Dunkelwasser - A. E. Prechtl - E-Book

Dunkelwasser E-Book

A. E. Prechtl

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Beschreibung

Ein Hotel soll im Gebiet der Shasta Mountains gebaut werden. Die Einwohner erwarten sich mit dem Neubau einen wirtschaftlichen Aufschwung für die ganze Region und hoffen die weitere Abwanderung der Jugend damit verhindern zu können. Beim ersten Informations-Meeting lernen sich der Architekt Jack Stolberg, Sohn der Hoteldynastie Stolberg und der dort ansässige indianische Anwalt Ayme Darkwater, kennen. Es treffen zwei Menschen aus völlig verschiedenen Welten aufeinander. Der eine, einer der Bauherren des Hotels, stammt aus einer angesehenen reichen Unternehmerfamilie, der andere, ist ein Ureinwohner aus dem kleinem Dorf, indem noch immer alte Traditionen gelebt werden. Und einige Familien dort, auch die des jungen Anwalts, verbergen ein finsteres Geheimnis.

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Dunkelwasser – Die Schattenkrieger

1. Auflage, erschienen 5-2022

Umschlaggestaltung: Romeon Verlag

Text: A. E. Prechtl

Layout: Romeon Verlag

ISBN: 978-3-96229-705-3

www.romeon-verlag.de

Copyright © Romeon Verlag, Jüchen

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz.

Alle im Buch enthaltenen Angaben, Ergebnisse usw. wurden vom Autor nach bestem Gewissen erstellt. Sie erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Verlages. Er übernimmt deshalb keinerlei Verantwortung und Haftung für etwa vorhandene Unrichtigkeiten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

A. E. Prechtl

DUNKELWASSER

Die Schattenkrieger

Alle in diesem Buch vorkommenden Personen und Handlungensind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit zu realen, lebenden oderverstorbenen Personen ist rein zufällig. Sofern Namen realexistierender Personen, Orte und Marken verwendet werden,geschieht dies in einem rein fiktiven Zusammenhang.

Inhalt

Kapitel 1Prolog

Kapitel 2Das amerikanische Hotelunternehmen Stolberg

Kapitel 3Zwei Todesfälle

Kapitel 4Die Hotelplanung - eine Idee

Kapitel 5Jack Stolbergs Entscheidung

Kapitel 6Die indianische Bevölkerung rund um den Talsee

Kapitel 7Tom Clary fährt nach Norden

Kapitel 8Die Stolbergs kommen nach Carringten

Kapitel 9Das große Meeting

Kapitel 10Ayme Darkwater

Kapitel 11Einsatz 2023

Kapitel 12Kathy Stolberg

Kapitel 13Die Tour auf die Hochebene

Kapitel 14Jack und Ayme

Kapitel 15Drei Wochen

Kapitel 16Marinina Darkwater

Kapitel 17San Francisco

Kapitel 18In Salem, Oregon

Kapitel 19San Francisco II

Kapitel 20Der Hurrikan

Kapitel 21Zwillinge

Kapitel 22Ayme und Toms Detektei

Kapitel 23Im Hauptbüro der Stolbergs

»Wer Übles tut, dem soll Übles geschehen,

wir wehren ab die Gefahr

und der Hauch des Todes sind wir,

denn wir sind die Schattenkrieger!«

Es ist eine Tatsache und es ist immer schon geschehen

und es geschieht auch jetzt in unserer aufgeklärten Zeit,

dass Kinder beeinflusst, benutzt, rekrutiert und gezwungen werden

von Erwachsenen für Erwachsene, um schreckliche Dinge zu tun.

Kapitel 1

Prolog

Ein See im Norden des Staates Kalifornien – Wald säumt die Ufer, im Westen ragen Berggipfel auf, rauschende Bäche stürzen die steilen Felswände hinunter und speisen das stille Gewässer, lassen das Nord-Ufer sumpfig werden.

Dahinter weitet sich das Land, leichte Hügel erheben sich und man erkennt menschliche Behausungen, die sich zu einem Dorf zusammenfügen.

Hier leben die Nachfahren indianischer Ureinwohner. Gut angepasst an die amerikanische Lebensweise, perfekt organisiert, mit festem Zusammenhalt und der Natur sehr verbunden.

Während der letzten 100 Jahre haben sie gelernt, sich mit den weißen Siedlern zu arrangieren. Nicht nur, um zu überleben, sondern um als moderne amerikanische Staatsbürger den Fortbestand ihrer Rasse und Kultur zu sichern.

Die Kinder der Ureinwohner gehen genauso wie die Kinder der weißen Farmer im 15 Meilen entfernten Carringten zur Schule. Eine typische amerikanische Kleinstadt mit Grundschule, drei oder vier Geschäften, einer Kirche, einem Nachtlokal, der Polizeistation mit dem Büro des Sheriffs, der Stadtverwaltung mit Bürgermeister, einer kleinen Bibliothek, Kino, Mac Donald, einem Anwaltsbüro, einer Krankenstation, einem Bus-Terminal und einem Bahnhof mit Zugverbindung bis nach San Francisco und in den Süden Kaliforniens.

Busse bringen die Jugendlichen in die nächste größere Stadt zum College. Wer aber weiter studieren will, muss sich in den Zug setzen, um zu den großen Universitäten Kaliforniens zu gelangen. Der Wermutstropfen ist, dass viele der gut ausgebildeten jungen Menschen in die Kleinstadt nicht mehr zurückkehren. Sie werden dort sesshaft, wo nach dem Studium adäquate Jobs angeboten werden, und gründen auch dort ihre Familien.

Doch einige, aber viel zu wenige, schließen sich wieder ihrer Sippe an und lassen sich rund um das kleine Dorf oder in Carringten nieder. Auf diese Weise halten auch neue Erkenntnisse und moderne Technik Einzug, und die Älteren dort sind klug genug, ihr altes Wissen nicht nur nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, sondern zu versuchen, Altes und Neues zu verbinden und zu aller Vorteil zu nutzen.

So profitieren Carringten und auch das Dorf am See davon.

Die Menschen in dieser Gegend sind zufrieden. Die Farmer bauen Mais, Rüben, Weizen, Gemüse und Obst an und Rancher züchten eine sehr widerstandsfähige Rindersorte mit wohlschmeckendem Fleisch. Die Wälder bringen dem, der zu jagen versteht, reiche Beute an Hasen, Rehen und Hirschen, und zur Freude der Gourmets sind auch Pilze unter den hohen Stämmen zu finden. Im See wimmelt es von Fischen und auf dem Wasser tummeln sich viele Arten von Vögeln.

Der tiefblaue See bietet mit seinen sanft ansteigenden Böschungen an heißen Sommertagen vielen Menschen Abkühlung.

Die Winter im nördlichen Teil von Kalifornien sind streng und können sehr schneereich sein, doch die Bevölkerung hat gelernt, damit umzugehen. Die Wohnhäuser sind stabil gebaut, warm beheizt und trotzen so manchem Schneesturm. An sonnigen Tagen bewegen sich die Menschen gerne im Freien! Der zugefrorene See lädt zum Eislaufen, Eisstockschießen, Eisfischen ein. Mit Schneeschuhen und mit Langlaufskiern kann man sich auch auf den tief verschneiten Wanderwegen gut bewegen. Andere rasen mit Motorschlitten und wieder andere mit von Hunden gezogenen Schlitten durch den Wald. Motorenlärm, Hundegebell, fröhliches Lachen erfüllt so manchen kalten Wintertag am Wochenende.

Wahrlich ein Naturparadies mit Lebensqualität.

