Du wolltest es doch - Louise O'Neill - E-Book
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Du wolltest es doch E-Book

Louise O'Neill

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Beschreibung

Opfer oder Täterin? Nein, richtig sympathisch ist Emma nicht. Sie steht gern im Mittelpunkt, die Jungs reißen sich um sie und Emma genießt es. Bis sie nach einer Party zerschlagen und mit zerrissenem Kleid vor ihrem Haus aufwacht. Klar, sie ist auf der Party mit Paul ins Schlafzimmer gegangen. Hat Pillen eingeworfen. Die anderen Jungs kamen hinterher. Aber dann? Sie erinnert sich nicht, aber die gesamte Schule weiß es. Sie haben die Fotos gesehen. Ist Emma wirklich selber schuld? Was hat sie erwartet – Emma, die Schlampe in dem ultrakurzen Kleid? Ein aufwühlendes, vielfach preisgekröntes Buch. »Seid tapfer. O'Neills Roman ist erschreckend, aber auch packend und unverzichtbar wichtig.« New York Times

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Seitenzahl: 405

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Louise O’Neill: Du wolltest es doch

Emma ist hübsch und beliebt, die Jungs reißen sich um sie. Und sie genießt es, versucht, immer im Mittelpunkt zu stehen: Das Mädchen, das jeden herumkriegt. Bis sie nach einer Party zerschlagen und mit zerrissenem Kleid vor ihrem Haus aufwacht. Klar, sie ist mit Paul ins Schlafzimmer gegangen. Hat Pillen eingeworfen. Die anderen Jungs kamen hinterher. Aber dann? Sie erinnert sich nicht, aber die gesamte Schule weiß es. Sie haben die Fotos gesehen. Ist Emma wirklich selber schuld? Was hat sie erwartet – Emma, die Schlampe in dem ultrakurzen Kleid?

Ein aufwühlendes, vielfach preisgekröntes Buch.

Wohin soll es gehen?

  Buch lesen

  Nachwort der Autorin

  Danksagung

  Nachwort zur deutschen Ausgabe

  Viten

 

Für meine schöne Schwester Michelle

Letztes Jahr

Donnerstag

Das Gesicht meiner Mutter taucht hinter meinem eigenen im Spiegel auf, geschminkte Lippen auf gepuderter Haut.

Trotz der schwülen Hitze liegt jedes Härchen ihres Bobs, wo es liegen soll. Samstags geht sie immer zum Friseur. »Das habe ich mir verdient«, sagt sie. »Egal, wie teuer es ist.«

Karen Hennessy lässt sich drei Mal pro Woche die Haare im Salon föhnen. Sie spricht nie darüber, wie viel das kostet.

Mir ist heiß, meine Wangen sind rot gefleckt und das verwaschene Trägertop, in dem ich geschlafen habe, klebt mir am Körper. Ich schaue von ihr wieder zu mir.

Du bist deiner Mutter so ähnlich, sagen die Leute immer. Ihr seid euch wie aus dem Gesicht geschnitten.

»Guten Morgen«, sagt sie. »Warum starrst du dich so im Spiegel an?« Mir entgeht nicht der kritische Blick, mit dem sie mein verschwitztes Top mustert, durch dessen feuchten Stoff sich meine Brustwarzen abzeichnen.

»Nur so.« Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Was ist? Was willst du?«

»Bloß nachsehen, ob du schon wach bist.«

Ich deute zum Schreibtisch, auf dem mein aufgeklappter Laptop steht, der Ordner mit Notizen, mein Irisch-Englisch-Wörterbuch und »Fiche Bliain ag Fás«, die Erinnerungen des Schriftstellers Muiris Ó Súilleabháin, die wir gerade in der Schule lesen. »Ich bin seit fünf wach«, sage ich. »Wir haben heute mündliche Tests bei O’Leary.«

Und wetten, Jamie bekommt wieder die volle Punktzahl? O’Leary wird wie immer mit geschlossenen Augen in seinen Stuhl zurückgelehnt zuhören und, wenn er dann hochschaut, komplett überrascht sein, weil er beim Zuhören vergessen hat, wer gelesen hat. Dass ausgerechnet Jamie das lupenreinste Irisch von uns allen spricht, haut ihn jedes Mal wieder um.

»Der gute Diarmuid O’Leary.« Mam lächelt. »Weiß er eigentlich, dass du meine Tochter bist?« Ich antworte darauf nichts. »Ich habe dir deine Vitamine gebracht«, sagt sie. »Man soll sie vor dem Frühstück nehmen.«

»Mach ich später.«

»Ach, Emmie. Die Verkäuferin bei Health Hut hat sie extra für dich bestellt.«

»Ja, ja. Weiß ich, Mam.« Ihre Lippen werden schmal, weshalb ich schnell lächle. »Das war supernett von ihr.«

»Dann lasse ich sie dir hier, ja?« Sie deponiert die Tablette und das Wasserglas auf meinem Nachttisch, wo mein iPhone liegt und eine Sammlung einzelner Ohrringe.

Danach kommt sie noch einmal zu mir, legt mir eine Hand auf die linke Hüfte und die andere aufs Steißbein und rückt mein Becken gerade. »Du musst auf deine Haltung achten, Liebes.« Sie duftet nach Mehl und Zimt und dem blumigen Parfüm, das sie immer schon benutzt. Ich sehe vor mir, wie sie in einem silbrig schimmernden Seidenkleid in ihrer Ankleideecke am Schminktisch sitzt, leuchtendes Rot auf den Lippen, die dunkelblonden Haare zum Chignon gesteckt. Damals waren sie noch länger. »Wir kommen zu spät, Nora«, rief Dad von unten. »Bin gleich bei dir, Liebling«, antwortete sie mit dieser besonderen Stimme, die sie immer benutzt, wenn sie mit ihm redet, die sie überhaupt bei allen Männern benutzt. (Warum nie bei mir?) Zuletzt griff sie nach dem Parfümflakon, zog den goldenen Deckel ab und sprühte sich einen Hauch davon auf die Innenseiten der Handgelenke. Ein paar Minuten später kauerte ich auf der obersten Treppenstufe und sah ihr hinterher, wie sie mit unter der Seide schwingenden Hüften nach unten ging, wo Dad auf sie wartete. Er ließ sie die ganze Zeit über nicht aus den Augen, nicht einmal, als ich anfing zu brüllen und um mich zu schlagen, weil die Babysitterin mich festhielt, während sie zur Tür hinausgingen.

»Hast du deine Periode?« Sie streicht mir über den Bauch. »Du siehst ein bisschen aufgebläht aus.«

Ich schiebe ihre Hand weg. »Keine Angst, Mam. Ich bin schon nicht schwanger.«

Ich gehe an ihr vorbei zum Bett und checke mein Handy. Ali hat geschrieben. Zum dritten Mal. Dabei habe ich schon auf die beiden Nachrichten davor nicht reagiert.

»Bitte sprich nicht so mit mir.«

»Wie denn?«

»In diesem Ton.«

»Ich weiß nicht, welchen Ton du meinst. Da war kein Ton.«

Sie spannt die Schultern an und ich weiß, dass sie kurz davor ist, nach unten zu gehen und sich bei Dad zu beklagen, dass ich ihr gegenüber respektlos bin. Er wird seufzen und mir sagen, dass er enttäuscht von mir ist. Egal, was ich antworte, und egal, wie sehr ich versuche, ihm meine Sichtweise zu erklären, er hört mir gar nicht zu. Bring deiner Mutter bitte etwas mehr Respekt entgegen, wird er sagen. Hier gibt es keine »zwei Seiten«.

