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Hongkong Anfang der 40er Jahre: Japan erobert die britische Kolonie in wenigen Tagen. Hinter den Kulissen versuchen die USA, sich die Vormachtstellung in Südostasien zu sichern, während der chinesische Geheimdienst bereits mit dem NS-Verbündeten Japan verhandelt. Der ehemalige Pilot und linksliberale britische Journalist Jim Steel gerät mitten hinein in dieses undurchsichtige Geschehen. Durch seine Beziehungen zum Militär stößt er bei seinen Recherchen auf geheime Informationen, die China und die USA enorm belasten. Als er ins Fadenkreuz der Militärs gerät, muss er sein gesamtes Leben hinter sich lassen und fliehen. Fernab der Zivilisation beginnt eine Verfolgungsjagd auf Leben und Tod … Ein Abenteuerroman von Alan Winnington, der selbst jahrelang in China gelebt hat.
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Seitenzahl: 501
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Impressum
eISBN 978-3-360-50143-1
© 2016 (1977) Das Neue Berlin, Berlin
Cover: Jens Prockat
Die Bücher des Verlags Das Neue Berlin erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.
www.eulenspiegel.com
Alan Winnington
Duell in Tschungking
Roman
Aus dem Englischen übersetzt von Elga Abramowitz
Das Neue Berlin
Erster Teil
Sie parkten ohne Licht auf der Spitze des Victoria Peak, so daß man sie von der palastartigen Villa Aw Boon Haws aus nicht sehen konnte – des reichsten Mannes im Fernen Osten, wie es hieß. Zwanzig Meter von dem Wagen entfernt, im Schatten stehend, beobachtete der Fahrer den Eingang des Hauses.
Die anderen drei, die im Wagen sitzen geblieben waren, konnten den strahlenden Glanz Victorias, des Zentrums von Hongkong, beinahe senkrecht unter sich sehen. Auf der Autostraße, die in Haarnadelkurven zur Stadt hinunterführte, flammten ab und zu Scheinwerfer auf und verschwanden wieder. Ein hell erleuchtetes Fährboot jagte quer durch den Victoria Harbour nach Kowloon und überholte ein anderes Fährboot, das zur Insel Hongkong fuhr.
Talbot, der Mann vom Secret Intelligence Service, gähnte. Scheußlich, wenn man sich so die Nacht um die Ohren schlagen mußte. Nachdem er seine Stellung bei Mallison & Proops Ltd. in Hongkong aufgegeben hatte, war er froh gewesen, wieder in England zu sein; dann war der Krieg ausgebrochen, und natürlich hatte man ihn für die Dauer des Krieges zum Geheimdienst nach Hongkong verpflichtet. »Erstklassige Tarnung, alter Freund«, hatte sein SIS-Kontaktmann zu ihm gesagt, »dort sind Sie doch überall als Schiffsmakler bekannt.«
Der Fahrer kam schräg über die Straße gelaufen. »Er ist weg«, flüsterte er. »Im Rolls Royce des Alten. Leicht zu verfolgen.«
Auf seinen fragenden Blick hin nickte Talbot, und der Fahrer löste die Handbremse. Mit abgeblendeten Scheinwerfern rollten sie die steile Straße hinunter, bis der Rolls vor ihnen die erste Haarnadelkurve nahm und nicht mehr zu sehen war. Der Fahrer startete das Polizeiauto nahezu geräuschlos und legte einen Gang ein.
»Halten Sie genügend Abstand bis wir unten sind«, sagte Talbot.
»Ich tue mein Bestes, Sir. Wir wollen ihn doch nicht entwischen lassen, was?«
Vor der nächsten Kurve schaltete er herunter.
Etwa auf der Höhe des Meeresspiegels begann die Stadt. Jetzt rollten sie mit aufgeblendeten Scheinwerfern langsamer als im Schrittempo durch die Aguilar Street, drängten Fußgänger zur Seite und tauchten in den hellen Mondschein von Queen’s Road ein. Plötzlich fuhr der Rolls an die Bordschwelle und blieb stehen.
»Verdammt«, sagte der Fahrer.
»Fahren Sie ein Stück weiter, und halten Sie dann an«, sagte Talbot. Er drehte sich zum Rücksitz um, wo Yuan, sein Assistent, und der Polizist saßen, der die Funksprechverbindung aufrechterhielt.
»Geh ihm nach, Yuan.«
Der junge, unauffällig gekleidete Chinese glitt aus dem Wagen und verschwand in der Pottinger Street, einer steilen Straße mit Granitstufen, die für Fahrzeuge unpassierbar war. Der untersetzte, offensichtlich sehr kräftige Mann, der aus dem Rolls gestiegen war, ging vor ihm, weder schnell noch langsam, vorbei an alten Chinesinnen, die auf Stühlen vor ihren Häusern saßen und ihre letzte Abendpfeife rauchten. Scharen von Kindern spielten nahezu lautlos, wie es für chinesische Kinder typisch ist; Familien hockten rings um Töpfe voller Gemüse und Reis und klapperten mit Schüsseln und Stäbchen; Frauen kochten auf winzigen Rohrherden.
Yuan folgte dem Mann, der nach rechts abbog und auf die Star-Fähre zusteuerte. Talbot war bereits auf dem Boot und blickte über die Reling in die Ferne. Yuan ignorierte ihn ebenfalls.
Als die Fähre in Kowloon anlegte, wartete eine Vielzahl von Taxen und Rikschas am Pier. Ohne sich umzusehen, nahm der untersetzte Chinese die erstbeste Rikscha; er hatte nicht einmal versucht, den Preis herunterzuhandeln. Talbot nahm die nächste. Er sah, daß Yuan mit dem Besitzer der dritten Rikscha verhandelte.
»Wohin, Mister?« fragte der Rikschazieher auf englisch. »Wollen Sie schlafen mit meine Schwester? Sehr schön, sehr jung, sehr sauber.«
Talbot sagte auf kantonesisch: »Folge dieser Rikscha, aber in einigem Abstand. Ich will nicht, daß mich der Mann sieht. Verstanden?«
»Wieviel Sie zahlen?«
»Keine Sorge. Du kriegst ein gutes kamschau.«
Der Junge setzte sich in Trab, die Ellbogen nach hinten hochgezogen. Die jungen Füße liefen fast geräuschlos über den Asphalt.
Zehn Minuten später hielt die Rikscha, die sie verfolgten, und der Mann stieg aus. Talbot stellte erleichtert fest, daß Yuan bereits da war, und bedeutete ihm durch ein Kopfnicken, er solle dem Mann, den sie jagten, in die Seitenstraße folgen, in die er eingebogen war.
Die Straße des Ewigen Wohlgeruchs trug ihren Namen zu Recht. Ihr Duft war ein Gemisch aus Kochdünsten, knoblauchgeschwängertem Atem, dem Rauch von Rohtabak, dem Aroma von Gewürzen und heißem Reisschnaps, dem Gestank von Abwässern, Müll und toten Ratten. Die enge Straßenschlucht wurde fast völlig überdacht von vorspringenden oberen Stockwerken und herunterhängenden langen Stoffbahnen, auf denen die verschiedenartigsten Dienstleistungen angeboten wurden. Ein Verkaufsstand drängte sich neben dem anderen, und überall wimmelte es von Kindern und Erwachsenen, die entweder herumstreunten oder auf den Bordsteinen saßen.
Während seiner kurzen Londoner Geheimdienstausbildung hatte man Talbot nicht beigebracht, wie man sich inmitten einer chinesischen Bevölkerung unsichtbar macht. Er blieb in der Hauptstraße und setzte sich mit gekrümmtem Rücken vor einen Stand, der wun tun verkaufte – winzige, scharf gewürzte, in papierdünnen Teig gewickelte und in Knochenbrühe gekochte Fleischstückchen. Er bestellte sich eine Schüssel voll und trank in kleinen Schlucken eine Unze Reisschnaps dazu.
Mit unglücklichem Gesicht tauchte Yuan endlich am Ende der Straße wieder auf. Es war nicht leicht für ihn, unauffällig den Kontakt mit einem allem Anschein nach reichen Ausländer aufzunehmen. Während er seine Armbanduhr vom Handgelenk löste und sie zum Verkauf anbot, flüsterte er Talbot zu, daß er hierbleiben und den Schneiderladen von Wing Shing Cheong Co im Auge behalten werde; dort sei der Mann, den sie verfolgten, verschwunden.
Talbot verließ seinen Standort. Er vollführte ein völlig nutzloses Manöver, indem er durch die Halle des Peninsular-Hotels ging und auf der anderen Seite des Gebäudes ein Taxi nahm.
Eine halbe Stunde später war er wieder in Hongkong und schritt durch das große Portal des Regierungspalastes.
Die britische Politik in Hongkong spiegelte die widersprüchliche britische Haltung gegenüber Japan wider. Großbritannien unterstützte China in seinem Widerstand gegen die japanischen Eindringlinge, aber nicht so nachdrücklich, daß Japan sich deshalb veranlaßt gesehen hätte, gegen die Briten vorzugehen, die weiterhin Kohle, Öl und Maschinen an die Japaner in den besetzten Gebieten Chinas lieferten.
Ein bescheidenerer und scharfsinnigerer Mann als Sir Gordon Coll, der jetzt, im Oktober 1941, seit drei Monaten Gouverneur von Hongkong war, wäre sich darüber klar gewesen, daß allein schon seine Ernennung erkennen ließ, welch geringe Wichtigkeit Whitehall Hongkong beimaß. Doch Lady Coll zumindest genoß es jede Minute, daß sie die First Lady der Kronkolonie war, während sich Sir Gordon auf kurze und absolut unvermeidliche Auftritte in der Öffentlichkeit beschränkte.
Aber mit Talbot mußte er an diesem Abend persönlich verhandeln, weil es um irgendeinen verdammten Geheimdienstkram ging, in dem er sich genausowenig auskannte wie Talbot.