Kapitel 2

Das amerikanischeHotelunternehmen Stolberg

Geleitet wird die Fünf-Sterne-Hotelkette von Lars Stolberg, man findet die Resorts an den schönsten Plätzen Nordamerikas. Die Stolbergs entstammen einer norwegischen Familie, deren Mitglieder mit der großen Auswanderungswelle 1882 in die USA kamen und sich zuerst in Minnesota niederließ.

Sven Stolberg, ein tüchtiger junger Ingenieur, zog 1947 in das sonnige Kalifornien und gründete dort ein Bauunternehmen, das sein Sohn Lars in den 80er-Jahren nach seinem Tod übernahm. Sein erstes Hotel errichtete er am Rande von San Francisco, weitere folgten. Das Konzept war höchst erfolgreich: große Räume, Möbel aus hellem Vollholz, kühles Design, edle Teppiche, ein Wellnessbereich im Außen-sowie im Innenbereich mit wunderschönem Ambiente und eine Hotelküche, die den Geschmack vieler Gourmets der ganzen Welt trifft. Eine besondere Stärke der Marketingplanung war und ist die Einbeziehung der Umgebung. Die Resorts liegen an den ausgesucht schönsten Plätzen der Staaten. Die Gäste kommen, um zu entspannen, dem Stress hinter sich zu lassen oder einfach nur, um verwöhnt zu werden, dem Alltag zu entfliehen.

Lars Stolberg, 58-jährig, ist mit Emmy, einer ehemaligen kalifornischen Schönheitskönigin, verehelicht, sie haben zwei Kinder: Kathy, 37 Jahre und Jack, 35 Jahre. Kathy, die Ältere der Geschwister, ist verheiratet mit Marco, einem italienischstämmigen Computerspezialisten. Dieser ist im Unternehmen angestellt und ein viel beschäftigter Mann. Seine IT-Fähigkeiten werden in den Resorts oft gebraucht. Kathy und Marco führen eine harmonische Beziehung, und ihre drei aufgeweckten Kinder Lucy, George und Mikey sind der ganze Stolz der Großeltern.

Jack, der Bruder, ist Architekt und Bauingenieur und seit Beendigung seines Studiums in der Firma seines Vaters tätig. Jack besitzt Anteile der Firma und unterstützt seinen Vater bei der Leitung des Unternehmens, Vater und Sohn kommen gut miteinander aus. Die Eltern Lars und Emmy wissen von Jacks Homosexualität und akzeptieren ihn so, wie er ist. Mamma Emmy wünscht ihm eine gute Partnerschaft, doch Jack ist überzeugter Single. Er lebt in einer hübschen Wohnung mit hauseigenem Swimmingpool in einem der feineren Viertel in San Francisco. Er liebt seine Arbeit, reist beruflich viel in den Staaten herum, weil an den Hotelgebäuden ständig erneuert, renoviert und manches ausgebaut werden muss. Er plant und gestaltet für sein Leben gern. Jack ist seinem Vater ein wichtiger Mitarbeiter. Mit seinen eisgrauen Augen, die einen sehr prüfend anblicken können, der geraden Nase, dem schmalen Gesicht mit dem kantigen Kinn ist Jack ein Bild von einem Mann. Es fehlt ihm auch nicht an Verehrern, aber er verachtet das Schmachten und Getue der Bubis, und die schnellen Liebschaften hat er schon lange satt. Früher hat er es genossen, mit jedem hübschen Jungen ins Bett zu hüpfen.

Doch die unverhohlene Absicht der Abzocke hinter den gemurmelten Liebesbezeugungen haben ihn in der letzten Zeit kalt und zynisch werden lassen. Nur ganz wenige Menschen lässt er an sich heran, in erster Linie seine Familie, vor allem seine Schwester Kathy. Zu ihr hat er ein ganz besonderes Verhältnis. Dann seinen Schwager Marco, und an den Kindern, der Nichte Lucy und den Neffen Georgie und Mikey, hängt er sehr.

Und dann gibt es noch Tom, er ist sein bester und wirklicher Freund und fast wie ein Bruder. Emmy und Lars Stolberg hatten Tom Clary aufgenommen, als er 14 Jahre alt war und seine mit den Stolbergs befreundeten Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen.

Tom bekam eine neue Familie, Geborgenheit, eine Ausbildung. Der einsame Junge litt sehr unter dem Verlust seiner Eltern, aber nach anfänglichen Schwierigkeiten freundeten Jack und er sich an. Sie wurden unzertrennlich. Ihre Wege trennten sich erst, als sich Tom zum Marine Corps meldete und mit der harten Ausbildung begann und Jack sein Architekturstudium anfing.

Als Tom zu Kriegseinsätzen eingezogen wurde, bangte und hoffte die Familie um ihn, und als er schwer verwundet heimgebracht wurde, kümmerten sich alle Familienmitglieder, jeder auf seine Weise, darum, dass er wieder gesund wurde. Wieder genesen, quittierte Tom seinen Dienst bei der US Army und gründete eine Privatdetektei, die sich auf das Aufspüren und Überwachen von Personen spezialisierte. Auf diese Weise konnte er sein gesamtes bei den Marines erlerntes Wissen im Zivilleben umsetzen. Lars, Jacks Vater, streckte ihm für die Firmengründung ein Darlehen vor, das Tom schon nach zwei Jahren zurückzahlen konnte. Es ergab sich von selbst, dass der Hotelboss auf die Dienste von Toms Detektei zurückgriff, wann immer in der Firma Ungereimtheiten oder andere Probleme auftauchten.

So war Tom wieder öfters im Familienstammsitz anzutreffen. Jack und Tom hingen oft miteinander ab, ob in Lokalen, Bars oder in ihren Wohnungen. Sie kamen einfach gut miteinander aus, und es spielte keine Rolle, dass Jack schwul war und Tom mehr auf Frauen stand.

Kapitel 3

Zwei Todesfälle

Ein Reihenhaus in einer der Vorstädte von Los Angeles. Es ist Abend, die Straßenlaternen gehen an. Ein Mann kommt von der Arbeit nach Hause. Er betritt das Haus und wird von seiner Frau begrüßt. Sie hat das Abendessen fertig zubereitet und auf ihn gewartet.

»Ich habe alles auf die Terrasse gestellt, Seamus, du kannst dich schon hinsetzen«, ruft sie.

Eine Gestalt, schon eine geraume Weile ganz an dem Stamm eines Blutahorns geschmiegt, schlank, schwarz gekleidet und komplett mit der Dunkelheit verschmolzen. Auch wenn man ganz genau hinschaute, könnte man sie nicht sehen.

Der Ahorn steht inmitten von Büschen im hinteren Ende des Gartens. Im Vordergrund hell erleuchtet die Terrasse. Ein Tisch gedeckt mit zwei Tellern, Besteck, Gläsern und einer geöffneten Rotweinflasche.

»Kommst du dann, Schatz?«, ruft die füllige, hellhaarige Frau, »ich schenk dir den Wein ein, ich muss noch mal in die Küche«.

»Bin gleich da, nehme mir nur noch die Krawatte herunter«, hört man den Mann sagen.

Das ist das Stichwort für den Beobachter. In schnellen Schritten gleitet er völlig lautlos zu dem Tisch, zieht aus seinem Ärmel eine Phiole und gibt einige Tropfen in das gefüllte Glas, dann huscht er wieder zurück in den Schatten der Büsche und Bäume.

