine große Schachtel mit Spielzeug schenkte, und noch viele andere, die ihm alle die Hand auf den Scheitel legten und immer dieselben Fragen an ihn richteten und immer dieselben Worte sprachen: »Sieh mal an, der kleine Mann!« oder: »I potztausend, was bist du gewachsen!« oder: »Da ist ja der Kronprinz!«
Einmal in den ersten Tagen des Januar fand wieder solch ein großes Essen statt.
Maria Hindersin hatte schon zwei Tage vorher das schwere Silber, die seidige Damastwäsche abgezählt, und schon seit Tagen war sie mürrisch und einsilbig.
Markus schmeichelte und bettelte. Sie sollte ihm sagen, was ihr fehle. Sie schob ihn ungeduldig von sich. Aber da er nicht nachließ, fuhr sie ihn an:
»Laß mich zufrieden, dummer Junge, hab' ohnehin nichts als Ärger durch dich.«
»Durch mich?«
Er sah aus seinen großen blauen Augen verwundert und erschrocken zu ihr empor.
»Sag' mir, was ich getan habe, Mami...«
Sie fiel auf einen Stuhl und weinte.
Markus hatte noch nie jemanden weinen sehen. Er war ganz erschüttert, ganz fassungslos. Was war denn furchtbares geschehen? Wer hatte Mami was getan?
»Hat Vater gescholten?«
Sie zuckte die Achseln. Dann riß sie den Knaben an sich.
»Wen hast du lieber als mich?« fragte sie ungestüm.
»Niemand«, beteuerte er aufrichtig. Sie hielt krampfhaft seine Hände umklammert.
Eine Stunde später ging er mit ihr spazieren. Im Erdgeschoß stand die Tür zum Kontor offen.
»Warte«, sagte Maria Hindersin, wandte sich ab und bückte sich, als ob sie an ihrem Rock etwas in Ordnung zu bringen hätte.
»Lukas & Co.«, las Markus auf dem blanken Messingschild. Das war der Vater. Er war plötzlich sehr stolz, daß der Name seines Vaters auf einem schönen, glänzenden Schilde gedruckt war. Sein eigener Name.
Das spröde Organ des Hausherrn drang durch die offene Tür bis auf den Flur hinaus.
»Solange ich etwas zu sagen habe, werde nur ich disponieren. Das Recht ist auf meiner Seite und auch die Macht. Merken Sie sich das.«
Eine andere Stimme antwortete, undeutlich, leidenschaftlich. Markus empfand großes Mitleid beim Klang dieser Stimme.
»Wer ist das?« fragte er Maria Hindersin angstvoll.
Sie war etwas rot vom Bücken, und ihre Hand, mit der sie die des Knaben ergriff, zitterte leicht.
»Wer ist das?« fragte er nochmals.
Sie unterstrich mit dem Zeigefinger das »& Co.« auf dem Schild.
»Aber das verstehst du nicht, Markus.«
»Du weißt alles vom Vater, Mami... Du hast nie Angst vor ihm, nein? Warum hast du nie Angst? Hedwig hat Angst, und Albert hat Angst, und »Co.« hat Angst, und ich habe Angst ... nur du hast nicht Angst...«
»Lauf, mach' Schneeballen«, gebot Maria Hindersin, und plötzlich hatte er einen nassen, schweren Ballen im Genick.
Da hörte er auf zu grübeln und balgte sich mit ihr wie mit einem Jungen, bis ihr das Pelzbarett in den Nacken fiel und sie lachend: »Genug, genug!« schrie.
Der Junge war so stark, man sah es seinem feingliedrigen Bau gar nicht an. Sie mußte Kraft anwenden, um ihm Widerstand entgegenzusetzen, wenn sie sich nicht vorsah, brachte er sie zu Fall, und sie purzelte hinein in den losen, weichen Schneehaufen. Schließlich, wenn gar nichts half, mußte sie streng werden.
»Markus, wenn du nicht aufhörst, lasse ich dich drei Seiten abschreiben.«
Ein nasser Klumpen ins Gesicht, das war die Antwort.
»Abscheulicher Bengel!«
Sie war ganz zornig, und wie er neckend näher kam, bearbeitete sie seinen Rücken mit den Fäusten.
Es tat ihm weh, und doch mußte er lachen.
Dann wanderten sie einträchtig heim, schmutzig, naß, sehr zufrieden miteinander, todmüde...
Zu Hause klagte sie über die ruinierten Sachen und lief in die Küche, um ihm ein Glas heiße Milch zu bringen.
Markus brauchte keine Spielgefährten...
Albert putzte das Silber in der Küche.
Hedwig ließ sich von Maria Hindersin ein Rezept aus dem neuen Kochbuch vorlesen und schüttelte dabei den Kopf.
»Na ja, das ist ja alles recht schön; aber wir haben nun fünfzig Jahre immer Plumpudding beim Familienessen gehabt, und's hat allen geschmeckt... was sollen da all die neuen Rezepte; das ist nur alles teurer, aber nicht besser...«
Markus blinzelte vergnügt aus der Sofaecke zu beiden herüber.
Wahrhaftig, Mami ärgerte sich. Das konnte er nicht begreifen. Ihm schmeckte der Plumpudding auch sehr schön. Aber Mami kniff die Lippen so fest zusammen und erklärte noch einmal das neue Rezept. Die alte Hedwig riß die Augen auf und verhielt sich das Gähnen. Schließlich sagte sie:
»Na ja... man kann's ja probieren.« Aber Markus wußte ganz genau, daß sie es nicht probieren würde.