Er hat recht. Für ihn gibt es immer nur eine Seite und das ist nie meine.

»Tut mir leid, Mam«, entschuldige ich mich.

Sie atmet tief durch. »Nimm deine Vitamine«, sagt sie, »und dann komm runter. Dad und ich sitzen schon beim Frühstück. Er will dich auch noch mal sehen, bevor er zur Arbeit geht.« Kurz vor der Tür dreht sie sich um. Ihr Blick wandert über meinen Körper und bleibt einen Moment an meinem Gesicht hängen. Ich weiß genau, was sie gleich sagen wird.

»Du bist wunderschön heute Morgen, Emmie. Wie immer.«

Sie zieht die Tür hinter sich zu und die Luft in meinem Zimmer verwandelt sich in Suppe. Ich wate hindurch und schiebe das Fenster hoch, um mir etwas Erleichterung zu verschaffen. Ein Hauch von Meersalz liegt in der Luft. Die sieben Häuser unserer Neubausiedlung schmiegen sich im Halbkreis um die Bucht, jedes Haus ist im gleichen Kanarienvogelgelb verputzt, alle haben schwarze Fensterrahmen und Türen. In den geteerten Einfahrten stehen Familienkutschen – Toyotas, Volvos, Hondas. Alle in Schwarz oder Silber, bloß keine zu knalligen Farben. Zwei Häuser weiter scheucht Nina Kelleher gerade ihre beiden Töchter Lily und Ava vor sich her, verfrachtet sie, eine Scheibe Toastbrot zwischen den Zähnen, auf die Rückbank des Kombis, schließt die Tür hinter Lily und winkt Helen O’Shea zu, die in der Einfahrt des Nachbarhauses kniet und ihrem Sohn die Schuhe bindet. »Gott, wie das hier aussieht«, hat Jamie letztes Jahr gesagt, als wir an einer Sozialbausiedlung außerhalb von Ballinatoom vorbeifuhren. Winzige Häuschen, dicht an dicht, Blumenkästen an den Fenstern, eine Horde Rotznasen spielte auf der kleinen Wiese dazwischen Fangen. Maggie hatte damals gerade frisch ihren Führerschein und wir quetschten uns zu viert kichernd in den Volvo ihrer Eltern, elektrisiert von dem Gefühl der absoluten Freiheit, hinfahren zu können, wo wir wollen, und machen zu können, was wir wollen, obwohl wir kaum je weiter als bis nach Kilgarvan kamen. Meistens kurvten wir nur in Ballinatoom herum, vom Kreisverkehr aus die Hauptstraße hoch, an der Kirche vorbei, links an der Autowerkstatt bis zum Spielplatz am Ortsrand, danach über die Umgehungsstraße wieder zurück zum Kreisverkehr. Wir fuhren die Runde einmal, zweimal und noch einmal, stopften uns mit Süßkram voll und spähten in die vorbeifahrenden Autos, ob Typen drin saßen, die wir kannten. Wenn wir an O’Briens Bestattungsinstitut vorbeikamen, vor dem sich ein kleines Grüppchen Trauernder versammelt hatte, bestand Maggie darauf, dass wir die Musik leiser machten. »Immer dieses komische Gelb«, sagte Jamie, als sie über die Schulter zur Siedlung zurückschaute. »Gibt es irgendein Gesetz, in dem steht, dass sozialer Wohnungsbau immer gelb sein muss?« Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Ali, die neben ihr auf der Rückbank saß, ihr den Ellbogen in die Seite rammte und in meine Richtung nickte.

»Hier.« Ich drehte mich ungerührt um und hielt Jamie den iPod hin. »Such mal was anderes aus. Diese Playlist langweilt mich zu Tode.« Ich hörte, wie Ali erleichtert aufatmete, weil es diesmal friedlich geblieben war.

Aber jetzt würde Jamie so einen Kommentar sowieso nicht mehr abgeben. Jetzt wäre sie froh, wenn sie in unserer Straße wohnen könnte.

»Immer dasselbe, Mags. Echt«, schimpfe ich, als ich die Wagentür aufreiße. Bevor ich einsteigen kann, muss ich erst mal leere Chipstüten, einen Hockeyball, ihren Mundschutz, einen roten Stift, der auf dem Polster ausgelaufen ist, und ungefähr zwanzig zerknüllte Zettel vom Sitz räumen.

»Sorry.«

»Das sagt du jeden Morgen. Und trotzdem ändert sich nie was.« Ich ziehe einen Ordner aus meiner Tasche, um mich draufzusetzen, damit mein Rock keine roten Flecken abbekommt. »Gott, das ist ja der volle Ofen hier drin. Macht doch hinten auch mal die Fenster runter.«

»Die sind schon unten«, sagt Jamie von der Rückbank. »Echt blöd, dass du den Volvo nicht mehr bekommst, Mags. Der hat eine Klimaanlage, oder?«

»Ich hab Muffins von meiner Mutter mitgebracht«, sage ich, weil ich jetzt nicht über den Volvo reden will. Ich greife in die Papiertüte und reiche Maggie einen rüber.

»Hey, der ist ja sogar noch warm. Du hast echt so ein Glück mit deiner Mutter.« Sie lenkt mit einer Hand, während sie abbeißt.

»Ja«, sage ich, ohne sie anzusehen. »Sie ist super.«

»Wollt ihr auch?« Ich drehe mich nach hinten und halte Ali und Jamie die Tüte hin. Ali streicht sich die blonden Extensions aus dem Gesicht. »Lieber nicht.« Sie nimmt einen Schluck Kaffee aus ihrem Nespresso-Thermobecher. »Mom möchte, dass wir bei dieser Paleo-Diät-Challenge mitmachen.« Sie gräbt die Schneidezähne in die Unterlippe. »Emma?«

»Ja?«

»Ist alles okay zwischen uns?«

»Wieso?«

»Du hast vorhin nicht zurückgeschrieben. Ich dachte, du wärst vielleicht wegen irgendwas sauer oder so.«

Sie hat den Eyeliner viel zu dick gezogen, in ihren Augenwinkeln klebt schwarzer Schleim. Vor ein paar Monaten hat ihr Vater ihr einen Profi-Schminkkoffer von MAC geschenkt, bis oben hin voll mit Kosmetikprodukten und Pinseln. »Einfach so«, hat Ali achselzuckend gesagt. Maggie hat sich sofort begeistert einen Eyeliner geschnappt und ihn an Jamie ausprobiert. »Cool«, habe ich gesagt und unauffällig nach einem Highlighter gegriffen, den ich mir schon seit Urzeiten gewünscht hatte, der Mam aber zu teuer war. »Wobei ich ja finde, dass die Models in den MAC-Anzeigen immer ein bisschen wie Transen aussehen.«

»Gott, Ali«, seufze ich jetzt. »Entspann dich mal, ja?«

Ich halte Jamie die Muffins hin, aber sie reagiert nicht. »Hallo? Erde an Jamie.« Ich wedle mit der Tüte vor ihrem Gesicht herum.