»London meint«, erklärte Talbot Sir Gordon, »wir brauchten nichts weiter zu tun, als diesen Mann und ein paar seiner Komplizen aufzugreifen und ihnen etwas Opium unterzuschieben. Dann hätten wir einen Vorwand, sie festzusetzen. Wir sollen herausfinden, was sie wissen und welche Verbindung sie zu den Nazis unterhalten. Ich persönlich glaube, daß unsere Leute den Amerikanern eins auswischen wollen, weil die mit ihnen zusammenarbeiten.«
»Aber, verdammt noch mal. Talbot, der Bursche ist General der chinesischen Armee und ein Busenfreund von Tschiang Kai-schek. Da kommt doch das dicke Ende nach.«
»London hat die Idee, wir sollten ihm falsche Papiere unterjubeln, damit sich erst dann herausstellt, wer er wirklich ist, wenn wir das wünschen.«
»Opium, falsche Papiere«, schnaubte Sir Gordon.
»Er ist der absolute Boß im Opiumhandel. Kriegt seinen Anteil von allem Opium, das durch Hongkong, Macao und Burma geht.«
»Dann nehmt ihn doch dafür hopp.«
»Keine Beweise. London interessiert sich für die andere Sache. Er ist der Chef des Kuomintang-Geheimdienstes, der nach dem Muster des Nazi-Geheimdienstes aufgebaut ist. Sie nennen ihn den chinesischen Himmler, und er haßt alles, was britisch ist …«
»Das ist doch nicht ungewöhnlich für einen Chinesen.«
»Nein, Sir Gordon. Aber er ist bekanntermaßen auch pronazistisch und unterstützt die deutschen Agenten in China.«
Der Gouverneur seufzte. Das alles war etwas zu hoch für ihn.
»Außerdem melden unsere Leute aus China, daß dieser General Tai Li ständigen Kontakt zu den Japanern unterhält.«
»Nicht unsere Sache«, sagte Sir Gordon. »Wir haben mit den Nazis und Mussolini weiß Gott genug am Hals. Sollen die Japaner die Chinesen in Trab halten, bis wir die Hände wieder frei haben. Dann werden wir sehen, wer den Fernen Osten regiert.«
»Sie glauben also nicht, daß die Japaner Hongkong angreifen werden?«
Sir Gordon legte die Spitzen seiner langen Finger gegeneinander und blickte mit amüsiertem Selbstvertrauen über sie hinweg auf seinen Besucher.
»Du lieber Gott, Talbot, die Japaner sind nicht mal imstande gewesen, mit den Chinesen fertig zu werden. Das haben wir mit der linken Hand geschafft. Nein! Wir tun klug daran, es den Asiaten zu überlassen, gegen Asiaten zu kämpfen. Das perfide Albion, wie? Nun, warum sollen wir unserem Ruf nicht Ehre machen? Aber nicht alle denken so. Heute habe ich mit Brigadier Saltash einen Drink genommen. Der zerrt vielleicht an der Leine! Sagt er doch zu mir: ›Ich wünschte nur, sie würden irgendwas unternehmen, die kleinen gelben Teufel. Dann würden sie endlich die Prügel kriegen, die wir ihnen zugedacht haben.‹«
»Wir wollen nur hoffen, daß er recht behält, Sir Gordon. Aber ich glaube, wir müssen doch zusehen, ob wir aus Tai Li irgend etwas herausquetschen können.«
»Was der Secret Intelligence Service tut, geht mich nichts an. Der existiert für mich gar nicht. Ich hoffe nur, man sticht da nicht in ein Wespennest. Sind Sie sicher, daß der Mann, den Sie verfolgt haben, wirklich dieser Tai Li ist?«
»Absolut sicher.«
»Dann tun Sie, was Sie tun müssen. Ich weiß nichts davon, obwohl ich vermutlich die Scherben aufsammeln muß. Vielen Dank übrigens, daß Sie zuerst zu mir gekommen sind. Wie man mir sagte, halten Ihre Leute das nicht immer so.«
»Aber nicht doch, Exzellenz, ich muß mich im Gegenteil bei Ihnen bedanken.«
Der Gouverneur lachte. »Sie haben zu lange in Hongkong gelebt, Talbot. Ihr alten China-Experten seid alle gleich. Ihr lernt nicht nur die Sprache und eßt dieses scheußliche Essen, ihr legt euch auch diese verdammte heuchlerische Höflichkeit der Orientalen zu. Gute Nacht.«
Talbot, der immer noch seinem verlorenen Nachtschlaf nachtrauerte, fuhr mit der Fähre nach Kowloon hinüber und stellte ein Kommando von Geheimpolizisten in Zivil – sämtlich Chinesen – zusammen, die in dem Schneiderladen, in dem Tai Li offenbar sein Quartier aufgeschlagen hatte, eine Razzia machen sollten. Jetzt, da die Straße beinahe menschenleer war, hatten sich auch die Wohlgerüche verflüchtigt, und nur der Gestank war zurückgeblieben. Eine Bude war noch geöffnet; dort wurden gepfeffertes Schweinsgekröse und Sesambrötchen verkauft.
Talbot hatte sich nicht klargemacht, daß es nahezu aussichtslos war, das Haus zu umzingeln, in dem sich Tai Li angeblich aufhielt. Es war eine Mietskaserne mit winzigen dünnwandigen Räumen, in denen große Familien wie die Ölsardinen zusammengedrängt wohnten, mit wackligen Treppen und engen Fluren, in denen überall Menschen schliefen. Das Haus geräuschlos zu umstellen, wie er gehofft hatte, erwies sich dank Tai Lis größerer Umsicht als unmöglich, denn der Chinese hatte den Verkäufer der Schweineinnereien zu seinem Wachtposten gemacht. Dieser Mann fing plötzlich an zu husten. Es war kein gewöhnlicher Husten, sondern einer, der Aufmerksamkeit erregte, der die ganze Straße aufweckte und sie wie gebannt lauschen ließ, ähnlich wie man es in den Stunden vor der Morgendämmerung tut, wenn der Motor eines Autos nicht anspringen will.
Da es nicht möglich war, unbemerkt vorzugehen, versuchten die chinesischen Geheimpolizisten durch Schnelligkeit etwas auszurichten, aber sie hatten keine Ahnung, wo in diesem Labyrinth von Räumen und Kämmerchen das Wild, das sie jagten, stecken mochte. Plötzlich sauste Tai Lis untersetzter Körper durch ein Papierfenster im ersten Stockwerk, vor dem das umzäunte Dach eines angrenzenden Schuppens einen wackeligen Balkon bildete. Wie ein Krieger in einer Peking-Oper sprang Tai Li hinunter auf den winzigen freien Platz hinter einem Laden, und er wäre vielleicht entkommen, wenn er sich nicht mit einem Fuß verfangen hätte und zwischen einigen unglücklichen Enten gelandet wäre, die zusammengepfercht in einer Kiste saßen. Obgleich völlig außer Atem, setzte er sich inmitten von Gequake und splitterndem Holz so lange zur Wehr, bis seine Kumpane in der aufgeregten Menge schnatternder Nachbarn verschwunden waren. Erst dann konnten Talbots Leute ihn verhaften.
Im Polizeipräsidium wurde bei ihm natürlich eine bestimmte Menge Opium und ein Ausweis »gefunden«, der auf den Namen Lin Hsiao-kuan lautete. Aber es bestand keine Hoffnung, daß man den wirklichen Namen des Mannes lange würde geheimhalten können, da es nicht gelungen war, seine Begleiter ebenfalls zu verhaften.
General Tai Li war ein Mann von ungewöhnlich unangenehmem Äußeren: klein und vierschrötig, äußerst robust, mit schwerem Unterkiefer, dicken Lippen, einer breitgequetschten Nase, dicken, schweren Lidern, faltigen Tränensäcken unter den Augen und einem dunklen Teint.
Er wirkte völlig gelassen und lehnte es ab, irgendwelche Fragen zu beantworten. Als man ihm mitteilte, man würde wegen des Besitzes von Opium gegen ihn Anklage erheben, lächelte er höhnisch und verlangte den chinesischen Konsul zu sprechen.
Tatsächlich war der chinesische Konsul bereits kurze Zeit nach Talbots schlecht vorbereiteter Aktion von einem unbekannten Mann aus dem Bett geholt und von Tai Lis Verhaftung unterrichtet worden.
Der Konsul, der wie alle Kuomintang-Beamte im Ausland ein Mitarbeiter von Tai Lis Geheimdienstorganisation war, wenn auch ein unbedeutender und widerwilliger, wußte viel mehr über den General als der britische Geheimdienst. Er wußte, daß Tai Li kein geringeres Amt bekleidete als das eines Leiters des Büros für Untersuchungen und Statistik des Kuomintang-Regimes; und er wußte ferner, daß dies ein Deckname für die Geheimpolizei und den ihr angeschlossenen Geheimdienst war, die nicht weniger als 3oo.ooo Agenten in China und im Ausland beschäftigten, überall dort, wo es chinesische Gemeinschaften gab, die man bespitzeln, infiltrieren, erpressen und in denen man neue Mitarbeiter anwerben mußte – unter anderem auch in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien.
Zu Tai Lis Machtbereich gehörten auch die verschiedenen Konzentrations- und Liquidationslager, die unter seiner Leitung für Kritiker des Tschiang-Kai-schek-Regimes errichtet worden waren, und man munkelte, daß er, ein Meister des politischen Attentats und vorgetäuschter Hinrichtungen, eine persönliche Vorliebe für Folterungen hatte.
Tai Li hatte sich dem chinesischen Diktator, für dessen Sicherheit er verantwortlich war, unentbehrlich zu machen gewußt. Es hieß, er sei der einzige Mensch, dem der Generalissimus bedingungslos vertraue, und er erhalte seine Befehle direkt von Tschiang. Tatsächlich handhabte er im Hintergrund die Macht, die Tschiang Kai-schek in der Öffentlichkeit demonstrierte; und Tschiang verließ sich vor allem darauf, daß Tai Li rivalisierende Armeebefehlshaber daran hindern würde sich lange genug miteinander zu verbünden, um den Generalissimus stürzen zu können.