Und er hatte recht. An dem großen Tage schlich er sich in die Küche, und Hedwig bereitete wieder in aller Seelenruhe ihren Plumpudding.
Sie steckte ihm eine Handvoll Rosinen zu und schickte ihn aus der Küche.
In seinem Zimmer, mit dem Rücken gegen das Fenster, saß Maria Hindersin.
»Wasch' dir die Hände, Markus, du sollst herunter zum Vater.«
Er kaute an seinen Rosinen und schob noch den letzten Rest eilig in den Mund.
Sein Herz klopfte zum Zerspringen, er zitterte am ganzen Körper, aber er kaute hastig weiter.
»Du frißt auch den ganzen Tag«, sagte Maria Hindersin.
»Gehen – ich ... ich ... was will Vater?«
Er würgte das Letzte hinunter und bohrte seine Augen angstvoll in ihr Gesicht.
Es war kaum zu sehen in dem Dämmerlicht des grauen Wintertages.
»Ich weiß nicht, du sollst zu Vater kommen.«
Ihre Stimme war ton- und farblos, von gezwungener Gleichgültigkeit. Er horchte auf.
»Du weißt es doch, Mami ...«
Er wollte ihr auf den Schoß springen, aber sie stand auf.
»Mach' schnell, der Vater wartet.«
Er tauchte zur Sicherheit auch das Gesicht in das Waschbecken, um die letzte Spur seiner Näscherei zu verwischen.
»Wegen so'n bißchen Rosinen ist's doch nicht, nicht wahr, Mami?«
»Nein, nein.«
Sie trocknete sein Gesicht ab und fuhr ihm mit der Bürste über die Haare.
»Kommst du mit, Mami?«
»Nein, du mußt allein gehen.«
»Ich bin nie allein mit Vater gewesen.«
»Jetzt bist du ein großer Junge.«
»Nichts Schlimmes, Mami?«
»Aber so geh' doch, frag' nicht... gewiß... nein... nichts Schlimmes... aber was Ernstes.«
Er dachte: »Prügel gibt's ja nicht«, und hob den Kopf. Sie blieb stehen, während er zur Tür ging. Dann rief sie ihm nach:
»Nimm die Mütze, es ist kalt im Treppenhaus.«
Er nahm auch wirklich ganz mechanisch die Mütze vom Riegel und stieg zögernd die Treppe hinab. Er war erstaunt und doch innerlich bange.
Der Vater hatte sich noch niemals längere Zeit mit Markus unterhalten, hatte ihn eigentlich kaum beachtet, nie gelobt, manchmal gescholten, nie aber ihn zu sich herunterkommen lassen.
»Lukas & Co.« las er wieder auf dem Schild. Er klingelte. Diese einfache Handlung kam ihm merkwürdig und bedeutsam vor. Oben öffnete Mami mit einem Schlüssel. Manchmal hatte er aus Spaß geklingelt, und dann hatte Mami immer gezankt. Hier durfte, hier mußte er klingeln.
Ein junger, noch bartloser Mann öffnete ihm. Das brachte ihn aus der Fassung. Er hatte gedacht, der Vater würde aufmachen. Er stotterte undeutlich:
»Ich möchte... ich muß... Lukas & Co.... nein ... ich meine Vater...«
»Ach so... na, komm nur rein...«
Der junge Mann nahm Markus bei der Hand und führte ihn rechts in ein Kontor, in dem mehrere Herren unter flatternden Gasflammen an hohen Pulten standen.
Von einem eisernen Ofen schlugen die Wellen einer unerträglichen Hitze dem Jungen entgegen.
»Das ist Markus«, sagte ein kleiner alter Mann mit einer hellblauen Brille auf der eingedrückten Nase. »Ich werde ihn zum Chef führen.«
Markus war sehr erstaunt, daß man seinen Namen kannte. Aber das gab ihm seine Sicherheit wieder. Er war der Sohn von Lukas & Co. Er war gewiß eine sehr wichtige Person hier.
»Komm, kleiner Mann.«
Nun nahm ihn der Alte bei der Hand, obwohl er das jetzt eigentlich überflüssig fand, und führte ihn zum Zimmer hinaus über einen Gang, vor eine mit grauem Tuch und dunklen Nägeln ausgeschlagene Tür.
»So, hinter der zweiten Tür, du brauchst nur zu klopfen...«
Jetzt fing wieder das dumme Herzklopfen an. Er horchte zaghaft mit angehaltenem Atem.
»Herein!«
Markus kannte die Stimme. Sie weckte nichts Freundliches in ihm.
Er trat ein. Das Zimmer war dunkel, soweit nicht der Lichtkreis einer Lampe reichte, die auf dem Schreibtisch stand, der die Hälfte des Zimmers einnahm.
Der Kaufherr saß über ein Schriftstück gebeugt, das er mit anderen zu vergleichen schien. Es dauerte eine Weile, bis er den Kopf hob und seine kühlen großen Augen auf den Knaben richtete.
»Nimm die Mütze ab!« war das erste, was er sagte.
»Ach ja...«
Mit einem Ruck hatte Markus die Mütze vom Kopf gerissen.
Im Zimmer roch es nach sehr starken Zigarren, die Luft war graublau und wohlig schwer. Markus hüstelte und blinzelte mit den Augen.