Zwei Minuten später erscheint auf der Terrasse ein korpulenter älterer Mann mit offenem Hemdkragen und lässt sich aufseufzend in den Sessel vor dem gefüllten Rotweinglas nieder, nimmt einen tiefen Schluck von dem Wein, streckt die Beine unter dem Tisch lang aus, lehnt sich zurück in den Sessel und trinkt noch einen großen Schluck.

Plötzlich greift er sich an die Brust, keucht auf und schreit gequält: »Ich bekomme auf einmal keine Luft!«

Seine Frau hört ihn, stürzt aus der Küche, noch die Pfanne mit dem Abendessen in der Hand. Sie läuft auf ihn zu, die Pfanne landet mit laut schepperndem Geräusch auf dem Boden. Sie will ihren zusammensinkenden Mann auffangen. Es gelingt ihr nicht und er fällt luftringend auf die Fliesen der Terrasse.

Sie kreischt erschrocken: »Seamus, was ist mit dir?«

Doch er kann ihr nicht mehr antworten, krümmt sich krampfhaft zusammen und stirbt.

Die eiligst herbeigerufenen Rettungssanitäter versuchen Wiederbelebungsmaßnahmen.

Es ist zu spät. Der wenige Minuten später eintreffende Arzt kann nur noch den Tod feststellen. Er diagnostiziert plötzliches Herzversagen. Später dann wird die Leiche des Mannes auf die Bahre gehoben, zugedeckt und vorbei an der weinenden Witwe in den Rettungswagen geschoben.

Alle Lichter im Garten sind eingeschaltet, selbst der hintere Teil mit dem Blutahorn wird hell angestrahlt, doch der Platz hinter dem Stamm des Baumes ist leer.

*

In einem Büro einer Investmentfirma mitten in Los Angeles. Ein etwa 45-jähriger Mann mit Schnauzbart und schütterem, gefärbtem Haar schaltet mit einem zufriedenen Seufzer den Laptop aus, nimmt seine Jacke und geht aus dem Büro. Er ruft ein paar Grußworte den Mitarbeitern im selben Stockwerk zu und verlässt das Gebäude. Mit flotten Schritten überquert er die Straße und steigt in einen schwarzen, restaurierten 70er Camaro ein. Er will zu seiner Wohnung, sich umziehen und dann noch gemütlich in seiner Stammbar etwas trinken gehen.

Gut gelaunt parkt er seinen Oldtimer an den Straßenrand vor seinem Appartement. Mit dem Schlüsseln in der Hand springt er die paar Stufen zur Haustüre hinauf, sperrt sie auf, geht den Flur weiter und steigt die Stufen zu seiner Wohnung im ersten Stock hoch. Die Haustür schließt er nicht ab, lässt sie sogar offen, er will ja gleich wieder weg.

Die Gestalt, wie ein Schatten in einer Nische an der Ecke des Hauses lehnend, sieht er nicht oder beachtet sie nicht.

Kaum ist der Hausbewohner durch den Eingang, bewegt sich auch die Person blitzschnell zu der offenen Tür. Hätte jemand den Vorgang beobachtet, würde er daran zweifeln und glauben, es wäre niemand dort gestanden. Die Gestalt schlüpft hinein und schließt die Haustür hinter sich.

Drinnen huscht der schlanke, schwarz gekleidete Mann in den ersten Stock und wartet neben dem Türstock. Er ist jung, etwa Mitte zwanzig, mit braunen, ebenmäßigen Gesichtszügen, die momentan sehr konzentriert wirken und einer Maske gleichen. Das schwarze glatte Haar ist am Oberkopf straff zusammengefasst und der Rest fällt lang über den Rücken. In der linken Hand hält er ein schmales Messer. Er hat den Blick gesenkt und steht völlig regungslos, lauscht auf verdächtige Geräusche. Man hört Kinderstimmen, aber keiner der Nachbarn geht vor die Tür. Jetzt hebt er den Blick, seine Augen faszinieren, die Iris ist hellbraun, fast golden, von einem klaren dunkelbraunen Ring umfasst.

Eine Männerstimme ertönt laut durch die bewachte Wohnungstür in das Stiegenhaus. Diese öffnet sich und der Schnauzbärtige mit dem Handy am Ohr macht mit dem Rücken voran einen Schritt ins Stiegenhaus. Er achtet absolut nicht auf seine Umgebung. Jetzt legt er auf.

Mit einem Sprung ist der Langhaarige bei ihm, drängt ihn in Wohnung zurück, drückt ihm das Messer an die Kehle, dabei fällt das Telefon aus den zitternden Händen.

»Gib keinen Ton von dir«, zischt der Angreifer, drückt die Tür mit dem Fuß zu, während er den völlig Geschockten weiter in die Wohnung zerrt. Mit der einen Hand hält er ihm das Messer an den Hals, mit der anderen Hand zieht er einen winzigen Wurfpfeil aus dem Ärmel der Messerhand, entfernt mit den Zähnen schnell, aber vorsichtig die Schutzkappe und drückte dem Schnauzbärtigen die Spitze in die Haut des Hinterkopfes.

Während der Angegriffene von dem Stich gar nichts mit bekommt, geben ihm schon die Füße nach und er sackt in sich zusammen. Der Angreifer entfernt sich ein paar Schritte, um den tödlich Getroffenen zu beobachten. Nach kurzer Zeit geht er wieder zurück zu dem am Boden Liegenden und greift an den Hals zur Schlagader. Er lässt die Hand am Puls des bewusstlosen Opfers, verharrt eine Minute ganz still, dann zieht er Handschuhe an und blickt sich suchend in der Wohnung um, geht zu einem Kleiderschrank, öffnet ihn, findet eine Krawatte, nimmt sie heraus und schlingt sie um den Hals des Bewegungslosen.

Er zerrt ihn ins Bad, wo quer an der Wand dünne Metallrohre verlaufen, wuchtet den Körper des mittlerweile Toten so weit in die Höhe, dass er das andere Ende der Krawatte um eines dieser Rohre schlingen kann. Mit den Knien hält er den Oberkörper fest, macht einen Knoten und lässt dann die Leiche los.

Er richtet sich auf, prüfend ruht sein Blick auf dem Leichnam. Er geht aus dem Bad, schließt den Kleiderschrank, läuft zum Eingang, holt das Handy und legt es neben der Leiche auf den Boden, so, als sei es im Todeskampf aus den Händen geglitten.

Mit raschen Schritten ist der Täter bei der Eingangstür. Lauscht, öffnet sie vorsichtig, verharrt wieder und schlüpft dann hinaus. Huscht die Treppe hinunter, streift sich währenddessen im Laufen die Handschuhe von den Fingern und steckte sie in seine Ärmeltaschen. Er will aber nicht zur Vordertür hinaus, sondern läuft die Kellertreppe hinunter zum Hinterausgang des Hauses, der in den Hof führt. Die Tür bewegt sich, wie ein Schatten gleitet er hinaus und ist verschwunden.

Es sind keine zehn Minuten vergangen.

Kapitel 4

Die Hotelplanung - eine Idee

Im Hauptsitz der Planungs- und Baufirma Stolberg, am Rand von San Francisco gelegen. Schauplatz: das Chefbüro von Lars Stolberg, Eigentümer und Leiter des Hotelimperiums Stolberg.

Anwesende waren Lars Stolberg, sein Sohn Jack, Architekt und Hotelplaner, und Tom Clary, Sicherheitsberater, Privatdetektiv und Ziehsohn.

Beide Stolbergs, groß gewachsen, hellgraue Augen, Lars, der Vater, noch mit vollem, aber schon etwas ergrautem Haar, gerader Haltung und angenehmen Zügen. Man sah ihm die Kraft und Konsequenz an, mit der er sein Imperium leitete.

