Du verstehst mich einfach nicht - Dr. Tara Porter - E-Book

Du verstehst mich einfach nicht E-Book

Dr. Tara Porter

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Beschreibung

Du hast heute so viele Möglichkeiten wie sie Frauen nie zuvor hatten, doch diese Freiheit bringt enorme Herausforderungen mit sich. Du musst so viel entscheiden und stehst ständig unter Druck, du sollst dich beweisen und zeigen, was du kannst. Gleichzeitig musst du für dich herausfinden, was du eigentlich willst und was dir guttut.
Die Psychologin Tara Porter hilft dir dabei, dich besser kennenzulernen, damit du emotional kompetent und selbstbewusst erwachsen wirst. Sie erklärt, woher Ängste kommen und wie man mit ihnen umgehen kann, wie dich deine Familie prägt und warum Freundschaften so wichtig sind. Hier bekommst du das Werkzeug, um dich und deine Gefühlswelt besser zu verstehen.

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Seitenzahl: 470

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INHALT

Über dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungEinleitungKapitel 1Toxische ErziehungWas hilft, ist eine gute BindungBindung während der TeenagerzeitKapitel 2Das Pendel der PubertätFamilien sind komplexe SystemeAktive ElternschaftÜberfürsorgliche ElternDisziplin, Grenzen und RegelnDen Erziehungsstil deiner Eltern akzeptierenGeschwisterFamilien: Gute Zeiten, schlechte ZeitenKapitel 3Weibliche Freundschaften und ihre MusterSich einfügen – Gleichgesinnte findenProbleme in Freundschaften: soziale Unbeholfenheit, soziale Ängste und die Autismus-Spektrum-StörungGrenzenJetzt habe ich dir also erzählt, wie Freundschaften sindKapitel 4Was sind Gefühle? Emotionen? Gedanken?Dein emotionaler und dein rationaler VerstandWo stehst du im Hinblick auf deine Gefühle?Starke negative Emotionen: Negative BewältigungsstrategienDie Grundlagen psychischer GesundheitDeine Gefühle aktiv bewältigenKapitel 5Was ist Angst?Interne und externe Angst-AuslöserDie AngstspiraleDie Angstspirale im sozialen KontextWarum ist es gerade heute so stressig?AngstbewältigungAngstbewältigung durch das VerhaltenGibt nicht dein Bestes, sei nicht die Beste – leb dein bestes LebenKapitel 6Bildung und psychische GesundheitEs gibt einen anderen Weg: realistische ErwartungenDie Wahrheit über UniversitätenClever statt lange studierenDas Recht, auch mal über die Stränge zu schlagenKapitel 7Nimm dich vor den Gesunde-Ernährung-ist-wichtig-Botschaften in AchtDeine KörperformDein falsches KörperbildDiätenWie Diäten zu Überessen führen: Der Was-soll’s-EffektEin ziemliches Dilemma: Willensstärke und DiätenNach dem Alles-oder-nichts-Prinzip essen und der Jo-Jo-EffektKörperliche ZufriedenheitWie Essen gehtEssen, Ernährung, Gewicht und Figur: Wie man in einer verrückten Welt nicht den Verstand verliertKapitel 8Die 24/7-KulturWie Stimulation das psychische Wohlbefinden beeinflusstBildschirmsüchtig?Der Internet-TaifunWerte oder: Wer dem Glück hinterherrenntEntscheidungen treffen und deinen Werten treu bleibenVergleiche und PerfektionismusEinsamkeit und VerletzlichkeitDas ist nicht genug; ich habe genug davon; ich bin nicht genugBildschirme: Freiheit oder Sklaverei?Kapitel 9LGBTQ+Liebe und der kluge VerstandWarum fühlst du dich zu jemandem hingezogen?JagdfieberSich rarmachen?Liebe und Respekt vor dir selbstDeine sexuelle EntwicklungLetzte Gedanken über die LiebeSchlusswortDanksagungWenn du mehr wissen willstQUELLENEndnoten

Über dieses Buch

Du hast heute so viele Möglichkeiten wie sie Frauen nie zuvor hatten, doch diese Freiheit bringt enorme Herausforderungen mit sich. Du musst so viel entscheiden und stehst ständig unter Druck, du sollst dich beweisen und zeigen, was du kannst. Gleichzeitig musst du für dich herausfinden, was du eigentlich willst und was dir guttut.

Die Psychologin Tara Porter hilft dir dabei, dich besser kennenzulernen, damit du emotional kompetent und selbstbewusst erwachsen wirst. Sie erklärt, woher Ängste kommen und wie man mit ihnen umgehen kann, wie dich deine Familie prägt und warum Freundschaften so wichtig sind. Hier bekommst du das Werkzeug, um dich und deine Gefühlswelt besser zu verstehen.

Über die Autorin

Dr. Tara Porter ist leitende klinische Psychologin für den britischen NHS mit über 25-jähriger Erfahrung als Therapeutin, insbesondere junger Menschen. Sie ist außerdem Kolumnistin für psychische Gesundheit bei der Times und betreibt eine eigene Praxis. Tara Porter arbeitet nicht nur mit Kindern und Jugendlichen, sondern hat auch drei eigene Kinder, sie lebt mit ihrer Familie im Norden Londons. Du verstehst mich einfach nicht ist ihr erstes Buch.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der englischen Originalausgabe:

»You Don’t Understand Me«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2022 by Dr. Tara Porter

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2023 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Textredaktion: Iris Rinser, Großkarolinenfeld

Umschlaggestaltung: SO YEAH DESIGN, Gabi Braun

Einband-/Umschlagmotiv: © shutterstock.com: magic_creator | Nicetoseeya

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-4185-9

luebbe-life.de

luebbe.de

lesejury.de

Für Ella, für Charlie, für Joe.Für immer.

Einleitung

Psychologie: die Wissenschaft des menschlichen Geistes und seiner mentalen Vorgänge, insbesondere derer, die sich auf das Verhalten in einem bestimmten Kontext auswirken

In meiner Laufbahn als Therapeutin und Psychologin habe ich mit Hunderten von Mädchen gesprochen. Auf diesen Gesprächen beruht dieses Buch: auf den Geschichten, Hoffnungen, Ängsten, Gedanken, Gefühlen, dem Verhalten, den Misserfolgen und Triumphen dieser Mädchen. Es enthält das, was ich durchs Zuhören gelernt habe, und das, was ich lernen musste, um ihnen helfen zu können. Dieses Buch ist aus den Kämpfen und den Erfolgen dieser Mädchen entstanden.

Du verstehst mich einfach nicht handelt davon, wie man sich durch die Lebensphase der Teenagerin und jungen Frau navigieren kann, indem es Werkzeuge dafür bereitstellt, wie man emotional kompetent und selbstbewusst erwachsen wird. Im Verlauf der Jahre meiner klinischen Tätigkeit habe ich beobachtet, wie die Chancen und die Macht von Teenagermädchen exponentiell gestiegen sind. Ihr Mädchen stellt die Jungs im akademischen Bereich in den Schatten; das Geschlechterverhältnis unter den Studienanfänger*innen in Medizin und Jura ist heute ausgeglichen; Teenagerinnen und junge Frauen zeigen, wie viel Power sie haben – im Feminismus mit #metoo und in puncto Klimawandel mit Schulstreiks. Durch die technologische Revolution gehören Mädchen heute zur ersten Generation von Frauen, die Digital Natives sind: Es hat nie eine Zeit gegeben, in der das Internet nicht Teil eures Lebens war, und ihr geht mit Bildschirmen ganz instinktiv um. Diese Veränderungen bedeuten, dass euch am Ende eurer Teenagerzeit ein Ausmaß an Freiheit und Möglichkeiten zur Verfügung stehen, die für Frauen eine Generation vor euch undenkbar gewesen wären.

Manche Dinge entwickeln sich für Mädchen und junge Frauen ganz klar in die richtige Richtung, aber andere Dinge laufen total falsch. Klar ist: Mit der größeren Freiheit, den umfassenderen Wahlmöglichkeiten und dem starken Empowerment gehen ungeheure Herausforderungen einher. Wir alle sind uns bewusst, dass psychische Erkrankungen bei jungen Menschen zunehmen – doch die Statistiken sind irreführend. Die Zahlen zu psychischen Krankheiten sind bei Jungen und jüngeren Mädchen tatsächlich relativ stabil. Bei Teenagerinnen und jungen Frauen nehmen sie allerdings massiv zu. Selbstverletzendes Verhalten ist bei Mädchen zwischen 16 und 24 Jahren in Großbritannien von rund 6 Prozent im Jahr 2000 auf aktuell rund 20 Prozent hochgeschossen.