»Setz dich.«
Markus entdeckte mit Mühe einen schweren, dunklen Eichenstuhl, dem Vater gegenüber am Schreibtisch. Behutsam ließ er sich auf ein Eckchen nieder.
»Wie alt bist du?«
Das Unerwartete der Frage verwirrte ihn so, daß er zu stottern anfing. »Sechs... bald sieben... nein, sieben... ich war sieben.«
»Was kannst du?«
Markus verstand nicht gleich.
»Was du kannst... lesen...«
»Ja, lesen, schreiben, rechnen, Französisch, Geographie, biblische Geschichte...«
Markus preßte die feuchten Finger aneinander und dachte krampfhaft nach, was er noch konnte. Aber es war nichts. Er wiederholte:
»Französisch, Geographie, Rechnen...«
»Schon gut. Nach Neujahr kommst du in die Schule nach Berlin.«
Markus schwieg.
»Hast du verstanden?«
»Ja.«
Es blieb einen kurzen Augenblick still im Zimmer, dann ganz leise:
»Und Mami?«
Der Kaufherr fuhr sich mit einer nervösen Bewegung über das glattrasierte Gesicht.
»Fräulein Hindersin bleibt selbstverständlich hier.«
»Ja...«
Markus suchte irgendeinen Halt in dem großen, dunklen Zimmer. Er war kalt bis in die Fußspitzen. Seine großen Kinderaugen irrten wie verloren an den Wänden entlang. Ein breiter goldener Rahmen schimmerte zu ihm herüber.
Der Kaufherr fing den Blick auf.
»Das ist das Bild deiner Mutter«, sagte er klar und scharf. »Ich war nur ein Jahr mit ihr verheiratet; sie starb gleich nach deiner Geburt. Sie war eine schwächliche Frau, eine gute, liebe Frau. Ich habe mich bis heute nicht wieder verheiratet.«
Markus wollte weinen, aber er schämte sich. Wenn der Vater ihn jetzt gerufen hätte, dann wäre er ihm um den Hals gefallen und hätte ihn so lieb gehabt, so lieb...
Aber der Vater rief ihn nicht.
»Du hast deine Mutter nicht gekannt, ich kann nicht von dir verlangen, daß du sie liebst, und daß du ihr Andenken ehrst, wie ich es geehrt habe. Dies aber bleibt bestehen, auch wenn ich dir eine zweite Mutter gebe.«
Markus sprang auf.
»Sitzenbleiben!« gebot Herr Lukas streng.
»Ich heirate also noch einmal, und ich heirate jemanden, den du sehr gern hast...«
»Mami...«
»Ja, Fräulein Hindersin. Sie ist dir in Wahrheit eine zweite Mutter gewesen. Ich nehme an, du bist sehr glücklich darüber.«
Markus wiederholte nur tonlos:
»Mami...«
Ihm war, als hätte man ihm auf einmal alles, was sein eigenstes Eigentum war, genommen.
»Du wirst heute mit Fräulein Hindersin am Familienessen teilnehmen und dich anständig benehmen. Um neun Uhr wirst du dich von den Herrschaften verabschieden, Fräulein Hindersin die Hand küssen und allein in dein Zimmer gehen, wie ein großer Junge, hast du mich verstanden?«
»Ja.«
»Du wirst fortan Fräulein Hindersin mit demselben Respekt begegnen wie mir und dich nicht mehr auf der Straße mit ihr herumbalgen. Ich habe dich von meinem Fenster aus beobachtet. Das schickt sich nicht mehr. In vierzehn Tagen bringe ich dich nach Berlin. Ich hoffe, du wirst dich dort wohl fühlen. Zu den großen Ferien kommst du nach Hause. Wenn du mit dem Gymnasium fertig bist, trittst du hier ins Geschäft ein. So, nun weißt du alles, was du zu wissen brauchst. Jetzt gib mir die Hand und versprich mir, ein braver, tüchtiger Junge zu sein. Dein Leben liegt glatt vor dir. Verdirb es dir nicht!«
Die Hand des Knaben lag kalt und feucht in der des Vaters.
»So, Markus, nun kannst du gehen.«
Automatenhaft schritt Markus zur Tür. Wortlos. Die Gedanken waren ihm wie eingefroren im Gehirn. Er klapperte mit den Zähnen. Er tappte ein paarmal nach der Klinke, ehe er sie fand. Plötzlich war ihm, als müßte er schreien, sich auf den Boden werfen, mit Armen und Beinen um sich schlagen.
»Mach die Tür zu, es kommt kalte Luft herein«, sagte der Vater.
Er zog die Tür hinter sich zu.
Oben machte ihm Albert auf.
»Was ist dir, Markus, bist du krank? Du hast dich gewiß erkältet.«
»Wo ist sie? ...«
Der Alte verstand. Er beugte sich tief herab.
»In ihrem Zimmer, Markuschen. Hat der Papa dir gesagt? ... Na ja, wir haben's uns alle schon lange gedacht...
Aber sie hat dich gern ... du wirst's nicht schlecht haben bei ihr.«
»Das ist es nicht ...« rang es sich qualvoll von Markus' Lippen, »das ist es nicht ...«
Er ging leise auf den Fußspitzen über die knarrende Diele nach seinem Zimmer. Im Vorbeigehen sah er die für den Abend gedeckte Tafel, noch länger als sonst, mit vielen Blumen geschmückt und schwerem glitzerndem Silber. An dieser Tafel sollte heute auch er sitzen. Aber um neun Uhr mußte er aufstehen, mußte ihr die Hand küssen ...
