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Dunkle Flut E-Book

Isa Maron

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Beschreibung

»Dunkle Flut ist ein düsterer Thriller, messerscharf und rasant geschrieben und mit einer genialen Plotline.« Sebastian Fitzek Ein mysteriöser Mordfall in Amsterdam-Nord: An einer Laterne hängt ein toter Mann. Die Szene erinnert an eine berühmte Rembrandt-Zeichnung. Durch Zufall ist Kyra Slagter eine der ersten am Tatort. Die 19-Jährige will unbedingt Polizistin werden. Auf eigene Faust beginnt sie zu ermitteln, was Maud Mertens, die mit dem Fall betraut wird, natürlich nicht gefällt. Die altgediente Kommissarin hat eine pubertierende Tochter zuhause und nimmt die selbsternannte Kollegin zunächst nicht ernst. Aber dann findet Kyra eine Spur – und gerät selbst ins Visier des Täters, dessen Blutgier noch lange nicht gestillt ist. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Gelingt es Mertens den Mörder zu fassen, bevor es zu spät ist? Die Nordsee-Morde: Band 1: Dunkle Flut Band 2: Kalte Brandung Band 3: Schwarzes Wasser Band 4: Tödliche Gezeiten

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Seitenzahl: 508

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Ein mysteriöser Mordfall in Amsterdam-Noord: An einer Laterne hängt ein toter Mann. Die Szene erinnert an eine berühmte Rembrandt-Zeichnung. Durch einen Zufall ist Kyra Slagter eine der Ersten am Tatort. Die 19-Jährige will unbedingt Polizistin werden. Auf eigene Faust beginnt sie zu ermitteln, was Maud Mertens, die mit dem Fall betraut wird, natürlich nicht gefällt. Die altgediente Kommissarin hat eine pubertierende Tochter zu Hause und nimmt die selbst ernannte Kollegin zunächst nicht ernst. Aber dann findet Kyra eine Spur – und gerät selbst ins Visier des Täters, dessen Blutgier noch lange nicht gestillt ist. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Gelingt es Mertens, den Mörder zu fassen, bevor es zu spät ist?

© Y. Compier Ceejay

Isa Maron, geboren 1965, ist Autorin mehrerer er folgreicher Kriminalromane und gilt in den Niederlanden als eine der Meisterinnen ihres Genres. Ihr Debüt ›Passiespel‹ wurde 2008 als bester Frauen-Thriller des Jahres ausgezeichnet.

Bei DuMont in der Reihe der Nordsee-Morde bisher erschienen: Band 1: Dunkle Flut (März 2016) Band 2: Kalte Brandung (September 2016) Band 3: Schwarzes Wasser (Juni 2017)

ISA MARON

DUNKLE         FLUT

DIE NORDSEE-MORDE

Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer

eBook 2016

DuMont Buchverlag, Köln

Die niederländische Originalausgabe erschien 2014

unter dem Titel ›Galgenveld‹ bei Uitgeverij Mistral, Amsterdam.

© Isa Maron 2014

Published by agreement with Overamstel Uitgevers B.V.

© 2016 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Stefanie Schäfer

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildungen: Wasser © underworld/fotolia.com;

Leuchtturm © franzeldr/fotolia.com; Möwe © MauritiusImage/Alamy

Satz: Angelika Kudella

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook: 978-3-8321-8915-0

www.dumont-buchverlag.de

1

Montag

Wieder dieser Traum. Immer derselbe verdammte, erstickende Traum. Kyra Slagter liegt im Bett, im Jogginganzug, eine Tasse dampfenden Kamillentee neben sich auf dem Nachttisch. Manchmal hilft das, die quälenden Gedankenschleifen zu unterbrechen, dem Herumwälzen ein Ende zu machen. Aber diesmal nicht.

Mama sitzt am Küchentisch, das Handy klingelt, sie geht dran. Sonntagmorgen. Ihr rosafarbener Kimono klafft vorne etwas auf, man sieht den Spitzen-BH. Sie stellt die Kaffeetasse hin, ohne einen Schluck getrunken zu haben. Ihr Gesicht ist schreckverzerrt. So sieht Todesangst aus.

Kyra rollt sich fluchend auf die Seite, schaltet die Nachttischlampe ein und greift zu ihrem Buch. Sie gähnt. Kapitel 11. »An Introduction to Crime Reconstruction. Insect Activity«. Fliegen, Ameisen, Käfer. Blutige Wunden voller Eier und Maden. Der schwarze geöffnete Mund eines Toten, der dem Schmeißfliegennachwuchs sicheren Unterschlupf bietet.

Mama wird schlagartig leichenblass. Sie will etwas sagen, aber verschluckt sich am eigenen Speichel. Sie hustet. Weint. Lässt sich nicht beruhigen. Den ganzen Tag über wiederholt sie gebetsmühlenartig – anderen gegenüber, aber auch zu sich selbst: Das ist nicht gut, das ist nicht gut …

Sechzig Kilometer. Eine Fliege kann einen Kadaver unmittelbar nach dem Tod in einem Radius von sechzig Kilometern riechen. Innerhalb von acht Stunden werden die ersten Eier gelegt. Manchmal fast unmittelbar nach Eintritt des Todes. Nach fünfzehn Stunden schlüpfen die ersten Larven, die vom Fleisch der Leiche zehren.

Panik. Vater, Mutter und Bruder reden durcheinander, und ihr dreht sich der Kopf. Ist sie … Kann es sein … Könnte … Vielleicht … Jarno verschickt fieberhaft SMS. Mama macht sich erbittert Vorwürfe. Sie hätten viel früher … Warum haben sie nicht … Wenn …

Bereits nach dreißig Minuten können sich Leichenflecken bilden. Das Blut sammelt sich an den am tiefsten gelegenen Körperstellen. Dreht man die Leiche um, verlagern sich die Leichenflecken. Das Phänomen hält so lange an, bis sich das Blut zu zersetzen beginnt.

Die Sonne scheint ihr in die Augen. Sie sieht alles grellweiß. Sie hat etwas verloren. Sie blickt sich panisch um. Wo zum Teufel ist es? Sie wird sterben, wenn sie es nicht findet. Jemand wird sterben, wenn sie es nicht findet.

Ihre Mutter schreit. Schrill und gellend. Wie eine Industriesäge, die durch Hartholz fährt. Kyra hält sich die Ohren zu. Sie steht in der Küche. Der Wasserhahn läuft. Sie will ihn abstellen, wagt aber nicht, die Hände von den Ohren zu nehmen.

Mama läuft in der Küche auf und ab. Sie hat kein Gesicht. Kyra sieht nur ihre Hände, die an den Kopf greifen, sich verschränken wie zum Gebet. Dieses entsetzliche Klagelied! Dieses Heulen! Sie kann es nicht ertragen. Die Trauer von Generationen scheint darin mitzuschwingen. Krankheit, Verlust, Tod.

Plötzlich steht Jarno in der Küche, einen großen Koffer neben sich. Er brüllt etwas, bedrohlich und tief. Sie beginnt zu zittern.

»Wir müssen los!«, ruft ihr Bruder. »Sofort!«

Aber ich habe etwas verloren, denkt Kyra. Ich muss es suchen. Ich brauche es unbedingt. Die Angst ist erdrückend. Eine Unruhe erfasst sie, ein mächtiger Drang zu fliehen. Sie muss … sie muss … Sie weiß nicht was.

Sie machen sich auf den Weg. Mutter, Vater, Bruder. Sie stehen auf der Straße, im alles überstrahlenden Sonnenlicht. Die Häuser wachsen, dehnen sich aus, berühren einander irgendwo hoch über ihr. Es wird dunkel.

»Du nicht«, sagt ihre Mutter, während sie in ein riesiges Auto einsteigt. »Du bist noch zu klein.«

Sie hat etwas verloren.

Ihr Handy klingelt und reißt Kyra Slagter aus ihren Träumen. Mein Gott, denkt sie. Wer ist das? Was ist passiert? Ihr Herz klopft heftig. Da ist er wieder, dieser Fluchtimpuls. Sie stützt sich hoch und spürt, dass eine Buchseite an ihrer Wange klebt. Sie löst sie und sieht im Schein der Leselampe neben dem Bett die Bilder, von denen ihr gestern übel geworden ist: die nüchternen Autopsiefotos eines ermordeten Kindes.

Wieder leuchtet das iPhone auf, spielt eine Melodie. Jarno. Sie nimmt ab, sagt »Ja?«, ihre Stimme klingt belegt und brüchig. Ihr Bruder legt ohne Begrüßung los. Was für ein Glück, dass ich beim Lesen von Criminal Profiling eingeschlafen bin, denkt Kyra, noch in Jogginganzug und Socken. Das spart das Anziehen. Innerhalb von Minuten ist sie unten, hat ihren Roller gestartet und rast am Noordhollands Kanaal in Richtung IJ.