Jack, breiter gebaut als sein Vater, könnte durchaus als Hüne bezeichnet werden. An die zwei Meter groß, breite Schultern, mit einem Bizeps ausgestattet, der jedem Bodybuilder zur Ehre gereicht hätte. Dazu ein flacher, trainierter Bauch und lange, starke Beine. Mit Boxen, Schwimmen und Volleyball hielt er sich fit, segeln war seine Leidenschaft und Kunst und Musik liebte er sehr.

Mit vollem, blondem Haar, das ihm seitlich in die Stirn fiel, und den stahlgrauen Augen, dem spitzbübischen Grinsen, das er gerne aufsetzte, wenn ihm etwas gefiel, machte er jede Frau schwach. Doch an Frauen war Jack nicht interessiert, er war schwul. Er war aber keinesfalls ein Leichtfuß, sondern diszipliniert, hochintelligent, ein ausgezeichneter Architekt und ein Ästhet - denn die Schönheit der Architektur der neueren Stolberg-Hotels, die er geplant hatte, war sprichwörtlich.

Tom war etwas kleiner als Jack, durchtrainiert und sehnig, die braunen Haare waren ganz kurz geschnitten, und als ehemaliger Marine war er immer hellwach und aufmerksam.

Gerade hatten sie die Tageszeitung auf dem Tisch liegen, wo die Seiten des Berichts über den Suizid des Investmentbankers und Grundstücksmaklers Jerry Cox aufgeschlagen war.

»Ich kann nicht glauben, dass sich dieser aalglatte Kerl umgebracht haben soll«, kommentierte Jack den Artikel, »der hatte doch immer nur seinen Profit im Sinn.«

»Ja, aber vielleicht ist irgendeine Transaktion schief gegangen, von der wir noch nichts wissen, und er hat sich das zu Herzen genommen«, meinte sein Vater. »Außerdem wird der Fall von der Polizei ohnedies untersucht und geprüft, ob Fremdverschulden vorliegt.«

»Stimmt, die Leiche wird obduziert«, mischte Tom sich ein, »bin gespannt, ob da was anderes herauskommt als Selbstmord. Übrigens war mir dieser Jerry Cox bekannt, da war mal ein Fall, bei dem ich ermitteln musste. Geldanleger fühlten sich von ihm betrogen. Ich konnte diesem Cox nichts nachweisen, obwohl mir mein Bauchgefühl sagte, dass der Kerl Dreck am Stecken hat. Bei den Befragungen war der Typ einfach zu ruhig und kaltschnäuzig. Ich bin sicher, der hat so manchen armen Schlucker auf dem Gewissen. Was mich sehr interessiert, was hat er vor seinem Tod gemacht?«

»Das kann ich beantworten«, antwortete Lars Stolberg, »er und Seamus Calloway hatten da eine Grundstückssache laufen. Wartet mal, das war hier in Kalifornien, im Norden an einem See, soll dort eine Traumgegend sein. Da ging es um viel Geld. Die Kleinstadt dort brauchte Kapital und bot ein schönes großes Stück Land an, und nach einigem Hin und Her haben Cox und Calloway abkassiert, aber die Stadt ist dann auf dem Grundstück ohne Geld sitzen geblieben. Das muss ein ganz schmutziger Deal gewesen sein.«

»Komisch, in den Todesanzeigen vor ein paar Tagen habe ich gelesen, dass auch Seamus Calloway gestorben ist«, das kam von Tom.

»Auch Selbstmord?«, fragte Jack.

»Nein, Herzinfarkt haben sie geschrieben«, antwortete Tom.

Er überlegte weiter. »Interessant für mich ist, dass es genau diese beiden waren, die dort ihre Finger im Spiel hatten, und jetzt sind sie tot. Solche Zufälle machen mich misstrauisch.«

Jack nickte Tom zu. »Komisch ist es, ja, kann aber alles trotzdem Zufall sein.«

»Mmh«, überlegte Lars Stolberg, »was machen jetzt eigentlich die geschädigten Leute, frage ich mich. Die hätten doch das Geld dringend gebraucht, für Straßen, einen neuen Kindergarten, eben für die Infrastruktur, habe ich gelesen. Die stehen jetzt ohne das nötige Kapital da.«

Jack sah seinem Vater in die Augen. »Was geht dir im Kopf um, Daaad?«

Der dachte nach und schmunzelte etwas verlegen. »Ich wollte schon immer ein Hotel dort oben im Norden. Wisst ihr, da sieht es ein wenig wie in Norwegen aus, schneebedeckte Berge, Wälder, soweit das Auge reicht und dann auch noch der See!«

Auf einmal war ein sehnsüchtiger Ausdruck in seiner Stimme. »Ich glaube, ich werde noch sentimental auf meine alten Tage.«

»Aber die Winter dort oben sind auch nicht von schlechten Eltern, da könnte man mit der Versorgung der Hotelgäste ins Trudeln kommen«, antwortete Jack, der als typischer California Dream Boy mit Kälte und Schnee nicht so viel anzufangen wusste.

»Das wäre mal eine richtig schwierige Aufgabe für deine Schwester, du weißt, Herausforderungen liebt sie«, konterte sein Vater. »Und in Europa wird gerade der ›ökologische nachhaltige Hotelbau‹ so modern, dort versucht man, mit natürlichen Gegebenheiten beste Standards zu bauen. Das wäre doch auch was für dich, Jack, eine neue Herausforderung! Was meint du?«

»Stimmt, das würde mich interessieren, aber wie gehen wir an die Sache heran?«

»Ich werde Kontakt mit der Gemeinde der Stadt aufnehmen und ihnen meine Pläne darlegen, dann sehen wir weiter!«, antwortete der alte Stolberg, und im Stillen dachte er bei sich, ›und ich möchte vorher zu gerne wissen, wie das Ganze wirklich abgelaufen ist.‹

Er wandte sich an Tom.

»Tom, ich habe einen Auftrag für dich! Fahr in den nächsten Tagen nach Carringten und strecke deine Fühler aus. Ich möchte wissen, was das für Leute sind, wie sie das aufgenommen haben, darüber denken und wer da aller was zum Mitreden hatte.«

Der Angesprochene dachte bei sich, ›gut, dass er fragt, sonst wäre ich auf eigene Faust losgefahren. Ich hab da so ein Jucken im kleinen Finger, dass die Todesfälle nicht ganz so zufällig sind.’

Laut antwortete er: »Passt, ich kann mich freimachen und meine Augen offenhalten.« Er würde da oben auf sich gestellt sein und höllisch aufpassen müssen, um nicht aufzufallen. Die Landbewohner waren weit misstrauischer, wenn Fremde Fragen stellten.

Lars wandte sich zu seinem Sohn. »Jack, ich hänge mich jetzt ans Telefon, rufe den Bürgermeister von Carringten an und rede mal mit ihm. Ich informiere dich, sobald ich mehr weiß und Termine habe.«

»Okay Dad«, Jack war etwas in sich gekehrt, es ging ihm einiges im Kopf herum, sein Privatleben war gerade ziemlich turbulent und er musste aufpassen, dass es nicht ganz aus dem Ruder geriet. Aber gleichzeitig interessierte es ihn, ein Haus zu planen, wo Bio und das Klima eine Rolle spielen würde.

›Da muss ich mich in viele neue Gedankenrichtungen hineindenken, ich werde zu meinen Freunden in Europa Kontakt aufnehmen,‹ grübelte er.