Sie wirft einen Blick darauf, sieht mich an und zögert, aber dann nimmt sich doch einen, beißt sofort rein und verschlingt ihn fast in einem Happen.

»Hey, hey«, sage ich. »Nicht mal Maggie hat ihren so gierig in sich reingestopft.«

»Lass mich bloß in Ruhe«, sagt Maggie. »Ich war heute um sechs schon beim Schwimmtraining. Da darf ich ja wohl einen Muffin essen.«

»Ich weiß nicht, wie du es immer schaffst, so früh aufzustehen«, seufze ich. »Ich habe mich erst zehn Minuten, bevor ihr gekommen seid, aufgerafft aus dem Bett zu steigen. Ich bin echt die volle Versagerin.«

Jamie zerknüllt das Muffinförmchen. »Ich war sogar noch früher wach, um zu lernen. Wir kriegen heute doch mündliche Noten in Irisch.«

»Ach du Scheiße«, stöhne ich. »Das hab ich komplett vergessen. Ich bin geliefert.«

»Hattest du nicht letzte Woche angeblich auch schon vergessen, für Physik zu lernen?« Jamie sieht mich misstrauisch an.

Den Physiktest habe ich mit achtundsiebzig Prozent bestanden. Als Mr O’Flynn ihn mir zurückgegeben hat, hat er mir zugezwinkert und »gute Leistung« gebrummt. Ich ließ das Blatt gut sichtbar für alle auf dem Tisch liegen. »Und jetzt zur besten Arbeit der Klasse«, sagte er danach. »Gratuliere, Jamie.« Als sie ihren Test, ohne eine Miene zu verziehen, in ihrer Tasche verschwinden ließ, sah ich, dass mit rotem Marker fett »93%« draufstand. Ich schaute noch mal auf meinen eigenen Test und hatte das Gefühl, die Zahlen würde sich vom Papier lösen, auf mich zuschweben und mir die Netzhaut verätzen. Am liebsten hätte ich die beschissene Arbeit in fünfzigtausend Fetzen gerissen.

Trotzdem habe ich »Super, Jamie!« gesagt und sie angelächelt, damit keiner auf die Idee kam, ich wäre neidisch. »Ich könnte mich echt ohrfeigen, dass ich nicht gelernt habe.«

»Hä? Ist die neu?«, erkundigt sich Maggie, als Ali eine Schildpattsonnenbrille von Ray Ban aus ihrem gelben Céline-Rucksack zieht, den ihre Mutter aus Paris mitgebracht hat. »Was ist denn aus der Warby Parker geworden, die dein Dad dir geschenkt hat?«

»Die ist irgendwie verschwunden«, sagt Ali und ich schaue unbeteiligt. »Keine Ahnung, wo ich sie gelassen habe.«

»Oh nein!«, ruft Maggie mitfühlend und setzt den Blinker, um auf den Schulparkplatz zu biegen.

»Warum hast du dir denn die gleiche nicht einfach noch mal geholt?«, frage ich und bin froh, dass sich meine Stimme ganz normal anhört. Geld spielt für Ali keine Rolle.

»Das war doch eine limitierte Auflage, die gibts nur in den Staaten«, sagt sie.

»Ach, stimmt. Jetzt weiß ich, welche ihr meint.« Ich nehme meine Tasche aus dem Fußraum und wühle nach meinem Irischbuch. »Aber auch nicht so schlimm, Süße. Sie war sowieso ein bisschen groß für dein Gesicht.«

Vor uns erhebt sich der graue Klotz der St Brigid’s Secondary School mit ihren niedrigeren Nebengebäuden. Die riesigen Fenster blitzen im grellen Sonnenlicht. Daneben die Sport- und Tennishalle und der große Parkplatz. Auf den sanften Hügeln hinter dem Schulkomplex weiden Kühe, die jedes Mal aufgeregt muhen, wenn sich Schülerinnen zur Rückseite der Sporthalle schleichen, um heimlich zu rauchen. Die Nonnen haben der Gemeinde das Grundstück vor Jahren verkauft, um von dem Geld am anderen Ende von Ballinatoom ein neues Kloster zu errichten. Jetzt huschen in dem riesigen Gebäude noch fünf von ihnen herum und warten darauf, ganz auszusterben. Wir steigen aus und reihen uns in den Pulk verschwitzt aussehender Mädchen ein, die auf die Schule zuströmen. Unsere Schuluniform – dunkelgrauer Faltenrock, dunkelgrauer Blazer und graue Kniestrümpfe – ist für diese Hitzewelle absolut ungeeignet, trotzdem hat Direktor Griffin gestern in einer Durchsage extra noch mal betont, dass »sämtliche Teile der Uniform getragen werden müssen, gleichgültig wie heiß es ist. Ausnahmen werden nicht gestattet.«

Um mich herum ertönt Gelächter, Mädchen haken einander unter, wühlen in ihren Rucksäcken und rufen ihren Freundinnen zu, dass sie warten sollen. Ich nicke fröhlich, wenn sie mich grüßen und fragen, wo ich meine Sonnenbrille herhabe, wie der Farbton von meinem Lipgloss heißt oder ob ich wegen der mündlichen Noten heute in Irisch schon nervös bin. Ich lächle, sage: »Danke, echt lieb«, und gebe Komplimente zurück. Ich stelle mir vor, wie sie anfangen zu tuscheln, sobald ich außer Hörweite bin, darüber, wie nett und ungekünstelt ich immer bin, dass ich für jede ein freundliches Wort habe und wie cool es ist, dass ich trotz meines Aussehens kein bisschen arrogant bin.

Als es nach der letzten Stunde endlich gongt, bin ich erschöpft. Ich muss die ganze Zeit lächeln und nett sein und so tun, als würde ich mich für die Probleme der anderen interessieren, weil sonst alle sagen würden, dass ich eine eingebildete Zicke bin. Das kann sich keiner vorstellen, wie anstrengend es ist, sich den ganzen Tag so zusammenreißen zu müssen.

Ali: Wo bist du?

Ali: Hast du meine letzte Nachricht bekommen? Vielleicht ist sie nicht durchgegangen.

Ali: Hallo. Wollte bloß fragen, ob du meine letzten beiden Nachrichten bekommen hast. Wo trefft ihr euch nach der Schule? Ich stehe vor dem Hauswirtschaftsraum.

»Hey.« Ali hat ihren Blazer als Decke ausgebreitet und liegt neben dem Fiesta auf dem Asphalt. Um möglichst viel Sonne abzukriegen, hat sie ihren Rock hochgeschoben und die Bluse aufgeknöpft. »Hast du meine Nachrichten bekommen?«

»Nein.«

Ich schaue auf dem Handy nach der Uhrzeit und beschatte die Augen mit der Hand, während ich zum Schulgebäude rüberblinzle.