Wenn er sie dabei nur kneifen könnte, daß sie vor Schmerz aufschrie! ...
Alle würden erschreckt aufspringen, der Vater würde ihm eine Ohrfeige geben ... aber ändern würde das nichts ...
»Die Falsche, Falsche! ...«
Auf seinem Bett lag sein neuester Anzug ausgebreitet, der feine hellblaue Matrosenkragen, ein weißes Taschentuch, in das sie selbst seinen Namen eingestickt hatte, während sie beide französische Vokabeln lernten.
Einmal hatte er sie dabei ausgelacht, weil sie sich ein Wort durchaus nicht merken konnte, und dann hatte er ihr lange Nasen gemacht und hatte sie an den feinen blonden Härchen gezupft; und dann für ein Stückchen Schokolade hatte er ihr großmütig das Wort gesagt ...
Heute mußte er ihr die Hand küssen vor allen! ...
Er nahm seinen Anzug, seinen Matrosenkragen, sein feines Taschentuch und schleuderte alles heftig gegen die Tür ihres Zimmers. Dann lauschte er. Es blieb alles still. Nur ab und zu ein leises Geräusch wie von einer auf Glas fallenden Haarnadel.
Jetzt eine fremde Frauenstimme:
»Bitte, den Kopf etwas nach rechts.«
Sie ließ sich frisieren...
Eine halbe Stunde später trat Maria Hindersin in sein Zimmer.
Er lag auf dem Bett und schlief. Seine Augenlider waren geschwollen, die eine Hand hielt ein noch feuchtes Taschentuch krampfhaft umschlossen.
Sie stand eine Welle da, schwankend, ob sie ihn wecken sollte. Dann wandte sie sich leise aufseufzend ab, holte die herumliegenden Sachen zusammen und verließ auf den Zehenspitzen die Stube.
Albert stellte im Speisezimmer den Wein in die silbernen Kühler.
»Ich bitte, helfen Sie Markus sich rasch ankleiden,« sagte sie zu ihm, »ich will unterdessen das letzte an der Tafel ordnen.«
Markus saß beim Essen zwischen dem Kapitän und der Tante Dutschmann.
»Nicht so viel essen, Markuschen«, flüsterte ihm Albert beim Servieren zu.
Aß er wirklich so viel? Er merkte das gar nicht. Er aß nur, um nicht um sich blicken zu müssen. Er wollte weder den Vater sehen noch sie.
»Sie« hatte ein weißes Kleid an und eine komische neue Frisur, in der sie ganz anders aussah. Manchmal lachte sie und nickte ihm zu, beinahe, als wollte sie ihm etwas abbitten.
Er hätte ihr zu gern die Zunge herausgestreckt. Wenn nur der Vater nicht gewesen wäre. Da es eben nicht anging, stopfte er sich beide Backen voll. Dann fiel ihm ein, wie sie ihm heute gesagt hatte: »Du frißt auch den ganzen Tag.« – Ach, wenn er ihr doch nur etwas antun dürfte!
Er sah auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde, und er mußte ihr die Hand küssen. Gut. Aber von ihr ließ er sich nicht mehr küssen... nie mehr. Die Falsche... Falsche...
Der Vater klopfte ans Glas. Es wurde ganz still, und dann tönte die spröde, harte Stimme über alle hochgehobenen Köpfe hinweg, und Worte reihten sich an Worte, Sätze an Sätze... Markus verstand von dem allem nur das letzte: »Stoßen Sie an mit mir auf das Wohl meiner lieben Braut, Fräulein Maria Hindersin.«
Markus dachte, alle würden nun den Vater in die Rippen stoßen, und das kam ihm so spaßig vor, daß er seinen Mund zu breitem Grinsen verzog.
»Du freust dich, kleiner Held, was?« sagte der Kapitän und kniff ihm die Wange.
»Na komm, nimm dein Glas, jetzt mußt du mit deiner künftigen Mama und dem Papa anstoßen.«
Ach – so war's gemeint...
Markus fand das Gläserklirren sehr nett. Erst stieß er mit dem Vater an.
»Danke, mein Junge«, sagte er und küßte ihn auf die Stirn.
Markus wurde verwirrt. Der Kapitän schob ihn: »Allons, junger Mann, die junge Mama...« zur Braut seines Vaters.
Markus hob sein Glas... und kling, klang... hatte er sein Glas so heftig an das ihre gestoßen, daß beide Tulpen zersprangen und der Sekt auf Maria Hindersins weißes Kleid und seinen eigenen Anzug herabfloß.
»Tölpel!« rief der Vater und suchte mit der Serviette das weiße Kleid zu trocknen.
Tante Dutschmann bemühte sich um den Knaben.
Er hatte einen feuerroten Kopf und sah sehr beschämt aus. Innerlich frohlockte er. Ein klein bißchen hatte er sich doch gerächt... Und wie schlau! Er war sehr zufrieden mit sich, als er sich eine Riesenportion Plumpudding auflegte.
»Markuschen!« warnte Albert entsetzt.
Aber sonst kümmerte sich niemand um ihn. Dann gab es noch kandiertes Obst und Weintrauben.
Er ließ sich nichts entgehen.