Die zwei Brüder verabschiedeten sich von Lars Stolberg und verließen gemeinsam das Gebäude.

Die jungen Männer liefen zu Fuß nebeneinander her, schweigend in Gedanken versunken. Da die beiden gut vertraut miteinander waren, wusste ein jeder, wohin er seine Schritte zu lenken hatte. Nach ein paar Hundert Metern kehrten sie in einem Diner ein, nahmen am Fenster Platz und jeder schnappte sich die Speisekarte. Jack brach das Schweigen.

»Tom, du kennst doch vom Boxzentrum den bulligen Dunkelhaarigen, den mit den gepiercten Ohren?«

»Nicht doch, Jack, du wirst doch mit dem nichts angefangen haben«, raunte Tom leise, weil gerade die Bedienung zum Tisch kam und die Bestellung aufnehmen wollte. Sie orderten beide den Klub-Burger mit Fleisch, Zwiebel, Pommes, Salat und einem gebratenen Ei.

Als die Kellnerin wieder weg war, antwortete Jack leise: »Scheiße ja, habe ich, ich fand Greg am Anfang ganz cool und habe ein paarmal mit ihm geschlafen. Wusstest du, dass er an den Brustwarzen auch gepierct ist?«

»Echt Jack, wie soll ich das wissen, du weißt, ich steh auf Frauen. Außerdem turnt mich das wirklich nicht an, wenn Metalle an den Nippeln oder sonst wo hängen. Das Natürliche gefällt mir noch immer am besten, ein ganz normaler vollgerundeter Frauenbusen ist am schönsten«, meinte Tom grinsend.

Jack schien das nicht aufzuheitern, er hing weiter seinen Gedanken nach. »Ich glaube, der braucht es, dass etwas weh tut aber jetzt wird er mir zu anhänglich, zu bestimmend. Überall will er dabei sein und ist richtig besitzergreifend, das wird mir zu viel, ich will das nicht!«

»Aber wen loszuwerden war doch noch nie ein Problem für dich! Ich habe zu zählen aufgehört, wie vielen du das Herz gebrochen hast, weil du das Interesse an ihnen verloren hast. Einige haben sich sogar an meiner Brust ausgeweint.«

»Ja stimmt, aber ich glaube, mit dem wird es schwierig.«

Die Bedienung brachte das bestellte Essen, sie aßen schweigend, orderten noch Kaffee und Tom bestellte zusätzlich ein großes Stück Apfelkuchen.

Jack ernährte sich sehr bewusst und mied Zucker, wo er konnte, aber Tom futterte gnadenlos, wenn es um etwas Süßes ging.

Toms grüne Augen fixierten Jack, der blickte auf. »Was?«, blaffte er.

»Du hast anscheinend ein größeres Problem, als du zugibst, sonst hättest du mir das ja gar nicht erzählt.«

»Hast ja recht, ich will aber damit selbst fertig werden, okay?«

»Ist klar, aber du meldest dich, wenn es Ärger gibt. Von dem Burschen habe ich nichts Gutes gehört. Jack, zu deiner Information! Ich mache mich morgen auf nach Carringten und schau mich um, ich bin in den nächsten Tagen nicht in San Franzisko. Also pass auf dich auf!«, warnte Tom.

Sie besprachen noch einiges miteinander, und nach einem gegenseitigen Schulterdrücken ging ein jeder seiner Wege.

Jacks Weg führte zurück ins Planungsbüro und Tom ging zu seinem Auto, einem unscheinbaren grauen Ford Focus. Für ihn und seinen Beruf war das genau das richtige Auto. Man fiel damit nicht auf und es hatte eine annehmbare Größe.

Er machte sich Gedanken über Jack, der Typ, den er da aufgerissen hatte, war völlig untypisch für ihn. Jack war ein Ästhet, den schönen Dingen zugetan, außerdem ein durch und durch korrekter und sanfter Charakter. Hoffentlich ging die Trennung gut über die Bühne.

Tom hatte Gregs Visage nie zugesagt. Ihm war der unstete Blick aufgefallen, mit dem er andere visierte. Außerdem hatte er Greg beim Boxen zugesehen und es hatte ihm nicht gefallen, wie der gerade auf Schwächere brutal eingeschlagen hatte. ,Doch ich muss Jack auch was zutrauen, hab ich ihm doch einige Kampftricks beigebracht‹, grinste er in sich hinein.

Tom war Jack sehr zugetan. Als er nach dem Flugzeugunglück in der Familie Stolberg aufgenommen worden war, hatten sich besonders Jack und seine Mutter Emmy um ihn gekümmert. Mit der liebenswürdigen Art, die diesen beiden eigen war, wurde er immer wieder aus dem tiefen Trauerloch geholt, in das er mehrmals zu fallen drohte, weil ihm der Verlust seiner Eltern so zu schaffen machte.

Also nahm er sich vor, diesem Greg ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Das wollte er aber nicht persönlich, vielmehr sollte das einer seiner Mitarbeiter machen.

Mit diesen Gedanken fuhr Tom in Richtung seiner Detektivfirma.

Kapitel 5

Jack Stolbergs Entscheidung

Nachdem Jack den Nachmittag mit Einholen von fachlichen Informationen über europäische Hotelbauten in Naturgebieten verbracht hatte und ihm auch bewusst wurde, wie viel Arbeit das werden würde und erst recht das Umsetzen der neuen Erkenntnisse, schloss er seinen Laptop, zog sich an und verließ sein Büro.

Doch zuvor schaute er noch bei seinem Vater vorbei und erfuhr, dass dieser wie angekündigt den Kontakt zum Bürgermeister der geschädigten Gemeinde Carringten hergestellt hatte. Dort wurden die Pläne, das Grundstück zu kaufen und darauf ein Hotel bauen zu wollen, mit Hoffnung und Freude aufgenommen. In den nächsten Tagen, wenn dort alle Anrainer verständigt waren, um das weitere Vorgehen zu besprechen, wollte man sich wieder kontaktieren.

Als Jack gegangen war, lehnte sich Lars Stolberg in seinem Sessel zurück und dachte lange nach. Er war nicht nur über den Verlauf sehr zufrieden, es war in ihm eine erwartungsvolle Spannung erwacht, wie sich die Sache weiter entwickeln würde.

Er musste das unbedingt seiner Frau Emmy erzählen. Er war schon gespannt, wie seine bessere Ehehälfte darauf reagieren würde, dass sie bald wieder ein neues Projekt hatten.

Sie war damals, als sie sich kennenlernten, nicht nur das hübscheste Mädchen weit und breit, sondern hatte auch einen sehr feinen Geschmack in allem, was Inneneinrichtungen betraf. Später hatte sie sich ausbilden lassen, Kurse gemacht und dafür ein Diplom erhalten.

Lars war sehr stolz auf seine Emmy. Sie waren immer ein gutes Team gewesen, ihre Entwürfe hatte er in vielen Anlagen eingesetzt, aber die letzten Jahre war es ruhig geworden in puncto Hotelneubau. Das Projekt in den Wäldern im Norden würde für sie beide eine willkommene gemeinsame Herausforderung werden.

Und das freute ihn besonders, weil er seine Frau so gerne an seiner Seite hatte.