»Gott, echt«, sage ich. »Wo bleibt sie denn? Ich habe keine Sonnencreme mit. Wenn sie nicht bald kommt, hole ich mir garantiert einen Sonnenbrand.«

»Wie doof«, sagt Ali. »Ich hab leider auch keine mit. Tut mir leid. Ich hätte dran denken sollen.«

»Du weißt doch, wie empfindlich meine Haut ist.« Ich halte mir meinen Blazer über den Kopf, um wenigstens halbwegs geschützt zu sein. »Karen sagt auch immer, UV-Strahlung ist für die Haut so ziemlich das Schlimmste, was …«

»Schon gut. Wenn ich einen Rat von meiner Mutter brauche, frage ich sie selbst.«

»Emma!«

Ich verziehe das Gesicht, weil ich die Quäkstimme sofort erkenne. »Hi!«

»Hi, Chloe.«

Chloe Hegartys Haare stehen wie ein struppiger Heiligenschein vom Kopf ab und am Kinn und um den Mund herum sprießen lauter Pickel, die teilweise gelb verkrustet sind. Sie sollte echt dringend mal zum Hautarzt. Ich drehe mich weg und tue so, als würde ich etwas in meiner Tasche suchen.

»Autsch«, sagt Ali, als Chloe davontrottet.

»Egal«, sage ich. »Gott sei Dank, da sind sie endlich!« Die beiden kommen aus dem Gebäude neben der Sporthalle. Maggie tippt im Gehen wild auf ihrem iPhone herum, Jamie trottet hinter ihr her. »Beeilt euch!«, rufe ich ihnen zu.

»Sorry«, sagt Maggie, als sie bei uns ist. Sie hat ihren Schulblazer zwischen die Henkel ihrer Tasche geklemmt und kramt darin nach ihren Schlüsseln, ohne vom Handy aufzuschauen. Als ein Pling eine neue Nachricht ankündigt, lässt sie die Tasche zu Boden fallen, liest sie und lächelt verträumt.

»Mags«, stöhne ich. »Ich kriege hier gleich einen Hitzschlag. Könntest du vielleicht wenigstens erst mal den Wagen aufmachen?«

»Sorry«, sagt sie noch mal. »Eli schreibt gerade, dass er mit den anderen gegen fünf im Park ist, und fragt, ob wir auch kommen.« Sie legt das Handy auf die Motorhaube, stellt die Tasche daneben und wühlt weiter darin. Sie packt drei zerknitterte Hefte aus, einen Schal mit Leopardenprintmuster, einen iPod, Tic-Tacs, eine fettige Lunchbox und einen Schreibblock. »Scheiße, irgendwo muss er doch …«, murmelt sie und zieht eine Packung Taschentücher heraus, von denen sie eins gleich benutzt, um sich – dem Geruch nach – die öligen Reste eines Thunfisch-Sandwiches von den Fingern zu wischen. »Ah, da ist er. Moment!« Sie schließt zuerst die Fahrertür auf und zuckt zurück, als die Woge heißer Luft sie im Gesicht trifft. Danach krabbelt sie ins Auto und entriegelt die übrigen Türen von innen.

»Hilfe!«, stöhnt Jamie, als wir einsteigen und sofort alle Fenster runterlassen. »Wann kriegst du eigentlich endlich dein Auto, Ali?«

»In drei Monaten, an meinem Geburtstag!« Ali zückt ihr Handy und scrollt durch die Fotos. Als sie uns das Bild eines brandneuen Mini Cooper in Babyblau zeigt, kreischen Jamie und Maggie begeistert: »Ooooh!«

»Ist euch auch schon aufgefallen, dass man in letzter Zeit überall nur noch Mini Coopers sieht?«, höre ich mich sagen. »Inzwischen hat gefühlt echt jeder einen.« Ali lässt das Handy in den Schoß sinken.

»Hey, fahr nicht so schnell«, sage ich zu Maggie, als sie in die enge Hauptstraße der Altstadt von Ballinatoom mit ihren Ladenfronten in Skittle-Bonbon-Farben biegt. Pubs, Metzger, Obst-und-Gemüse-Händler, dicht an dicht, einer neben dem anderen. Ein paar Jungs von der St Michael’s blockieren den Gehweg, trinken Cola und futtern Süßigkeiten. Den älteren Mann, der versucht, sich mit seinem Gehstock an ihnen vorbeizunavigieren, beachten sie nicht. Sie haben ihre blauen Schulpullis um die Hüften geschlungen und die blau-gelb gestreiften Schulkrawatten gelockert; die durchgeschwitzten weißen Hemden sind aufgeknöpft und die Ärmel hochgekrempelt, sodass man ihre sonnenverbrannten Arme sieht. Zwischen zwei Häusern hängt ein breites Banner, auf dem in schwarzen und goldenen Lettern das alljährliche Country-and-Western-Music-Festival angekündigt wird. An dem Wochenende, an dem es stattfindet, fallen immer Hunderte Fans älteren Semesters aus ganz Irland in Ballinatoom ein, die in Cowboystiefeln und Stetsons rumlaufen und Songs von Nathan Carter vor sich hin summen. »Was für ein Glück, hier leben zu dürfen!«, schwärmen sie und saugen die Seeluft tief in ihre Lungen. Wie kommt ihr darauf?, würde ich sie gerne fragen. Inwiefern soll es bitte ein Glück sein, in diesem Kaff wohnen zu müssen? Aber das sage ich natürlich nicht laut, weil ich ihre Antwort schon kenne.

Es ist so unglaublich idyllisch, würden sie sagen. In der Kleinstadt gibt es noch eine richtige Gemeinschaft. Hier passen die Leute aufeinander auf.

Damit haben sie allerdings recht.

Es dauert nicht lang und die Connolly Gardens liegen vor uns. Eine runde Rasenfläche mit einem schmalen asphaltierten Gehweg und einem Marmorbrunnen in der Mitte. Ringsum reihen sich in zwei Halbkreisen herrschaftliche georgianische Stadtvillen aus dem 18. Jahrhundert aneinander, die alle in unterschiedlichen Pastelltönen gestrichen sind. Wir parken vor dem Haus von Maggies Eltern, blassblau mit cremeweiß lackierten Fensterrahmen. An der ebenfalls cremefarbenen Tür hängt ein schwarzer schmiedeeiserner Klopfer in Form eines Löwenkopfes.

»Wollt ihr nicht schnell noch mit reinkommen?«, fragt Maggie, als sie aufschließt und nur Jamie ihr folgt. Ali wirft mir einen Blick zu. Als ich den Kopf schüttle, sagt sie: »Nein, ist schon okay. Ich warte hier mit Em.«

»Denkt ihr dran, Sonnencreme mitzubringen?«, rufe ich den beiden hinterher. Ich habe keine Lust, Maggies Mutter Hannah zu begegnen, die mir womöglich irgendwelche Fragen stellen würde. Das letzte Mal, als ich bei ihnen war, ist sie in ihr Therapiezimmer gegangen und mit einem Buch zurückgekommen, »das du unbedingt lesen solltest, Emma. Ich könnte mir vorstellen, dass du da richtig viel für dich rausholen kannst.« Die Bennets sind erst vor fünf Jahren aus North Cork hergezogen, was im Ort für ziemliche Aufregung sorgte. Hannah Bennet war damals gerade mit Maggies kleiner Schwester Alice Eve schwanger. Sie trug knappe T-Shirts, unter denen sich ihr praller Bauch wölbte, und kümmerte sich nicht um die ganzen alten Weiber, die sich das Maul zerrissen und geschockt wegschauten, sobald ein Streifen Haut aufblitzte. Eine Zeit lang waren die Bennets das Gesprächsthema in Ballinatoom. »Die Frau ist Spieltherapeutin, was auch immer das für ein Beruf sein soll.« »Dieser Bennet scheint als Steuerberater ja recht gut zu verdienen – das Haus hat ein Vermögen gekostet.« »Die Tochter ist zwölf oder dreizehn. Ein bildhübsches Mädchen.« Ich war erleichtert, als ich Maggie dann einige Zeit später das erste Mal selbst sah und feststellte, dass sie zwar wirklich hübsch war, aber definitiv nicht hübscher als ich.