Die Natur schimmert in satten Grüntönen durch den dichten Nebel. Es kommt ihr vor, als flöge sie in einer kleinen, hellen Luftblase durch die weißen Fetzen. Noch immer hat sie das ermordete Mädchen aus dem Buch vor Augen. Den leicht geöffneten Mund. Die rosa Klammer im wirren Haar. Die dunklen Flecken am schmalen Hals. Sie schluckt und versucht, das Bild wegzudrängen.

Auf dem langen, schnurgeraden Radweg durch den Florapark ruft sie ihren Bruder zurück.

»Du verarschst mich doch nicht, oder?«

»Um diese Uhrzeit? Ich bin doch nicht bescheuert«, sagt Jarno ernst. »Das war Mord. Ganz sicher. Die Polizei ist noch nicht da.«

»Wie lange hängt er schon da? Kann noch nicht lange sein, was? Liegt kein Stuhl unter ihm, war es kein Selbstmord?«

»Nein, nein, da ist nichts, nur dieser tote Mann am Laternenpfahl.«

»Scheiße! Bis gleich. Bin fast da.«

Johan van Hasseltweg, die Schule, an der ihr Bruder seinen Abschluss gemacht hat – noch etwa eine Minute, dann ist sie da, aber der Weg am Noordhollands Kanaal entlang erscheint ihr auf einmal entsetzlich lang.

Maud Mertens träumt von Urlaub an einem ruhigen Ort – nicht verregnet, aber auch bloß nicht zu heiß, vielleicht in einer kleinen Pension in einer idyllischen Berglandschaft. Ihre Tochter würde sich vermutlich lieber erschießen, als hier mit ihren Eltern rumzuhängen, aber Edwin und sie könnten ausschlafen und hätten nichts Wichtigeres zu tun, als über Wanderwege und das Mittagessen nachzudenken … Das Telefon klingelt. Es dauert einen Augenblick, bis sie die Melodie erkennt. Schnell, in der vergeblichen Hoffnung, Edwin nicht zu wecken, greift sie nach ihrem Handy auf dem Nachttisch.

»Ja?«

Ein Anruf von den Kollegen so früh am Morgen bedeutet in der Regel nichts Gutes. Sie setzt sich auf und wirft einen Blick auf den Wecker. Viertel nach fünf.

»Bin schon unterwegs. Buiksloterveer? Alles klar.«

Sie zwängt sich zwischen Wasserbett und Hometrainer hindurch, zieht rasch ein paar Kleidungsstücke aus dem Schrank und hüpft ungeschickt durchs Zimmer, während sie in zwei Hosenbeine gleichzeitig zu schlüpfen versucht. Na prima. Ein Toter an der Fähre beim Sixhafen. Keine zehn Minuten von dem ruhigen Neubauviertel entfernt, in dem sie seit einem halben Jahr wohnt. Ihr erster Fall in ihrem neuen eigenen Viertel. Handy. Schlüssel. Schnell, schnell, schnell! Mein Gott.

Kyra Slagter holt das Letzte aus ihrem klapprigen Roller heraus. Eine Leiche an einem Laternenpfahl in Amsterdam-Nord, am Ufer des IJ. Wow! Aus heiterem Himmel bietet sich ihr die Chance, dabei zu sein, wenn sich die Polizei an die Arbeit macht, so sieht die Realität aus. Und sie kann alles aus nächster Nähe miterleben! Wurde hier eine offene Rechnung beglichen? Aber mit so etwas würde man eher in Amsterdam-West rechnen. Oder im piekfeinen südlichen Teil der Stadt.

Hauptsache, sie kommt vor der Polizei an. Das ist meine Leiche, denkt sie, mein Mord. Mein Bruder hat sie entdeckt. Und ich wusste als zweite davon. Kyra will alles mitansehen, alles miterleben. Niemand darf irgendetwas unternehmen, bevor sie kommt.

Endlich da. Sie hält auf der Plattform bei der Fähre an, sieht die Leiche – mein Gott, der Mann hat keine Hosen an –, zieht den Roller auf den Ständer und läuft auf Jarno zu, der sich mit einem älteren Mann unterhält. Ein paar Leute haben sich versammelt, gebannt von dem grausigen Bild, das sich ihnen bietet. Kyra nickt ihrem Bruder zu, der mit einer knappen Kopfbewegung antwortet, und geht ohne zu zögern weiter zum Kai Richtung Leiche. Der Mann hängt weit oben in der Luft, an einem etwa sechs Meter hohen Laternenpfahl. Mit dem Rücken zu ihr und dem Gesicht zum Wasser, als sei der Mörder so aufmerksam gewesen, an die Aussicht des toten Mannes zu denken. Kyra erschauert und weicht ein Stück zurück.

Sie blickt sich um zu den Gaffern und überlegt, was sie tun soll. Respektvollen Abstand halten, wie es der Anstand gebietet? In der Ferne hört sie das anschwellende Heulen einer Sirene. Jetzt schon, so schnell? Schön, dass die Ordnungsmacht so gut funktioniert, aber warum so eilig? Gerettet werden muss hier niemand mehr. Nein, nicht respektvoll auf Abstand bleiben, denkt Kyra. Nutze deine Chance!

Sie holt das iPhone aus der Hosentasche und beginnt zu filmen. Erst die Umgebung, den Kai, die Fähre, das Grüppchen von Leuten, den Laternenpfahl, dann den Boden unter dem Mann. Sie bewegt das Smartphone langsam nach oben, filmt die cognacfarbenen Lederschuhe, die schicke Hose, die zerknautscht um die Knöchel hängt, die nackten, leicht behaarten Beine, die schlaffen Hände. Etwas zu hektisch – Details! Details sind alles – huscht sie mit der Kamera über den nackten Hintern und den reglosen Rücken, das Sakko, das blutige Hemd und den nach vorn geneigten Kopf. Das Gesicht des Mannes ist unter üppigen halblangen wilden Locken verborgen. Sie zoomt auf den Hinterkopf, wo sie eine Wunde zu sehen glaubt, oder jedenfalls verklebtes Haar. Und was ist das da an seinem Rücken? Ein Seil? Das Kamerabild ist grob und verschattet, es ist einfach noch zu dunkel!

Sie hört quietschende Reifen hinter sich und sieht, wie ein Polizeifahrzeug quer auf dem Weg zum Stehen kommt. Nur noch wenige Augenblicke, dann werden sie sie wegjagen. Kyra umkreist mit kleinen Schritten das Opfer. Sie wandert mit der Kamera an dem Polizeifahrzeug und am Café De Pont entlang, das dunkel und verlassen daliegt, an der Laufbrücke zur IJ-Promenade und wieder zurück zur Leiche, die jetzt im aufkommenden Wind leicht hin- und herschaukelt. Der Anblick hat etwas unbeschreiblich Trauriges. Der nüchterne Laternenpfahl, der sich plötzlich in einen Galgen verwandelt hat, die unerbittliche Schlinge, die Leiche, die dort in einer so gelassenen Haltung am Strick hängt, den Kopf schief, das Kinn gesenkt. Das Blut. Die Nacktheit des Mannes. Als wäre der Tod allein nicht schon erniedrigend genug.

»Als ich den Kai vor einer halben Stunde verlassen habe, war nichts zu sehen, so neblig war es«, hört sie den Mann brummen, der bei Jarno steht. Sicher der Fährmann. »Ich habe mindestens fünf Minuten hier gelegen, bevor ich wieder rübergefahren bin.«

»Wie viele Fahrgäste sind an Bord gekommen?«

»So fünf, sechs, meine ich. Nicht viele. Es ist eine ungewöhnlich ruhige Nacht gewesen. Bis jetzt jedenfalls.«

Kyra Slagter filmt schnell noch weitere Ansichten des Opfers, merkt aber, dass sie sich nicht mehr konzentriert. Ihre Aufmerksamkeit wird von den Polizisten abgelenkt. Irgendwann werden sie ihre Kollegen sein. Sie ist hautnah dabei. Mitten in einer Folge von Dexter, CSI, Wallander, Luther. Irgendwann werden sie ihre Kollegen sein. Sie sieht, dass sie nur ein Stück neblige Luft gefilmt hat und richtet dann die Kamera auf die Umstehenden und die Polizei. Inzwischen wird es von Minute zu Minute heller.

Ein Polizist telefoniert. Sie hört die Wörter Staatsanwalt und Rechtsmediziner, der Mann spricht von einem Einsatzteam. Dann entdeckt er sie, und winkt sie zu sich. Sie steckt das Handy in die Jackentasche und ignoriert ihn. Das hier ist viel besser als jeder Film, dabei wird dieser Teil der Geschichte immer übersprungen. Die erste Szene startet mit einer Einstellung auf das Absperrband um den Tatort und irgendwelchen Leuten, die in weißen Plastikanzügen umherlaufen. Doch die ersten Minuten, unmittelbar nach dem Fund der Leiche, haben Kyra immer am meisten interessiert. So fühlt sie sich also an, die Ruhe vor dem Sturm.