Der Konsul spürte in seinem Nacken das Sausen des Schwertes, das der Henker zur Probe schwang. Wenn es tatsächlich Tai Li war, den die Briten verhaftet hatten, mußte er sofort handeln, aber er konnte sich nicht auf die Aussage eines kleinen Ganoven verlassen. Wenn jemand wußte, ob Tai Li in Hongkong war, dann Aw Boon Haw, der reichste Mann im Fernen Osten. Aw Boon hatte sein Vermögen mit einer Universalmedizin gemacht, die hauptsächlich aus Wintergrün und Vaseline bestand und den klangvollen Namen »Tigerbalsam« führte. Er war Tai Lis Partner bei zahllosen Geschäften.
Er telefonierte und erfuhr, daß Aw in Geschäften nach Bangkok geflogen sei und erst in einigen Tagen wieder zurückerwartet werde. Er versuchte verschiedene Verwandte des Generalissimus in ihren Häusern zu erreichen, aber sie waren ebenfalls nicht in Hongkong – offenbar nahmen sie das Gerücht, die Japaner würden die Kronkolonie überfallen, ernster als Sir Gordon.
Er wagte es nicht, dem Generalissimus persönlich eine chiffrierte Nachricht zu senden.
Schließlich rief er die britische Polizei an und bat um Auskunft über einen Mann, den man dem Vernehmen nach in der Straße des Ewigen Wohlgeruchs verhaftet habe.
Der Sergeant, der den Anruf entgegengenommen hatte, sagte: »Einen Augenblick, Sir« und legte die Hand über die Sprechmuschel.
»Der chinesische Konsul«, meldete er seinem Vorgesetzten.
»Er will wissen, ob wir in der vergangenen Nacht jemand in der Straße des Ewigen Wohlgeruchs verhaftet haben, einen von den …zig Millionen, die da herumwimmeln, und dann will er noch was über die Umstände der Verhaftung hören. Ganz schön unverschämt, wie?«
Aber der diensttuende Beamte hatte bereits Anweisungen erhalten.
»Ich übernehme den Anruf«, sagte er.
Er gab sich freundlich und hilfsbereit. Der Verhaftete, sagte er, sei ein Opiumschmuggler namens Lin Hsiao-kuan aus Singapur, und daher betreffe dieser Fall die chinesische Regierung nicht. Kein Grund zur Beunruhigung. Nicht der Erwähnung wert. Wann immer wir behilflich sein können …
»Armer Kerl«, sagte er und legte den Hörer auf. »Der ist vor Angst halb wahnsinnig.«
Niemand hatte Tai Li erwähnt.
Die Nachricht von Tai Lis Verhaftung sickerte im chinesischen Konsulat durch. Kay Lomer, die englische Sekretärin, erfuhr von Yü Hua, der Sachbearbeiterin für Visaangelegenheiten, was geschehen war. Der Name Tai Li sagte ihr nichts, aber ihr war klar, daß der Mann ein hohes Tier sein mußte. Sie interessierte sich nur in Maßen für Politik; Unterhaltungsmusik, spannende Filme und Romane mit Happy-End waren mehr nach ihrem Geschmack.
Außerdem hatte Kay Lomer den Kopf mit anderen Problemen voll. Heute war sie achtundzwanzig Jahre alt geworden – Grund genug, sich endlich zu entscheiden, ob sie weiter in Hongkong bleiben oder nach England zurückgehen sollte, wie ihre Eltern es bereits 1936, fünf Jahre zuvor, getan hatten. Damals hatte sie eine leidenschaftliche Liebesaffäre mit einem britischen Angestellten von Jardine gehabt, der zufällig verheiratet war – wie die meisten annehmbaren Männer in der Kronkolonie und drei Kinder hatte. David hatte ihr immer wieder versichert, daß er sich scheiden lassen und sie heiraten wolle. Natürlich hatte sie all das vor Mama und Papa geheimgehalten.
Aber sie hatte auch einen offiziellen Grund – und einen recht triftigen – dafür, daß sie in Hongkong geblieben war. Ein Mädchen, das perfekt englisch und dazu zwei chinesische Dialekte – Kuo Yü und Kantonesisch – sprach, konnte in Hongkong immer eine gutbezahlte Stellung finden. Ihre Eltern wußten sogar noch besser als sie selbst, daß sie als Britin in Hongkong stets zur Elite gehören würde, wie bescheiden ihr sozialer Status auch immer sein mochte; in London hingegen wäre sie nur eine ganz gewöhnliche Stenotypistin gewesen.
Als die Japaner in China einfielen, schien das zunächst kein Grund zur Beunruhigung zu sein. Großbritannien teilte seine Gunst unparteiisch zwischen den japanischen Aggressoren und ihren chinesischen Opfern und leugnete sogar offiziell jegliche Absicht, Japan bei seinen militärischen Operationen in China Schwierigkeiten zu machen.
Der Ausbruch des Krieges in Europa vernichtete Kays Hoffnungen. David wurde nach London zurückbeordert. Er teilte ihr das nicht einmal mit, sondern überließ seiner Frau das Packen und Expedieren der Sachen, während er ein amerikanisches Schiff nahm und den Abschiedsbrief an Kay erst abschickte, als das Schiff schon in See stach. Sie weinte tagelang und fragte sich, wie es möglich sei, daß man einen Mann, mit dem man jahrelang geschlafen hatte, so wenig kannte.
Ihre Einsamkeit in den folgenden Monaten war beinahe unerträglich. In Hongkong waren chinesische Mädchen entweder arm und als Umgang indiskutabel, oder sie waren langweilige, völlig verwestlichte, modebesessene snobistische Töchter wohlhabender Chinesen, die sowohl von den Briten wie von ihren eigenen Landsleuten mit Verachtung angesehen wurden. Britische und amerikanische Mädchen in Kays Alter waren meist nicht weniger langweilig und dazu noch arrogant. Die Männer waren entweder gräßlich oder verheiratet oder beides.
Und nun, an ihrem achtundzwanzigsten Geburtstag, bewegte Kay wieder das Problem, ob sie gehen oder bleiben sollte. Im Sommer hatten zahlreiche Europäer die Kolonie verlassen. Das britische Außenministerium hatte das mißbilligt, es bestünde kein Grund zur Panik. Dennoch wurde viel und voller Angst darüber geredet, daß die Japaner Hongkong besetzen könnten, während England mit dem Krieg in Europa beschäftigt war. Das klang in Kays Ohren wirklich ganz plausibel, und es ließ sich nicht leugnen, daß die Japaner immer anmaßender und unverschämter wurden. In Tientsin hatten sie britische Bürger gezwungen, sich bei einer Leibesvisitation nackt auszuziehen, und dadurch erreicht, daß die Briten im ganzen Fernen Osten ihr Gesicht verloren. In früheren Zeiten hätten sie ein paar Kanonenboote geschickt, jetzt hielten sie die andere Wange hin.
Auch Kay hätte vielleicht schon im Sommer die Kolonie verlassen, wäre nicht Yü Hua gewesen, die im Frühjahr ihre Stellung im Konsulat angetreten hatte. Unterschiedlichere Typen als die beiden jungen Frauen waren kaum vorstellbar, aber sie hatten sich sofort gut verstanden. Kay war klein und schlank, mit kastanienbraunem Haar, grünen Augen und Sommersprossen. Selbst Hongkong-Chinesen, die den Anblick aller möglichen Ausländer gewohnt waren, drehten sich nach ihr um. Yü Hua, ein Jahr jünger als Kay, besaß keine der Eigenschaften, die die Chinesen an Frauen schätzen, ausgenommen vielleicht ihre Schüchternheit. Aber selbst die war nicht gespielt, sondern echt und deshalb für Chinesen nicht anziehend. Außerdem war sie groß und schlank, ein sportlicher Typ, braungebrannt, mit kleiner, leicht gebogener Nase. Nur ihre großen schwarzen mandelfönnigen Augen, ihr dickes schwarzblaues Haar und der blaßblaue Fleck am Ende ihres Rückgrats (den niemand außer ihr selbst je sah) verrieten ihre chinesische Abkunft. Dazu war sie noch pockennarbig, und ein altes chinesisches Sprichwort besagte, daß man pockennarbige und glattrasierte Leute meiden solle. Für westliche Augen war sie schön; ihre eigenen Landsleute hingegen fanden sie häßlich, ungewöhnlich und für eine Frau zu intellektuell.
Kay besaß jene Eigenschaft, die bei jungen Engländerinnen so reizend und bei älteren oft unerträglich ist: frei heraus und oft recht laut genau das zu sagen, was sie gerade dachte. Yü Hua fand diese Extrovertiertheit, diesen Mangel an odentalischer Verstellung unwiderstehlich. Mit Kay konnte sie sogar über solche Tabus wie Sex sprechen.
An diesem Nachmittag kam Yü Hua aus dem Büro des Konsuls und trat an Kays Schreibtisch. »Er will, daß ich hierbleibe, während er essen geht. Jemand muß die Anrufe entgegennehmen, meint er.«
»Zum Teufel mit dem Kerl«, sagte Kay. »Hast du ihm nicht erzählt, daß ich heute Geburtstag habe und daß wir ausgehen und ein bißchen feiern wollen?«
»Er hat versprochen, sich zu beeilen. Er geht nur ins ›Picardio‹ hinüber und ißt dort eine Kleinigkeit.«
»Und ich gehe schon in den ›Pavillon‹, damit wir auch ganz sicher unsern Tisch kriegen«, sagte Kay.
Sie hatten ihn vor zwei Wochen im »Pavillon der Gastronomischen Erfüllung« bestellt, einem kleinen und sehr berühmten Restaurant, das eine Spezialität, genannt Bettlerhuhn, führte. Als sei Kay die Kaiserinwitwe höchstpersönlich, wurde sie von Kellnern durch den schwach erleuchteten Raum zu einem Ecktisch geleitet. Sie bestellte Tee und begann die englische Übersetzung des klassischen chinesischen Romans »Alle Menschen sind Brüder« zu lesen, den Yü Hua ihr empfohlen hatte.