Emmy hatte ihm zwei bezaubernde Kinder geschenkt, die aber im Wesen ganz unterschiedlich waren. Kathy, die Ältere, hatte ein Zahlentalent, konnte gut organisieren und hatte ein gnadenloses Mundwerk. Lars setzte seine Tochter deswegen immer wieder bei schwierigen Verhandlungen ein. Sie bewährte sich und schaffte es oft, einen Weg aus schier aussichtslosen Verhandlungspositionen zu finden. Auf einer ihrer Geschäftsreisen lernte sie ihren späteren Mann, den Computerspezialisten Marco Ponte, kennen und lieben. Das war vor dreizehn Jahren. In dieser Zeit waren seine drei wundervollen Enkel auf die Welt gekommen. Mit ihnen der ganz normale Wahnsinn, den Kinder so mit sich brachten.

Sein Sohn Jack war von der Art her wie seine Frau Emmy. Er hatte ihre Sanftmut, aber auch ihre Kreativität geerbt. Er war ein guter, verlässlicher Sohn und unerlässlich für die Firma, aber Enkel durfte man von ihm keine erwarten.

Mit diesen Gedanken schloss Lars Stolberg seinen Arbeitstag und machte sich auf den Nachhauseweg.

Jack war auf dem Weg zu seiner Wohnung in seinem weißen Camaro Cabrio, das er so gerne offen fuhr. Wie immer konnte er sich dabei entspannen und genoss die Fahrt. Kurz vor seiner Wohnung blieb er vor einem kleineren Laden stehen und besorgte noch ein paar Lebensmittel, um seinen Kühlschrank aufzufüllen. Er kochte sehr gerne selbst und es war ihm lieber, etwas mehr Zeit dafür aufzubringen, als irgendein Fertiggericht in den Mikrowellenherd zu schieben.

Er bog zu dem zweistöckigen Etagenhaus ab, öffnete mit der Fernbedienung das Tor und fuhr zu seinem Parkplatz. »Oh nein«, entfuhr es ihm, als er dort eine männliche Gestalt an der Mauer lehnen sah.

›Ich war einfach zu blöd und geil! Mit dem Kerl was anzufangen war einfach nur dumm! Ja, er ist ganz gut im Bett, hart im Nehmen, fantasievoll und immer bereit. Aber etwas an ihm stößt mich ab. Auf keinen Fall ist er was fürs Herz’, dachte Jack, und laut fragte er: »Greg, wie bist du hereingekommen?«

»Man muss nur schnell genug sein«, mit näselnder Stimme antwortete der dunkelhaarige, bullige Typ mit den auffälligen metallenen Ohrsteckern.

»Du lädst mich ja nie zu dir ein, also habe ich mir selbst Zutritt verschafft.«

»Na super, soviel zur Sicherheit«, stöhnte Jack leise, »ich muss ein Wörtchen mit dem Hausdienst reden.«

Er parkte den Wagen ein, ließ das Verdeck aber unten und stieg aus.

›Ich beende das heute! Er wächst mir über den Kopf, das will ich nicht. Ich muss auf der Hut sein‹, dachte Jack. Laut sagte er genau das Gegenteil: »Na, dann komm mal mit.«

›Ich muss verrückt sein, wenn Tom das erfährt, macht er mir die Hölle heiß. Andererseits hat er mir auch was beigebracht. Immer genau beobachten und nie den Gegner aus den Augen lassen.‹

Sie fuhren mit dem Lift nach oben in den zweiten Stock, wo Jack eines von acht Apartments bewohnte. Er öffnete die Wohnungstür und Greg drängt sich noch vor Jack in den Wohnbereich hinein.

»Du hast es aber eilig« - murmelte Jack und schloss schnell die Tür, eilte in die Küche, wo er rasch die Lebensmittel abstellte. Er wollte Greg nicht zu lange aus den Augen lassen.

Dieser durchstreifte neugierig die hellen, freundlichen Räume mit den großen Fenstern, machte die Balkontür auf, ging frech nach draußen und sah sich um. Eine Hängematte war zwischen großen Topfpalmen gespannt und daneben lud ein hübsches Ensemble von Gartenmöbeln zum Kaffeetrinken ein.

Dann beugte er sich übers Geländer und pfiff laut zwischen den Zähnen, weil er zwei Etagen darunter den großen Swimmingpool erblickte, umrundet von einer gepflegten Grünfläche, die mit Liegestühlen bestückt war.

Endlich habe ich mal einen reichen Typen, wäre doch gelacht, wenn ich den nicht ein wenig abzocken könnte.

Aber wirklich begeistert war Greg von dem XXL-Fernseher im Wohnzimmer mit dazu passender heller Ledercouch.

»Das ist ein Gerät, Jack, schauen wir uns dann nachher was an?«

»Wieso nachher, nach was?«, fragte der Angesprochene.

»Nach dem Sex natürlich«, mit dieser Ankündigung drängte er seinen Körper an den von Jack. Griff ihm mit der einen Hand in den Schritt, mit der anderen Hand fuhr er ihm unter das T-Shirt, streifte es hoch und lecke ihm über den Bauch.

Jack keuchte auf, aber nicht vor aufkommender Lust, vielmehr war ihm der Typ einfach zu frech, zu übergriffig, zu unsensibel.

Er packte den um einiges kleineren Kerl bei den Händen, hielt ihn von sich weg und zischte ihn an. »Lass das sein, ich will jetzt nicht, ich will auch in Zukunft nicht mehr!«

Greg wurde ganz wild. »Was, du stößt mich weg? Du verdammtes reiches Weichei!«, kreischte er. Riss sich los und holte mit seiner rechten Faust aus, um Jack einen Haken zu versetzen.

Der konnte den Schlag mit der Schulter abblocken und wurde jetzt so richtig wütend. Mit schnellem Griff schnappte er Greg bei der Nase und drückte fest zu.

Der schrie laut auf. »Du mieser Wichser, was fällt dir eigentlich ein, meine Nase so zu behandeln, das tut weh!« Greg verlor gänzlich jede Zurückhaltung und ging brüllend mit erhobenen Fäusten auf Jack los.

Der dachte sich ganz ruhig: ›Jetzt löst sich dieses Verhältnis von selbst.‹ Und laut sagte er: »Greg, nimm die Fäuste runter und beruhige dich, sonst schmeiße ich dich sofort raus!«

Als Antwort kam ein linker Haken und der Wütende stürzte sich mit irrem Gesichtsausdruck auf ihn. Jack konterte zuerst mit der rechten Faust, dann folgte eine linke Gerade, die Greg am Kinn traf, und er ging zu Boden.

›So, mein Junge‹, dachte Jack, ›ich war immer der bessere Boxer im Sparring, das hast du wohl vergessen.‹ Er fackelte nicht lange, griff Greg unter die Achseln, schleifte den Benommenen zur Tür, schnappte sich im Vorbeigehen die Autoschlüssel vom Bord, zerrte die Person hinaus in den Flur, drückte die Tür zu und hievte den noch immer Schlappen in den Lift. Fuhr denselben Weg, den sie vor eine Viertelstunde zuvor genommen hatten, hinunter in die Garage. Dort warf er Greg in seinen Wagen, fuhr hinaus aus der Garage, dann beschleunigte er den Camaro, um nach einigen Häuserecken in der Nähe des Boxcenters stehen zu bleiben.

Er beugte sich zum Nebensitz, öffnete die Tür und knurrte: »So Greg, hier trennen sich unsere Wege für immer! Ist das klar! Wenn ich dich nur in der Nähe von meiner Wohnung sehe, hetze ich die Bullen auf dich! Los, aussteigen!«

Wütend stemmte sich Greg aus dem Sitz. »Ich werde mich rächen, du mieser Hund!«

»Raus!«, schrie Jack und drängt den anderen mit seinen Fäusten aus dem Auto, dann gab er so heftig Gas, dass die Autotür mit einem Ruck zufiel. Fuhr mit quietschenden Reifen einen Halbkreis, sodass er mit der Motorhaube wieder in die Richtung schaute, woher er gekommen war.