Es sind verzweifelte Mädchen, wie diejenigen, denen ich im Behandlungszimmer begegnet bin. Ich habe versucht zuzuhören, welche Erfahrungen sie gemacht haben. Dabei habe ich durch die Brille meines klinischen Wissens geschaut und durch die Brille meines kollektiven Wissens, das ich durch die Erzählungen anderer, gleichaltriger junger Menschen gewonnen habe, sowie durch die Geschichten der Generationen vor ihnen. Ich versuche, jeder jungen Frau dabei zu helfen, ihre innere Welt besser zu verstehen, damit sie sich auch in der äußeren Welt zurechtfinden kann. Und manchmal passiert etwas Überwältigendes in meinem Behandlungszimmer: Indem ich diesen Mädchen dabei helfe, Ordnung in ihr inneres Chaos zu bringen, lernen sie, anders zu denken – und das wiederum hilft ihnen, anders zu handeln, andere Entscheidungen zu treffen und, in der Folge, sich besser zu fühlen.

In diesem Buch arbeite ich die Gemeinsamkeiten all dieser Erfahrungen heraus und teile sie mit euch. Was ihr hier lest, ist die Summe der kollektiven Weisheit dieser Erfahrungen, ergänzt durch meine Beobachtungen und Überlegungen, die ich durchs Zuhören gewonnen habe. Ich möchte euch Werkzeuge an die Hand geben, damit ihr euch selbst besser versteht, euch selbst mit Mitgefühl begegnet und die Freiheit, die Mädchen heute haben, klug nutzt – und nicht auf Kosten eurer psychischen Gesundheit. Ich will nicht, dass sich noch mehr Mädchen selbst verletzen oder hungern, sich von Angst lähmen lassen, denken, die Welt wäre ohne sie besser dran. Es reicht. Ich will, dass ihr euch mit Wissen über euch selbst bewaffnet – Wissen darüber, wie ihr nicht bloß irgendwie durchkommt, sondern wie ihr aufblühen und erfolgreich sein könnt. Ich will, dass ihr lernt, euch in die Lüfte zu schwingen und zu fliegen, selbstbewusst und mit klarem Verstand. Ich wünsche mir, dass mein Job und ich irgendwann überflüssig werden.

An all meine jetzigen und früheren Patientinnen: Erstens, tausend Dank dafür, dass ihr eure Geschichten mit mir geteilt habt. Zweitens, keines dieser Fallbeispiele seid ihr. Warum? Weil ich sie erfinden musste, um eure Privatsphäre zu schützen. Offen gesagt, es hat mich viel Zeit gekostet herauszufinden, wie das gelingen kann. Ich hatte Sorge, dass das Buch weniger wahr oder aufrichtig wirken würde. Deshalb habe ich Folgendes getan: Ich habe mich dafür entschieden, nur dann Fallbeispiele zu verwenden, wenn ich zwei oder drei junge Menschen kenne, die dieses Problem gehabt haben, und ihre Geschichten miteinander zu verflechten. Anschließend habe ich alle irrelevanten Details aussortiert und ein paar neue hinzugefügt, damit die Geschichten anschaulich bleiben. Ich habe das getan, um das, was ihr mir anvertraut habt, zu schützen. Und ich habe es getan, weil die Fallgeschichten einen allgemeineren Punkt offenlegen sollen – das ist das Wesentliche, und nicht wie alt ihr seid oder wie ihr ausseht. Das heißt, damit dieses Buch für viele Menschen relevant ist, habe ich die Dinge, die ich von euch gelernt habe, in fiktionalen Figuren zusammengeführt.

Ein Hinweis zur Sprache: Dieses Buch beschreibt Übereinstimmungen, die ich im Rahmen meiner Arbeit mit Teenagerinnen und jungen Frauen beobachtet habe. Nicht alle davon sind für alle Mädchen und Frauen relevant, weil ihr, natürlich, eine diverse Gruppe seid, und vieles davon ist ebenso relevant für Jungen und junge Männer. Ich habe nicht mit genug jungen Menschen gearbeitet, die ihre geschlechtliche Identität als divers bezeichnen würden, oder jungen Menschen, die sich im Prozess einer Geschlechtsangleichung befinden, um mit Fachwissen über ihre Psyche aufwarten zu können. Ich hoffe, ihr könnt euch in dem, was ihr hier lest, zumindest zum Teil wiederfinden. Für mich ist Gender ein soziales Konstrukt und etwas Selbstbestimmtes – was ein Buch, das sich an Mädchen und junge Frauen richtet, in gewisser Weise zu einem Widerspruch macht. Trotzdem stehe ich dazu, denn das Datenmaterial, das uns vorliegt, zeigt, dass junge Frauen zurzeit stärker unter psychischen Gesundheitsproblemen leiden (und sich stärker für ein Psychologiestudium interessieren) – was nahelegt, dass es eine gewisse Notwendigkeit oder zumindest den Bedarf eines geschlechtsspezifischen Buches gibt. Ich benutze Sprache im Stil der jungen Menschen, mit denen ich zu tun habe. Wenn ich die Begriffe »Mutter«, »Vater« und »Eltern« benutze, dann stehen sie für all die Menschen, die diese Rolle für euch erfüllen, einschließlich Stiefeltern, Vormunde, Pflegeeltern und Ähnliches.

Dieses Buch kann inhaltlich natürlich nicht allumfassend sein. Es ist viel stärker aus meiner klinischen Erfahrung als aus wissenschaftlichen Studien heraus entstanden, und es gibt ein paar Themen und Probleme, mit denen ich nicht genug klinische oder persönliche Erfahrung habe, um sie abzudecken, finde ich. Tatsächlich wurde mir beim Schreiben dieses Buches schmerzlich bewusst, dass ich in manchen Bereichen über wenig Erfahrung und Wissen verfüge. Ich weiß zum Beispiel viel über Anorexie, Abnehmen und intuitives Essen, aber wenig über Body Positivity. Warum erzähle ich euch das? Weil ich hoffe, dass ihr euch beim Lesen hier und da gesehen und erkannt fühlt. Aber natürlich kenne ich euch nicht, und vielleicht erfasse ich eure Gedankenwelt in einem bestimmten Bereich recht exakt und in einem anderen überhaupt nicht. Einer meiner liebsten psychologischen Aufsätze heißt »Wissen, was man nicht weiß« – und es gibt eine Menge Dinge, die ich nicht weiß. Ich entschuldige mich an dieser Stelle für all die Dinge, die ich übersehen habe, und ich werde mich weiterbilden.

Am Ende des Buches gibt es darum den Abschnitt Wenn du mehr wissen willst. Dort liefere ich Belege und empfehle weiterführende Literatur, insbesondere zu einigen der Dinge, über die ich selbst nicht viel weiß.

Zu guter Letzt: Dieses Buch beschäftigt sich in erster Linie nicht mit psychischen Krankheiten. Es geht um psychische Gesundheit – die tägliche Psychologie von Mädchen und jungen Frauen. Ich hoffe, das Buch wird denjenigen von euch helfen, die unter einer psychischen Krankheit leiden, aber ich hoffe, dass sich auch alle anderen von euch ein Stück weit in diesem Buch wiederfinden. Ich hoffe, es hilft euch dabei, das, was sich in den dunklen Winkeln eurer Seele versteckt und was ihr nur schwer ausdrücken könnt, in Worte zu fassen. Am meisten hoffe ich, dass ihr euch verstanden fühlt.

KAPITEL 1

BINDUNG UND ZUGEHÖRIGKEIT

»Wir mögen unsere Kinder von ganzem Herzen lieben, dennoch werden nicht alle Kinder unsere Liebe spüren … In den ersten zwei oder drei Lebensjahren wird das Gehirn beziehungstechnisch programmiert.«

RICHARD BOWLBY, BRITISH PSYCHOLOGICAL SOCIETY

Ich frage mich, warum du dieses Buch in die Hand genommen hast. Vielleicht hat es dir jemand geschenkt, der sich Sorgen um dich macht oder einfach dachte, das Thema könnte dich interessieren. Vielleicht denkst du darüber nach, Psychologie als Kurs in der Schule zu belegen, und willst wissen, worum es da überhaupt geht. Oder du fühlst dich ein bisschen verloren und willst dich selbst besser verstehen. Vielleicht machst du dir Sorgen, bist traurig oder fühlst dich nicht wie du selbst und suchst nach Hilfe. Vielleicht tust du dir selbst oder anderen Menschen weh.

Während ich schreibe, stelle ich mir vor, wer du bist. Ich stelle mir vor, dass du eine junge Frauen bist, die mein Behandlungszimmer betritt – grundsätzlich neugierig auf eine Therapie, aber skeptisch, ob ich genau dich verstehen werde; vielleicht fühlst du dich verloren oder einsam – oder ein bisschen aufgeschmissen. Vielleicht zieht es dich manchmal in eine falsche Richtung, dann schaust du betreten zu Boden. Und gleichzeitig bist du immer, immer einzigartig. Du bist definitiv großartiger, klüger und lustiger, als du glaubst. Ich frage mich, ob du jetzt denkst: »Tja, da liegt sie falsch – bin ich nicht.« Doch, ganz ehrlich, bist du.