Sie steht reglos da, den Rücken zum Geländer am Kai, neben dem toten Mann, mit nichts als glucksendem Wasser hinter sich, und überblickt alles. Die Szene erscheint ihr wie unter einem Vergrößerungsglas. Es ist, als würden sich die Nebelschwaden plötzlich verziehen und alle Konturen messerscharf hervortreten. Ultra HD. Sie sieht alles gleichzeitig. Den nervösen Tick des alten Schiffers, der ununterbrochen an der Spitze seines Schnurrbarts zupft. Den unsicheren Blick des jungen Polizisten. Ein Mädchen, das an seinem Handy nestelt. Einen ungepflegten alten Kerl. Zwei Typen, die miteinander reden und gestikulieren. Es herrscht eine seltsame Stille am Kai. Vielleicht liegt es an den letzten Nebelfetzen über dem Wasser und an der Nähe des Toten.

Ein weiteres Polizeifahrzeug trifft ein. Mehrere Beamte steigen aus. Die Rolle mit Absperrband erscheint. Ein Beamter holt eine Fotokamera aus einer Tasche, ein anderer betrachtet die Szene mit dem Camcorder im Anschlag. Unwillkürlich legt Kyra die Hand auf die Jackentasche mit dem iPhone. Vielleicht hat niemand gesehen, wie sie gefilmt hat, und sie kann die Aufnahme behalten. Die ganze Zeit rechnet sie damit, dass einer der Beamten auf sie zukommt und ihr befiehlt, die Bilder zu löschen.

»Hey, du da …« Ein junger Polizist marschiert mit großen Schritten zu ihr hinüber. »Geh mal bitte auf Abstand.« Gereizt mustert er sie. Inzwischen sind es drei Streifenwagen und ein Zivilfahrzeug. Eine hochgewachsene Frau in einem langen schwarzen Mantel mit leuchtend bunten Blumen darauf steigt eilig daraus aus. Desigual, denkt Kyra. Sophie hat letztes Jahr auch so einen getragen. Sie wirft noch einen Blick auf die Leiche am Galgen. Tritt einen Schritt nach vorn. Es ist, als ob … Plötzlich kommt ihr der Tote bekannt vor. Die Locken hatten das Gesicht verborgen, aber jetzt, wo der Nebel sich verzogen hat und die Sonne über dem Hauptbahnhof aufgeht, jetzt, wo sie genau vor ihm steht und seine ganze Gestalt plötzlich deutlich erkennbar wird … Kann das sein? Sie geht noch einen Schritt weiter, schaut zu ihm hinauf. Der auffrischende Wind weht die Haare für einen kurzen Moment beiseite. Das Bild des toten Mannes mit den halb geschlossenen Augen und der unnatürlichen Gesichtsfarbe verschwindet und wird von einem anderen überlagert: derselbe Mann, lebendig, redend, gestikulierend, die Locken lässig nach hinten zu einem Zopf gebunden. Aber das kann unmöglich sein! Ihr fröstelt plötzlich in der dünnen Jeansjacke und der Trainingshose.

»Ich kenne ihn«, flüstert sie dem Polizisten zu, der inzwischen neben ihr steht. »Mein Gott … Das ist Meneer Gaullier!«

2

Maud Mertens steht neben dem Auto, vor ihr das blanke Chaos: Zwei Kollegen sperren eilig den Tatort ab, andere drängen die schaulustigen Berufspendler beiseite, die sich inzwischen eingefunden haben. Die Stadtbusse versuchen, trotz der Menschenmenge wie üblich im Wendehammer der Sackgasse zu drehen. Ein Autofahrer hupt aggressiv, weil er nicht durchkommt.

An dem Laternenpfahl, der rechts von ihr am Kai steht, hängt der Tote. Eine dunkle Gestalt vor verschwommenem Hintergrund. Ein Galgen am Volewijck, denkt Maud Mertens. Wie damals im siebzehnten Jahrhundert, als das menschenleere Ufer dazu genutzt wurde, verurteilte Straftäter zur Schau zu stellen. Ein Freilichtmuseum mit halb aufgefressenen Leichen war das damals.

»Was haben wir?«, fragt Mertens den Einsatzleiter.

»Die Leiche wurde gegen fünf Uhr heute Morgen gefunden.« Der Einsatzleiter, der trotz seiner geringen Körpergröße Autorität ausstrahlt, nickt in Richtung des Opfers. »Vom Fährschiffer und seinem einzigen Passagier. Opfer ist männlich. Wohl schon eine Weile tot, soweit ich das beurteilen kann. Niemand hat etwas gesehen. Wir haben ihn erst mal hängen lassen.«

»Wurde die Staatsanwältin schon informiert?«, fragt Mertens. »Sonderkommando beantragt?«

»Klar.« Der Chef schaut auf die Uhr. »Aber es kann noch etwas dauern. Wie soll’s weitergehen?«

Vor dem Café hält ein Auto und ein Mann mit einer großen Filmkamera steigt aus.

»So schnell wie möglich dichtmachen«, antwortet Mertens. »Schirmt mir die Leiche ab.«

»Ich habe schon nachgefragt, aber wir haben keinen Sichtschutz, der hoch genug ist.«

Mertens blickt hinauf zur Leiche, deren Füße in ungefähr zwei Metern Höhe hängen.

»Ein Zelt passt auch nicht drüber«, bemerkt überflüssigerweise einer der Kollegen, der sich genähert hat.

Improvisieren lernt man nicht auf der Polizeischule, sondern nur in der Praxis, und manchmal ist es verdammt mühsam. Am Absperrband stehen bereits Fotografen. Wo kommen die bloß so schnell her? Sie muss so rasch wie möglich herausfinden, wer der Mann ist und seine Angehörigen informieren.

»Bevor die Fähre ablegt, will ich, dass die Namen aller Passagiere notiert werden«, sagt sie. »Am besten sofort.«

Sie blickt sich um. Ein paar Meter weiter sieht sie ihren Kollegen Niels Bingsten mit verschlafenem Gesicht aus dem Auto steigen. Groß, mager, ein bisschen schlaksig – er sieht aus wie ein verwirrter Professor, ist aber ein hervorragender Polizist. Sie kennen einander schon seit Jahren.

»Fotografieren und Spuren sichern«, sagt sie zu den beiden Kriminaltechnikern. »Alles. Vom Kai bis hinter das Gebäude. Einschließlich der Fahrradständer und der Terrasse da.«

Als Bitter, der Einsatzleiter, die Augenbrauen hochzieht, schüttelt sie den Kopf.

»Ich weiß. Trotzdem will ich jede Zigarettenkippe und jedes Schokoladenpapierchen haben. Man weiß nie. Und schickt die Journalisten weg. Oder besser, trommle sie alle zusammen, um die Ecke, am Café. Ich will den Schlamassel hier innerhalb von fünf Minuten abgeschirmt haben.« Mertens deutet mit dem Arm in Richtung der Fähre und der Laufbrücke ein Stück weiter. Es sind die besten Plätze zum Fotografieren, und auch wenn das Abschirmen schwierig werden wird, der Tote hat ein Recht auf Privatsphäre.

Wieder blickt sie sich um, zu den Fahrradfahrern und den Jugendlichen auf Motorrollern, den Fußgängern, die sich auf dem Kai versammeln, den Bussen und Autos, die sich überall hindurchdrängen und weitere Horden von Pendlern ausspucken. Eine unaufhaltsame Welle, die über ihren Tatort strömt.

»Das Mädchen da«, sagt sie verärgert. »Warum steht die so nah bei dem Opfer?«

»Sie sagt, dass sie ihn kennt«, antwortet der Einsatzleiter, während sich Mertens unter dem Band hindurchduckt und in Richtung des Laternenpfahls läuft.

»Ich rede mit ihr. Veranlasst du alles Weitere?«

Der Einsatzleiter nickt und entfernt sich, um seine Leute zu koordinieren. Mertens geht auf die junge Frau zu, die konzentriert auf die Leiche blickt.

»Ich glaube nicht, dass er erwürgt wurde«, sagt das Mädchen, während es merkwürdigerweise nicht aufhört, die Leiche anzustarren. Sie ist um die achtzehn, nicht besonders groß, vielleicht ein Meter siebzig. Ungekämmtes blondes Haar in einem nachlässigen Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie trägt einen grauen Jogginganzug und eine dunkelblaue Jeansjacke. Typ Fußballerin, denkt Mertens. Draufgängerisch, Miley Cyrus mit langen Haaren.

»Wahrscheinlich wurde er an einem anderen Ort getötet und hier aufgehängt«, bemerkt sie. Sie hat die Füße schulterbreit aufgestellt, die Knie überstreckt, die Hände in die Taschen gebohrt. »Schauen Sie mal seinen Hinterkopf an und das Hemd. Da ist eine ganze Menge Blut drauf.«

Maud Mertens betrachtet kurz die Leiche, wirft einen verärgerten Blick zur Seite, aber das Mädchen schaut sie noch immer nicht an. Sie hält den Kopf ein wenig schief und kneift die Augen halb zu.

»Die runtergezogene Hose ist bestimmt ein Statement«, sagt sie jetzt. »Erniedrigung. Jemand will ihn in jeder Hinsicht bloßstellen.«

Was macht sie hier? Welcher Idiot hat erlaubt, dass sie bei der Leiche rumhängt, verdammt noch mal?