»Puh,« seufzte er. ›Ich hab‹s geschafft, war gerade kein netter Abschied, aber lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Und jetzt lasse ich mich lange nicht mehr in dieser Gegend blicken, ich habe in nächster Zeit extrem viel Arbeit, weil ich mich um diese neuen Standards kümmern muss. Außerdem werde ich meine Schwester und die Kinder wieder einmal besuchen und mit Marco einen trinken gehen.

Heute Nacht schlafe ich bei meinen Eltern, da war ich auch schon lange nicht mehr. Jetzt hole ich noch ein paar Sachen, dann rufe ich Mutter an, und ach ja, Tom sage ich auch Bescheid.’

Nachdem er diese Vorsätze gefasst hatte, fühlte sich Jack richtig erleichtert und voller Tatendrang.

Kapitel 6

Die indianische Bevölkerung rund um den Talsee

Es war so um 1850, als eine Gruppe von 100 Cherokee-Indianern bei den Bewohnern des Talsees, im Norden des Staates Kalifornien gelegen, um Aufnahme bat. Sie waren bei Nacht und Nebel aus ihren angestammten Gebieten im Osten der USA geflohen. Hauptsächlich Familien, keine alten Leute waren dabei und auch keine kleinen Kinder, diese hätten die Strapazen nicht überstanden. Sie wurden von zehn schwer bewaffneten Kriegern beschützt und bewacht. Ihre Flucht war gut vorbereitet und geplant.

Die Cherokees fanden in den Wäldern um den Talsee ihre zweite Heimat. Sie konnten sich an ihre neue Umgebung schnell anpassen. Ihr Wissen um den Anbau von Pflanzen setzten sie in ihrer neuen Heimat zum Wohle aller ein und machten das Land um den Talsee urbar. Sie legten geschickt kleine Felder an, wo sie am Boden Kürbiskerne pflanzten, dann kam die Bohnensaat und dazwischen der Mais, der hoch darüber hinaus wuchs. Mais-, Kürbis und Bohnensamen hatten sie von zu Hause mitgebracht. Sie erlernten die Sprache ihrer Gastgeber und setzten ihr fortschrittliches organisatorisches und kulturelles Wissen ein, um auch eine gemeinsame Lebensstruktur miteinander zu erlangen.

Die Talbewohner wiederum konnten ihre lebenslangen Erfahrungen mit dem Land einbringen. Sie wussten, wie man durch den harten Winter kam, wo die Lawinen von steilen Hängen niedergingen, wie hoch im Frühjahr der See über die Ufer stieg, wie man mit den wilden Tieren umging. Mit der Zeit vermischten sich die beiden Stämme, selbst die Verständigung untereinander wurde zu einer Sprache und sie wurden ein Volk, sie nannten sich »Die vom Talsee.«

Die Menschen, die aus diesen Verbindungen hervorgingen, waren von schlankem Wuchs, nicht sehr groß, mit dunklen glatten Haaren und hellbraunen Augen. Neben dem Pflanzenanbau jagten sie in den Wäldern Rehe, Hirsche und Wildschweine und legten Fischteiche an. Sie wohnten in festen Häusern aus Stein und aus Holz, da die Winter kalt und sehr schneereich waren.

Von jeher herrschte eine demokratische Grundhaltung in der Gemeinschaft, wichtige Entscheidungen wurden von erfahrenen und meist älteren Männern und Frauen getroffen. Entscheidungen, die das tägliche Leben und das öffentliche Interesse betrafen, seien es Feste, die es zu feiern galten, Rituale, die abzuhalten waren oder die vielfältigen Gefahren, die die Dorfgemeinschaft bedrohten und denen zu begegnen war.

Die Gemeinschaft wehrte sich gegen Goldsucher, die immer nach neuen Claims ausschauend durch die Wälder streiften, gegen skrupellose Gesetzlose, die die Dorfleute überfielen, gegen marodierende Soldaten oder Vertriebene, alle nach einem Stück Land suchend und verzweifelt genug, sich mit Gewalt und Blutvergießen zu nehmen, was sie wollten. Noch härter war der Kampf um das Überleben, wenn die Winter gar zu streng waren und große Raubtiere wie Wolf, Berglöwe und Bär, nicht mehr genug Nahrung fanden und Menschen als Beute betrachteten.

Sie halfen sich damit, indem sie aus den Nachfahren der Krieger, die damals die Flüchtenden begleiteten, eine schlagkräftige Schutztruppe aufstellten, die sich den vielen Gefahren entgegenstemmte.

Man fing an, die jeweils tapfersten und wendigsten Kinder zu rekrutieren und auszubilden. Buben und Mädchen. Schon im zarten Alter von acht Jahren begann man sie von ihren Familien zu trennen. Sie wurden in körperlicher Ertüchtigung, Selbstdisziplin, im Umgang mit Waffen und verschiedensten Verteidigungstechniken trainiert. Man setzte die fertig ausgebildeten Kriegerinnen und Krieger als Schutz gegen all das ein, was die Dorfgemeinschaft als Bedrohung ansah: gegen feindlich gesinnte Menschen, angreifende Tiere und, wenn die Nahrung im Winter knapp war, auch zum Jagen.

So vergingen die Jahre, die Zeiten änderten sich, auch die Anforderungen an die Schutztruppe, deren Name nun mehr »Die Schattenkrieger« war. Dieser Name spiegelte viel besser die Art ihres Vorgehens und ihrer geheimen Einsätze wider. Ihre Gegner starben nicht mehr im offenen Kampf, sondern verloren ihr Leben auf eine Weise, dass nur in den seltensten Fällen die Exekutive wegen Mordverdacht eingeschaltet wurde. Meistens wurde das plötzliche Dahinscheiden ihrer Opfer als Schlaganfall, Herzinfarkt, Unfall oder Selbstmord diagnostiziert.

Früher waren ihre Waffen Pfeil und Bogen, Schlagstöcke, Messer und Gewehre - jetzt kamen auch allerlei giftige Substanzen zum Einsatz. Sie wurden auf die Spitze von kleinen Wurfpfeilen aufgetragen und in mit Gift gefüllten Phiolen ins Kampfgewand eingenäht. Der Körper und Geist der Schattenkrieger selbst wurden zu einer Waffe und bis zur Perfektion trainiert. Durch strengste Geheimhaltung konnte die Geheimorganisation all die Jahre mitten in der Dorfgemeinschaft existieren. Es wussten immer nur die engsten Angehörigen, ob ein Familienmitglied zu der Kampftruppe gehörte. Wenn ein Schatten im Einsatz starb, musste die Familie den Verlust allein tragen.

Entscheidungen zur Liquidierung der Opfer wurden von den Ältesten des Dorfes und der Führung der Schatten getroffen. In den letzten Jahrzehnten beschränkten sich ihre Einsätze nicht nur auf das Gebiet rund um den Talsee, sondern sie wurden auch in weit entfernte Teile des Landes gerufen. Immer dorthin, wo sich Stammesangehörige in Bedrängnis glaubten oder dem Gemeinschaftswohl geschadet wurde. Der Blutzoll in ihren Reihen war hoch und es gab nur mehr wenige von ihnen.

Das Rekrutieren der Begabten war nicht mehr leicht.

Die Familien murrten und wollten ihre Kinder für diese gefährlichen Dienste nicht mehr hergeben. Lieber verließen sie Talsee und zogen weit fort.