»Diese Hannah Bennet soll ja sehr attraktiv sein«, sagte Mam damals beim Abendessen zu Dad, als sie ihm den Kartoffelbrei reichte, »und das, obwohl sie schon die ersten grauen Haare bekommt. Aber sie färbt sie nicht. Das finde ich wirklich mutig.«

»Okay. Können wir?«, fragt Maggie, als sie zehn Minuten später wieder rauskommt.

»Hey, cooles Outfit!«, ruft Ali. Maggie hat das karierte Männerhemd, das sie sich vor Kurzem in einem Vintage-Shop gekauft hat, als Kleid angezogen und trägt dazu ihre silbernen Docs. Ein Tuch mit Paisleymuster, das sie sich zweimal um den Kopf geschlungen und oben zu einer übertrieben großen Schleife gebunden hat, hält ihre Locken aus dem Gesicht. An den Fingern trägt sie mehrere Silberringe.

»Gott, Maggie.« Ich lache. »Du siehst aus, als wärst du eine aus dieser Amish-Sekte.«

Maggie geht noch mal in den Flur. Über dem Tischchen mit den dünnen gedrechselten Beinen hängt ein ovaler Spiegel, auf dem in Schnörkelschrift ein meiner Meinung nach total dummer Spruch aufgedruckt ist, den ich jedes Mal am liebsten abkratzen würde: Auf die innere Schönheit kommt es an.

»Perfekt«, sagt sie fröhlich. »Ich stehe ja voll auf den Amish-Look.«

Um diese Zeit ist im Park kaum etwas los. Auf einer Bank auf der gegenüberliegenden Seite sitzen drei Frauen mittleren Alters in schwarzen Leggings, engen Trägershirts und Birkenstock-Schlappen, von denen jede eine zusammengerollte Yogamatte und eine braune Papiertüte mit dem Aufdruck The Health Hut dabeihat. Eine Mutter in Cargo-Shorts und einem sackartigen Shirt rennt mit einer Tube Sonnencreme und Sonnenhüten in den Händen zwei Kleinkindern hinterher, ein paar Jungs und Mädchen in Badesachen springen kreischend im Brunnen herum.

»Hey, hey, sexy Ladys.« Ein Typ mit Basecap lehnt sich aus dem Fenster eines Wagens, der am Eingang zum Park steht. Sein Kumpel auf dem Beifahrersitz wirft lachend den Kopf zurück. Wir gehen weiter, als hätten wir nichts gehört. Als ich über die Schulter doch noch mal zurückschaue, zeigt er auf mich.

»Hey, du. Was hast du für ein Problem?«, ruft er.

»Gar keins.«

»Dann zieh nicht so eine Fresse. Du würdest noch besser aussehen, wenn du lächeln würdest.«

»Gott«, schnaube ich, als wir außer Hörweite sind. »Warum immer ich?«

»Vielleicht, weil du als Einzige zurückgeschaut hast?«, sagt Jamie und Maggie prustet los.

»Ach komm, Jamie, sei nicht so fies. Vielleicht hat ihr ja einer von den beiden gefallen.« Maggie presst die Lippen zusammen, um ihr Kichern zu unterdrücken. »Der im weißen Jogginganzug war aber auch echt scharf. Genau dein Typ, stimmts, Em?«

»Ha, ha«, sage ich, als sie und Jamie sich lachend in die Seite stoßen. »Unglaublich witzig.«

Ali läuft vor uns her und schaut in die andere Richtung. »Manchmal ist es echt hart, mit dir befreundet zu sein«, hat sie mir letztes Jahr auf einer Party von Dylan Walsh gesagt, als sie total betrunken vor der Kloschüssel kniete. »Wenn du dabei bist, fühlt man sich, als würde man gar nicht existieren.« Sie beugte sich vor und würgte, während ich auf meinem Handy nachschaute, ob ich neue Nachrichten hatte. »Manchmal …« Sie holte tief Luft und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, »… glaube ich, dass du nur deswegen mit mir befreundet bist.«

Ich habe ihr gesagt, sie soll nicht bescheuert sein und dass das natürlich kompletter Schwachsinn ist.

»Du brauchst nicht zu glauben, dass mir das Spaß macht, immer angebaggert zu werden. Das nervt echt«, behauptete ich.

»Ja, klar«, sagte sie. »Ist bestimmt schrecklich, die ganze Zeit gesagt zu bekommen, wie schön man ist.«

»Das ist doch voll oberflächlich«, sagte ich, weil es das ist, was man antworten muss, wenn man gesagt bekommt, dass man schön ist. »Das hat überhaupt nichts zu bedeuten.«

Jetzt bleibt Ali so abrupt stehen, dass Jamie fast in sie hineinläuft. »Oh mein Gott.«

»Mann, Ali. Kannst du nicht aufpassen?«, schimpft Jamie.

»Schsch«, zischt Ali. »Schaut, wer da ist.«

Hinter dem Brunnen werfen sich Sean Casey und Jack Dineen einen Rugbyball zu. Sie haben sich ihre Shirts ausgezogen und beide sind schlank und durchtrainiert.

»Sean ist echt so eine Sahneschnitte«, seufzt Ali.

»Sean sollte sich vor allem mal dringend eincremen«, sage ich laut.

In dem Moment schaut Sean auf. Als er mich sieht, läuft er im Gesicht noch röter an.

»Hey, Emma.« Er winkt und ich hebe die Hand und wackle mit den Fingern.

»Du solltest ihn nicht auch noch ermutigen«, hat Maggie vor Kurzem auf Skype mit mir geschimpft. »Du weißt doch, dass Ali immer noch in ihn verknallt ist.«

»Ich ermutige ihn nicht«, habe ich mich empört verteidigt. »Ich bin bloß ganz normal nett zu ihm. Was soll ich denn machen? Gar nicht mit ihm reden, oder was? Dann denkt er, dass ich was gegen ihn habe.«

(Ich will nicht, dass er mich für eine arrogante Zicke hält.)

»Ich poste schnell bei Facebook, dass wir hier sind«, sagt Ali, während wir auf eine freie Bank zusteuern. Ich setze mich an das Ende, das im Schatten der dahinterstehenden Eiche liegt, Jamie ans andere. Ali zieht ihren Blazer aus und setzt sich darauf, damit ihr Rock keine Grasflecken abbekommt. Maggie leiht sich meinen als Unterlage und hockt sich neben sie. Sie wühlt in ihrer Tasche und hält mir die parfümfreie Sonnenschutzcreme aus fair gehandelten Ölen und ohne chemische Zusatzstoffe hin, die ihre Mutter immer kauft. Ich reibe mir etwas davon auf die Beine und schiele aus dem Augenwinkel zu den Jungs rüber, ob Jack Dineen herschaut, aber der hat Sean gerade zu Boden gerungen und versucht, ihm den Ball abzunehmen.