»Könnte auch einen sexuellen Hintergrund haben«, fährt das Mädchen unbeirrt fort. »Aber dann müsste man damit rechnen, dass sein Geschlecht verletzt wäre, oder vielleicht der After.«

»Kennen wir uns?«, fragt Maud Mertens, während auch sie wieder den Toten betrachtet. Der Unterleib des Typen scheint unverletzt zu sein. Da plötzlich dreht sich die Göre zu ihr um und streckt ihr mit forschendem Blick in den grünen Augen die Hand hin. Ein offenes Gesicht, fröhlich – aber auch unverfroren, mit einem leicht zynischen Zug um den Mund.

»Kyra Slagter«, sagt sie. »Der Mann ist Kunstlehrer an meiner Schule. Mein Bruder hat die Leiche gefunden. Und nein, wir kennen uns nicht.«

»Maud Mertens, Kripo.« Und jetzt hau ab, denkt sie.

Jetzt, da das Sonnenlicht auf die Leiche fällt, kann sich Kyra nicht erklären, warum sie Marc Gaullier nicht eher erkannt hat. Aber es ist so seltsam und völlig absurd, dass hier überhaupt eine Leiche hängt. Und dass es jemand ist, den sie kennt, ist noch viel absurder.

Marc Gaullier. Tot. Der ausgesprochen attraktive Kunstlehrer, in den ungefähr die halbe Schule verliebt ist. Er trägt einen Anzug. In der Schule hatte er immer Freizeitkleidung an. Weiße Leinenhemden, hellblaue Jeans, so ein bisschen der Künstlertyp. Sneakers. Jetzt hängt er hier in grauen Nadelstreifen, blutverschmiert, halb nackt, mit altmodischen Herrenschuhen an den Füßen. Solche Dinger, wie ihr Vater sie trägt. Es ist klar, dass er nicht hier gestorben ist, sondern irgendjemand ihn später aufgehängt hat. Zur Schau gestellt. Sie muss der Kripotante alles erzählen, was sie weiß.

»Ich muss Ihrem Bruder ein paar Fragen stellen«, sagt die Beamtin. »In ein paar Minuten.« Sie blickt hinüber zu der Gruppe um Jarno. »Bitte warten Sie da drüben.«

»Ich habe ihn zuerst nicht erkannt«, sagt Kyra. Diese Frau kapiert es nicht. Wie soll sie es auch kapieren. »In der Schule trägt er nie einen Anzug. Und auch die Haare nicht offen, so wie jetzt. Er ist übrigens achtunddreißig. Verheiratet, wohnt hier in der Nordstadt. Dort hat er auch sein Atelier: Er unterrichtet am Damstede.«

»Einer von meinen Kollegen wird Ihre Aussage gleich aufnehmen«, sagt Mertens. Sie scheint darauf zu warten, dass sie geht, aber Kyra überlegt krampfhaft, wie sie Maud Mertens dazu bringen kann weiterzureden, damit sie noch einen Moment in der Nähe bleiben und genau beobachten kann, was weiter geschieht.

»Jetzt gehen Sie schon«, sagt die Kripobeamtin und zeigt zu der kleinen Gruppe von Leuten hinter dem Flatterband. »Vielen Dank.«

»Er wohnt am Nieuwendammerdijk«, sagt Kyra, während sie sich langsam zurückzieht. »Amsterdam-Nord ist ein Dorf. Ich würde schnell seine Frau benachrichtigen, wenn ich Sie wäre.«

Sie stellt sich zu der Gruppe von Zeugen, deren Zentrum ihr Bruder und der Schiffer bilden. Sie werden von zahlreichen Leuten umringt. Alles Neugierige, genau wie sie. Ein Unglück ist wie ein schwarzes Loch. Es saugt alles in seiner Umgebung auf. Es zerrt an dir, auch wenn du dich wehrst. Es hört erst auf, wenn die Ursache eliminiert ist.

Sie greift nach ihrem Handy, um endlich Wim anzurufen – wenn sie jemals einen Grund hatte, dann jetzt, er muss das wissen, das verändert alles –, aber Jarno ist gerade fertig und dreht sich zu ihr um.

»Bizarr«, sagt er. »Ich dachte, ich hau mich noch schnell ein Stündchen aufs Ohr und fahre danach an die Uni. Und dann hängt da einfach so eine Leiche. Ich musste sofort an dich denken, du mit deinem Mordhobby.«

»Ich kenne ihn«, sagt Kyra leise. Sie versucht, ruhig zu bleiben, aber in ihrem Kopf schwirren die Gedanken durcheinander wie ein Bienenschwarm. Fragen über Fragen sausen mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch ihren Kopf.

Ihr Bruder schaut sie erstaunt an.

»Wie bitte?«

»Das ist unser Kunstlehrer. Marc Gaullier. Der da hinten am Deich.«

»Im Ernst?«

»Ja, ich hatte bei ihm Kunst. Der Extraunterricht letztes Jahr, weißt du noch?«

»Ach du Scheiße, ich hab ihn gar nicht wiedererkannt! Ich dachte, das wäre irgendein Drogendealer. Oder ein Zuhälter, was weiß ich.«

Nachdenklich starrt Jarno in Richtung des Toten und spricht aus, was sie denkt.

»Warum sollte den jemand ermorden? Und warum so?«

Die Polizei ist jetzt dabei, das abgesperrte Areal zu erweitern. Es werden hohe Sichtschutzwände aufgestellt und der Strom Fußgänger – die morgendliche Hauptverkehrszeit strebt ihrem Höhepunkt zu – auf die andere Seite des Cafés De Pont umgeleitet, wo ebenfalls eine Absperrung errichtet wurde, sodass die ganze Umgebung rund um den Mann jetzt abgeschottet ist.

Was ist bloß los mit den Mädchen in diesem Alter?, denkt Maud Mertens verärgert. Doch bevor sie – wie üblich – feststellt, dass sie die Antwort nicht weiß, wird sie vom Klingelton ihres Handys gestört. Slagter, woher kennt sie den Namen? Irgendwo hat sie ihn schon mal gehört. Sie muss gleich mal Niels fragen, der weiß es bestimmt.

»Hallo, Schätzchen«, sagt ihre Mutter.

Mertens schaut auf die Uhr. Tatsächlich, sieben Uhr. »Hallo, Mama. Alles in Ordnung mit dir?«

»Ich habe nicht viel Zeit zum Telefonieren.«

»Ich weiß«, antwortet Mertens geduldig. »Hast du heute etwas Schönes vor?«

»Heute gibt es Eier mit Speck.«

Mertens versucht, sich auf das tägliche Ritual mit ihrer Mutter zu konzentrieren. Sie stellt sich vor, wie die alte Frau in ihrem Zimmer sitzt, mit dem alten grauen Schnurtelefon, ungeduldig zur Tür blickend, wie immer schon mit den Gedanken bei ihrem Frühstück.

»Dann würde ich keine Zeit verlieren.«

»Du hast recht. Ich lege dann mal auf.«

»Mach das. Wir sprechen uns morgen, ja?«

Ihre Mutter legt auf, ohne sich zu verabschieden. Mertens blickt aus der Entfernung zu ihren Kollegen hinüber, die alle sehr beschäftigt sind. Beweise sicherstellen, das ist jetzt das Wichtigste. Sie flucht, als ihr Handy schon wieder klingelt.

»Maud, hier ist Joris Vanstraten. Gebt ihr schon Mitteilungen raus?«

»Ganz bestimmt nicht. Ich bin gerade erst angekommen.« Diese verdammten Presseleute. Glauben, dass sie überall ihre Nase reinstecken dürfen, in den unpassendsten Momenten, und berufen sich dabei auf das öffentliche Interesse.

»Ich frag ja nur«, sagt er beschwichtigend. »Bevor man sich versieht, steht alles Mögliche im Netz, verstehst du?«

»Ich glaube, es ist besser, wenn ich erst mal meine Arbeit mache.«

»Wunderbar. Das versuche ich auch.«

Sie legt auf, ohne ihm zu antworten.

»Ivo!«, ruft sie einem ihrer Kollegen zu. »Fotografiert auch die Umgebung. Die Schaulustigen. Alle.« Man weiß nie.

Sie wendet sich ab von der Leiche und starrt über das Wasser des IJs. Der Hauptbahnhof steht am gegenüberliegenden Flussufer und das neue runde Dach glänzt in der aufgehenden Sonne. Dahinter erstreckt sich die Stadt wie ein Labyrinth, voller Verstecke. Ihr Blick wandert zu den neuen Wohnblöcken am Westerdok und zum Silodam. In der Ferne ragen die Kräne der Häfen auf. Sie dreht sich einmal um die eigene Achse und sieht das Flussufer, das EYE-Museum – niedrig und weiß wie eine kantige Welle –, die Hochhäuser ein Stück weiter. So viele Leute wohnen in dieser Gegend, und dennoch hängt dieser Mann hier, einfach so, mitten in der Stadt. Sie dreht sich weiter herum und stellt sich im Geiste die Fahrradbrücke und den Gehweg zum Museum vor, hinter der Abschirmung, die ihre Kollegen gerade aufgestellt haben. Dann die zwei Parkplätze für Autofahrer, die Leute absetzen oder abholen, das Café mit den Terrassen auf beiden Seiten und das rote Backsteingebäude mit den weißen Butzenfenstern, die Straße und den Fahrradweg in Richtung Norden. Ein Stück weiter gibt es noch die Schleuse über den Kanal in Richtung des östlichen Teils von Amsterdam-Nord.