Wie durch einen dichten Nebel sah er die ganze Tafelrunde, hörte »ihr« Lachen.
Es war ihm übrigens ein fremdes Lachen; mit ihm hatte sie immer ganz anders gelacht. Er haßte sie wieder... so recht von Herzen, wie es ihm nur mit seinem vollgepfropften Bauch möglich war.
Und dann sagte der Vater:
»Mein Junge, es ist neun Uhr.«
Er erhob sich. Machte vor jedem seinen Kratzfuß, gab jedem die Hand, auch dem Vater. Zuletzt kam er auf Maria Hindersin zu.
Sie nahm seinen Kopf zwischen die Hände und wollte ihn küssen. Aber er riß sich los.
Dann griff er nach ihrer Hand und führte sie an seinen Mund. Aber statt einen Kuß darauf zu drücken, grub er seine festen kleinen Zähne in das zarte weiße Fleisch.
Sie schrie leicht auf.
»Was ist das für ein Unfug, Junge?!«
Der Vater sah so zornig aus, daß ihm todangst wurde. Er lachte verlegen nach Kinderart.
»Das war ja nur Spaß...«
»Ich verbitt' mir solchen Spaß! Marsch, in dein Zimmer!«
Er ließ sich's nicht zweimal sagen. Wie der Blitz war er draußen.
In seinem Zimmer war es still und kühl – fast kalt nach dem überwarmen Speisesaal.
Er kleidete sich rasch aus und kroch ins Bett.
Von drüben drangen Stimmengewirr und Gläserklirren dumpf zu ihm herüber.
Jetzt tat ihr die Hand gewiß sehr weh... O, er hatte fest hineingebissen – gar nicht »ein bißchen«, gar nicht »zum Spaß...« Ein bißchen mehr, und es wäre Blut geflossen. Die Falsche, die Falsche...
Gott sei Dank, daß er nach Berlin kam. Er wollte bis dahin auch kein Wörtchen mit ihr sprechen. Und bei den Vokabeln würde er ihr auch nicht mehr helfen, und nie würde er ihr mehr einen Kuß geben, und nie durfte sie mehr in sein Zimmer kommen... niemals.
Er ballte die Hände und schlug zornig auf die Kissen.
Dann schlief er ein.
Nachts wachte er auf. Es war ganz dunkel und still in seinem Zimmer. Ihm war sehr übel. Und jetzt stach es ihm in den Leib, jetzt krampfte sich sein Magen zusammen.
Er brüllte los.
»Mami...! Mami...! Mami...!«
Sie stürzte herein, einen kurzen Unterrock um die Hüften, den blonden Zopf im Nacken.
Wie ein kleines Mädchen sah sie aus.
»Mami, mir ist so schlecht, Mami, bleib' doch bei mir... o Gott...«
»Na ja... Freßsack du... das war's...«
Sie mußte lachen, wie sie ihn noch immer so kläglich da liegen sah.
»Daran stirbt man nicht, du Hasenfuß.«
Er drückte ihre Hand und küßte sie dankbar und demütig.
»Es war schrecklich, Mami, wie ich so traurig war und dich nicht leiden konnte.«
»Und jetzt?...«
Er antwortete nicht. Sie glaubte, es sei aus Müdigkeit.
Aber er wog nur ab, was er verloren, was er gewonnen hatte.
Es war die erste Bilanz seines Lebens.
Markus sollte in Berlin in der Familie von Dr. Labisch untergebracht werden. Dr. Labisch war Oberlehrer am Joachimsthalschen Gymnasium und hatte einst die Ferienwochen im Lukasschen Hause in Bremen verbracht, um den jetzigen Chef der Firma zum Abiturium vorzubereiten. Seitdem hatten die jungen Leute von Zeit zu Zeit korrespondiert, hatten einander später die Vermählung- und Todesanzeigen zugeschickt und waren auf diese Weise immer in loser Verbindung geblieben.
Dr. Labisch war seit fünfzehn Jahren Ehemann. Er hatte kurz nach der Promotion ein elegantes, reiches Mädel bekommen, die Tochter eines bekannten Konditors der Friedrichstadt, die auf Titel ausging und sich schließlich mit dem einer »Frau Doktor« zufrieden gab. In den letzten Jahren war die blühende Bäckerstochter aber schmal und blaß geworden – noch bleicher vom Puder, den sie auflegte. Aber doch hübsch, hübscher sogar als früher, vergeistigter, nervöser. Das dritte Kind hatte sie ihre Gesundheit gekostet. Das erste war ein Junge gewesen. Das zweite ein Mädchen. Sie hatte es abgöttisch geliebt. Mit zehn Jahren war es gestorben. Das dritte war wieder ein Junge – ein kleiner Krüppel, taubstumm, gelähmt, mit einem wundervollen kleinen Kopf, auf dem wie zusammengewachsenen kleinen Körperchen.
Als sie zum erstenmal aufstand und sich im großen Stehspiegel sah, erkannte sie sich selbst kaum wieder. Ihre Haare waren grau geworden. Ihre vollen, blühenden Lippen hatten sich zu zwei Strichen verdünnt, der blendend weiße Teint mit dem rosigen Inkarnat war plötzlich aschgrau.