Alle jungen Frauen, die ich treffe, sind einzigartig, aber sie haben auch Dinge gemeinsam. Themen. Dinge, die ich gelernt habe und immer noch lerne, indem ich ihnen zuhöre. Manche davon werde ich hier teilen, um psychologische Konzepte zu veranschaulichen, die dir dabei helfen, herauszufinden, was mit dir los ist. Nicht alle dieser Geschichten werden für dich relevant sein, und wenn du das Inhaltsverzeichnis überfliegst, bekommst du vielleicht eine Idee davon, welche Kapitel am meisten mit dir zu tun haben und welche du überspringen möchtest. Dieses Kapitel kommt dir auf den ersten Blick vielleicht nicht interessant vor, weil es darin größtenteils um eine Zeit geht, an die du dich vermutlich nicht bewusst erinnerst. Vielleicht möchtest du lieber in ein Kapitel eintauchen, das etwas direkter mit dem zu tun hat, was dich umtreibt, zum Beispiel Kapitel 7: »Essen, Ernährung, Gewicht und Figur« oder Kapitel 5: »Angst und Sorge«. Tu das ruhig. Obwohl ich glaube, dass es ein Fehler wäre. Die Reise in deine eigene Psyche beginnt damit, was du als Baby erlebt hast. Du erinnerst dich vielleicht nicht bewusst daran, aber, glaub mir, deine ersten Tage und Monate sind dir eingeschrieben, wie die Gravur in einen Ring. Was damals mit dir geschehen ist, in deinen ersten Beziehungen zu anderen Menschen, hat sich in dein Gehirn eingebrannt. Während du herangewachsen bist, hat es dich ganz wesentlich geprägt. Das ist eine krasse Sache, und es lohnt sich, sie zu verstehen.

In der Psychologie nennen wir das Bindung. Tiereltern und ihr Nachwuchs, insbesondere Säugetiere, versuchen nach der Geburt, nah beieinander zu bleiben. Verhaltensforscher fanden dies Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts heraus. Vielleicht kennst du ein paar dieser Experimente? Am Tag nach der Geburt sucht das Gänseküken nach einem Reiz, der sich bewegt, und folgt diesem Reiz, auch wenn es sich dabei um eine Spielzeug-Eisenbahn oder ein Paar Gummistiefel handelt. Wenn man einen Babyaffen von seiner Mutter trennt, klammert er sich an ein Stück Stoff als Mutter-Ersatz, auch wenn der Stoff ihn nicht mit Futter versorgt. Wenn kleine Kinder von ihren Eltern getrennt werden (während eines Krankenhausaufenthalts zum Beispiel oder weil sie sich in staatlicher Fürsorge befinden) und keine adäquaten Kontakte zu anderen Menschen erhalten, entwickeln sie eine Reihe von psychosozialen und emotionalen Auffälligkeiten. Hast du schon mal Filmmaterial von rumänischen Waisenhäusern aus dem Jahr 1990 gesehen? Hunderte Kinder lebten dort in schockierenden Verhältnissen. Abgesehen von tatsächlichen Misshandlungen: Allein die emotionalen Entbehrungen und das Fehlen einer elterlichen Bezugsperson verursachten eine Reihe schwerer psychischer und intellektueller Beeinträchtigungen.

Die Bindung zwischen Eltern und Babys oder Kleinkindern wurde wissenschaftlich untersucht, und ein Psychologe namens John Bowlby machte die Theorien bekannt. Es gibt sowohl bei den Eltern als auch beim Kind einen starken instinktiven Drang, nah beieinander zu bleiben. Dahinter steckt pure Biologie: Wir wollen unsere Art erhalten. Da das Baby instinktiv zu den Eltern schaut, fühlen sich die meisten Eltern von dem Kind angezogen, und die Freude, die beide Seiten dabei empfinden, setzt einen positiven Kreislauf in Gang. Manchmal ist ein Elternteil dazu nicht in der Lage, und das liegt meistens daran, dass diese Person selbst keine Bindung als Kind erfahren hat: Das Prinzip »Bindung« hat sich nicht ins Gehirn eingebrannt. Eine gute Bindung stellt sicher, dass die Grundbedürfnisse des Kindes nach Nahrung, Schutz, Beständigkeit und Trost erfüllt werden.

Für kleine Kinder bedeutet Bindung, das Gefühl zu haben, jemand kümmert sich um dich, jemand interessiert sich für dich, jemand ist auf deiner Seite. Wenn du älter wirst, bist du womöglich nicht immer einverstanden mit der Art und Weise, wie deine Eltern sich um dich kümmern, und denkst vielleicht, ihre Regeln sind bescheuert – warum musst du Klavierspielen lernen? Gerade sitzen? Dein Handy weglegen? Aber gleichzeitig weißt du, dass deine Eltern sich so verhalten, weil sie das Beste für dich wollen. Sie haben das Herz am rechten Fleck. Du magst sie lieben oder hassen oder zwischen beidem schwanken, aber du weißt, dass deine Eltern für dich da sind.

Vielleicht aber auch nicht. Bei manchen Menschen hat das Band zu den Eltern kleine Risse bekommen oder ist komplett durchtrennt. Vielleicht fühlst du dich verloren, so als ob du im Wasser treiben würdest, ohne Anker.

Mia wurde zu mir überwiesen, als sie siebzehn war. Sie litt unter Niedergeschlagenheit, und eine Lehrkraft hatte Spuren von Selbstverletzung an ihr bemerkt. Nach außen hin funktionierte sie immer noch: Sie ging zur Schule, traf sich mit Freund*innen, machte ihre Hausaufgaben. Aber wenn man an der Oberfläche kratzte, merkte man: Sie glaubte, sie wäre in nichts gut, aus ihr würde nichts werden, sie hätte keine Zukunft.

Mia war das jüngste von drei Geschwistern. Sie hatte ein sehr enges Verhältnis zu ihrer Mutter gehabt, die vor ein paar Jahren gestorben war, als Mia noch zur Grundschule ging. In ihren Erinnerungen war ihre Mutter immer krank gewesen. Und auch wenn es schrecklich war, als ihre Mutter starb, ging ihr Leben ziemlich genau so weiter wie vorher. Ihrem Vater fühlte sie sich nicht nah, als Haupternährer der Familie hatte er immer viel gearbeitet. Doch Mia und ihre älteren Geschwister hatten, schon lange bevor ihre Mutter gestorben war, eine Nanny gehabt. Ihr fühlte sich Mia sehr nah. Die Nanny hatte für sie gekocht, war da gewesen, wenn sie aus der Schule kam, hatte sie herumkutschiert und sich für sie interessiert. Sie waren sehr eng, und Mia fühlte sich von ihr geliebt. Als Mia fünfzehn wurde, nicht mehr gefahren werden musste und sie und ihre Geschwister sich selbst etwas zu Essen machen konnten, entschied ihr Vater, dass sie ab jetzt keine Nanny mehr brauchten. Mia vermisste sie schrecklich. Sie besuchte die Nanny und die Kinder, um die diese sich jetzt kümmerte, regelmäßig. Ein Jahr später ging Mias nächstältestes Geschwisterkind an die Uni, Mia war nun das einzige Kind zu Hause. Sie hatte bis dahin regelmäßig an Schwimmwettkämpfen teilgenommen, aber nun zog sie sich eine Verletzung zu und entschied, das Schwimmen aufzugeben. Sie fand, es führte nirgendwo hin, andere waren sowieso besser als sie, und außerdem war es immer so anstrengend, sich zum Training zu motivieren.

Die erste Bindung entsteht normalerweise zwischen Baby und Eltern.1 Die meisten jungen Menschen, denen ich im Rahmen meiner Arbeit begegne, – selbst diejenigen mit den schwerwiegendsten Problemen und dem größten Leidensdruck – kommen mit einer Bindung zu zumindest einem Elternteil, die gut genug ist, zu mir in die Therapie. »Gut genug« ist ein weiteres psychologisches Konzept, es wurde bekannt durch einen Psychoanalytiker namens Donald Winnicott. Psychoanalyse ist eine Therapieform, die im frühen 20. Jahrhundert entstand. Auf der Suche nach den Ursachen seelischer Leiden schauten diese frühen Psychoanalytiker sehr häufig darauf, was für eine Beziehung ihre Patient*innen zu ihren Müttern gehabt hatten.

Winnicott hatte eine hoffnungsvolle Botschaft. Er glaubte nicht an perfekte Eltern, sondern war der Ansicht, dass psychische Gesundheit aus dem chaotischen, aber liebevollen Durcheinander des Familienlebens entsteht. Er bereitete den Weg für etwas, das später in Untersuchungen bewiesen wurde: Erziehung muss nicht perfekt sein, es sind die Unvollkommenheiten, in denen sich die psychische Arbeit vollzieht. In dem Band, das uns mit anderen Menschen verbindet, entstehen Risse, aber diese Risse werden geflickt – und dadurch lernen wir, die Eigenheiten anderer zu tolerieren. Das ist laut Winnicott die beste Vorbereitung aufs Erwachsenenleben. Er wusste, dass Bindungen manchmal in die falsche Richtung gehen, aber sogar das kann wieder in Ordnung kommen. Junge Menschen brauchen normalerweise nur eine Person, die für sie sorgt, um Bindungen aufbauen zu können und langfristig klarzukommen.