Obwohl das eine Sackgasse ist – ein Teil der Stadt, der buchstäblich im Wasser endet –, gibt es zahlreiche Möglichkeiten, schnell zu verschwinden. Welchen Fluchtweg hat der Mörder gewählt?

Sie blickt hinauf zum Opfer. Zuerst ihr eigener Eindruck. Sie muss sich ihrer Intuition öffnen. Dann die Fakten, immer mehr Fakten. Dann erst die Meinungen der anderen. Doch vorher muss sie so schnell wie möglich zu seiner Frau, um ihr die schlimme Nachricht zu überbringen, damit hatte die junge Slagter durchaus recht.

Wieder hört sie den Piepton ihres Handys. Diesmal ist es ein Journalist, der ihr per SMS Fragen stellt. Verdammter Mist. Am liebsten hätte sie das Handy auf stumm geschaltet, doch das ist undenkbar in dieser Phase der Ermittlungen. Sie steckt es wieder ein und versucht, sich zu konzentrieren. An den weißen wächsernen Händen des Mannes sieht sie keinen Ehering. Er trägt einen dunkelgrauen Anzug, ein hell violettes Hemd mit dunklen Blutflecken auf der Vorderseite und am Kragen, keine Krawatte. Kein Gürtel in der heruntergerutschten Hose, das ist seltsam. Hochwertige Lederschuhe, neu besohlt, Schnürsenkel ordentlich gebunden. Am Hinterkopf scheint er tatsächlich eine Wunde zu haben, da, wo seine dunklen Locken verklebt sind.

Als sie sich umdreht, sieht sie eine große Gruppe Pressefotografen am Absperrband stehen. Die Kollegen, die die Abschirmung aufstellen, sind noch nicht fertig und an einer offenen Stelle steht ein Typ mit Teleobjektiv. Sie sieht, wie ein Kollege auf ihn einredet, aber er lässt sich nicht beirren. Einfach nicht beachten. Ärgere dich nicht. Konzentriere dich.

Sie mustert die Leiche. Nimmt sich Zeit. In immer weiteren Kreisen geht sie darum herum, bis sie das Gefühl hat, nichts Neues mehr entdecken zu können. Erst dann – und immer noch nagt die Unsicherheit an ihr, ob sie nichts übersehen hat – erlaubt sie den vollständig in weiße Overalls gehüllten Kollegen, zu filmen und zu fotografieren.

»Foto- und Videomaterial der Umgebung außerhalb der Absperrung ist fertig«, meldet Niels Bingsten, während er ihr grüßend zunickt. »Der Rechtsmediziner ist gerade angekommen.«

Ringsherum hört Mertens ununterbrochen den Verschluss der Digitalkameras klicken. Crime Scene Photography, Timo Verdonk hat ihr das siebenhundert Seiten dicke Buch gezeigt. Monatelang hat er zu diesem Thema eine Fortbildung gemacht.

»Wir haben die Aussagen der Leute, die hier rumstanden, als wir ankamen«, sagt Niels Bingsten. »Es waren nicht sehr viele. Der Schiffer und Jarno Slagter. Kurz nach ihnen sind noch ein paar Leute gekommen, die auf die Fähre wollten. Ich habe mit ihnen gesprochen, aber von denen hat niemand irgendetwas gesehen.«

»Und das übrige Publikum?«

»Nur ein Obdachloser, der ständig auf der Fähre rumhängt. Ansonsten sind alle später gekommen. Normale morgendliche Rushhour.«

»Also kein einziger Zeuge?«

»Nein.«

»Gibt’s irgendwo Kameras?«

»Auf dieser Seite des Flusses noch nicht, nur am Bahnhof.«

»Hat jemand vom Café etwas gesehen?«

»Da war niemand. Die sind gerade erst gekommen und haben extra für uns geöffnet.«

»Sagt dir der Name Slagter etwas?«

»Ja. Vermisstenfall, ist ungefähr vier Jahre her«, antwortet Bingsten.

Natürlich. Ein Mädchen war verschwunden. Das war es. Sie war nie gefunden worden, wenn sie sich recht erinnerte.

»Sind das Verwandte?«, fragt sie.

»Bruder und Schwester, glaube ich. Zufall, nehme ich an. Das Verschwinden wird wohl nichts mit diesem Fall zu tun haben.«

Ein spektakulärer Mord und keine Zeugen. Der Bürgermeister. Der Einsatzleiter. Die Staatsanwaltschaft. Alle werden sich darum reißen, der Öffentlichkeit zu verkünden, dass der Täter bald zur Strecke gebracht sein wird. Obwohl es noch keinen einzigen Hinweis gibt. Die Medien tun dann ihr Übriges.

Es dauert gefühlt eine Ewigkeit, bevor der Polizeifotograf und der Typ mit dem Camcorder fertig sind mit den Bildern von der aufgehängten Leiche.

»Habt ihr alles?«, fragt Mertens zur Sicherheit. Die Kollegen nicken. »Dann holt ihn in Gottes Namen da runter, bevor noch mehr Leute den armen Kerl abgelichtet haben.«

»Sollten wir nicht warten?«, fragt Bingsten, der inzwischen neben ihr steht. Mertens schüttelt den Kopf und einer der Kollegen wirft ihm einen weißen Anzug zu.

An der Absperrung steht inzwischen eine ganze Armee von Journalisten. Eine Art, die sich schnell vermehrt. Gedeiht auf jedem Boden. Das Fernsehen ist auch schon da. Sie erkennt Maartje Zwiers von AT5 und Hugo Stilton, der Berichte über Straffälle für die Zeitung schreibt. Sie rufen ihr zu, aber sie reagiert nicht. Ein Stück weiter beugt sich sogar ein Fotograf über die Absperrung hinaus, um das Abhängen der Leiche zu fotografieren.

»Ist das Zelt schon da?«, fragt Mertens einen Kollegen in Uniform. »Entweder, die Kollegen stellen jetzt sofort etwas auf, oder ich lasse die Umgebung räumen!«

Sie begrüßt den Rechtsmediziner, stellt sich ein wenig abseits hin und sieht zu, wie er und sein Team den Toten abhängen und vorsichtig zur Seite tragen. Die Leiche wird vorsichtig untersucht. Die ersten Ergebnisse werden notiert. Weitere Fotos, weitere Videobildaufnahmen. Die Nacktheit des Mannes wirkt auf einmal viel obszöner, jetzt, wo er entblößt auf dem Boden liegt. Das Schamhaar ist kurz getrimmt und ordentlich rasiert. Der Penis liegt verschrumpelt seitlich am Oberschenkel. Als sie zum ersten Mal mit ansah, wie ein Opfer an einem Tatort fotografiert wurde, empfand Mertens Scham, das weiß sie noch genau.

Das Gesicht des Toten ist übel zugerichtet. Seine Oberlippe ist aufgeplatzt, der Mund fest geschlossen, als sei er wütend und presse noch immer die Zähne fest zusammen. Blutergüsse – oder jedenfalls Flecken – rund um Nase und Augen. Das Gesicht ist seltsam rundlich, geschwollen, aber irgendwie anders, als sie es je gesehen hat. So, als hielte er den Atem an.

»Er ist nicht hier gestorben«, stellt der Rechtsmediziner ohne aufzublicken fest. »Ich kann noch nicht genau sagen, wie lange er schon tot ist, aber ich glaube, schon seit einer Weile. Ich glaube auch nicht, dass die Schlinge die Mordwaffe ist.«

Er schweigt und fährt mit seiner Arbeit fort.

Hinter sich hört Maud ein Auto bremsen, Autotüren werden geöffnet und mit einem Knall zugeschlagen. Der Rechtsmediziner blickt kurz auf und ebenso wie Mertens sieht er eine kleine Frau mit kurzem weißblondem Haar durch die Absperrungen kommen. Ohne etwas zu sagen blickt er Mertens kurz an und konzentriert sich dann wieder auf den Toten. Schnelle, wütende Schritte nähern sich.

»Ihr habt also schon angefangen?«

»Dir auch einen guten Morgen«, antwortet der Arzt monoton.

»Ich höre, er war aufgeknüpft?« Staatsanwältin Barbara Ruigbot blickt hoch zum Laternenpfahl, wo immer noch ein Teil des Seiles hängt. Mertens betrachtet sie. Durch das hellblonde Haar, die ungeschminkten hellgrauen Augen und die stecknadelkopfgroßen Pupillen hat sie etwas von einer Außerirdischen. Ihre schmalen Lippen sind rot geschminkt und sie trägt ein Kostüm, das garantiert von irgendeinem Designer stammt, denn es wirkt klassisch und dennoch hypermodern.