Sie war immer eitel gewesen und blieb es auch jetzt. Sie färbte sich das Haar, puderte das Gesicht, gab Rot auf die Lippen und Schwarz unter die Augen. Nach einigen Wochen erholte sie sich auch einigermaßen. Sie wurde wieder hübsch. Freilich ganz anders. Nicht so hübsch, wie man das in Lehrerkreisen gern sah. Auf der Straße trug sie Pariser Schleier – dann sah sie geradezu verführerisch aus.
Man belästigte sie oft. Es schmeichelte ihr. Sie hielt krampfhaft die entfliehende Jugend fest und ließ sich von ihr ein bißchen im Staub schleifen.
Ihr Mann bemerkte das alles nicht. Die elegante Frau gefiel ihm, wie sie eben war. Manchmal sagte er ihr's: »Wunderhübsch siehst du heute aus.« Aber es kam ihm nie in den Sinn, ihren Toilettengeheimnissen nachzuforschen.
Der älteste Junge, Kurt, war ein kräftiger hübscher Bengel, schlau und energisch, der sich frühzeitig alle Vorteile seiner Stellung als Sohn eines Oberlehrers ausgeknobelt hatte.
Der Kleine – man nannte ihn Klumpchen – war der Obhut einer erfahrenen Wärterin aus einer Taubstummenanstalt anvertraut. Man hoffte, daß er mit der Zeit noch einigermaßen sprechen lernen würde. Später sollte er dann in eine orthopädische Anstalt kommen.
Die Mutter kümmerte sich um ihn, soweit es ihre Pflicht war, ohne innere Wärme, mit jenem leisen Gefühl instinktiven Widerwillens, das der Gesunde so oft gegen den Kranken hegt.
Den Ältesten betrachtete sie als ihren Kavalier. Mit vierzehn Jahren überragte er sie schon um eine halbe Handbreite. Da ging sie mit ihm spazieren und stützte sich auf seinen Arm. Manchmal nahm sie ihn mit ins Theater. In den Zwischenakten bot sie ihm Pralinés aus ihrer silbernen Dose an und erzählte ihm, was sie von den Darstellern wußte. Sie las viel Theaterklatsch und freute sich, daß sie darüber reden konnte.
Kurt war ein aufmerksamer Zuhörer. Manchmal wußte er mehr als sie selbst. Dann lachte sie und drohte ihm mit dem Finger.
Woher er das nun wieder hatte! ... Es gab wirklich keine Kinder mehr. Manchmal aber wurde ihr der große Junge doch unbequem. Er stellte Fragen, die sie verwirrten, und sprach zu objektiv über den Vater, dessen Harmlosigkeit er bisweilen, wenn die Mutter guter Laune war, bespöttelte. In der Schule nannten sie ihn den Gründungsparanoiker, erzählte er mal. Frau Dr. Labisch mußte erst im Lexikon das Wort »Paranoiker« nachschlagen, dann war's zum Verweis zu spät. Der Junge hatte auch manchmal so eine ganz infame Art zu lächeln, so richtig von oben, von der Höhe seiner Sekundanerweisheit herab. Er war der Jüngste in der Klasse und dabei Primus. Er wußte alles. Und alles besser.
Ihr war es darum ganz recht, daß der kleine Markus kommen sollte.
Trotz des großen Altersunterschiedes war es doch eine Ablenkung für Kurt. Jedenfalls hockte er ihr dann nicht immer auf dem Halse. Er arbeitete ja so fabelhaft leicht und hatte so unendlich viel freie Zeit.
Wenn man von der Überbürdung der Schuljugend sprach, zuckte sie mit den Achseln. Sie merkte wahrhaftig nichts davon.
Herr Lukas brachte seinen Sohn selbst nach Berlin. Dr. Labisch war mit seiner Frau am Bahnhof erschienen. Der Lukassche Nimbus erneute seine Wirkung – sie waren beide etwas bewegt. Man hatte das Gefühl, als empfinge man einen jungen Prinzen.
Natürlich mußte Herr Lukas gleich mit ihnen nach Hause fahren und bei ihnen speisen.
Am nächsten Vormittage machte der Kaufherr noch einen kurzen Besuch bei Labischs und reichte Markus zum Abschied die Hand:
»So, mein Junge, nun vergiß nicht, was ich dir zu Hause gesagt habe. Ich erwarte von dir, daß du gut lernst, daß du dich gut aufführst. Es soll dir auch an nichts fehlen.«
Markus fing jämmerlich zu heulen an. Erst in diesem Augenblick war ihm das Bewußtsein einer großen Wendung in seinem Leben gekommen.
Lukas beugte sich über ihn und küßte seine beiden Wangen.
»Ich werde Mama von dir grüßen.«
Markus antwortete nicht, und auch seine Tränen versiegten plötzlich. »Mama«, das war wieder was Neues, wieder was Fremdes...
Er schluchzte nur noch leise vor sich hin und begleitete den Vater hinaus ins Vorzimmer. Nun fand ein allgemeines Händeschütteln statt.
»Glückliche Reise!« »Auf Wiedersehen!« »Der kleine wird sich schon wohl fühlen.« »Empfehlung an Ihre Braut.« »Besten Dank für Ihre Liebenswürdigkeit!«
All die Sätze schwirrten um Markus herum, so laut, daß sein »Adieu, Papa!« lautlos verhallte.
Herr Lukas war schon auf der Treppe, da stürzte Markus ihm nach: »Papa ... die Mami laß ich grüßen und den Albert und die Hedwig! ...«
Der Kaufherr steckte sich gerade eine Zigarre an.