»Meinst du nicht, das reicht langsam, Emma?«

»Was?«

Jamie drückt sich ebenfalls Sonnencreme aus der Tube, die ich ihr wieder hingeworfen habe, und massiert sie mit übertrieben ekstatischem Gesichtsausdruck in ihre Beine ein. »Oh ja, jaaaa«, stöhnt sie. »Das fühlt sich guuuuut an.«

»Ach, lass mich doch in Ruhe.« Ich schließe die Augen und blende bis auf die Soundkulisse alles um mich herum aus. In der Ferne rauscht der Verkehr, jemand hupt mehrmals. »Glaubst du, er interessiert sich auch für mich?«, will Ali zum hundertsten Mal von Maggie wissen. »Hat Eli mal was gesagt? Hat Sean schon mal mit ihm über mich gesprochen?« Maggie redet beruhigend auf sie ein und stockt immer wieder mitten im Satz, wenn ihr Handy piepst. An meinem Ohr summt eine Fliege, aber ich bin zu faul, sie wegzuscheuchen, eine Mutter schimpft: »Du kommst jetzt sofort her, Fionn. Wir müssen los.« Irgendwann kriege ich am Rande mit, wie Ali von einem amerikanischen Mädchen erzählt, deren Webcam gehackt und die beim Masturbieren gefilmt wurde.

»Im Ernst?«, sage ich. »Das ist ja wohl voll eklig.«

»Hannah sagt, Selbstbefriedigung ist was ganz Natürliches und nichts, wofür man sich schämen muss«, murmelt Maggie zerstreut, weil sie gerade wieder auf ihrem Handy herumtippt.

»Ach, dann machst du es also auch?« Ich zwinkere ihr zu. »Verstehe. Als ich dich gestern Abend angerufen habe und du gesagt hast, du hättest gerade ›geduscht‹, hast du dir also in Wirklichkeit die Perle poliert?«

»Was? Nein!« Maggie läuft knallrot an. »Natürlich nicht.«

»Mhm-mhm, ja klar.«

»Ich mache das nicht«, sagt Maggie. »Wirklich nicht. Hallo? Wozu hab ich Eli?«

»Die Geschichte geht noch weiter«, sagt Ali. »Jedenfalls hat ihr der Typ, der ihre Kamera gehackt hat, dann ein Video davon geschickt und damit gedroht, es bei Twitter zu posten und außerdem einen Link an alle aus ihrer Schule zu schicken, wenn sie ihm nicht einen bläst oder so. Und dann hat sie sich umgebracht.«

»Echt? Wie denn?« Jamie beugt sich auf der Bank so weit vor, dass ihr Bauch ihre Oberschenkel berührt.

Ali zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

»Tja, da hat der Hacker Pech gehabt, dass er nicht Sarah Swallows gefilmt hat.« Ich strecke die Arme über den Kopf und gähne. »Nomen est omen, oder? Die hätte ihm sicher auch ohne Erpressung liebend gern einen geblasen, die dreckige Schlampe.«

»Wer ist eine dreckige Schlampe?«, fragt eine Jungenstimme hinter uns. Es ist Eli, der Conor und Fitzy mitgebracht hat.

»Hey, Eli.« Ich schiebe mir die Sonnenbrille in die Haare und strahle ihn an. »Wie gehts?«

»Alles bestens, ich …« Weiter kommt er nicht, weil Maggie kreischend aufspringt und sich in seine Arme wirft, als hätte sie ihn seit Jahren nicht gesehen. Die beiden küssen sich, sie schlingt ihre Beine um seine Hüften und er schleppt sie ein paar Schritte auf die Wiese, lässt sich mit ihr ins Gras sinken und brummt irgendetwas, das man nicht versteht, weil sie dabei nicht aufhören zu knutschen. Conor setzt sich natürlich neben mich.

»Hey, Emmie.« Als ich ihn mit hochgezogener Braue ansehe, korrigiert er sich schnell. »Emma, meine ich.«

»Hey.« Ich senke die Stimme. »Alles klar? Wie gehts deiner Mutter?«

»Ganz gut. Sie ist die ganze Zeit müde, aber das ist wohl normal. Danke.«

»Wofür?«

»Dass du gefragt hast.« Er sieht mir ein bisschen zu tief in die Augen und seine linke Schulter streift meine.

»Wie wärs, wenn ihr euch ein Hotelzimmer nehmt, Leute«, sagt Fitzy zu Maggie und Eli und lässt sich neben Jamie fallen.

»Sorry.« Maggie schafft es endlich, sich von Eli zu lösen, bleibt aber weiter auf seinem Schoß sitzen und streicht ihm über den kurz geschorenen Afro. »Ich kann ihm einfach nicht widerstehen.«

Mein Handy piepst. Ali hat unseren Standort ein zweites Mal bei Facebook gepostet und diesmal auch die Jungs markiert. Ich verdrehe die Augen, strecke die Beine aus und kriege nur halb mit, worüber die anderen sich unterhalten, während die Hitze der Sonne sich in meinem Körper ausbreitet.

»Scheiße, ist das heiß …«

»Sonnencreme … Lichtschutzfaktor fünfzig … Fair Trade …«

»Fair was?«

Gelächter. Sonnenstrahlen fallen durch die Blätter und sprenkeln den Rasen, der Himmel zieht über uns hinweg. Die summende Fliege ist zurück, landet auf meinem Bein, läuft kitzelnd über meine Haut.

»… und ich krieg das Blau einfach nicht richtig hin. Es sollte genau so aussehen wie …«

»… ja, ich hab Fotos von der Ausstellung gesehen und fand das Bild auch total genial. Wobei Mr Shanahan ja gesagt hat, dass man den Turner-Preis heutzutage gar nicht mehr ernst nehmen kann.«

»Mr Shanahan ist leider völlig unzurechnungsfähig.«

Fitzy darf mit Sondergenehmigung am Kunstunterricht der St Brigid’s School teilnehmen, weil er seinen Abschluss in Kunst machen will und das Fach bei ihnen nicht angeboten wird. Seit er bei Maggie im Kurs ist, haben die beiden sich angefreundet. »Maggie ist verdammt cool«, hat er mir auf seiner Geburtstagsparty gesagt. »Das ist echt selten, dass ein Mädchen nicht bloß hübsch ist, sondern auch richtig was draufhat. Und witzig ist sie noch dazu. So viele von der Sorte gibt es in Ballinatoom nicht.«

Ich war einen Moment lang sprachlos, weil er dabei irgendwie geguckt hat, als würde es ihm Spaß machen, mir eins reinzudrücken. »Maggie ist die Allercoolste, keine Frage«, habe ich nach einer kleinen Denkpause lässig zurückgegeben. »Mich wundert nur, dass dir überhaupt auffällt, wie hübsch sie ist. Ich dachte immer, du wärst …« Er starrte mich mit vor Angst eingefrorenen Gesichtszügen an und ich verspürte einen klammheimlichen Triumph. »Na ja, ist ja auch egal.« Ich zuckte mit den Schultern, lächelte und nahm mir ein zweites Stück von der Geburtstagstorte. »Ist doch okay, wenn ich noch eins esse, oder?« Ich schaute mich in dem fast leeren Zimmer um. »Bleibt ja sicher sowieso was übrig.«

Plötzlich höre ich Bremsen quietschen, Reifen schlittern über Asphalt, mörderischer Heavy Metal röhrt durch die Stille. Ein Mädchen kreischt: »Ich warne dich, du Arschloch. Wenn du …« Eine Autotür knallt. Lautes Hupen. »Weißt du, was? Du nervst einfach nur«, ruft ein Typ, dann fährt der Wagen davon.