»Korrekt«, antwortet Mertens.

»Gute Show, also.«

»Deswegen haben wir ihn runtergenommen.«

»Du weißt, wie ich das sehe, Maud. Sorgfalt ist …«

Mertens Handy dudelt schon wieder los, eine grotesk fröhliche Melodie. Erneut ein Journalist, sieht sie auf dem Display, zuckt mit den Schultern und drückt den Anruf weg.

»Er hing da wie auf dem Präsentierteller«, erklärt sie. »Wie du siehst, hat er sogar schon einen Fanclub.« Sie deutet auf die Journalisten. Und ich auch, denkt sie, sagt es aber nicht.

»Trotzdem hätte ich mir das gerne selbst angesehen«, blafft Ruigbot sie an. »Ich habe mich sofort auf den Weg gemacht.«

Schweigen.

»Auf den ersten Blick keine Verletzungen an Geschlecht oder im Schambereich, was man vielleicht bei der runtergelassenen Hose hätte erwarten können. Allerdings am Hinterkopf. Auf der Brust. Striemen am Hals. Asphyxie, auf den ersten Blick«, stellt der Rechtsmediziner fest. Er zieht das untere Augenlid des Toten herunter und nickt, als er offenbar findet, was er sucht. »Ich habe noch eine Weile zu tun.«

»Vielen Dank«, sagt Maud Mertens, nickt den anderen zu und geht zwischen den hohen weißen Spannwänden hindurch, weg von Ruigbot, die alles mit Habichtsaugen beobachten wird, und macht sich auf den Weg zu Zeugen, Verwandten und Bekannten des Opfers. Die Lebenden studieren, um den Toten zu helfen und damit wiederum den Lebenden. Mord ist und bleibt ein seltsames Geschäft. Ihr Geschäft.

Die Morgensonne fällt durch die kleinen Butzenscheiben des Cafés De Pont, sodass Kyra dauernd blinzeln muss. Es geht auf halb acht zu. Jarno wurde von der Polizei vernommen und ist dann nach Hause gefahren, um sich hinzulegen. Sie selbst hat gehofft, noch etwas von der Polizeiarbeit mitzubekommen. Ihr Video hat sie sich zweimal angesehen, vornübergebeugt in einer Ecke des Cafés. Später auf dem Computer kann sie Einzelheiten näher heranzoomen und genauer betrachten. Ein paarmal ist sie aufgestanden, um hinauszuschauen, konnte aber durch die hohen Absperrungen nichts erkennen. Nach einer halben Stunde stellte sie fest, dass sich die Toilette im ersten Obergeschoss befand und dass man, wenn man dort einen kleinen Saal auf der Vorderseite des Gebäudes durchquerte, eine gute Aussicht auf den Tatort hatte. Heimlich hat sie sich dort zweimal für ein paar Minuten hingestellt, gefilmt und ein paar Fotos gemacht, auch wenn sie es hauptsächlich tat, um sich die Zeit zu vertreiben. Allmählich verliert sie die Geduld. Vielleicht kommen sie gar nicht. Alle sind total gestresst wegen der Abschlussprüfungen, die heute beginnen, aber da sieht sie Sophie in der Tür des Cafés und springt erleichtert auf.

»Was sollen wir machen?«, fragt Kyra sofort.

»Wo ist er?«, fragt ihre Freundin und setzt sich. »Ich kann nichts sehen.«

Ihr Gesicht ist milchig weiß und ihre Hände zittern. Die blonde schöne Sophie mit der wunderschönen Stimme. Seit sie nach Amsterdam-Nord gezogen ist, seit dem ersten Tag, an dem sie zum ersten Mal im Damstede erschien, sind sie beste Freundinnen. Als würden sie einander schon ihr ganzes Leben lang kennen.

»Sie haben ihn runtergenommen«, antwortet Kyra. »Der Rechtsmediziner ist da.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, wie ihm jemand so etwas antun kann!« Sophie klingt, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. »Warum? Wem hat er je was Böses getan?«

»Was zum Teufel muss man tun, um so ein Schicksal herauszufordern?«, fragt sich Kyra laut. »Aber du weißt, dass er … Nicht ganz astrein war …«

Sophie presst verbissen die Lippen aufeinander und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Gerade, als sie Atem holt, um etwas zu sagen, betritt Luna das Café.

»Oh my god!«, ruft das große, dünne Mädchen. »Sag, dass es nicht wahr ist!«

Sophie räuspert sich und wischt sich schnell die Tränen aus den Augen.

»Was ist denn genau passiert?«, fragt Luna. Sie dreht ihr langes dunkles Haar in eine lose Rolle, die sie nach hinten wirft.

»Jarno kam aus der Stadt und hat mich angerufen, als er eine Leiche an einem Laternenpfahl bei der Fähre hängen sah. Da wusste ich noch nicht, dass es Marc war.«

»Aber wie ist er dort hingekommen? Wer macht so was?«

Luna zieht einen Stuhl nach hinten und lässt sich darauf fallen. Sie hat rote Wangen vom schnellen Radfahren, ihre grauen Augen glänzen.

»Hast du Chantal Bescheid gesagt?«, fragt Sophie und streicht sich eine lange blonde Locke hinter das Ohr.

»Sie kommt gleich.« Luna winkt der Bedienung. »Einen Cappuccino, bitte.«

»Was sollen wir tun?«, fragt Kyra erneut. »Was meinst du?« Luna wirft ihren großen Shopper auf den Tisch und wühlt darin herum, bis sie ihren Süßstoff gefunden hat.

»Verdammt!« Kyra verliert die Geduld. »Wir müssen erzählen, was wir wissen. Aber was genau sollen wir sagen?«

»Augenblick«, sagt Luna, während sie die Dose Süßstoff mit einem Knall auf den Tisch stellt. »Du meinst doch nicht etwa die Unterrichtsstunden, oder? Die haben nichts damit zu tun!«

»Die Polizei wird Fragen stellen.«

»Aber doch nicht uns?«

»Auch uns, natürlich.«

»Ich habe nichts zu sagen«, behauptet Luna energisch. »Ich wüsste nicht, was. Also hör damit auf.«

»Du hasst ihn, gib’s doch zu«, sagt Sophie ungewohnt giftig zu Kyra. »Und du hast Gespenster gesehen. Ich sage nichts, zu niemandem.«

Kyra schluckt eine Bemerkung herunter.

»Krieg ich auch so einen?« Chantal kommt ins Café hereingesegelt, als gerade Lunas Bestellung serviert wird.

Ein Mann, der eine Kamera mit riesigem Objektiv wie ein Gewehr umgehängt hat, kommt herein und bestellt an der Bar einen Milchkaffee.

»Wir müssen ganz genau überlegen, was wir sagen«, erklärt Chantal sachlich, während sie sich einen Stuhl heranzieht.

3

Erbarmungslos. Erbarmungslos.

Sein neues Mantra. Das Wort gefällt ihm. Erbarmungslos. Viel zu lange ist er der liebe Junge gewesen. Seine Mutter hat es früher so oft gesagt, bis er selbst daran geglaubt hat. Er ist so ein lieber Junge. Lieb ist die kleine Schwester von Scheiße. Damals schon hasste er dieses Attribut, aber er wusste mit dieser Energie nichts anzufangen. Er fügte sich. Tat, was von ihm erwartet wurde. Dachte nicht mal mehr darüber nach. Nett sein – lieb, sozial, fürsorglich, zum Kotzen – hat ihm nur Unglück gebracht. Jahrelang hat er die Leute auf sich rumtrampeln lassen. Sich minderwertig gefühlt. So ein lieber Junge. Vorbei. Nie mehr.

Mit einem Ruck öffnet er die Türen des Containers und bleibt auf der Schwelle stehen.

Erbarmungslos. Erbarmungslos.

Er ist überaus zufrieden mit sich. Endlich. Seit etwa sechs Monaten strömt eine befreiende Energie durch seinen Körper. Seit dem Moment, in dem er begriff, dass er etwas tun konnte. Dass er nicht geduldig abzuwarten brauchte. In diesem Moment, in dem sich die ganze Wut der letzten vierzig Jahre zusammenballte, in diesem Moment, als die Entladung ihn überkam wie ein vorzeitiger Orgasmus und er sich willenlos dieser Welle überließ, als seine Faust die Nase des Arschlochs traf und er das befreiende Knacken hörte, den erstaunten, verwirrten Blick sah – dieser Moment der totalen Panik, kurz vor dem letzten, tödlichen Schlag, dem Schwinger gegen den Kopf, die Schläfe, wie er es vor so langer Zeit gelernt hatte, in dem Moment, als er das Licht ausgehen sah und wusste – fühlte, beschloss –, dass es nie wieder angehen würde, dass er dafür sorgen würde, in dem Moment, als er die Kontrolle hatte, genau in dem Moment, war er, blutig und nach Luft schnappend, neu geboren worden.