Ein hochgewachsener Mann, der an einem der Nebentische gesessen hatte, stand auf und kam zu ihr herüber.
»Miss Lomer.«
Die Stimme war amerikanisch, aber der Mann hätte gut und gern ein irischer Dockarbeiter sein können. Unter einem kupferroten Haarschopf erblickte Kay ein fröhliches Gesicht, vom Wetter gegerbt, rötlich, von vielen feinen Fältchen durchzogen, mit Spuren einer Jugendakne. Seine blauen Augen zeigten eine Mischung von Humor und Traurigkeit, die Kay höchst anziehend fand.
»Tut mir leid, ich kann mich nicht auf Sie besinnen.«
Er lächelte ironisch. »Das zeugt keineswegs von nachlassendem Gedächtnis oder vorzeitiger Senilität, meine Dame. Warum sollte sich irgendwer an James Steel erinnern, einen Zeitungsschreiber, die niedrigste bekannte Form menschlichen Lebens?«
»Jetzt weiß ich«, zirpte sie. »Sie kamen wegen eines Visums nach Tschungking ins Konsulat. Möchten Sie sich nicht zu mir setzen?«
»Das wäre nett. Ich hole nur mein Glas.«
»Aber ich mache Sie gleich darauf aufmerksam, daß Sie verschwinden müssen, wenn meine Freundin erscheint. Sie ist sehr schüchtern in Gegenwart Fremder.«
Er kam mit einem kleinen Glas maotai zurück.
»Ich erwarte auch einen Freund – als Gast, meine ich –, der ist das ganze Gegenteil von schüchtern. Kommen Sie oft hierher?«
»Bei dem, was ich verdiene? Bis zum nächsten Gehaltstag werde ich von Reissuppe und gesalzenen Erdnüssen leben müssen. Heute ist mein Geburtstag, und deshalb habe ich meine Freundin zum Essen eingeladen. Sie kennen sie, es ist das Mädchen, das Ihr Visum ausgestellt hat.«
»Ich gratuliere! Wollen wir nicht was darauf trinken? Einen Martini?«
»Wenn Sie ihn bezahlen.«
»Meine Zeitung zahlt. Mir geht es um Informationen, und der Gast, den ich erwarte, weiß absolut alles – wenn man das, was er sagt, für bare Münze nimmt.«
»Und tun Sie das?«
»Ein kluger Mensch kann sogar aus Lügen lernen. Und Ihre Freundin ist also dieses große, schöne chinesische Mädchen?«
»Sie glaubt, daß sie häßlich ist. Und Sie glauben, daß Sie klug sind. Hier kommt mein Drink. Vielen Dank und Prosit.«
Er klopfte gegen sein Glas. »Häßlich? So was Verrücktes.«
»Chinesinnen müssen klein, zierlich, anmutig sein, mit niedergeschlagenen Augen und einem Teint wie Elfenbein und Pfirsichblüte. Man soll sie sehen und nicht hören. Yü Hua ist klug, deshalb mögen ihre Landsleute sie nicht, und deshalb ist sie auch so zurückhaltend. Es hängt mit ihrem Vater zusammen.«
Kay war bei einem ihrer Lieblingsthemen angelangt. Steel zeigte auf sein Glas, und der Ober goß es wieder voll.
»Ihre Mutter starb, als sie noch ein Kind war, und sie wurde von ihrem Vater erzogen. Der ist ein leidenschaftlicher Bewunderer Sun Yat-sens, und er glaubt, daß man China modernisieren muß.«
»Wollen Sie damit sagen, daß er an alles Ausländische glaubt?«
»Nein. Das hält er für Unsinn. Aber er sagt, wenn China sich vom Feudalismus und von der Herrschaft der Ausländer befreien will, muß es einiges vom Westen lernen und noch mehr von den Russen.«
»Sun Yat-senismus.«
Sie nickte. »Er glaubt, daß Sun Yat-sen China wirklich unabhängig gemacht hätte, zu einem Verbündeten des sozialistischen Rußlands, und daß Tschiang Kai-schek nichts weiter ist als ein Werkzeug der imperialistischen Mächte, ein Mensch, der das eigene Nest beschmutzt und China verkauft. Übrigens hat er Yü Hua auf eine moderne ausländische Schule geschickt. Sie hat eine sehr gute Schulbildung. Denken Sie nur, ich bin Engländerin, und sie hat mich dazu gebracht, Shakespeare zu lesen …«
»Puh. Was für ein Muster an Vollkommenheit! Etwas langweilig, würde ich sagen.«
»So? Dann erzählen Sie mir von sich.«
Steel bestellte einen zweiten Martini und einen dritten maotai.
Er war gerade mit dem Studium fertig gewesen, als in Amerika die Weltwirtschaftskrise ausbrach. Keine Stellung, sehr oft nicht genug zu essen, als blinder Passagier durchs Land gefahren um Arbeit zu suchen, egal welche. Damals hatte er gelernt, seine Fäuste zu gebrauchen. Ab und zu war es ihm gelungen, bei Zeitungen etwas unterzubringen, und dann: als die Industrie langsam wieder auf Touren kam, hatte er eine Stellung in der Lokalredaktion des »New York Recorder« gefunden.
»Das war siebenunddreißig. Kurz darauf heiratete ich, und eines Tages war ich Leiter der Lokalredaktion.«
»Warum sind Sie dann jetzt in Hongkong? Leiter der Lokalredaktion war doch bestimmt der bessere Job!«
Er zuckte mit den Schultern und sagte wie beiläufig: »Meine Frau fand jemanden, der ihr besser gefiel. Danach konnte ich die alte Umgebung und die alten Gesichter nicht mehr ertragen und bat um einen Auslandsjob. Und hier bin ich nun.«
»Das tut mir leid«, sagte Kay. »War es Ihre Schuld oder die Schuld Ihrer Frau?«
»Kann man eine solche Frage je beantworten? Es braucht Ihnen nicht leid zu tun«, sagte Steel leichthin. »Ich habe Sie getroffen. Ich habe den Osten entdeckt … Ah, da kommt mein Gast. Wie wär’s, wenn wir beide nach dem Essen Ihnen und Ihrer Freundin etwas Gesellschaft leisten würden? Auf Rechnung des ›Recorder‹ natürlich.«
»lch werde Yü Hua fragen. Sie ist furchtbar scheu.«
»Yü Hua. Was für ein schöner Name. Wie nennen Sie sie: Jadeblume oder Yü Hua?«
»Nun, wir sind Freundinnen, deshalb nenne ich sie Hsiao Hua – Kleine Blume.«
»Und wie darf ich Sie nennen, Miss Lomer?«
»Kay, wenn Sie wollen.«
»Danke. Auf später.«
Im »Pavillon der Gastronomischen Erfüllung« Bettlerhuhn zu essen, ist ein unvergeßliches Erlebnis, und ein ebenso unvergeßliches Erlebnis ist die Rechnung – jedenfalls für gewöhnliche Sterbliche, die sich ab und zu dorthin verirren.
Der Sage nach ist dieses Gericht eine Erfindung von Bettlern und anderen langfingrigen Gesellen, die gestohlene Hühner in aller Eile zubereiteten, indem sie sie in Lehm einhüllten und mit heißer Asche zudeckten, so wie Zigeuner angeblich Igel kochen. Heute wird das Gericht etwas anders zubereitet, und es ist auch kein Essen für Bettler mehr. Ein besonders schönes fettes junges Huhn wird mit verschiedenartigen leckeren Zutaten gefüllt, gut gewürzt, in duftende Blätter gewickelt und schließlich mit den biegsam gemachten Spundzapfen alter Weinfässer umhüllt, die nach dem gelben Wein von Hsiaohsing duften. Zu guter Letzt wird es so lange mit glühender Holzkohle zugedeckt, bis der Fachmann aus Erfahrung weiß, daß es gar ist. Als schwarze Masse wird das Gericht auf den Tisch gebracht, die Umhüllung mit lautem Krachen aufgebrochen, und dann präsentiert sich das Huhn so weich und saftig, daß man das Fleisch mit Stäbchen von den Knochen lösen kann.
Der Konsul hatte Wort gehalten, und Yü Hua erschien rechtzeitig. Kay hatte die Freundin überreden wollen, mit ihr zusammen nach London zu gehen, aber nun bot sich keine Gelegenheit mehr dazu, denn die Kellner begannen mit dem Servieren. Die kalten Vorspeisen wurden mit kleinen Schlucken heißen gelben Weins hinuntergespült, dann folgten die »kleine Suppe« und das Huhn, darauf zwei weitere Gerichte und eine »große Suppe«. Das Essen war so ausgezeichnet, daß Kay es immer weiter hinausschob, ein so heikles Thema anzuschneiden, und schließlich machte der zunehmende Lärm ringsum es ganz unmöglich. Am Nebentisch spielten zwei fette Chinesen mit vom Wein geröteten Gesichtern laut kreischend das Fingerspiel, jeder bemüht, den anderen betrunken zu machen, denn bei diesem Spiel muß der Verlierer seine Schale in einem Zug leeren.
Plötzlich erschien Steel am Tisch der beiden Mädchen, begleitet von einem Mann, der wie er um die Vierzig war und die Uniform eines Commodore der US-Flotte trug, mit mehreren Orden auf der Brust.
»Hoffentlich stören wir nicht«, sagte Steel, »aber ich wollte, daß der Commodore zwei so nette Mädchen wie Sie kennenlernt. Das hier ist Miss Kay Lomer, das ist Miss Yü Hua, und das ist Commodore Clinton Kinney – auch als Mavis bekannt.«
Yü Hua lächelte. Sie wirkte sehr kühl in ihrem beinahe schwarzen chi pao, der ihr glänzendes schwarzes Haar, das zu einer dicken Rolle frisiert war, noch schwärzer erscheinen ließ.
Sie rückte ein wenig zur Seite, und Steel setzte sich.