Der extremen Disziplin und Geheimhaltung, die verlangt wurden – ständig härtestes Training, geistige und körperliche Exerzitien zum Erlernen der Techniken, kein Spielen, kein Abhängen mit Gleichaltrigen, keine Discos, kein Alkohol, keine Ernährungssünden – wollten und konnten sich nur mehr die wenigsten unterwerfen.

Belastend für alle Beteiligten war auch, immer ein Doppelleben führen zu müssen, ein Außenstehender durfte niemals von ihren Einsätzen erfahren.

Kapitel 7

Tom Clary fährt nach Norden

Tom war auf dem Weg in den Norden. Er fuhr gerade auf der Interstate 80, lenkte seinen grauen Ford Focus mit der linken Hand und hatte ein gemütliches Tempo angeschlagen.

Er dachte nach, in den letzten zwei Tagen hatte sich einiges zugetragen!

Zuerst einmal hatte Jack auf spektakuläre Weise mit diesem Greg Schluss gemacht, und brenzlig war die Situation allemal gewesen.

Zum Zweiten hatte Jacks Vater alle Fäden in dem Betrugsfall gezogen. Die Leute von Carringten und die Talseebewohner waren zu Verhandlungen mehr als bereit, weil Lars Stolberg ihnen nicht nur einen guten Preis angeboten hatte, sondern ihnen auch anderweitig kräftig unter die Arme greifen wollte.

Im Vorfeld dazu sollte Tom überprüfen, ob ihre Angaben der Wahrheit entsprachen.

Die Investmentmanager und Grundstücksmakler Jerry Cox und Seamus Calloway waren engagiert worden, um eine Anleihe auf ein schönes Grundstück am See zu tätigen.

Sie hatten aber das Projekt nicht nur gründlich in den Sand gesetzt, sondern auch kräftig in die eigene Tasche gewirtschaftet. Durch den Betrug fehlte der Gemeinde das Geld für die außerordentlichen Finanzierungen.

Tom wollte sich bei den Menschen dort erkundigen, wie sie zu der neuen Idee standen, dem Hotelbau. War der für sie willkommen? Oder kamen da noch Widerstände ans Tageslicht?

Da die Abfahrt Richtung der Shasta-Kaskaden gleich kommen würde, musste er sich jetzt konzentrieren und dann durfte er die Ausfahrt 56 in Richtung Redding nicht versäumen - Tom war selbst noch nie so weit in den Norden gekommen. Anscheinend war das eine wunderschöne Gegend, riesige Wälder mit mächtigen Bäumen, hohen Bergen und Flüsse mit rauschenden Wasserfällen. Er hatte vor, zwei Tage zu bleiben, sich umzuhören und dann Lars und Jack Bescheid zu geben.

Nach einer insgesamt fünfeinhalbstündigen Fahrt erreichte er das Städtchen Carringten. Es war früher Nachmittag und er nahm sich ein Zimmer direkt in der Stadt und nicht im Motel an der Straße. Eine freundliche ältere Dame, die an der Rezeption wachte, gab ihm den Zimmerschlüssel und fuhr gemeinsam mit ihm in einem schmalen alten Lift in den zweiten Stock.

Tom ließ sich aufsperren, und ohne dass er fragen musste, erzählte ihm Carrie Ottenshaw einiges über sich und Carringten. Sie war Witwe, ihr Mann war vor drei Jahren gestorben und sie führte mit ihrer Tochter Judy das kleine Hotel.

Tom hörte ihr zu und erfuhr, dass die Stadt einen Geldverlust hatte hinnehmen müssen, dass der Bürgermeister ein leichtsinniger Trottel gewesen war und ihr das garantiert nicht passiert wäre.

Mrs. Ottenshaw erklärte, dass sie diesen beiden Managern nie vertraut hätte, weil sie so protzig aufgetreten seien, und viele Bürger wären der gleichen Meinung gewesen.

Aber der Bürgermeister sei nicht allein so dumm gewesen, auch der Sheriff und die hiesigen Anwälte wären auf diese Betrüger hereingefallen.

Aber es gäbe einen Hoffnungsschimmer, erklärte sie, es hätte sich eine große Firma gemeldet und sich für das Grundstück interessiert.

Im gleichen Atemzug informierte sie Tom, dass es Frühstück von 7 bis 9 Uhr gäbe und er, wenn er wolle, hier auch zu Abend essen könne, weil in diesem Hause ohnehin gekocht würde, und ging wieder hinunter zu ihrer Rezeption.

Es hatte den Anschein, dass die Leute sich hier weit offener gaben, als er es gewohnt war. Tom hatte, ohne fragen zu müssen, schon viel erfahren. Er machte sich ein wenig frisch, und sein nächstes Ziel war ein kleines Café, das er beim Herfahren erspäht hatte. Als er beim Hinuntergehen an der Rezeptionistin vorbeikam, sagte er ihr zum Abendessen zu, und das freute sie anscheinend.

»Um sieben Uhr«, rief sie ihm hinterher.

Draußen auf der Straße blieb er stehen, um sich zu orientieren. Es war ein freundlicher Tag und es gefiel ihm, was er sah. Gehsteige säumten den Straßenrand, parallel daran parkten Autos, Leute gingen auf ab und hatten dort und da etwas zu erledigen, aber ohne Hast und Eile. Man grüßte sich, auch das gefiel ihm, denn aus einer großen Stadt kommend war er das nicht gewöhnt.

Im Lokal bestellte er sich einen Kaffee, und dazu wurde ihm ein Ameisenkuchen empfohlen, denn Süßes musste bei ihm immer sein. Der sogenannte Ameisenkuchen war himmlisch, oben eine Schicht Sahne mit Schokoflocken, dann dunkle herrliche Schokocreme und im Teig verborgen zogen sich Spuren von einem wohlschmeckenden Alkohol. Nachdem er mit großem Vergnügen die Süßigkeit verspeist hatte, ging er zum Zahlen an die Theke und kam auch dort sofort ins Gespräch.

Der molligen hübschen Mittvierzigerin hatte es gefallen, mit welchem Genuss er die Mehlspeise vertilgte, und noch mehr Wohlwollen bekam er, als er sich vorstellte und erklärte, bei Mrs. Ottenshaw zu nächtigen.

Ohne groß danach zu fragen, erfuhr er, wo der Polizeiposten war, das Rathaus, die Touristeninformation und dass die Stadt zwei schleimigen Halunken auf den Leim gegangen war. Und vielleicht, wenn Gott ihnen gnädig war, ein strahlender Investor ihre Geldsorgen in Wohlgefallen auflösen würde.

Er verabschiedete sich formvollendet und dachte, ›Lars, Lars wenn du wüsstest, wie du herbeigesehnt wirst.‹

Sein nächstes Ziel war die Touristeninformation. Sie lag im Erdgeschoß eines hübschen hellblauen, im gregorianischen Stil erbauten Hauses. Die Theke war von einem bärtigen grauhaarigen Mann besetzt, der ihm mit freundlichem Lächeln entgegensah.

»Was kann ich für sie tun, Mister?«

»Clary, Tom Clary, ich interessiere mich für die Gegend hier, wo sind die schönsten Plätze? Wie komme ich zum See - gibt es hier auch einen Flugplatz für Kleinflugzeuge?

Sie müssen meinen Redeschwall entschuldigen, aber mein Ziehvater will alles genau wissen und für ihn schaue ich mich um.«

»Ich hole ein paar Prospekte und eine Karte, die sehen wir uns gemeinsam an. Mein Name ist Leander Horten, sagen sie bitte Leo zu mir.«

»Tom wäre mir auch angenehm!«