Es gibt ein berühmtes Experiment mit einer Mutter und einem Baby, das zeigt: Bindung ist ein ziemlich komplexer Tanz. Das Experiment heißt »Das stille Gesicht«. Es beginnt damit, dass Mutter und Baby sich anlächeln und miteinander interagieren – wenn das Baby auf etwas zeigt, reagiert die Mutter; wenn der Säugling die Hände ausstreckt, nimmt die Mutter sie in ihre eigenen. Mutter und Kind lassen sich auf einander ein, und ihre Emotionen sind im Einklang. Für den »Das stille Gesicht«-Teil des Experiments tut die Mutter genau das, was der Titel sagt: Zwei Minuten lang bleibt ihr Gesicht ganz ruhig und geht nicht auf das Baby ein. Das Baby versucht, seine Mutter dazu zu bringen, es zu bemerken, aber nichts von dem, was es vorher getan hat – auf etwas zeigen, zum Beispiel –, erregt die Aufmerksamkeit der Mutter, und das Kind leidet immer mehr darunter.

In meinen Kursen zeige ich ein Video dieses Experiments, und während die Kursteilnehmer*innen es sich anschauen, beobachte ich sie. Meistens sind die Teilnehmer*innen überrascht, wie sehr sich das Baby anstrengt, wieder Kontakt zu der Mutter herzustellen, und sie sind traurig über seinen Kummer, wenn es ihm nicht gelingt – ihre Gesichter spiegeln die Reaktion des Babys. Wenn der Säugling leidet, machen die Teilnehmer*innen Schmerzenslaute, runzeln die Stirn, ziehen die Mundwinkel herunter. Sie teilen den Schmerz und die Verwirrung des Babys, zeigen Empathie.

Ich kann dir versichern, der temporäre Riss im Band zwischen Mutter und Kind verursacht keine anhaltenden Schäden: Wir alle werden während unserer Babyjahre oft ignoriert, weil unsere Eltern kochen, schlafen oder sich um weitere Kinder kümmern müssen. Was das Video nicht zeigt, ist, dass Bindung nicht in einem bestimmten Moment entsteht, sondern über Jahre. Wenn es darum geht, was das Baby lernt, welche Verknüpfungen sich in seinem Gehirn bilden, dann wird vermutlich die Verknüpfung »Mama interessiert sich manchmal für mich« verstärkt, wenn die Mutter mit dem Baby interagiert und seine Laute nachmacht. Wenn die Mutter es ignoriert, bildet das Baby wahrscheinlich die Verknüpfung »Mama interessiert sich manchmal nicht für mich.« Beide Verknüpfungen sind okay: Sie spiegeln die Realität. Solange wir die Verknüpfung haben, dass grundsätzlich jemand für uns da ist als kleines Kind, können wir damit umgehen, wenn dieser Jemand es manchmal nicht ist. Es scheint, dass die kognitive Verbindung, die sagt »Mama ist manchmal nicht gut drauf und auch nicht liebevoll und nett«, diejenige Verbindung, die sagt, dass sie es manchmal ist, nicht zerstört. Sie existieren nebeneinander. Solange der Riss nicht zu massiv ist, nicht zu häufig auftritt oder zu lange andauert, kann man ihn flicken.

Dein Bindungsmuster beruht auf der Art, wie und ob deine Eltern dich verstanden haben, wie sie mit dir kommuniziert und auf dich reagiert haben – und das nicht in einzelnen Momenten, sondern über deine gesamte Kindheit, sogar dein Leben hinweg. Manche Eltern üben bestimmte Einschlafroutinen ein, andere schlafen mit ihren Babys im selben Zimmer oder Bett. Manche Eltern arbeiten, andere bleiben zu Hause. Manche bleiben ruhig, andere regen sich schnell auf. Kinder haben Wutanfälle und zanken sich. Sie schreien und brüllen, gehorchen nicht und agieren Dinge aus, aber solange es über die Jahre ein gewisses Maß an Kontakt, Zuwendung und Beständigkeit gibt, überlebt die Bindung. Familienleben, sogar glückliches Familienleben, hat eben auch seine unschönen Seiten.

Wenn wir über Mias Traurigkeit sprachen, schien mir, dass sie sie für normal hielt. Sie fühlte sich leer. Und sie dachte, alle würden sich so fühlen wie sie. Sie wusste, dass das Leistungsschwimmen sie in gewisser Weise so sehr auf Trab gehalten hatte, dass sie sich nicht erlaubt hatte, darüber nachzudenken. In der Therapie rollten Tränen über ihre Wangen, als sie sich an ihre Grundschuljahre erinnerte. Ihre Mutter hatte sie oft von der Schule abgeholt. Sie erinnerte sich daran, wie sie Hand in Hand armeschwingend nach Hause gingen – Wärme, Glücklichsein, Spaß. Damals dachte sie, die Welt wäre ein guter Ort. Heute vermisste sie es, sich so zu fühlen: sicher, geborgen und beschützt. Auch ihre Nanny war sehr mütterlich gewesen, im traditionellen Sinn. Mias Leben wurde gut organisiert. Wenn sie in der Küche der Familie saß, bei der ihre Nanny jetzt arbeitete, spürte sie wieder etwas davon. Sie war eifersüchtig auf die neuen Kinder ihrer Nanny, die diese Wärme, diese Geschäftigkeit, dieses Gewusel noch erleben durften. Ihr eigenes Zuhause fühlte sich im Vergleich dazu leer, einsam und kalt an.

Bindung ist die Wiege, die dich durchs Leben schaukelt, deine Entwicklung vom Baby zur erwachsenen Frau begleitet. Zu verstehen, was Bindung ist und welche du hattest, kann der Schlüssel sein, um zu verstehen, wer du bist. Sicherlich hängt daran nicht alles, aber das Zusammenspiel zwischen deiner Persönlichkeit auf der einen und den Bindungen auf der anderen Seite hat dazu beigetragen, dass du heute bist, wer du bist. Du hast vermutlich schon von Genen und Umwelt gehört: Mit deinen Genen wirst du geboren, Umwelt ist die Umgebung, in der du aufgewachsenen bist. Die Merkmale, mit denen du auf die Welt kommst, interagieren mit den Bindungen, die du in und mit deiner Umgebung erlebst. Für Kinder, die mit einer sehr unabhängigen Persönlichkeit geboren werden, fühlt es sich möglicherweise nach Spaß oder Freiheit an, wenn die Eltern ihnen keine Aufmerksamkeit mehr schenken, wenn sie älter werden. Für ein ängstlicheres Kind hingegen fühlt es sich vielleicht beunruhigend an. Deine Persönlichkeit interagiert mit dem Erziehungsstil deiner Eltern, und daraus entsteht ein ganz einzigartige Kreation: DU!

Deine Bindungs-Blaupause lenkt deine Freundschaften und intimen Beziehungen, jetzt und dein ganzes Leben lang. Psychologie ist keine exakte Wissenschaft: Anders als in der Chemie oder in der Medizin können wir nicht einzelne Variablen isolieren, wir können nicht exakt voraussagen, dass Kind X, wenn es die Erziehung Y erhält, Bindungsverhalten Z entwickeln wird, weil es unendlich viele unterschiedliche X, Y und Z gibt. Genau wie dein Fingerabdruck ist die Persönlichkeit, mit der du zur Welt kommst, einzigartig, und die Interaktion zwischen ihr und deinen ersten Bindungen erschafft dich. Selbst in einer ungefähr ähnlichen sozialen Umgebung, wie zum Beispiel der Familie, gibt es unendlich viele Umweltfaktoren, die auf ein Kind einwirken. Eineiige Zwillinge wachen weder zu genau derselben Zeit auf, noch weinen sie in genau derselben Intensität, noch werden sie in genau demselben Moment auf den Arm genommen, um getröstet oder gefüttert zu werden. Und so beginnen die unzähligen Variablen, die auf dich einwirken, deine Individualität zu erschaffen und zu bestimmen, welche Beziehungen du zu anderen knüpfst.