»Darf ich?« sagte Kinney und setzte sich neben Kay. Ohne weitere Vorrede fuhr er fort: »Macht es Sie nicht ein bißchen nervös, jetzt in Hongkong zu leben, wo man dauernd davon redet, daß die Japaner die Stadt angreifen werden?«
Kay schüttelte den Kopf. »Ich glaube doch, die Engländer wissen, was sie tun. Keine Panik – das ist das Losungswort.«
»Ohren steifhalten, wie? Hat ihnen in Polen aber nicht viel genützt, nicht wahr?« Er wandte sich an Yü Hua. »Und wie steht’s mit Ihnen? Machen Sie sich Sorgen darüber, daß die Japaner Hongkong angreifen könnten?«
»Nein. Das würde doch nichts helfen. Dadurch kann ich sie bestimmt nicht aufhalten, wenn es die britische Regierung nicht kann.«
Steel hob sein Glas. »Wie wär’s mit einem kleinen Drink, Kinney? Das Schlimmste bei ihm ist«, sagte er zu den Mädchen, »daß er das Leben so ernst nimmt. Man sieht’s ihm an, nicht wahr?«
Kinneys Gesicht war gut geschnitten, aber der weiche, volllippige Mund, zu dem das ausgeprägte Kinn mit der tiefen Kerbe einen gewissen Gegensatz bildete, gab ihm einen verdrossenen Ausdruck. Er lächelte bei Steels Bemerkung, doch sein Lächeln war nur ein In-Bewegung-Setzen verschiedener Muskeln und sofort wieder verschwunden.
»Verzeihung, Sir«, unterbrach sie der Ober. »Sind Sie Captain Kinney, amerikanische Flotte, Sir?«
Als Kinney nickte, sagte er: »Sie werden am Telefon verlangt, Sir. Chinesischer Konsul behauptet, sehr wichtig.«
Kinney entschuldigte sich und folgte dem Ober in die Vorhalle.
»Ob das was mit Tai Li zu tun hat?« fragte Kay unschuldig. Sie fing, ebenso wie Steel, Yü Huas warnenden Blick auf, aber Steel gab sich den Anschein, als habe er nichts bemerkt. Verstohlen sah er auf seine Armbanduhr. Gegen Mittag in New York. Zeit genug.
Kinney kam zurück. Er sah beunruhigt aus.
»Okay, okay«, rief Steel, der offenbar leicht angeheitert war. »Wir verstehen, Kinney. Du mußt weg, wie? Das ist ein alter Hut – man läßt die Freundin anrufen und dem Ober ausrichten, es sei der chinesische Konsul oder der Admiral oder der Präsident der Vereinigten Staaten, und du müßtest sofort aufbrechen.«
Kinney lächelte matt. »Leider muß ich wirklich weg, es ist was dazwischengekommen. Tut mir leid. Gerade wo ich zwei so …« Er verschluckte das Ende des Satzes.
In Hongkong konnte man zu allen Zeiten alles haben, wenn man die richtige Summe in die richtige Hand drückte. James Steel gab sein Kabel um drei Uhr nachts auf, noch rechtzeitig für die Morgenausgabe seiner Zeitung.
Er teilte darin mit, daß verläßlichen Quellen zu folge General Tai Li, das chinesische Gegenstück zu Heinrich Himmler, in Hongkong von der britischen Polizei verhaftet worden sei und unter dem Namen Lin Hsiao-kuan in Einzelhaft gehalten werde. Steel beschrieb Tai Li als einen völlig unmilitärischen General und bezeichnete ihn als den Chef der chinesischen Gestapo.
Steels Nachricht löste eine Flut chiffrierter Telegramme aus, und sobald Generalissimus Tschiang Kai-schek seine Morgengebete beendet hatte, erhielt er einen zusammenfassendea Bericht über die Angelegenheit. Er wurde bleich.
Tai Li mußte aus den Händen der Briten befreit werden, bevor sie ihn richtig bearbeiten konnten. Er hielt sich in Hongkong auf, um einige sehr diffizile Verhandlungen mit japanischen Bevollmächtigten zu führen, die heimlich in die Kronkolonie gekommen waren – Gespräche, die der Tigerbalsam-König arrangiert hatte.
Verschiedene Provinzgenerale der chinesischen Armee waren während der zurückliegenden Monate zu gefährlicher Macht gelangt. Einer vor allem schien fest entschlossen, den Generalissimus zu stürzen, und sammelte Anhänger. Tschiang mußte wieder einmal dafür sorgen, daß diese ehrgeizigen Militärs die volle Wucht der bevorstehenden japanischen Angriffe traf. Als Gegenleistung dafür würde er Vorkehrungen treffen, daß chinesisches Wolfram auch weiterhin durch die Frontlinien zu dem japanischen Gegner gelangte. Rechtzeitige Vereinbarungen dieser Art spielten eine nicht unwesentliche Rolle im Balanceakt des Generalissimus zwischen den verschiedenen politischen Kräften, die ihn bedrängten. Und Tai Li war derjenige, der die oft noch gar nicht existierenden Gefahren voraussah und Mittel und Wege fand, mit ihnen fertig zu werden.
Wenn die Briten es tatsächlich so gut verstanden, wie Tschiang vermutete, Informationen aus den Leuten herauszuholen, die in ihrer Gewalt waren, bestand die Gefahr im Augenblick darin, daß er, »der Führer des zum Kampf gerüsteten demokratischen Chinas«, als ein Mann entlarvt werden konnte, der bereit war, seine eigenen Generale aus Gründen des persönlichen Ehrgeizes an den Feind zu verraten. Wenn es den Briten gelang – und Tschiang traute ihnen in dieser Hinsicht eine Menge zu –, wichtige Details aus Tai Li herauszuquetschen, wäre das für sie eine fabelhafte Trumpfkarte.
Tschiang ging, wie es für ihn charakteristisch war, mit großen Schritten auf und ab, verfluchte die Briten und stieß sinnlose Drohungen aus. Madame Tschiang, die wußte, daß er bei seinen Wutanfällen zu unüberlegten Handlungen neigte, beobachtete ihn scharf.
Sie sagte: »Wir müssen herausfinden, wie hoch hinauf diese Sache geht. Ich habe nicht das Gefühl, daß die Briten es augenblicklich zu einer Kraftprobe kommen lassen wollen. Wenn du abtrittst … wer weiß, was sie dann kriegen würden. Warum schickst du nicht eine persönliche Botschaft an Churchill und fragst, ob hier nicht der Irrtum eines subalternen Beamten vorliegt? Churchill könnte sofort Anweisung geben, daß Li zu entlassen ist, und niemand würde das Gesicht verlieren.«
»Ausgenommen Li.«
»Nein, mein Lieber, auch Li nicht. Wenn die Briten ihn freilassen, werden sie weiterhin behaupten, er sei ein Chinese aus Singapur gewesen.« Sie lachte leise. »Aber ganz sicher bedeutet das neues Öl in das Feuer von Lis Britenhaß.«
»Und in meines«, sagte der Generalissimus.
Der Gouverneur von Hongkong erhielt wenig später ein wütendes Telegramm von Churchill. Ein zeitweiliger Mitarbeiter des Secret Intelligence Service, der das Pensionsalter erreicht hatte, kehrte nach England zurück und widmete sich fortan wieder seiner Rosenzucht. Ein Mann namens Lin Hsiaokuan flog von Hongkong nach Tschungking. Alles deutete darauf hin, daß er eine wichtige Persönlichkeit war, denn ein britischer Passagier mußte ihm seinen Platz im Flugzeug überlassen.
Yü Hua schob die Entscheidung, ob sie mit Kay zusammen nach London gehen sollte, immer wieder hinaus. Wie konnte sie ihren Vater allein in Hongkong zurücklassen? Kay saß in der Badewanne, und Yü Hua bereitete gerade das Frühstück, als das Radio eine sensationelle Meldung brachte. Yü Hua rief: »Die Japaner haben die Amerikaner angegriffen. Ein Ort namens Pearl Harbour.«
»Weit weg?«
»Auf halbem Weg zwischen Amerika und Japan, glaube ich.«
»Nun, das ist gut«, sagte Kay.
Yü Hua ging zur Badezimmertür. »Gut? Wieso?«
»Wenn sie sich mit einer so gewaltigen Macht wie den USA angelegt haben, werden sie kaum noch Truppen übrig haben, um Hongkong anzugreifen. Vielleicht ist hier, nach der Schweiz, der sicherste Ort, um den Krieg zu überstehen.«
Ihre Hoffnungen erwiesen sich als kurzlebig. Am Tag darauf, am 8. Dezember 1941, überquerte die 38. japanische Division den Fluß Sham Tschun und landete in Kowloon. Kay beobachtete, wie japanische Flugzeuge in einem für die Engländer völlig überraschenden Angriff auf den Kai-Tak-Flugplatz herabstießen. Schwarzer Rauch wölbte sich über dem Platz, so daß die Maschinen nicht mehr zu sehen waren. Kay war zu Tode erschrocken: Sie konnte Hongkong nicht mehr verlassen. Die Würfel waren gefallen.
Nach dem, was man in der Klubbar diskutierte, sollten die Japaner bei Gindrinkers Line und Smugglers Ridge zum Stehen gebracht werden. Aber die Japaner schienen nicht zu wissen, was man von ihnen erwartete. Ihre Truppen durchbrachen beide Linien und rollten sie auf. Am 18. Dezember landeten sie auf der Insel Hongkong.
»Großer Gott«, sagte Kay zu Yü Hua, als sie die Nachricht hörte. »Eine Woche vor Weihnachten. Ich hätte nie gedacht, daß ich meine Eltern je um ihr langweiliges Leben in Croydon beneiden würde. Jetzt machen sie ihre Weihnachtseinkäufe, Truthahn, Christbaumschmuck, bereiten den Plumpudding vor, und wir sitzen hier, und die Japaner sind noch ganze fünf Meilen entfernt.«
Das langsame Trommeln schwerer Maschinengewehre klang schon ganz nahe, und von den Konsulatsgebäuden aus beobachteten die Mädchen, wie kurze, gedrungene japanische Marineflugzeuge in der Luft kreisten, plötzlich herabstießen und britische Stellungen im Tiefflug mit Bordwaffen beschossen, ohne in der Luft auf irgendwelchen Widerstand zu stoßen.