»Dylan und Julie?«, fragt Ali, ohne sich aufzusetzen und nachzusehen.

»Wer sonst?«

»Gott«, seufzt Maggie und reckt sich, um Eli einen Kuss auf den Hals zu hauchen. »Ich bin froh, dass wir nicht so sind, Baby.«

»Ooooh, Baby«, äfft Fitzy sie nach. Im gleichen Moment fliegt der Rugbyball so dicht an seinem Kopf vorbei, dass er beim Versuch auszuweichen über Conors ausgestreckte Beine stolpert und im Fallen gegen Jamie stößt. »Pass doch auf!«, beschwert sie sich. Fitzy entschuldigt sich, schüttelt die Haare aus den Augen, steht auf und klopft sich Grashalme von seinen hochgekrempelten Chinos.

Dylan kommt auf uns zu gesprintet, Jack und Sean hinterher. Er bückt sich nach dem Ball und wirft ihn von einer Hand in die andere. Mich schaut er gar nicht an, nur Jamie.

»Hey, Jamie«, sagt er. »Wie läufts bei dir?«

Sie beachtet ihn nicht, rutscht tiefer in die Bank und drückt das Kinn an die Brust.

»Ich habe gerade ›Hallo, Jamie‹ gesagt«, sagt er. »Du kannst ruhig reagieren.«

»Entspann dich, Dylan.« Maggie schiebt sich ihre runde John-Lennon-Sonnenbrille in die wuscheligen Haare und blinzelt zu ihm auf.

»Wer hat dich um einen Kommentar gebeten?«

Eli steht auf. Er ist über eins neunzig groß und überragt Dylan locker. Früher galt Eli als ziemlich reizbar und hat gerne auch mal zugeschlagen, wenn jemand zum Beispiel auf die selbstmörderische Idee kam, in seiner Gegenwart das N-Wort fallen zu lassen. Aber er hat Maggie versprochen, sich zusammenzureißen. »Er hat gesagt, dass er alles für mich tun würde und noch nie solche Gefühle für ein Mädchen gehabt hat«, hat sie uns vor drei Jahren erzählt, als sie ganz frisch mit ihm zusammengekommen war. Ich musste mir auf die Zunge beißen, damit mir nicht rausrutschte, dass das in der Anfangszeit doch immer alle Typen behaupten.

Eli will gerade etwas zu Dylan sagen, als sein Handy summt. Er zieht es aus der Hose, wirft einen Blick darauf und runzelt die Stirn.

»Wer ist es?«, fragt Maggie.

»Meine Mum. Sie hat uns gerade gesehen.« Eli dreht sich in Richtung Connolly Square und winkt einer Frau zu, die schemenhaft im Fenster eines blassrosa gestrichenen Hauses zu erkennen ist. Maggie und Eli wohnen nur drei Häuser voneinander entfernt, sehr praktisch. »Ich muss nach Hause. Mein Vater hat heute Nachtdienst und sie will, dass ich auf Priscilla und Isaac aufpasse.«

»Soll ich gleich mitkommen?«

Eli zieht sie auf die Füße, nimmt ihr vorsichtig die Sonnenbrille aus den Locken und schiebt sie ihr auf die Nase. Sobald die beiden gegangen sind, wird es still. Ich überlege krampfhaft, was ich erzählen könnte. Emma O’Donovan ist echt heiß, habe ich einen Jungen aus meinem Jahrgang mal sagen hören, als ich vierzehn war und anfing, samstags in die Attic Disco zu gehen, aber sie ist scheißlangweilig.

»Und, wie sieht es aus? Gewinnt ihr das Spiel morgen?«, frage ich Jack Dineen, der etwas abseitssteht. Sein blaues T-Shirt klebt an seinem Körper, aber die dunklen, gegelten Haare ragen trotz der Hitze immer noch stachelig in die Höhe. Jack ist zwar eher klein, so um die eins siebzig, schätze ich, dafür aber gut gebaut. »Mein Vater hat gesagt, dass ein Talentscout aus Cork kommt.«

»Na ja, der Typ ist Ciarán O’Briens Bruder, deswegen hätte er sich das Spiel wohl sowieso angeschaut.« Jack zuckt mit den Schultern.

»Trotzdem eine gute Gelegenheit zu zeigen, was wir draufhaben.« Sean lässt sich vor mir auf die Wiese fallen. Er riecht nach Schweiß und frisch gemähtem Gras. »Wir hatten deswegen gestern eine Teambesprechung. Übrigens mache ich am Samstag bei mir zu Hause Party. Meine Eltern sind übers Wochenende weg.« Ali setzt sich ruckartig auf, aber Sean sieht nur mich an. »Was ist, Emma? Hast du Lust, auch zu kommen?«

Als er mich mal eines Abends vor Reilly’s Pub abgepasst hat und ziemlich zudringlich geworden ist, habe ich ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass zwischen ihm und mir niemals irgendwas laufen wird, weil ich weiß, dass Ali auf ihn steht. »Aber ich steh nicht auf Ali«, hat er damals gesagt. »Ich stehe auf dich.« Ich habe ihn weggeschoben. »Ich würde ja, Sean. Würde ich echt«, habe ich gesagt. »Aber Ali ist eine meiner besten Freundinnen, okay? Das könnte ich ihr niemals antun.«

»Dann gib dir mal Mühe«, sagt Dylan jetzt. »Ich habe die Latte mit meiner letzten Party ziemlich hoch gelegt. Wird nicht leicht, die zu toppen. Der Abend war nicht schlecht, was, Emma?«

»Ja, der war gut.«

»Nur gut?« Er sieht mich mit hochgezogener Augenbraue an. »Da hat Kevin Brennan aber was anderes erzählt.«

(Kevin, der mich auf der Party gegen die Wand stößt, seine spitzen Zähne auf meinen Lippen.)

»Was meinst du damit?«, frage ich. »Was hat Kevin denn genau erzählt?«

(Kevin, der mich in ein dämmeriges Kinderzimmer zieht, in dem es nach Knete riecht und wo ich über eine kopflose Barbie stolpere. Die Bettdecke ist zuckerwatterosa, draußen im Flur lachen Leute. Lass uns wieder zur Party zurückgehen, habe ich mehrmals gesagt.)

»Och, na ja.« Dylan grinst. »Bloß, dass ihr euren Spaß hattet.«

(Kevins Hände auf meinen Schultern, als er mich aufs Bett runterdrückt. Komm schon, Emma. Ich wollte keine Szene machen. Außerdem finden ihn alle total süß.)

»Spaß, ja?« Meine Stimme ist angespannt.

(Hinterher habe ich ihn schwören lassen, dass er mit niemandem darüber redet.)

»Also, ich habe keine Ahnung, was er euch erzählt hat. Aber zwischen uns ist nichts passiert.«

»Ja? Das hat sich bei ihm aber anders angehört.« Dylan wirft Jack einen Blick zu, als würde er auf Bestätigung warten.