Wie du dich in den Beziehungen innerhalb deiner Familie gefühlt hast und was du dir von den Geschichten, die dir erzählt, und den Fotos, die dir gezeigt wurden, mitgenommen hast, all das verrät dir etwas über die Bindung zu deiner Familie. Vielleicht hast du im Moment die Schnauze voll von deinen Eltern – versuch trotzdem, dich zu erinnern. Hast du dich verlassen und einsam gefühlt? Erstickt und eingeengt? Oder irgendetwas zwischen diesen Extremen? Mochtest du die Art deiner Eltern? Wolltest du ihnen nahe sein oder von ihnen fort? Warst du stets bemüht und besorgt, ihnen zu gefallen, und hast Konflikte um jeden Preis vermieden? Oder hast du dich sicher genug gefühlt, deine Eltern herauszufordern, gab es viel Streit? Wurde deine Privatsphäre verletzt, fehlt dir das Gefühlt dafür, wo deine Eltern aufhören und wo du anfängst? Wurdest du angenommen oder abgelehnt? Hast du dich abgeschoben gefühlt, lästig? Wurdest du immer als die Schwierige bezeichnet, als das Lieblingskind, die Schlaue oder die Hübsche? Wurde dir gesagt »Du bist genauso wie ich« oder »Das tut man in unserer Familie nicht«? Das ist nur eine kleine Auswahl der unendlichen Kombinationsmöglichkeiten, die du vielleicht erlebt hast. Und dann stellt sich natürlich noch die Frage, wie all das mit deinen Genen zusammengespielt und in welcher Weise es dich beeinflusst hat. Welchen Einfluss hat all das heute auf deine Freundschaften und Beziehungen?

Jede Patientin, der ich begegne, hat ihre eigene Geschichte mit ihren Eltern. Das schüchterne Goth-Mädchen, das sich dem Glamour ihrer Mutter unterlegen fühlt und nur dadurch rebellieren kann, dass sie so abgewetzt wie möglich herumläuft. Das Einzelkind, ständig bevormundet von der dominanten Mama-Glucke, deren Träume stellvertretend die geliebte Tochter ausleben soll. Das Party-Girl, das spürt, dass ihre Eltern sie einfach nicht verstehen, und sich von ihnen abwendet, um mit Freund*innen abzuhängen.

Mias Vater war nicht gemein oder lieblos. Er kümmerte sich um die praktischen Dinge – aber emotional war er irgendwie abwesend. Wenn Mia versuchte, mit ihm über emotionale Dinge zu sprechen, sagte er nur: »Ach, ich bin mir sicher, du findest eine Lösung« oder »Das Leben ist nicht immer gerecht«, und dann wechselte er das Thema oder beschäftigte sich mit etwas anderem. Ich traf Mias Vater einige Male, um mir einen Eindruck zu verschaffen. Er wirkte auf mich emotional ausdruckslos, auch wenn er meine Ratschläge immer annahm. Weil ich zum Beispiel Mias Einsamkeit nachempfinden konnte, riet ich ihm, dass er mehr Zeit mit seiner Tochter verbringen solle. Und das tat er auch, aber es wirkte auf mich, als ob er es nur pro forma tat, als ob er einen Punkt von der Liste streichen wollte. Ich fragte mich, warum. War er immer schon so gewesen, oder hatte der Tod seiner Frau ihn gebrochen? Ich hatte den Eindruck, dass er mit dem Vatersein eigentlich durch war. Er wollte, dass Mia erwachsen wurde, wieder klarkam, und natürlich tat sie das mit der Zeit auch.

Die Therapie war wichtig für Mia. Sie gab ihr emotionalen Halt. Sie ermöglichte es ihr zu trauern, nicht nur um ihre Mutter, sondern auch um die Beziehung, die sie gern zu ihrem Vater gehabt hätte. Sie half ihr aber auch dabei, nach vorne zu schauen und herauszufinden, was sie vom Leben wollte. Die Therapie machte ihr bewusst, was sie in der Vergangenheit besessen hatte und was sie sich für ihr künftiges Leben wünschte. Sie traf wohlüberlegte Entscheidungen, zum Beispiel, mit wem sie befreundet sein und wen sie lieben wollte. Während unserer letzten Sitzung schielte sie mit einem Auge ständig auf die Uhr. Sie wollte ihre Freund*innen treffen, die in der Nähe auf sie warteten: Sie war fertig mit der Therapie. Und genau so sollte es sein; sie hatte sich aus der temporären Bindung zu mir gelöst, und meine Arbeit mit ihr war beendet.

Oft beobachte ich, dass Bindungen während der Pubertät durch Missverständnisse kaputtgehen oder weil Kinder und Eltern schlicht vergessen, sich miteinander zu verbinden, und wie Schiffe in der Nacht aneinander vorbeiziehen. Natürlich ist es ganz normal, wenn Jugendliche glauben, dass ihre Eltern sie einfach nicht verstehen (deshalb der Buchtitel!). Manchmal sieht man sofort, dass sowohl die Eltern als auch das Kind tolle Menschen, aber gleichzeitig sehr unterschiedlich sind und dass es ihnen schwerfällt, einander zu verstehen. Manchmal fällt es Jugendlichen schwer, irgendjemandem etwas von sich zu zeigen, sogar ihren Eltern. Ich bin jungen Menschen begegnet, die soziale Ängste haben, schüchtern oder sozial inkompetent sind und sich ihren Eltern nicht anvertrauen können. Sie wissen, dass ihre Eltern sie lieben, aber sowohl Kind als auch Eltern verstehen nicht, wie die andere Seite tickt. Es lohnt sich, sich in Erinnerung zu rufen, dass Bindung keine Einbahnstraße ist. Die Eltern tragen die Verantwortung dafür, dass sie gelingt, weil sie die Erwachsenen sind, egal was sie selbst erlebt haben. Gleichzeitig bringt das Kind seine eigene bereits vorhandene Persönlichkeit mit ins Spiel: Ein Kind kann sich unsicher fühlen, obwohl es die liebevollsten Eltern hat.

Es gibt jedoch noch eine andere Gruppe von Kindern, die in der Therapie landen – diejenigen, die praktisch keine Erziehung erfahren haben oder wenn, dann eine negative: eine Erziehung, die aktiv Schaden angerichtet hat.

Toxische Erziehung

Sara wurde mit dem Verdacht auf Anorexie bei mir vorstellig, sie aß kaum etwas. Das änderte sich jedoch im Lauf der ersten Sitzungen, und nun litt sie unter Essanfällen. Dann schien sich ihr Essverhalten wieder zu normalisieren, aber sie rauchte und trank viel. Die Therapie war wie ein Wirbelsturm: In jeder Sitzung tauchte ein neues Problem auf, und es fühlte sich an, als ob ich wieder von vorne anfing. In einer Woche war sie glücklich und hatte nichts zu sagen, in der anderen erzählte sie, dass sie Suizidgedanken gehabt hatte. Nichts, was ich sagte, schien sie zu erreichen, und ich hatte nicht das Gefühl, dass sich unsere Beziehung weiterentwickelte. Trotzdem kam Sara weiterhin.

Sie hatte mir gesagt, sie habe eine »gute« Beziehung zu ihren Eltern, aber ich hatte den Eindruck, ihre Eltern lieferten sie bei der Therapie ab, als wäre sie ein Computer, der repariert werden müsste. Sie wirkten enttäuscht, dass der Computer überhaupt kaputtgegangen war, und genervt, dass ich so lange brauchte, um ihn zu reparieren. Sie glaubten offenbar, dass die Schwierigkeiten ihrer Tochter rein gar nichts mit ihnen zu tun hatten und das Problem allein bei ihrer Tochter lag. Wusste ich, was ich tat? Zu diesem Zeitpunkt war ich mir da tatsächlich nicht sicher. Ich bekam Sara überhaupt nicht zu fassen.

Junge Menschen zu therapieren, ist wie der Versuch, ein Puzzle fertig zu bekommen, das sich ständig verändert, das immerzu wächst und bei dem die Hälfte der Teile fehlt. Jugendliche, die missbraucht, misshandelt oder vernachlässigt wurden, denken und verhalten sich nicht alle gleich: Manche sind niedergeschlagen, gebrochen, haben kein Selbstvertrauen, andere geben sich selbst die Schuld. Manche agieren ihre Probleme in der Schule aus, andere suchen nach einem Kick, indem sie Risiken eingehen oder sich rechtswidrig verhalten. Junge Menschen, die misshandelt oder missbraucht wurden, zeigen sich in der Therapie sehr unbeständig und haben Schwierigkeiten, von einer Woche zur nächsten bei einem Thema zu bleiben oder Fortschritte nicht zu vergessen. Manchmal agieren sie in der Therapie etwas aus – indem sie nicht regelmäßig zu den Sitzungen erscheinen, zu spät kommen oder die Grenzen der Therapie überschreiten und mitten in der Nacht E-Mails schicken. All das sind Teile des Patienten-Puzzles, die mir helfen, das ganze Bild zu sehen.