Er blickt auf den mit dunkelrotem Blut verschmierten Stuhl in der Mitte des Raumes. Es ist eine Art Zahnarztstuhl. Groß, stabil, verstellbar. Er wird das Kunstleder sauber machen müssen, obwohl er die Flecken am liebsten konservieren würde.

Er geht hinein, schaltet das Licht ein und schließt hinter sich die Tür. Zwar kommt kaum noch jemand in das Lager und schon gar nicht unangekündigt, aber er muss trotzdem vorsichtig sein. Das ist besser. Nie mehr will er denken: hätte ich nur. Außerdem ist es schöner, wenn die Tür zu ist. Er fühlt sich, als ziehe er sich in seine Höhle zurück, tief unter der Erde, warm und sicher. Ein Ort für ihn allein. Wo er der Herr ist. Er stellt den Eimer Wasser neben den Stuhl und nimmt einen tiefen Schluck aus der Flasche Genever, die auf dem Tisch an der Wand steht. Er tut, wozu er Lust hat. Lässt sich nicht mehr von den kleinlichen Regeln engstirniger Mitmenschen zurückhalten. Der Alkohol wärmt ihn von innen. Befreit seinen Geist. Auf dem Linoleum ist Blut. Nicht viel, aber genug. Seine Schuhsohlen bleiben an den halb getrockneten Spritzern kleben.

An einer der isolierten Wände des Containers hängt eine bunte Sammlung von Werkzeugen. Größtenteils hat er gar nicht gewusst, was genau er damit anfangen kann, aber gerade das ist der Spaß daran. Er ist ein Abenteurer. Er ist auf Entdeckungsreise. Es liegt noch ein langer Weg vor ihm, aber bisher ist alles gut gelaufen, und er kann stolz auf seine Fortschritte sein. Zufrieden lässt er den Blick auf seiner neuesten Errungenschaft ruhen – unglaublich, was man in einem Trödelladen alles finden kann. Die Messer haben einen Ehrenplatz an der Wand erhalten. Sie sind wunderschön. Hauchdünn, lang, gerade. Und dann die zierlichen Griffe mit den großen Ösen am Ende. Wie verführerische Frauen winken sie ihm zu. Er stellt es sich als ultimativen Genuss vor, das Set zu verwenden, und bewahrt es deswegen für besondere Gelegenheiten auf. Denn er weiß, dass die köstliche Wut in ihm weiterwachsen wird. Genau wie seine Planmäßigkeit, die ruhige Kälte, die ihn überkommt, wenn er am Werk ist. Erbarmungslos. Wunderbares Wort. Erbarmungslos.

4

Maud Mertens ruft zu Hause an, aber niemand geht ran. Während sie mit Niels Bingsten den Nieuwendammerdijk entlangläuft, drückt sie die Kurzwahltaste für das Handy ihrer Tochter. Es ist kurz vor halb acht. Sie muss jetzt los, wenn sie rechtzeitig in der Schule sein will.

Hier ist Rosa! Schade, schade, schade … Hinterlass mir eine Nachricht, wenn du dich traust.

Mertens traut sich immer. Sie hinterlässt so oft eine Nachricht! Nicht, dass darauf jemals eine Reaktion käme.

Sie klingeln an einem großen Holzhaus, klassisch hellgrau gestrichen, links und rechts Blumenkübel mit Lavendel an der schmalen, leicht ansteigenden Auffahrt, an deren Ende sie das Atelier liegen sehen. Zusammen mit Bingsten wartet sie geduldig auf der Eingangstreppe darauf, dass sie die ahnungslose Witwe unglücklich machen darf. Machen muss.

»Bestimmt keine Kinder«, bemerkt Bingsten. »Kein Grund, früh aufzustehen.«

In seinen Worten schwingt ein mitleidiger Unterton mit. Niels ist verrückt nach seinen Kindern, ja, nach Kindern im Allgemeinen. Aus diesem Grund ist er bei der Sitte ausgeschieden – zu viele üble Sachen im Zusammenhang mit Kindern und Jugendlichen.

Sie klingeln noch einmal. Dann steht eine kleine Frau vor ihnen. Das rötliche Haar fällt ihr glatt und gerade geschnitten um das weiße fein geschnittene Gesicht. Sie trägt einen japanischen Kimono aus dunkelrosa Seide, auf dem sich dünne Zweige mit weißen Blüten ranken.

»Ja?«, fragt sie schlaftrunken.

»Myrthe Gaullier?«

Mertens und Bingsten zeigen ihre Ausweise und fragen, ob sie kurz hereinkommen dürfen. Myrthe Gaullier fängt schon an zu weinen, bevor sie im Wohnzimmer sind. Bevor Maud Mertens auch nur ein Wort gesagt hat.

»Es ist Marc«, sagt sie, während ihr die Tränen über die Wangen fließen. »Bestimmt ist etwas mit Marc, oder? Oh Gott, es ist etwas mit Marc!«

Der Raum hat hohe Decken, die Holzdielen sind grau gestrichen. Sie nehmen auf einem bunt gemusterten Sofa Platz. Mertens versinkt mit dem Rücken in den zahlreichen Kissen, die ordentlich in Reih und Glied an der Rückenlehne arrangiert sind. Myrthe Gaullier setzt sich auf die Ecke des Sofas. Kerzengerade. Mit großen Augen.

»Ich befürchte, dass ich schlechte Nachrichten für Sie habe«, beginnt Mertens, während sie sich aufrichtet, so gut es geht. »Heute Morgen wurde am IJ in Amsterdam-Nord die Leiche eines Mannes gefunden. Eine Zeugin glaubt, in der Leiche Ihren Ehemann erkannt zu haben. Wir haben auch ein Portemonnaie mit unter anderem dem Führerschein Ihres Mannes gefunden.«

Sie schweigt einen Augenblick, um der Frau Zeit zu lassen, die Bedeutung der Nachricht zu erfassen. Myrthe Gaullier bleibt reglos sitzen, den Blick unverändert.

»Zu diesem Zeitpunkt können wir natürlich nicht hundertprozentig sicher sein, dass es sich um ihn handelt. Wir möchten Sie daher bitten, die Leiche zu identifizieren.«

Wieder nichts als Schweigen. Maud Mertens fragt sich, ob sie sich noch einmal wiederholen soll, doch dann ertönt das Gedudel ihres blöden Handys. Mist! Unbekannte Nummer. Weg mit dem Ding.

Plötzlich gerät Myrthe Gaullier in Panik. Sie hält sich die Ohren zu wie ein kleines Kind, das die Realität nicht wahrnehmen will. Sie reagiert weder auf die tröstenden Worte von Mertens noch auf die Fragen von Niels Bingsten. Bingsten blickt Mertens mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Nein, nein, nein …«, winselt sie und zieht scharf die Luft ein. Keuchend und ratlos starrt sie Maud Mertens an. Diese spürt den Kummer der Frau wie einen Messerstich im Herzen, doch sofort blockiert sie das Gefühl. Sie greift in die Jackentasche, zieht eine Tüte heraus und hält sie der Frau hin. Als diese nicht reagiert, sagt sie: »Atmen Sie da hinein.« Mertens hilft ihr auf und hält ihr die Tüte an den Mund. »Kommen Sie. So ist es gut.«

Myrthe Gaullier atmet ein und aus, die Tüte gegen die Lippen gepresst. Es dauert ein paar Minuten und dann scheint sie sich zu beruhigen. Ihr Gesicht bekommt wieder ein wenig mehr Farbe. Niels Bingsten rutscht nervös auf seinem Stuhl hin und her. Auf ein Nicken von Mertens steht er auf und geht hinaus, um mit dem Präsidium Kontakt aufzunehmen.

»Ich weiß, wie schrecklich das für Sie sein muss«, sagt Mertens nach etwa einer Minute sanft. »Aber im Interesse der Ermittlungen brauchen wir schnell Antworten.«

Bingsten kommt zurück ins Zimmer und hebt unauffällig den Daumen. »Geregelt«, sagt er leise.

Myrthe Gaullier richtet sich auf. In dem Moment, als sie etwas zu sagen versucht, beginnt sie heftig zu weinen. Niels Bingsten holt ihr ein Glas Wasser. Mertens fragt, ob sie Tee oder Kaffee kochen soll. Mist, denkt Mertens. Das ist das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können. Wie lange dauert das in Gottes Namen, bevor wir aus dieser Frau etwas Brauchbares rausbekommen? Mertens fragt Myrthe Gaullier mehrmals, ob es jemanden gibt, den sie für sie anrufen könne und bittet Bingsten, nochmals im Präsidium anzurufen und nachzufragen, ob jemand von der Opferhilfe hergeschickt werden kann. Endlich rutscht die Frau über das Sofa zu einem Beistelltisch, holt ein Adressbuch aus einer Schublade und zeigt auf den Namen einer Person, die als »Tante Elsa« eingetragen ist.