»Tja, dann ist er ein verdammter Lügner.« Ich atme tief durch. »Aber was solls.« Ich versuche so zu klingen, als wäre es mir total egal. »Ist nicht mein Problem, wenn er sich irgendwelche Storys ausdenken muss, um sich männlicher zu fühlen.«

»Ihr Weiber seid doch alle gleich.« Dylan verdreht die Augen. »Erst trinkt ihr zu viel und lasst voll die Schlampe raushängen und am nächsten Morgen tut ihr plötzlich so, als wäre nie was gewesen, weil ihr euch schämt.« Er sieht dabei Jamie an und ich lache ein bisschen zu laut.

»Ich muss jetzt los.« Jamie greift nach ihrer Schultasche. Ein Heft und eine Blechdose mit Stiften fallen heraus und Ali springt auf, um ihr zu helfen, aber da hat Jamie sie schon selbst aufgehoben und in die Tasche gesteckt. »Meine Schicht fängt gleich an.«

»Okay, Süße.« Ali setzt sich wieder. »Rufst du mich nachher an?« Jamie antwortet nicht und geht mit gesenktem Kopf davon. Dylan schaut ihr hinterher.

»Na los«, sagt er zu Sean und Jack, sobald sie außer Sichtweite ist. »Lasst uns auch abhauen.« Die drei schlendern davon und werfen sich dabei den Rugbyball zu. Keiner schaut noch mal zu mir zurück.

»Okay, ich glaube, dann geh ich auch mal«, sage ich. »Ach, shit … ich bin ja mit Maggie gefahren. Sie wollte mich nach Hause bringen.«

»Mom hat mir vor ein paar Minuten eine Nachricht geschickt, dass sie in der Stadt ist. Sie schaut sich bei Mannequin die neue Kollektion an«, sagt Ali. »Wir könnten zu ihr rüber. Dann nehmen wir dich auf dem Heimweg mit und setzen dich bei dir ab. Was hältst du davon?«

»Ja … vielleicht.«

Wenn wir Karen in der Boutique treffen, läuft das immer gleich ab: Wir drücken die schwere schwarze Tür des superedlen Ladens auf, kühle Luft und Vanillekerzenduft empfangen uns. Unsere klobigen Schulschuhe versinken in hellem Plüsch, an Kleiderstangen um uns herum hängt unbezahlbar teure Mode. Die Verkäuferin dreht sich zu uns um, beim Anblick unserer grauen Schuluniformen erstirbt ihr Lächeln. »Was kann ich für euch tun?«, fragt sie kühl, bis wir näher kommen und sie uns erkennt. »Ach, Ali! Hallo!«, flötet sie dann. »Deine Mutter ist gerade in der Kabine und probiert ein umwerfendes Teil an.« Und im nächsten Moment schiebt Karen die schweren taupefarbenen Vorhänge zurück und präsentiert sich uns in einem Kleid, einem Mantel, einem T-Shirt, egal was – jedenfalls in irgendeinem Designerstück, das sie unbedingt haben muss. Sie überredet Ali dazu, eine Jeans anzuprobieren, und versucht, sich nicht anmerken zu lassen, was sie denkt, wenn sie ihre Größe heraussucht. Dann wendet sie sich mir zu und besteht darauf, dass ich auch irgendetwas anprobiere, und mir wird ganz schwummrig, als ich auf die Preisschilder schaue (Das ist obszön, höre ich die Stimme meiner Mutter im Kopf, und anderswo verhungern die Menschen), aber Karen wird sagen, dass ich nicht nachdenken, sondern mir etwas aussuchen soll, was mir gefällt. Es wird ein Kleid sein, das am Bügel nach nichts aussieht, sich aber wie eine zweite Haut an meinen Körper schmiegt und mir so gut steht, dass Karen mich mit offenem Mund anstarrt, wenn ich aus der Kabine komme. »Du siehst sensationell aus, Emma. Du könntest Model werden«, wird sie sagen und sich hinter mich stellen und wir werden im Spiegel nebeneinander ein so perfektes Paar abgeben, dass ich mir einen Moment lang einbilden kann, wir beide wären hier die Mutter und die Tochter. »Das musst du haben. Bitte, darf ich es dir kaufen?«, wird sie fragen und ich würde so gern nicken. Am liebsten würde ich mir jedes einzelne Stück im Laden von ihr kaufen lassen, sie kann es sich leisten. Aber das tue ich nicht. Das kann ich nicht.

»Ich wollte sowieso nach Hause, ich kann Emma mitnehmen«, sagt Conor und ich nicke.

»Alles klar. Dann bis morgen.« Ali steht auf und geht in Richtung Innenstadt.

Als ich kurz darauf neben Conor her zu seinem Wagen schlendere, piepst mein Handy.

Ali: Läuft da etwa was mit Conor?

Ich: Spinnst du?

Ali: Aber er vergöööööööttert dich.

Ich: Du spinnst.

»Emmie?« Conor räuspert sich. »Sorry, Emma. Wir sind da.«

»Wahnsinn, ist dein Auto aufgeräumt«, sage ich, als wir einsteigen.

Er schnipst mit dem Finger gegen den Lisa-Simpson-Lufterfrischer am Rückspiegel. »Stört dich der Geruch? Ich kann das Ding auch abnehmen. Ich weiß ja, dass dir von Parfüm manchmal …«

»Kein Problem.«

Er beugt sich zum Handschuhfach, um seine Brille rauszuholen, dann schaltet er in den Rückwärtsgang und legt die Hand auf meine Kopfstütze, um sich nach hinten umzuschauen.

Ich starre aus dem Fenster, als wenig später die Gasse in eine schmale Landstraße übergeht, rechts windgepeitschte Bäume, links die Bucht, von der Ebbe in einen seegrasgrün gefleckten Sumpf verwandelt.

»Schön, dich mal wieder zu treffen«, sagt Conor und dreht das Radio leiser.

»Ja.«

»Ich habe das Gefühl, dass ich dich in letzter Zeit kaum mehr sehe.«

»Ja, stimmt. Ich habe einfach wahnsinnig viel zu tun … für die Schule und so. Na ja. Du weißt ja, wie das ist.«

»Ich habe das vorhin übrigens ganz ernst gemeint.« Seine Hände umfassen das Lenkrad fester. »Es ist total nett, dass du dich so kümmerst.«

(Bei den O’Callaghans zu Hause. Der Geruch nach Desinfektionsmittel. Conors Mutter Dymphna. Ihr Lächeln, als ich ihr das Tuch mit dem Paisleymuster schenkte, das ich in Dunnes für sie besorgt hatte.)

»Das ist doch ganz normal.« Ich rutsche in meinem Sitz hin und her.

(Ich saß bei ihm im Zimmer auf dem Bett und habe auf das Filmplakat von Anchorman an der Wand gestarrt. Er hat angefangen zu weinen. Ich wusste nicht, was ich tun soll. Jungs weinen nicht, hat mein Dad früher immer zu Bryan gesagt. Reiß dich zusammen. Irgendwann habe ich Conor umarmt und wir haben die Köpfe aneinandergedrückt.)

»Für mich ist es was Besonderes«, sagt er. (Er drehte mir das Gesicht zu. Sein Atem an meiner Wange. Und dann hat es sich angefühlt, als würde in mir etwas schmelzen, irgendetwas, das hart bleiben muss.) »Ich möchte, dass du …«