Warum verhalten sich junge Menschen, die misshandelt oder missbraucht worden sind, auf diese Weise? Sie tun es, weil sie gelernt haben, dass Beziehungen so funktionieren. Babys sind nicht dafür verantwortlich, ob ihre ersten Bindungen gelingen oder nicht. Sie sind biologisch darauf ausgerichtet, sich an die Menschen zu binden, die sie umgeben – und wenn diese Menschen nicht auf sie reagieren, kalt oder unbeständig sind oder ihnen wehtun, brennt sich ins Gehirn ein, dass das die Art und Weise ist, wie man zu anderen Menschen in Beziehung geht. Babys streben von Natur aus nach Wärme und Zuwendung. Wenn sie diese nicht bekommen, wenn sie sich stattdessen verlassen und abgelehnt fühlen, brennt sich Folgendes in ihr Gehirn ein: »Die Welt ist kein sicherer Ort. Niemand kümmert sich um mich, wenn ich traurig bin oder Angst habe. Ich muss mich vorsehen und immer einen Schritt voraus sein, damit ich sicher bin. Ich werde nicht zulassen, dass mir andere etwas bedeuten.«

Sara erzählte mir, wie sie einmal eine Schranktür kaputtgemacht hatte, als sie jünger war. Zur Strafe hatte ihre Mutter sie aus dem Haus ausgesperrt. Sie erinnerte sich, wie sie geweint und an die Tür geschlagen hatte und wie ihre Mutter schrie, sie könne wieder reinkommen, wenn sie sich benehmen würde. Als Therapeutin versuche ich normalerweise, ein neutrales Gesicht zu wahren, egal was mir jemand erzählt. Sara aber sah den Schock und das Entsetzen in meinem Gesicht, während sie die Geschichte erzählte, und ich bemerkte ihre Überraschung angesichts meiner Reaktion: Sie wusste nicht, dass das Verhalten ihrer Mutter nicht normal gewesen war. Anschließend vertraute sie mir zahlreiche andere Momente an, in denen ihre Eltern sie geschlagen oder ignoriert oder auf ähnliche Weise bestraft hatten.

Sara glaubte, dass ihre Eltern das Beste für sie wollten, und sie dachte, dass sie sie mithilfe körperlicher Gewalt disziplinieren wollten. Mir war jedoch klar, dass die körperliche »Disziplinierung« manchmal von der Wut und der Frustration der Eltern angetrieben wurde und es in der Beziehung zur Tochter an Wärme fehlte. Das Jugendamt griff ein, und daraufhin änderte sich das Verhalten der Eltern: Die körperlichen Misshandlungen hörten auf. Doch diese – so erschreckend und zerstörerisch sie auch waren – waren zweitrangig im Vergleich zu den psychischen und emotionalen Verletzungen, die Sara durch das Fehlen von Wärme in der Beziehung zu ihren Eltern erlitt. Aufgrund dieser Verletzungen fehlte es ihr an Selbstvertrauen und Selbstsicherheit, sie fühlte sich ungeliebt, einsam und unsicher in all ihren zwischenmenschlichen Beziehungen. Und das kompensierte sie mit Alkohol, Drogen und in ihren Beziehungen.

Wenn Kinder nur unbeständige und lieblose Beziehungen erleben, während sie aufwachsen, dann werden sie sich auf diese Art auch anderen Menschen gegenüber verhalten. Ihre Bindungen sind die Blaupause dafür, wie sie sich künftig verhalten. Hungrig nach Liebe und Zuwendung geraten sie in ein Dilemma, weil sie intensive Freundschaften mit Menschen anfangen, sich auf eine extreme, gemeine, On/Off-Weise verhalten. Sie weisen Freund*innen lieber zurück, bevor diese sie zurückweisen – sie schützen sich, weil sie kein Vertrauen haben, dass jemand anders sie beschützen wird. Oder sie provozieren eine Zurückweisung durch die andere Person, die verständlicherweise die Nase voll von ihrem Unsinn hat. Und das wiederum bestärkt sie in ihrer Überzeugung, dass sie es nicht wert sind, geliebt und freundlich behandelt zu werden.

Auch hierüber geben uns frühe Experimente mit Tieren Aufschluss. Die armen kleinen Affen, die als Mutterersatz statt einer weichen Stoffpuppe nur ein Drahtgestell mit einer Milchflasche darin bekamen, zeigten später dürftige soziale Kompetenzen, waren nicht in der Lage, zu anderen Affen in Beziehung zu gehen, und wurden selbst schlechte Mütter.

Ähnlich ist es bei Babys und Kindern. Wenn auf ihr Weinen nie jemand reagiert, entsteht bei ihnen ein Gefühl der Hilflosigkeit, und Hoffnungslosigkeit brennt sich in ihr Gehirn ein – die Überzeugung, dass sie keine Zukunft haben. Sie werden mit großer Wahrscheinlichkeit die Überzeugung gewinnen, dass sie nichts taugen und nicht wichtig sind.

Missbrauchte oder misshandelte Kinder werden als Jugendliche oft zu wahren Tornados, sie machen alle, die ihnen im Weg stehen, dem Erdboden gleich. In der Psychiatrie wird dieses extreme, riskante, sehr wechselhafte Verhalten oft als »Borderline« bezeichnet, eine Kurzform der Diagnose »Borderline-Persönlichkeitsstörung«. Ich mag diese Diagnose nicht, weil sie stillschweigend bewertet und weil das Wort »Persönlichkeit« nahelegt, dass die Symptome von Dauer sind. Das ist aber nicht der Fall: Die Schäden, die durch den frühen Mangel an Bindung entstanden sind, können später durch andere geheilt werden. Menschen, die an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden, können wieder gesund werden.

In meiner Erfahrung nehmen Behörden wie die Jugendämter Fälle, in denen Kinder emotional missbraucht werden, meistens weniger ernst als körperliche Gewalt oder sexuellen Missbrauch. Mir ist klar, warum das so ist. Körperliche Gewalt und sexueller Missbrauch sind eindeutig mess- und zählbar – sie haben entweder stattgefunden oder nicht – und sie beinhalten natürlich immer auch emotionalen Missbrauch. Emotionaler Missbrauch allerdings ist nicht so leicht zu definieren und zu erfassen: jemanden anschreien, gemein sein, kalt und distanziert sein – so verhalten wir uns fast alle manchmal. Emotionaler Missbrauch definiert sich nicht darüber, ob diese Verhaltensweisen vorgefallen sind oder nicht. Entscheidend sind Kontext, Häufigkeit und Schwere. Emotionaler Missbrauch liegt nur dann vor, wenn diese Verhaltensweisen häufig auftreten und nicht durch eine ansonsten warme und liebevolle Beziehung aufgefangen werden. Das Ganze ist also komplex, und das bedeutet, dass emotionaler Missbrauch schwer zu identifizieren und noch schwerer zu beweisen ist.

Das ist auch deshalb ein Desaster, weil emotionaler Missbrauch die psychische Gesundheit eines Kindes am stärksten gefährdet. Die körperlichen Verletzungen und Wunden physischer Gewalt heilen. Körperliche Gewalt hat jedoch weitreichende Folgen, wenn es darum geht, ob sich das Kind geliebt und umsorgt fühlt und ob es für die Zukunft weiß, wie man zu Menschen in Beziehung geht. Die Babyaffen wurden nicht geschlagen, sie haben keinen Hunger und Durst gelitten, ihnen wurde »nur« das Gefühl einer Grund-Geborgenheit vorenthalten – und das hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf ihr Leben.

Was hilft, ist eine gute Bindung

Die meisten Kinder werden nicht von beiden Eltern missbraucht oder misshandelt, und es scheint, dass eine gute Beziehung reicht, um die Vorteile und den Schutz einer Bindung zu erfahren. Gerade in dem Fall, dass ein Elternteil die Familie verlassen hat oder gestorben ist, ist es gut, sich das klarzumachen. Junge Menschen, die von einem Elternteil hängen gelassen wurden oder die den Verlust eines Elternteils erleben mussten, agieren ihre Trauer oft an dem verbliebenen Elternteil aus. Es ist so, als ob du die Bindung testen würdest, indem du dich von deiner schlimmsten Seite zeigst. Oft gibt es keinen Weg, der Person, die dich im Stich gelassen hat, deine Wut und Verzweiflung zu zeigen; stattdessen projizierst du diese Gefühle möglicherweise auf andere Menschen, denen du vertraust. Und dadurch testest du instinktiv die Grenzen ihrer Verbundenheit mit dir aus.

Es gibt außerdem offenbar ein optimales Zeitfenster für Bindungen: Es ist sehr wichtig, dass diese sich in den ersten zwei Lebensjahren einstellen. Diejenigen Babys in den rumänischen Waisenheimen beispielsweise, die relativ früh von liebevollen Eltern adoptiert wurden, kamen langfristig besser im Leben zurecht.

Die meisten jungen Leute mussten zum Glück nicht in einem entsetzlichen rumänischen Waisenhaus aufwachsen. Grundsätzlich ist die Beschädigung, die durch eine zerrissene Bindung entstanden ist, auch nicht unumkehrbar. Eine andere Beziehung kann später diese Art von Bindung bieten. Das mag nicht perfekt sein, aber es ist wie ein Reparaturvorgang. In das Gehirn der Betroffenen kann sich nun einbrennen, dass irgendjemand irgendwo für sie gesorgt hat, dieses Gefühl der Fürsorge schreibt sich ein und bedeutet eine bessere Orientierung für künftige Beziehungen.