»Ja, ja, natürlich, aber geh jetzt nur hinein, es ist kalt... Adieu, mein Junge!« und er winkte ihm noch, ohne sich umzudrehen, mit der Hand.
So... na, die ganze umständliche Geschichte war nun geregelt. Mit ein paar Sätzen war Herr Lukas die Treppe hinunter, bestieg eine vorbeifahrende Droschke und gab dem Kutscher die Adresse eines Geschäftsfreundes an. Mit dem hatte er noch einiges zu besprechen. Vielleicht frühstückten sie dann auch zusammen irgendwo, tranken eine gute Flasche Wein und machten einen Abschluß. Ihm war nach dem konventionellen Salongelabere bei Labischs ein fader Geschmack auf der Zunge geblieben, als hätte er zu viel Süßes gegessen.
– – Markus gewöhnte sich rasch an die neuen Verhältnisse.
Äußerlich. Es wehte eine laue Luft im Hause Labisch. Und da gab es auch keine Kanten und finsteren Winkel. In der ersten Zeit gefiel es ihm – das Helle, Freundliche, das über den Räumen und den Menschen lag. Später aber kamen Augenblicke, da er sich nach dem Rappeln, Knistern und Ächzen, nach dem ganzen geheimnisvollen Spuk der alten Diele zurücksehnte, der sich in seiner Phantasie zu einer wundervollen Musik verwob, die ihm sein Vaterhaus lebendiger und inniger vorzauberte als Mamis ausführlichste Briefe. Dann weinte er still in die Kissen und schlief ein mit wehem, wundem Gefühl, das ihm tausendmal schlimmer dünkte als die jämmerliche Furcht, die er früher gehabt hatte.
Er hätte es damals noch nicht zu sagen gewußt, wie es kam, daß er sich an die neue Umgebung nur eben sehr bald gewöhnte, sie aber nie liebgewinnen konnte.
In der Schule war er ein kleiner Junge unter vielen anderen.
Auf der Straße staunte niemand seinen hübschen Mantel an. Im Hause sprachen die Dienstboten nur so viel mit ihm, wie gerade zu seiner persönlichen Bedienung nötig war.
Ihm fehlte nichts.
Er vermißte alles.
Sogar die Angst vor dem Vater.
Kurt benahm sich ganz nett. Ab und zu gab es einen Boxer, aber das war nicht schlimm. In der Schule hatte Markus sogar einen Beschützer an ihm. Und zu Hause sah Kurt manchmal seine Aufgaben durch – aus dem Bedürfnis heraus, zu belehren und zu befehlen, von irgendeiner Freundschaft konnte vorläufig natürlich nicht die Rede sein. Dazu war der Altersunterschied zu groß.
Die »Tante«, wie er Frau Dr. Labisch nannte, nahm Markus manchmal in die Stadt mit, wenn sie Besorgungen machte. Oft traf man Bekannte, »wer der kleine niedliche Junge sei?« Dann erzählte sie umständlich von dem »Patrizier« Lukas in Bremen. Ihr Mann wäre innig befreundet mit ihm und hätte den Knaben zur Erziehung zu sich genommen. – Das Wort »Patrizier« gefiel Markus ungemein. Er fragte Kurt, was es bedeute.
»Patrizier waren die vornehmsten Bürger des römischen Staates!«
»Danke«, sagte Markus, der immer sehr höflich war.
»Warum wolltest du das wissen?«
»Weil mein Vater Patrizier ist.«
»Quatsch!« entgegnete Kurt respektlos.
Markus wurde blaß.
»Wirklich, Kurt, Papa ist Patrizier. Aber frage nur, vielleicht ist dein Papa auch Patrizier oder vielleicht deine Mama!«
Kurt, dem die sonntäglichen Plünderungen in der großväterlichen Konditorei nur zu gut in Erinnerung waren, prustete laut heraus. Markus fühlte sich empfindlich verletzt.
»Es ist sehr schön, Patrizier zu sein«, sagte er eindringlich. »Man ist doch der erste, und alle haben Angst vor einem.«
»Meinst du?«
Kurt sprang auf, ballte die Hand und hob die Faust blitzschnell über den Kopf des Kleinen. Markus duckte sich zusammen.
»Was machst du?«
»Aha – siehste, davor hat man Angst!«
Und er hielt ihm die Faust unter die Nase.
Markus blinzelte den Großen verdutzt an und murmelte: »Das ist aber sehr häßlich.«
Doch er mußte lange darüber nachdenken. Und immer sah er eine große Faust, die sich über allem erhob, was ehrwürdig war und vornehm. Und vor dieser Faust duckte sich der Größte schreckhaft zusammen, wie er selbst es vorhin getan hatte.
Er betrachtete lange seine seinen, schlanken Hände und schüttelte hoffnungslos den Kopf. Er würde nie eine große Faust haben, nie... Er würde sich immer ducken müssen, immer...
Der kleine Patrizier fühlte sich wie ein abgesetzter König. Er war doch immerhin mit dem Bewußtsein, etwas Besonderes zu sein, hierhergekommen. Sohn von Lukas & Co. Und nun war das nichts? ...
Die Nacht darauf konnte er nicht schlafen. Er wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere und blinzelte hinüber nach Kurt, der einen Leuchter auf sein Bett gestellt hatte und ein broschiertes Buch mit hellem Umschlag davor hielt, in dem er eifrig las.