»Kaum zu glauben, wie dumm wir sind«, sagte Kay.
»Nimm nur diese Offiziere. Die leben doch noch im Burenkrieg.«
Sie hatte sich freiwillig zum Kriegseinsatz gemeldet und war eben erst zurückgekommen.
»Ich bot an, ich könnte als Krankenschwester arbeiten oder irgend etwas anderes Nützliches und Notwendiges tun. ›Nein, nein‹, sagten sie, ›es ist natürlich sehr patriotisch von Ihnen, Miss Lomer, aber wir haben keine vorschriftsmäßigen Uniformen, und das ist gegen die Kriegsregeln.‹ Es gibt Tausende und aber Tausende von Chinesen, die bereit wären zu kämpfen. Sie lieben die Briten nicht, doch sie wollen auch nicht, daß die Japaner siegen. Aber wir haben keine Uniformen. Ich frage dich: Wer hat je gehört, daß sich die Japaner an die Kriegsregeln halten – wenn es überhaupt welche gibt?«
Yü Hua lächelte spöttisch. »Arme Kay! Du hast die Hauptsache nicht begriffen. Die Japaner sind jetzt Feinde, und die Chinesen sind Verbündete. Japan ist eine imperialistische Macht, ebenso wie Großbritannien. Aber wenn man einem unterdrückten Volk wie uns Chinesen jetzt Waffen in die Hand gibt, könnten wir sie später dazu benutzen, auch die Briten zu vertreiben, um unabhängig zu werden.«
Ein japanisches Flugzeug flog heulend und donnernd sehr tief über ihnen, und sein unheilverkündendes Dröhnen verschlug ihnen den Atem. Aber seine Aufgabe war rein psychologischer Natur, es verschwendete keine Munition auf die wartende Stadt.
»Es kann nicht mehr lange dauern«, sagte Kay. »Ich habe furchtbare Angst. Glaubst du, daß es wahr ist, was man sich von den japanischen Soldaten erzählt?«
Yü Hua antwortete nicht. Sie sprachen nie darüber, was geschehen könnte, wenn die Japaner Hongkong besetzten – man hörte alles mögliche von Massenvergewaltigungen, Bajonettübungen an lebenden Menschen, öffentlichen Hinrichtungen mit Häckselschneidern, Bordellen mit Tag-und-Nacht-Betrieb für die Truppen.
Heiligabend war Kay allein in Ihrer Wohnung. Die alte Aufwärterin, Yü Huas frühere amah, kam und meldete, das Essen sei fertig. »Nur gebratener Reis, leider. Wird Missy Yü Hua kommen, Missy?«
»Vielleicht. Wir warten.«
Die Frau drehte sich um und wollte gehen.
»Hör mal, Tschiang Ai-yi«, rief Kay plötzlich, »die Japaner können jeden Augenblick hier sein. Wenn Missy Yü Hua nicht erscheint, gehe ich später in den Regierungspalast. Bleibst du in der Wohnung?«
»Ach, Missy.« Sie legte eine runzlige Hand auf ihren Mund. »Ja, ich bleibe.«
Ein Schlüssel drehte sich quietschend im Schloß der Wohnungstür. Yü Hua kam herein. Sie trug ein großes, mit den Zipfeln zusammengebundenes Bündel aus schwarzem Baumwollstoff. Keuchend ließ sie es fallen.
»Ich komme spät«, sagte sie atemlos. »Du hast doch nicht etwa geglaubt, ich hätte mich aus dem Staube gemacht?«
Kays Lippen zitterten. Sie nickte. »Ich … ich …« Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.
Nach einer Pause sagte sie: »Yü Hua, ich habe nachgedacht. Du kannst mir nicht helfen, aber bestimmt hättest du meinetwegen Schwierigkeiten. Deshalb gehe ich jetzt in den Regierungspalast und warte ab, was geschieht. Ich habe ein schreckliches Vorgefühl, daß es mit uns nicht gut ausgeht, und ich habe Angst. Vielleicht werden wir uns nie wiedersehen.«
Yü Hua trat zu ihr und legte den Arm um sie. »Ruhig, Hsiao Kay. Ich verlasse dich nicht, und du verläßt mich nicht.«
Kay schüttelte den Kopf. »Es ist Wahnsinn, zwei Menschenleben aufs Spiel zu setzen statt eines.«
»Hör auf«, sagte Yü Hua. »Wahrscheinlich lande ich doch viel schneller in einem Bordell als du. Ich bin nur eine Chinesin. Ich bin bei meinem Vater gewesen, und er ist einverstanden.« Sie legte Kay die Hand auf den Mund, um sie am Sprechen zu hindern, und fuhr fort: »Wir dürfen keine Minute Zeit verlieren, hörst du? Wir müssen versuchen, von der Insel wegzukommen.«
»Du bist verrückt. Überall sind japanische Kanonenboote, Haie, Banditen. Nein, nicht mit mir.«
Yü Hua bückte sich und knüpfte die Zipfel des schwarzen Stoffbündels auseinander. Obenauf lagen zwei weiße Sonnenhüte aus gespaltenen Bambusfasern und darunter zwei glänzende schwarze »Pyjamas« mit kurzen, weiten Beinen, wie sie die meisten arbeitenden Frauen in Hongkong trugen.
Kay starrte auf die Sachen und schüttelte den Kopf. Yü Hua zog zwei Fläschchen hervor. »Schwarze Haarfarbe. Und das hier ist Walnußsaft, um unsere Haut braun zu färben.«
»Es ist Wahnsinn«, sagte Kay. »Wir haben das doch oft genug erörtert. Du tust das alles nur für mich. Ich bin gerührt, aber ich mache das nicht mit. Geh zurück zu deinem Vater. Er hat eine Fabrik, Geld, Einfluß.«
»Wach auf, Kay. Mein Vater haßt die Japaner. Ich habe versucht, ihn zu überreden, daß er mitkommt.«
Kay sah sie an, kalt vor Furcht. Sie starrte auf die schwarzen Pyjamas. Zum ersten Mal wurde ihr jetzt bewußt, was der Krieg für sie persönlich bedeuten konnte – Schande, Hunger, Beschimpfungen, Vergewaltigungen, Verhaftung, Tod.
Yü Hua zog ein Blatt Papier aus dem aufgekrempelten Ärmel ihrer Jacke. »Erinnerst du dich an diesen Journalisten, James Steel?«
»Natürlich.«
»Hier ist ein Brief von ihm. Ein junger Mann hat ihn mir zugesteckt, als ich das Konsulat verließ.«
Sie gab Kay ein Stück dünnes Bambuspapier, engzeilig mit der Maschine beschrieben.
»Liebe Kay, liebe Jadeblume,
als die Japaner Kowloon besetzten, habe ich mich sofort verdrückt. Ich bin jetzt bei den Guerillas im East-River Gebiet. Die Guerillas wissen, was sie tun, und sind gut ausgerüstet mit Waffen, die sie den Söhnen der Himmlischen Soldaten abgenommen haben. Ich schulde ihnen einiges, und ich schulde Euch etwas für die Tai-Li-Geschichte (eine meiner besten Exklusivmeldungen). Man braucht hier Dolmetscher, und die Guerillas sind bereit, Euch herauszuhelfen. Der junge Mann, der Euch diesen Brief überbringt, ist absolut vertrauenswürdig. Er wird Euch führen. Ihr müßt Euch als chinesische Bäuerinnen verkleiden. Das ist alles. Gute Reise. Auf bald,
James Steel.«
»Und du gehst tatsächlich?« fragte Kay mit zitternder Stimme.
»Wir gehen beide. Ich habe Angst, aber ich bin auch voller Erwartung.«
»Sie können schließlich nicht mehr tun als uns umbringen, und wenigstens unternehmen wir etwas. Ich fühle …« Kay drehte sich um, umarmte Yü Hua und drückte sie. »Wenigstens gibt es eine vage Hoffnung. Wann gehen wir? Wo ist der Mann?«
Yü Hua verzog den Mund zu einem Lächeln. »Eigentlich ist er eher ein Junge als ein Mann. Er wartet auf uns. Er heißt Shen Shou-hao. Wir müssen uns beeilen.«
Sie ergriff das Fläschchen mit dem Haarfärbemittel.
»Er ist wirklich noch ein Kind«, flüsterte Kay.
Shen Shou-hao entsprach in keiner Weise ihrer Vorstellung von einem Guerilla. Er sah aus wie ein Rikschazieher, und er mochte vierzehn, vielleicht aber auch zwanzig sein, das konnte ein Europäer bei einem Chinesen nie genau wissen. Sein widerspenstiges, dichtes schwarzes Haar war an den Schläfen hochgesteckt und stand oben auf dem Kopf nach allen Richtungen ab. Seine Nase war klein, mit runder Spitze, und seine Lippen waren breit und unschuldig. In der typischen Haltung eines Bauern saß er vor einer kleinen Imbißstube an einem Brettertisch, ein Bein angezogen, einen Ellenbogen darauf gestützt, eine Schale Tee vor sich, und zerknackte mit großen weißen Zähnen gesalzene Melonensamen. Als die beiden Frauen barfuß, mit ihren großen Hüten auf dem Kopf an ihm vorbeigegangen waren, trank er, ohne sich zu beeilen, den Tee aus, steckte die restlichen Melonensamen in die Tasche seines zerlumpten Kattunhemds und ging ihnen gemächlich nach. Bald hatte er sie eingeholt, und nun sahen die drei wie gewöhnliche Bauern aus, die abends, nachdem sie ihre Erzeugnisse verkauft hatten, aus Victoria in ihr Dorf zurückkehrten.
»Ist das die Ausländerin?« fragte er Yü Hua.
»Ja.«
»Ssu Ti-les Frau?«
»Ja. Kannst du uns zu Mr. Steel bringen?« fragte Kay.