Auch innerhalb einer Therapie können junge Menschen ihre Beziehungsmuster reparieren, indem sie andere Erfahrungen machen. Jede gute Beziehung zu einem Erwachsenen, in der man erlebt, dass jemand für einen sorgt und Anteil nimmt, dass man wichtig ist, kann jungen Menschen dabei helfen, sich von emotionalen Verletzungen zu erholen. Therapeut*innen nennen das »gehalten werden«. Das kann durch Lehrer*innen, Sozialarbeiter*innen oder Jugendbetreuer*innen passieren.

Um ehrlich zu sein, ich tat in den Therapiesitzungen mit Sara nur sehr wenig. Ich glaubte ihr, ich war Zeugin ihres Schmerzes. Ich versuchte zu verstehen, wie sie sich fühlte; ich versuchte ihr dabei zu helfen zu verstehen, welche Wirkung die Misshandlungen auf sie gehabt hatten; ich blieb ruhig und ich blieb dran. Ich reagierte weder zu stark noch zu schwach – ich hörte einfach zu, glaubte ihr, verstand. Eine ganze Zeitlang war sie weiterhin mal gut drauf, mal schlecht; manchmal kam sie nicht, dann erschien sie wieder regelmäßig und teilte die guten und die schlechten Neuigkeiten mit mir. Sie zeigte mir Fotos davon, was sie erlebt hatte, und brachte sogar eine Freundin mit, die ich kennenlernen sollte. Mir wurde klar, dass ich ihre Bezugsperson war. Weil es keinen »ausreichend guten Elternteil« gab, hatte sie mich für diese Rolle adoptiert.

Was ich tat, war, ihr im Rahmen der Therapie eine sichere Bindung zu bieten. Ich war ruhig und ich nahm Anteil, sie wiederum erlaubte es mir, Anteil zu nehmen. Sie teilte sich mit und ließ mich an sie ran, und dann testete sie unsere Beziehung und stellte fest, dass sie sicher und gut war. Dadurch entstand ein neuer Pfad im Gehirn: »Menschen lassen einen nicht immer im Stich.« Sie machte weiter mit ihrem Leben.

Manchmal sagen mir Menschen wie Sara am Anfang der Therapie: »Du wirst ja dafür bezahlt, Anteil zu nehmen« – aber das stimmt nicht. Wir werden dafür bezahlt, mit Menschen zu sprechen und ihnen eine Behandlung anzubieten, aber du kannst niemanden dafür bezahlen, dass er aufrichtig Anteil nimmt. Natürlich kannst du eine Person dafür bezahlen, dass sie so tut als ob, aber ich glaube, die meisten Jugendlichen würden das eine Meile gegen den Wind riechen. Sich um jemanden zu sorgen und Anteil zu nehmen, kann von Natur aus nicht vorgetäuscht sein. Es stellt sich nebenbei ein, wenn man jemanden kennenlernt und ihn oder sie zu verstehen beginnt. Und es kann nur aufrichtig sein: Ich trage die Erinnerung an meine Patient*innen in meinem Herzen.

Eine gute, gesunde Bindung, die sich in dein Gehirn eingebrannt hat und in deinem Alltag lebendig ist, bildet das Gerüst für dein Leben. Dir können weiterhin schlimme Dinge passieren, aber es wird dir leichter fallen, danach wieder klarzukommen. Aber auch mit ausreichend guten Eltern kann es sein, dass die Muster deiner elterlichen Bindung weiterhin in deinem Leben nachhallen.

Bindung während der Teenagerzeit

Als Jugendliche ist es, entwicklungspsychologisch gesehen, deine Aufgabe, dich von deinen Eltern abzulösen und du selbst zu werden. Es ist ganz normal, wenn die Bindung zu deinen Eltern ab der Pubertät loser wird und du dich stärker an Gleichaltrige bindest, das ist Teil der Entwicklung hin zu einem Leben als Erwachsene. Wenn dein soziales Netz größer wird, fängst du an, deine Eltern mit anderen Eltern zu vergleichen, und das, was sie tun, infrage zu stellen. Du stellst fest, dass deine Eltern Fehler machen – weil sie Menschen und darum nicht perfekt sind. Die Idee der Perfektion ist für uns Menschen wenig hilfreich (mehr, viel mehr zum Thema Perfektion später).

Häufig bekommt die Bindung zwischen Eltern und Kindern während der Pubertät Risse, die repariert werden müssen: Wenn die Bindung stark und gut genug ist, ist es okay, sich zu streiten, Dinge anders zu sehen, zu brüllen und Türen zuzuknallen. Aber da jeder junge Mensch auf dem Weg zum Erwachsenen auch mal stolpert und fällt, ist es gut, wenn du weißt, dass du trotz aller Konflikte zu deinen Eltern oder anderen Bezugspersonen zurückkommen kannst. Risse und ihre Reparatur – das bedeutet während der Pubertät, dass du in einem Moment überkritisch gegenüber deinen Eltern und total genervt von ihnen bist und in dein Zimmer stürmst, dir später aber Sorgen machst, dich allein fühlst und zu ihnen gehst, weil du eine Umarmung brauchst. Dieses Muster stammt noch aus deiner frühsten Beziehung zu deinen Eltern als Baby und Kleinkind: Kleinkinder tapsen davon, um sich ein Spielzeug zu schnappen, sie fallen hin und laufen zurück zu ihren Eltern, um sich trösten zu lassen. Wenn das Erwachsensein näher rückt, tauchen oft Zukunftsängste auf: »Was will ich später machen? Warum weiß ich das noch nicht? Alle anderen haben einen Plan. Werde ich gut genug sein?« Deine Eltern und dein Zuhause sind wichtig als sichere Basisstation, wenn du bei deinen ersten Schritten als junge Erwachsene ins Straucheln gerätst und emotionale, praktische oder finanzielle Unterstützung brauchst.

Wenn du diese Art von Bindung zu jemandem nicht hast, dann wirst du es schwer haben, aber es kann genauso zu Problemen kommen, wenn die Bindung zu stark ist oder dich zu ersticken droht. Bei mir leuchten immer die Alarmglocken, wenn eine Familie (am besten süffisant) sagt »Wir streiten uns nie« oder »Wir sind beste Freunde«. Denn die entwicklungspsychologische Aufgabe, sich abzulösen, wird insbesondere durch Streit bewältigt. Ohne ein paar Meinungsverschiedenheiten zwischen Eltern und Kind wird es für das Kind schwer, das richtige Maß an Abstand zu den Eltern zu bekommen. Den aber braucht man, um in der Entwicklung zum Erwachsensein vorwärtszukommen. Wenn es in diesem Punkt schiefläuft, dann bitten erwachsene Kinder zu häufig ihre Eltern um Unterstützung; oder die Eltern mischen sich zu sehr in das Leben ihres Kindes ein. Manchen Kindern fällt es schwer, sich von ihren Eltern abzulösen, weil sie Angst haben zu versagen. Ich hatte mit vielen klugen Patient*innen zu tun, die kurz vor dem Studium standen und völlig überfordert von alltäglichen Aufgaben waren, wie zum Beispiel ein Konto zu eröffnen oder den Einkauf zu erledigen.

In den späten Teenagerjahren und den frühen Zwanzigern, wenn du beginnst, ein eigenständiges Leben zu führen, ist es natürlich okay, deine Eltern um Hilfe zu bitten, wenn es mal schwierig ist. Sei aber vorsichtig: Du willst nicht, dass deine Eltern alle deine Probleme für dich lösen, denn das bedeutet, dass sie zu stark in dein Leben involviert sind. Ich bin manchen jungen Menschen begegnet, die sich bis weit in ihre Zwanziger unverhältnismäßig stark auf ihre Eltern verlassen haben – egal ob es um Geld, Hilfe, emotionale Unterstützung ging –, und sich dann beschwert haben, dass ihre Eltern zu neugierig seien, sich einmischten, sie kontrollieren wollten. Ich musste ihnen sagen: Tja, wenn du immer noch erwartest, dass deine Eltern deine dreckige Wäsche vom Boden aufsammeln und sich um deine Mahlzeiten kümmern, dann werden sie dich auch wie ein kleines Kind behandeln. In anderen Momenten musste ich Eltern dazu ermuntern, ihre Kinder zu ihrem Glück zu zwingen, indem sie ihnen einen kleinen Schubs gaben, endlich das Nest zu verlassen und Verantwortung für sich zu übernehmen.

Ich glaube, wenn du eine junge Erwachsene bist und das Gefühl hast, deine Eltern sind zu stark in dein Leben involviert, dann musst du dich fragen: »Liegt es vielleicht an mir? Verlasse ich mich zu sehr auf sie und erwarte, dass sie alle möglichen Dinge für mich tun? Oder liegt es an ihnen?« Manchmal sind es die Eltern, die ihre Rolle nicht aufgeben wollen und darum den Prozess der Ablösung torpedieren. Wenn du Helikoptereltern hast, die ständig vorbeischneien, um deine Probleme zu lösen, bist du dafür vielleicht zunächst dankbar, aber auf lange Sicht bleibst du dadurch ein Kind. Im nächsten Kapitel wird es um überfürsorgliche Eltern gehen und darum, wie Familiensysteme so in eine Sackgasse geraten.