»Tovote« stand darauf, und darunter »Frühlingsstürme«.
Im Gang vor der Tür wurden Schritte laut. In einem Nu war die Kerze ausgelöscht, der gelbe Band verschwand unter dem Kopfkissen. Als die Schritte sich entfernten, zündete Kurt das Licht wieder an. Markus war nun ganz wach.
»Du ... Kurt...«
»Ja...«
Der Große blickte nicht auf von seinem Buch, und seine Stimme klang ungeduldig. Es war gerade jetzt kolossal spannend.
»Ja ... nun, was willst du?«
»Du – muß man sehr kräftig sein, damit die Leute vor einem Angst haben?«
»Ja, gewiß ist es gut, wenn man kräftig ist.«
»Aber wenn's nun gar nicht geht...«
»Turne fleißig – sei kein Schlappschwanz.«
»Aber wenn alles Turnen nichts nützt, ist es dann ganz unmöglich?«
»Was denn?«
»Daß man eine starke Faust hat?«
»Ach so!«
Der Große zwinkerte belustigt mit den Augen.
»Es braucht nicht bloß körperliche Kraft zu sein, wenn man nur irgendeine Macht hat... verstehst du... und sie dann so richtig gebraucht... so wie man die Faust gebraucht: Du parierst oder du kriegst eins.«
»Ach so – – «
Und Markus blickte starr in die Kerze, bis ihm die Lider schwer wurden und er einschlief.
Im November gaben Herr und Frau Dr. Labisch ihre erste Gesellschaft in der Saison.
»Gibt's bei euch auch Plumpudding zum Schluß?« fragte Markus, für den Plumpudding nach wie vor den Gipfel aller vornehmen Tafelfreuden bedeutete.
»Was ist denn das für ein Zeug? – Ach so! Nee! Eis gibt es. wir dürfen's nicht feiner haben als der Direx, verstehst du, Markus?«
»Das würde ihn kränken?«
»Fuchsen würd's ihn, und das könnte Papa schaden. O, Mama ist eine sehr kluge Frau – Papa weiß gar nicht, was er an ihr hat.«
Markus sperrte Mund und Augen auf. Diese unbefangene Respektlosigkeit verwirrte alle seine Begriffe.
»Na, überhaupt ein Vergnügen, diese Abende! Mama hat den Direktor an ihrer Seite – einen Mummelgreis, der jedes Jahr ein Büchlein über irgendein deutsches Wort schreibt. Mama findet's immer auf ihrem Teller, wie wenn's ein Veilchenstrauß wäre, und Papa reiht's in seine Bibliothek ein, mitten unter die ungebundenen Bücher. Aber vorher muß ich die Seiten aufschneiden, und Mama macht Bleistiftzeichen an der Seite, wenn der Alte kommt, sieht er jedesmal nach und schmunzelt. 's ist zum Heulen!«
Und Kurt hielt sich den Bauch vor Lachen.
Frau Dr. Labisch kam herein. Sie hatte einen fliederfarbenen Schlafrock an und sah ungemein leidend und lieblich aus.
»Was gibt's denn, Kurt?«
»Ich sprach vom Direktor, Mama... Du weißt doch...«
»Naseweiser Bengel!«
Sie gab ihm einen Nasenstüber, und er küßte im Fluge ihre schlanken Finger.
»Aber das bitte ich mir aus, Mama – Resteressen mit meinen Freunden, was?«
»Ja, ja... selbstverständlich. Und du, Markus, ladest du dir vielleicht auch einen oder zwei Freunde dazu ein, willst du?«
Sie neigte sich liebenswürdig zu dem Knaben herab und fuhr ihm leicht über das seidenweiche, glattgescheitelte Haar.
»Danke, Tante, aber ich habe noch keine Freunde, ich bin noch so fremd.«
»Schön. Also das nächste Mal. Aber Freunde mußt du dir anschaffen. Es ist nicht gut, wenn du allein bleibst, und Kurt ist zu alt für dich. Ich glaube, er tyrannisiert dich, was, Markus?«
»O nein... ich möchte keinen andern Freund haben.«
»Da hast du's, Mama! Hast ja gar keine Ahnung, was der Junge alles von mir lernt!«
»Kann mir's denken, du Schlingel!« Frau Dr. Labisch ging langsam stöbernd durch das Zimmer und griff mit sicherer Hand unter Kurt Kopfkissen.
»Was hast du denn da schon wieder?«
Sie schlug ein Buch auf.
»Schnitzler...«
Kurt stürzte auf sie zu und entriß ihr den Band.
»Laß das. Das ist nichts für dich!«
Er war sehr rot geworden und verbarg das Buch unter der Jacke, die er zuknöpfte.
Frau Dr. Labisch zog nervös die Brauen zusammen.
»Höre, Kurt, ich verlange, daß du mir das Buch gibst! Ich will nicht, daß du – solche Bücher liest!«
»Woher kennst du es denn?« fragte Kurt langsam und mit Betonung.
Sie wurde ihrerseits rot und antwortete hastig: »Ich kenne es nicht; ich weiß nur, es ist ein abscheuliches Buch, das ganz ungeeignet ist für dein Alter!«
Kurt lachte wieder.
»Wenn ich nur das lesen sollte, was für mein Alter geschrieben wird, da würdest du dich überhaupt nie mehr mit mir unterhalten. Na, siehst du – jetzt lachst du!«