Er lachte. »Gehen wir. Schnell.«
Nachdem sie zwanzig Minuten die Straße entlanggegangen waren, die zum Mount Nicholson führte, blieb er stehen und sagte: »Wartet hier.«
Er kroch in eine trockene Abzugsleitung unter der Straße und kam mit drei abgewetzten Bambustragestangen wieder zum Vorschein, einem Korb, einigen geflochtenen Käfigen, wie man sie benutzt, um Hühner zum Markt zu tragen, und mit einer korbumflochtenen Tonflasche, die einen durchdringenden Reisschnapsduft ausströmte.
Die Mädchen nahmen jedes eine Tragestange, und Shen hängte die mitgebrachten Sachen an die Enden seiner eigenen Stange; dann setzten sie ihren Weg fort.
Nach einer weiteren halben Stunde sagte Shen: »Jetzt ist es ganz still. Die englische Stellung liegt ein li von hier entfernt.« Ein Li waren ungefähr fünfhundert Meter.
Sie gingen geradeaus weiter, verließen dann die Hauptstraße und bogen in einen in östlicher Richtung verlaufenden Seitenweg ein, der allmählich anstieg.
»Leise! Wir sind ganz nahe an der Ty-Tam-Talsperre. Die Japaner haben sie heute morgen besetzt.«
Er führte die Mädchen an einem schmalen, ausgetrockneten Wasserlauf entlang, der sich am Rand eines Dorfs hinzog. Ein Hund fing plötzlich an zu bellen.
»’runter« flüsterte er hastig. Sie duckten sich an den Uferrand des Baches. Der Hund bellte weiter. Ein Scheinwerfer flammte auf, teilte die Landschaft in blendende Helle und völlige Finsternis. Eine Stimme schrie etwas in einer fremden Sprache. Ein Maschinengewehr knatterte sinnlos, versprühte blind einen Geschoßhagel. Ausgestreckt auf dem Boden liegend, hörte Kay das scharfe Zischen und Jaulen der Querschläger. Heiligabend. In London wurden jetzt Choräle gesungen, und sie lag hier auf dem Bauch und wurde von Japanern beschossen. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Nein, hier war es bereits der erste Weihnachtsfeiertag. Der Scheinwerfer erlosch, und Kay machte die überraschende Entdeckung, daß sie gespannt, ja interessiert gewesen war aber keine Furcht empfunden hatte.
Zur Sicherheit warteten sie noch ein paar Minuten, dann zogen sie weiter. Kays empfindliche Füße bluteten, aber jetzt stießen sie auf einen schmalen Sandweg, auf dem sie nach all dem steinigen und stoppeligen Gelände, das sie hinter sich gebracht hatten, wie auf einem Teppich gingen. Der Weg führte wieder aufwärts. Im Schein des aufgehenden Mondes sahen sie Telegrafenstangen.
»Hier sind Japaner«, sagte Shen.
Er blieb stehen und nahm ein Bündel Lumpen aus dem Korb der am Ende seiner Tragestange hing. Der lange Lauf einer Mauser schimmerte blau im Mondlicht. Shen entsicherte sie vorsichtig und legte geräuschlos eine Patrone ein. Ein Lächeln glitt über sein Jungengesicht.
»Gute Pistole, wie? Tseng Sheng hat sie mir geliehen. Er ist unser Führer. Er sagte, ich muß die Mädchen sicher durchbringen.«
Er klopfte liebevoll auf die große Waffe und schob sie in seinen Hosenbund.
»Hier oben liegt die Island Road. Die müssen wir überqueren. Die Japaner kontrollieren sie mit Doppelposten, aber nicht in regelmäßigen Abständen.«
Er bedeutete ihnen durch eine Handbewegung, sie sollten warten, und lief ein Stück weiter. Gleich darauf kam er wieder zu den Mädchen zurück.
»Wir müssen uns beeilen. Wenn wir über die Straße sind, haben wir noch drei li zu gehen, und wir müssen am Meer sein, bevor es hell wird.«
Auf dem Boden liegend, spähten sie in beiden Richtungen die asphaltierte Straße entlang. Da nichts Verdächtiges zu sehen war, liefen sie geduckt hinüber. Als sie die andere Seite beinahe erreicht hatten, erschien auf der Anhöhe vor ihnen ein Mann.
Sie blieben stumm stehen.
Der Mann trug das verwaschene, geflickte Baumwollzeug der chinesischen Bauern.
»Leise!« sagte er. »Die Japaner sind nicht weit von hier.«
Er kam näher heran und musterte sie aufmerksam, vor allem die Frauen.
»Wollt ihr zur Küste?«
»Ja«, sagte Shen.
»Ich bin vom Komitee«, sagte der andere. Er deutete in die Richtung, die sie hatten einschlagen wollen. »Dort stehen die Japaner. Kommt mit. Ich zeige euch, wo man durchkommt.«
»Was ist das für ein Komitee?« fragte Shen.
»Das Komitee des Widerstands gegen den japanischen Imperialismus.«
»Was geht das mich an?« sagte Shen. »Wir sind einfache Bauern. Wir wollen nicht in eure Angelegenheiten verwickelt werden. Wir haben unsere Rüben verkauft und Schnaps eingekauft. Jetzt sind wir müde und wollen nach Hause.«
»Ich zeige euch den Weg«, sagte der Fremde und wandte sich nach Norden.
»Nein«, sagte Shen. »Wir müssen dort entlang zur Küste. Dort wohnen wir. Niemand wird ein paar armen Bauern etwas tun.«
Der Mann legte eine Hand auf den Arm des Jungen und hielt ihn fest. »Nicht da lang. Ihr müßt mitkommen. Ich bin vom Komitee.«
Shen versuchte sich loszureißen. Der Fremde packte ihn nun auch mit der anderen Hand und begann zu schreien: »Hierher! Hierher! Schnell! Mädchen! Junge Mädchen!«
Von der Straße her wurde aus nördlicher Richtung etwas gerufen, und eine Taschenlampe flammte auf.
Der Mann hielt Shen mit aller Gewalt fest. Es gelang den Mädchen nicht, ihn von Shen loszureißen. Er fühlte, wie Shens Revolver gegen seinen Magen drückte, und umklammerte den Jungen mit der Kraft der Angst. Das Rufen kam näher.
Schließlich gelang es Shen, den Kolben der Mauser zu packen und die Waffe so zu drehen, daß sie nicht mehr auf ihn gerichtet war. Der Mann keuchte: »Nein. Nein!«, und Shen drückte ab. Die Detonation schleuderte sie auseinander.
Shen trat über den Körper des Sterbenden hinweg.
»Schnell!« schrie er. »Laßt alles fallen und lauft. Dort lang!«
Sie rannten den schmalen Weg hinunter, in die Dunkelheit.
Shen lag auf der Straße hinter dem Körper des stöhnenden Verräters. Er schoß ein paarmal auf die Taschenlampe. Sie ging aus, ein kleines Maschinengewehr begann zu feuern, Funken flogen vom Asphalt hoch.
Shen ließ sich die Böschung hinunterrollen und lief dann hinter den beiden Mädchen her, bis er sie endlich eingeholt hatte. Niemand verfolgte sie.
Als das Meer in Sicht gekommen war, gingen sie weiter, bis sie das Gebiet nördlich von Kap Collison erreicht hatten. Unter einem Felsstein holte Shen eine Taschenlampe hervor und gab Lichtsignale zur See hin. Aus der salzigen Dunkelheit kamen Lichtpünktchen als Antwort.
Sie saßen wartend auf den Uferfelsen und blickten auf die Brandung. Auf den Wellen tanzend, näherte sich eine kleine Fischerdschunke mit unregelmäßigen Flicken auf dem Segel. Shen und die beiden Mädchen wateten ein Stück ins Meer hinaus und wurden einer nach dem anderen an Bord gezogen. Das Boot luvte auf, bekam Wind in das Segel und trug sie vom Ufer fort.
Bald wurde der Himmel heller, und plötzlich war das Wasser ringsum von kleinen Booten wie dem ihren übersät. Shen drehte sich mit breitem Lächeln zu den Mädchen um. »Wir fahren jetzt alle fischen.«
Kay hielt Yü Huas Hand fest in der ihren. Sie waren davongekommen. Wovon? Wohin? Jener undeutlich sichtbare Streifen am Horizont war die gewaltige Masse des chinesischen Festlands, das sich von Tibet nach Indien erstreckte, von Tschinghai zur Sowjetunion, über die Wüste Gobi westwärts bis zum Mittleren Osten. Es war Weihnachten, und Kay war zumute, als ob das Leben eben erst für sie begonnen hätte.
An diesem Tag teilte Generalmajor G. M. Maltby, der britische Militärkommandant in Hongkong, dem Gouverneur Sir Gordon Coll mit, daß es keine Alternative zur bedingungslosen Kapitulation gäbe. Wenig später ergab sich die »uneinnehmbare« Inselfestung den Japanern, und die in Hongkong ansässigen Briten wurden in das Internierungslager Stanley gepfercht. Nur wenigen war es gelungen, sich der Gefangenschaft durch rechtzeitige Flucht zu entziehen.
Die Sowjetunion, Großbritannien, China, die Vereinigten Staaten befanden sich nun, zu Beginn des Jahres 1942, auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichem Engagement im Krieg mit den Achsenmächten Deutschland, Italien, Japan.
James Steel, der in seiner uralten, fleckigen Kampfkombination höchst eindrucksvoll aussah, platschte durch die zehn Zentimeter hohe Wasserschicht, die die Rollbahn des Behelfsflugplatzes Dinjan bedeckte. Der Monsunregen hatte für eine Weile aufgehört, sozusagen eine Pause eingelegt, aber das Klima hatte sich dadurch nicht im mindesten verbessert. Die feuchte Hitze bei Tage und die eisige Kälte bei Nacht machten Steels Bein schwer zu schaffen. Es war so weit geheilt, daß er nicht mehr zu humpeln brauchte, aber das Monsunklima traf genau die kranke Stelle, derentwegen er aus der Air Force hatte ausscheiden müssen und die beim Marsch aus Burma so unmenschlich weh getan hatte. Er verfluchte den Mechaniker, der ihn zum Absprung gezwungen hatte, als sich die Maschine gerade vom Boden hob, so daß sich sein Fallschirm nicht vorschriftsmäßig hatte öffnen können – der Kerl trug die Schuld daran, daß er als Pilot erledigt war.