Das hier habe ich in einem Erziehungsratgeber für Teenagereltern gelesen: »Wir [Eltern] müssen ihnen [den Jugendlichen] Raum geben und sie gleichzeitig festhalten. Niemand sagt, dass das einfach ist.« Was ich jungen Leuten in dieser Hinsicht raten würde: Ihr müsst euch körperlich und/oder emotional von euren Eltern entfernen, aber nicht zu weit. Wenn sie im Grunde okay sind, seid nett zu ihnen, damit sie für euch da sind, wenn ihr hinfallt. Und ihr werdet hinfallen, hoffentlich nicht von zu weit oben oder zu oft, aber niemand kommt durchs Leben, ohne hinzuzufallen.

Den jungen Menschen, die toxische oder keine Eltern haben, möchte ich sagen, dass mir das leidtut. Für euch ist es viel, viel schwerer. Versucht, eine andere Bezugsperson zu finden, die euch unterstützt – einen Verwandten, eine Therapeutin, einen Lehrer, die Mutter einer Freundin oder gute Freund*innen –, und sagt ihnen ganz offen, was ihr erlebt habt und was ihr braucht. Ihr müsst das hier überstehen. Keine Bindung zu einem Elternteil zu haben, ist ein schwerer Schlag im Leben. Lasst uns versuchen zu verstehen, was das mit euch gemacht hat und wie ihr nicht nur irgendwie durchkommen, sondern aufblühen könnt.

Wie gesagt, Bindungen sind ein komplexer Tanz zwischen Eltern beziehungsweise Betreuungsperson und Kind. Ein Tanz, der manchmal ein Leben lang andauert. Manchmal lernen wir aber auch neue Schritte oder völlig neue Tänze. Es ist toll, tanzen zu lernen, wenn man noch sehr jung ist, aber wenn nicht, muss deine Geschichte an dieser Stelle nicht zu Ende sein. Du kannst den Tanz der Bindung in jedem Alter lernen.

KAPITEL 2

DEINE FAMILIE

»Wie wenige Menschen sich doch von den Erwartungen ihrer Eltern lösen und ihr eigenes, authentisches Leben führen. Schuldgefühle und Ängste halten so viele von uns gefangen. Wer hält schon den emotionalen Gegenwind aus, der einem entgegenbläst, wenn man einen anderen Weg einschlägt?«

REBBECA WALKER, BABY LOVE

Wenn Bindung ein komplexer Tanz zwischen Eltern und Kind ist, dann heißt Familienleben, dass dieser Tanz in einem Nachtclub stattfindet. Deine Eltern führen den Club, sie wählen die Musik aus, die Getränke, das Klientel, die Inneneinrichtung. Als Baby halten sie dich beim Tanzen auf dem Arm und reichen dich hin und her. Wenn du etwas größer bist, hältst du ihre Hände fest, während du ein paar Kleinkindschritte machst und dabei hin- und herschwingst. Oder du nimmst ihre Hände und stellst dich auf ihre Füße, während sie sie vorsichtig bewegen. Weiter geht’s: Als Nächstes tanzt du Hand in Hand mit deinen Geschwistern, passt dich ihrem Stil an, achtest darauf, dass du nicht zu oft mit ihnen zusammenstößt oder ihnen auf die Füße trittst – vielleicht tust du manchmal aber auch genau das, um sie zu ärgern. Manchmal tanzt ihr alle zusammen als Familie; und manchmal kommst es dir vor, als ob du zu einer anderen Melodie tanzt. Manchmal kommen andere Leute vorbei und tanzen mit euch, manche von ihnen bleiben, manche gehen. Und gerade, wenn der Abend sich dem Ende neigt, wird vielleicht einer von euch müde oder verletzt sich und muss wieder getragen werden, zu einer langsamen Musik, die Arme um den Hals der Eltern geschlungen.

Und dann wirst du zur Teenagerin und merkst, die Möbel und Tapeten in dem Club sind schon etwas in die Jahre gekommen, die Art, wie deine Eltern tanzen, ist ein bisschen peinlich, und die Musik, die sie spielen, tja, die ist irgendwo vor zwanzig Jahren hängen geblieben. Eigentlich willst du dort überhaupt nicht tanzen. Du beginnst dich zu fragen, ob das nicht alles ganz schön erbärmlich ist. Du machst dir Sorgen, dass deine Freund*innen all das sehen könnten. Und an manchen Tagen, OMG, HASST du es, wie furchtbar alles ist. Deine Freund*innen gehen in diesen neuen Club, der gerade eröffnet hat, wo es wirklich coole Musik und super Cocktails gibt. Und da willst du auch hin.

Wenn eure Bindung sicher ist, sind deine Eltern wahrscheinlich etwas traurig, wenn du gehst, und du bist vermutlich etwas traurig, sie zurückzulassen (früher dachtest du immer, sie wären so cool). Also brichst du einen Streit vom Zaun, um dich besser zu fühlen und damit du ihnen die Schuld an deinem Weggehen geben kannst, und stürmst aus dem Haus. Am Anfang vermissen sie dich, aber nach und nach entdecken sie neue Tänze, ohne dich. Irgendwann, später, kommen sie in deinen Club und tanzen mit dir, und dir wird klar, dass du tatsächlich ein paar ihrer alten Lieder in deinem Repertoire hast. Und wenn du zurückkommst, fällt dir auf, dass sie die Einrichtung modernisiert und eine neue Cocktailkarte haben, die deiner ein bisschen ähnelt.

Das passiert, wenn alles gut läuft. Es gibt jedoch verschiedene Wege, wie das Ganze schiefgehen kann. Vielleicht haben dich deine Eltern nicht beim Tanzen in ihren Armen gewiegt, als du ein Baby warst, sondern dich fallen oder auf der Tanzfläche allein gelassen, wo du dich verletzt hast. Und als du älter wurdest, war es ihnen ziemlich egal, ob du da warst oder nicht; wenn du weggingst, wollten sie nicht mal wissen, wohin.

Vielleicht hattest du es auch auf die entgegengesetzte Weise schwer: Vielleicht haben sie dich zu sehr umsorgt. Vielleicht haben sie dich beim Tanzen nie abgesetzt, dich nie ermuntert, deine ersten eigenständigen Tanzschritte zu gehen. Vielleicht haben sie dich nie allein tanzen, dich nie deinen Rhythmus oder Stil finden lassen, weil sie zu viel Angst hatten, dass auf der Tanzfläche Scherben liegen könnten, dass die anderen Kinder zu grob sein oder andere Gefahren lauern könnten. Oder sie kamen und nahmen dich wieder hoch, wenn du anfingst, allein oder mit jemand anderem zu tanzen, und sagten dir, das sei nicht sicher für dich. Und als du endlich deinen eigenen Nachtclub hattest, wollten sie, dass er genauso aussieht wie ihrer, und regten sich darüber auf oder kritisierten, dass er es nicht war.

Edie war ein heiß geliebtes Einzelkind, ihre Eltern hatten sie verhältnismäßig spät mithilfe künstlicher Befruchtung bekommen. Sie kam zu mir, damit ich ihre Essstörung behandelte. Edie war sechzehn, wirkte aber deutlich älter. Ich erfuhr, dass sie immer ein vernünftiges Kind gewesen war und dass es besonders flache Hierarchien in der Familie gab, die drei waren ein Team. Als sie jünger gewesen war, hatte sie zahlreiche Hobbys gehabt, und ihre Eltern waren mit den Eltern der anderen Kinder befreundet gewesen, die denselben Freizeitaktivitäten nachgingen; die Wochenenden wurden oft von Edies Terminen bestimmt. Während der Grundschulzeit war ihr Vater der Leiter ihrer Schule gewesen, und ihre Mutter kam oft als Betreuerin mit auf Klassenreisen. Jedes kleine Ereignis in Edies Leben – sei es ein Vokabeltest oder ein Sportwettkampf – wurde sorgfältig in den Familienalltag eingeplant. Wenn es Unstimmigkeiten gab, wurden sie vollständig und respektvoll geklärt.

Als Edie ein paar Jahre zuvor begonnen hatte, sich für Tierschutz zu interessieren, fingen auch ihre Eltern an, sich dafür zu interessieren. Als sie sich mit nachhaltiger Ernährung beschäftigte und Vegetarierin wurde, unterstützten ihre Eltern sie und wurden ebenfalls Vegetarier. Dann fing sie an, sich zu fragen, wo das Essen herkam, und wurde allmählich Veganerin. Zu dem Zeitpunkt, als sie zu mir kam, aß sie Obst und Gemüse und einige Hülsenfrüchte, aber kein Fett und keine Kohlenhydrate. Sie war besorgniserregend unterernährt.

Das Pendel der Pubertät