Wenn der Regen nicht endlich ganz aufhörte, würde der Flugplatz Dinjan bald nicht mehr zu benutzen sein. Heiße Wolken hingen dicht über dem Boden. Die Dakota C 47, die für Transportzwecke, umgebaut worden war, wurde von einheimischen assamesischen Arbeitern aufgetankt; sie pumpten den Treibstoff aus den Benzinfässern mit der Hand hinein und sangen dabei in einem rhythmischen Sprechgesang.
»Warum schwitzen die bloß nicht?« fragte Steel den Wartungsingenieur, der den Backbordmotor überprüfte.
»Sie essen weniger, arbeiten mehr und nehmen fast kein Fleisch und keinen Alkohol zu sich.« Der Ingenieur wischte sich die Stirn ab. »Lieber Gott! Ich hab’ mal in einer Waggonwäscherei gearbeitet. Da wäre ich jetzt gern, zur Abkühlung.«
Der neue Pilot saß auf der Rampe, die zum Laderaum führte, und rauchte unbekümmert inmitten der stinkenden Benzinschwaden. Er drehte sich um.
»Da schlag doch einer lang hin … Jimmy, du alter Hurensohn! Was machst du denn hier? Du solltest entweder tot sein oder fliegen.«
Steel klopfte gegen sein Bein. »Das hier war angeknackst. Eigentlich ist es schon wieder ganz in Ordnung, aber die wollten nicht warten, bis es endgültig geheilt war. Ich arbeite wieder in meinem alten Metier, nur jetzt als Kriegsberichterstatter.«
»Welchen Krieg meinst du?« Der Pilot lachte ironisch und schnippte seine Zigarette ins Wasser, wo sie leise zischte.
»Starten wir? Wie ist das Wetter in Kunming?«
»Das Wetter in Kunming kümmert mich einen Dreck, weißt du. Wir können uns nicht mal darauf verlassen, daß die Meldungen aus Kunming falsch sind. Kannst du das Ende der Rollbahn sehen?«
»Ich kann die Berge sehen. Vermutlich liegt das Ende der Rollbahn da unter dem Wasser.«
»Na fein, heute lautet die Vorschrift: Wenn du das Ende der Rollbahn sehen kannst, starte. Die Landung interessiert uns nur, wenn wir überhaupt so weit kommen.«
Steel schnitt eine Grimasse. »Ich hätte in Delhi bleiben sollen.«
»Bei einer netten kleinen Inderin, nehme ich an.«
»Nein. Bei einem englischen Mädchen.«
»Sind die nicht frigide? Man sagt so.«
Die Assamesen waren fertig mit Auftanken und rollten die Benzinfässer fort.
Steel blickte fragend zu dem offenen Laderaum hin.
»Schläft«, sagte der Pilot.
Steel zog eine flache Flasche aus der Tasche seines Parka und schraubte den Verschluß auf.
»Ein Bourbon gefällig?«
»Gegen die Vorschrift«, sagte der Pilot, nahm die Flasche und ließ langsam einen großen Schluck seine geübte Kehle hinunterlaufen. »Wenn das Wetter auch nur annähernd so wie gestern ist, werden wir bis Kunming die Erde nicht sehen.«
»Um so besser. Schlechte Aussichten für die japanischen Halunken.«
Der Pilot gab ihm die Flasche zurück. »Danke. Aber was ist schlimmer: gegen die Berge fliegen oder von japanischen Jägern abgeschossen werden? Diese Luftbrücke schlägt mir ganz schön auf den Magen.«
Der Wartungsingenieur sagte: »Motoren in Ordnung. Ihr könnt fliegen.« Er nahm die Flasche, die Steel ihm reichte. »Danke. Ihr Burschen wißt ja nicht, wie fein ihr dran seid. Ihr kommt wenigstens bis Kunming. Wir stecken hier fest. Keine Mädchen, nichts als verdammte Schinderei, Pest, Hitzeausschlag, Malaria, Ruhr, Schuften, Schwitzen und Schlafen, wenn man überhaupt zum Schlafen kommt.«
»Meckre doch nicht«, sagte der Pilot. »Wenigstens bist du noch nicht tot.«
Der Ingenieur umfaßte sein Handgelenk. »Schlimm genug, wenn das hier nicht in Ordnung ist.«
Steel und der Pilot stiegen die Rampe hinauf und schlossen die Luke des Laderaums. Im Innenraum der Maschine war es noch heißer als draußen. Sie mußten um einen Stapel verplombter Metallbehälter herumklettern. »Dafür riskieren wir nun unser Leben«, sagte der Pilot höhnisch.
»Eine Tonne chinesisches Papiergeld für Tschiang Kai-schek. In Brooklyn gedruckt. Wichtiger als Kriegsmaterial. Wir befördern Hunderte Tonnen von dem Zeug.«
Sie bahnten sich mühsam den Weg, vorbei an einem neuen Flugzeugmotor, an Unmengen von PX-Proviant, Post, Kleidungsstücken, Rationspackungen.
Hinter dem Cockpit stand auf der Backbordseite ein Feldbett, auf dem ein schlafender Mann in einem ausgebleichten Kampfanzug lag, neben sich eine lammfellgefütterte lederne Fliegerweste. In sechstausend Meter Höhe würde es bitter kalt werden. Der Pilot kletterte in den Cockpit zu der übrigen Besatzung – Kopilot, Bordmechaniker, Funker. Steel ließ sich auf einem Stapel Kleidungsstücke nieder.
Über ihnen war jetzt ein anderes Flugzeug aufgetaucht und kreiste, auf die Landung wartend, über dem Platz. Der Pilot wendete die Dakota, so daß sie die Rollbahn vor sich hatte.
Die Maschine kam auf Touren und schleuderte große Wasserschwaden von dem überschwemmten Flugplatz auf, der die einzige Verbindung mit China darstellte, seit die Japaner siegestrunken die Alliierten aus Burma hinausgetrieben und die Burmastraße gesperrt hatten. Jetzt mußte jede Tonne Nachschub für die amerikanischen und chinesischen Streitkräfte im unbesetzten China über einige der höchsten Berge und sehr oft auch durch das schlinunste Wetter der Welt geflogen werden.
Es war die gefürchtete Himalaja-Route, die bereits unzählige Flugzeugbesatzungen und Flugzeuge gekostet hatte. Hier war der Treffpunkt von Tiefdruckluftmassen, die aus Sibirien und von Westen her an den Bergen entlangzogen, und Hochdruckluftmassen aus der Bai von Bengalen – sie alte stießen in wilden, wütenden Wirbeln über dem Himalaja zusammen.
Flugzeuge wurden manchmal von Seitenwinden, die eine Geschwindigkeit von hundertundfünfzig Meilen in der Stunde erreichten, herumgeschleudert oder von Aufwinden drei- bis viertausend Meter hochgehoben, um dann von Abwinden in wenigen Minuten wieder heruntergerissen zu werden. Schwere Ladungen sausten über die Böden der DC 47, Maschinen humpelten gleichsam über die Berge heimwärts mit Tragflächen, auf die das Gewicht der Eismassen drückte.
Nichts von alledem schien den Mann auf dem Feldbett zu berühren, der nicht aufwachte, als die Dakota vom Boden abhob, sich in die Kurve legte und in östlicher Richtung aus dem Brahmaputratal flog.
Sogar im Schlaf sah er erschöpft aus. In seinem hageren, knochigen Gesicht, das seine ungesunde Farbe einer gerade erst überstandenen Gelbsucht verdankte, ragte eine große höckerige Nase aufwärts. Von der Stirn bis zum mageren Hals war die Haut kreuz und quer von feinen Runzeln durchzogen, und das kurzgeschorene Haar war an den Schläfen weiß. Er trug eine Armee-Stahlbrille, die ihm von den Ohren gerutscht war.
Nichts an dieser unscheinbaren Gestalt deutete darauf hin, daß dies General Joseph W. Stilwell war, der Generalstabschef der Alliierten in China, stellvertretender Oberbefehlshaber der chinesischen Streitkräfte unter Generalissimus Tschiang Kai-schek und Oberbefehlshaber aller amerikanischen Streitkräfte auf dem chinesisch-burmesisch-indischen Kriegsschauplatz.
Man hatte ihn heftig angegriffen, weil er mit seinen Männem zu Fuß aus Burma nach Assam marschiert war, statt angesichts des japanischen Vormarschs mit seinem Stab auszufliegen. Stilwells Marsch war ein Unternehmen, das höhere Offiziere bei einem Oberkommandierenden für romantischen Wahnsinn hielten, aber die einfachen Soldaten achteten, ja vergötterten ihn deswegen. Seine scharfe Zunge und seine mitleidlose Offenheit hatten ihm den Spitznamen »Essig-Joe« eingetragen.
Der Brahmaputra, dieser gewaltige Fluß, der im westlichen Tibet entspringt und an den heiligen Städten Sbigatse und Lhasa vorüber nach Indien fließt, verschwand, als sie durch dahintreibende Wattewolken über das Patkaigebirge flogen.
Außerhalb der Maschine gab es nur noch dunstiges Weiß. Steel stand auf, legte die Lammfellweste über Stilwells Oberkörper und ging in den Cockpit.
Die volle und ständige Aufmerksamkeit der Besatzung war vonnöten, wenn blind geflogen werden mußte; eine Ausnahme machte lediglich der Bordmechaniker. Ihr Leben hing von ihrem fliegerischen Können ab, das in jedem Augenblick bewiesen werden mußte. Unter der Maschine, in den Wolken, lagen unsichtbar die spitzen Berggipfel des Parkaigebirges; dann kam der Anflug zu den über viertausend Meter hohen Kumongbergen und schließlich zu dem Hauptgebirgszug des Himalaja, dem Santunggebirge jenseits der Flüsse Salwen und Mekong, die nach Burma und Vietnam flossen.