Als Kyra nach Hause kommt, ist es still im Haus. Natürlich. Ihre Mutter arbeitet wieder, nachdem sie jahrelang von einem Kurs zum anderen und von einer Therapie zur nächsten gepilgert ist, und ihr Vater ist sowieso nie da. Er ist der engagierteste Hausarzt, den sie kennt, und aus genau diesem Grund hat sie beschlossen, niemals Medizin zu studieren. Zurzeit wird er vollständig vom Universal Health Center in Anspruch genommen, seinem geistigen Kind, das in Kürze aus der Taufe gehoben werden soll. Jarno schläft tief und fest. Studieren tut man offenbar hauptsächlich im Bett.

Kyra geht ins Wohnzimmer und sieht vor dem Foto von Sarina eine Kerze brennen. Ihre Schwester lacht ihr vom Büfett aus fröhlich zu. Ihre blonden glatten Haare umrahmen ihr Gesicht, ihr Mund steht ein bisschen schief.

»Hey«, sagt Kyra. »Dreimal darfst du raten, was mir heute passiert ist!«

Sie bleibt stehen. Ihre Mutter hat ein Foto aus der Zeit ausgewählt, als Sarina noch nicht so abgemagert war. So erinnert sich auch Kyra an sie. Lachend. Übermütig. Ihr Verschwinden ist jetzt vier Jahre her und die Kerze brennt noch immer jeden Tag.

Kyra zwinkert dem Foto zu und läuft die Treppe hinauf in den ersten Stock, der seit dem Verschwinden ihrer älteren Schwester im Grunde ihr allein gehört. Ihre Eltern schlafen in einem kleinen Zimmer auf Deichniveau und Jarno hat sein eigenes Reich im Souterrain. Er teilt nur das Badezimmer mit ihren Eltern.

Kyra schlüpft aus ihren Schuhen und lässt sie auf dem kleinen Treppenabsatz stehen, wo sie auch ihre Jacke aufhängt und ihre Tasche und Schlüssel auf einen kleinen Beistelltisch legt. Sie geht in ihr Zimmer und lässt sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen. Kurz legt sie den Kopf in die Hände, reibt fest über ihre Wangen und setzt sich dann gerade hin, um den Mac einzuschalten, den sie letztes Jahr von ihren Eltern zum Geburtstag bekommen hat. Als Kompensation, das weiß sie. Seit der Sache mit Sarina ist alles erstickend, die Abwesenheit der Eltern, dann plötzlich die übertriebene Fürsorge, sogar die Geschenke, die sie kriegt.

Mit der ihr eigenen Verbissenheit macht sie sich ans Werk. Über diesen Mord weiß sie viel mehr als über irgendein willkürliches Verbrechen in der Zeitung. Sie ist entschlossen, das Rätsel zu lösen, und zwar am liebsten, bevor es Mertens gelingt. Ihr bleibt keine Zeit, sich den Film noch einmal anzusehen. Besser, sie ordnet zuerst die grundlegenden Fakten.

Sie sucht ein Foto von Marc Gaullier heraus – eines, das sie auf der Klassenfahrt nach Budapest im letzten Jahr selbst aufgenommen hat und auf dem man gut erkennen kann, wie attraktiv er ist, ohne dass er übertrieben in Szene gesetzt wird – und druckt es aus. Anschließend gibt sie bei Google Marcs Namen ein und geht die Schlagzeilen der Nachrichten-Websites durch.

GRAUSIGER LEICHENFUND IM NEBEL

AMSTERDAMER KÜNSTLER ERHÄNGT SICH AM FLUSS

NACKTE LEICHE AM GALGEN

Schlagzeilen, die wie Marktschreier ihre Waren anpreisen. Grausiges im Angebot! Alles ganz frisch! Wütend klickt sie auf »Bilder«. Die Fotos in der obersten Reihe zeigen allesamt die baumelnde Leiche. Hätte sie vor ein paar Stunden dieselben Suchbegriffe eingegeben, hätte sie ganz andere Bilder erhalten. Kunstwerke. Gemälde in Marcs typischem Stil. Es ist erstaunlich, wie viele Websites jetzt schon über den Mord berichten. Sie wählt ein Foto der baumelnden Leiche in hoher Auflösung und druckt es aus. Dasselbe macht sie mit einem kleinen Foto der Galerie Gaullier, einem Bild von ihrer Schule, dem Damstede, einem von der Rietveld Academie und den Buchstaben AKR, dem Logo des Amsterdamse Kunstraad, Organisationen, für die Gaullier offenbar gearbeitet hat. Sie überlegt einen Augenblick. Was sonst noch? Am Ende druckt sie ein Eurosymbol und ein großes rotes Herz aus. Anschließend noch ein Foto vom Ufer bei der Fähre. Dann hat sie so ungefähr alles. Vorläufig.

Sie lässt den Blick durchs Zimmer wandern. Ihr altes Zimmer dient ihr inzwischen nur noch als Wohnzimmer. Die Schlafcouch hat sie seit Jahren nicht mehr ausgeklappt. Seit kurz nach Sarinas Verschwinden schläft sie im Bett ihrer Schwester. Sie kann sich nicht mehr daran erinnern, seit welchem Tag genau. Allerdings weiß sie noch, warum. Das Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit überfällt sie gelegentlich noch immer. Die feste Überzeugung, dass ihre ältere Schwester verschwunden war und nicht mehr zurückkehren würde, überkam sie eines Abends, als ihre Eltern am Küchentisch den soundsovielten Aktionsplan entwarfen. Sie saß da und hörte sich zum x-ten Mal das Gleiche an. Und wenn wir die Belohnung erhöhen würden? Wenn wir ein Poster von Sarina mit verschiedenen Fotos von ihr drucken lassen würden: wie sie mit kurzem Haar, mit dunklem Haar statt mit blondem, mit einer Brille aussehen würde?

Der hilflose Eifer ihrer Eltern, ihr ältestes Kind wiederzufinden, hatte sie plötzlich tief traurig gemacht. Es war alles vergeblich.

Sarina war weg. Würde wegbleiben. Sie spürte diese Gewissheit, wagte es aber nicht, es auszusprechen. An jenem Abend putzte sie sich die Zähne, ging ohne lange darüber nachzudenken in Sarinas Zimmer und legte sich dort in ihr Bett.

Sie blickt sich um, zum Himalaya-Poster, das über ihrem Sofa hängt, und zu dem großen Schrank im Industriedesign auf Rollen – dem gleichen wie in Sarinas Zimmer – und sieht, wie das Sonnenlicht auf die gerahmten Fotos in diesem Schrank scheint. Fotos von der Familie, als sie noch vollständig war. Und von später. Ihre Eltern, ihr Bruder und sie selbst in Österreich letzte Weihnachten. Ein Gruppenfoto aus dem Urlaub mit Freundinnen letztes Jahr.

Sie wählt die Wand, vor der der Schreibtisch steht, stellt die Stehlampe auf die andere Seite des Zimmers, greift nach der Rolle Klebeband und legt los. Das Foto des lachenden Marc Gaullier hängt sie in der Mitte auf und gruppiert die anderen Fotos darum herum, jeweils mit einem leeren DIN-A4-Blatt darunter. Dann nimmt sie einen Stift und beginnt zu schreiben. Unter das Eurozeichen schreibt sie: Erbe? Geschäftliche Interessen? Unter das Herz: Ehebruch. Und nach gründlicher Überlegung: junge Mädchen. Das Blatt unter der Galerie bleibt leer, genau wie das unter der Rietveld Academie und dem Kunstraad. Unter das Bild von der Schule schreibt sie: Rivalität?

Nachdenklich betrachtet sie das Foto der Fähre und fertigt auf dem Blatt Papier darunter eine Reihe von Zeichnungen an. Sie fragt sich, wie weit Mertens mit ihren Ermittlungen ist. Der Kripo stehen natürlich viel mehr Leute und ganz andere Mittel zur Verfügung. Sie muss mit ihrem PC und ihrem Verstand auskommen. Und mit dem Stapel von Büchern, den sie inzwischen angehäuft hat. Wie hat der Mörder es angestellt, die Leiche dort zu platzieren? Welches Motiv trieb ihn an, es genau so und genau dort zu tun?

Ihr fällt etwas ein. Sie nimmt noch ein Blatt Papier, zeichnet ein Kreuz darauf und klebt es neben das Foto der Leiche am Galgen. Nackt, schreibt sie. Gesicht zum Wasser. Wunde Hinterkopf. Brust. Dann lässt sie ein paar Zeilen frei und fügt hinzu: Erniedrigung? Todesursache?

Schließlich holt sie unten aus ihrer Büroschublade ein Blatt Papier hervor, auf dem eine Reihe von Namen stehen. Nachdenklich betrachtet sie es und klebt es an die Wand. Als sie fertig ist, tritt sie einen Schritt zurück. Wow, so viele Fragen, so viele Möglichkeiten.

»Mevrouw Gaullier«, beginnt Maud Mertens, als sich die Witwe kurz darauf ein wenig beruhigt hat. Auf den Anruf von Bingsten ist überraschend schnell jemand von der Opferhilfe eingetroffen und der jüngere Bruder von Marc Gaullier – der ältere hat telefonisch versprochen, am Nachmittag ins Forensische Institut zu gehen und den Toten zu identifizieren – ist gerade hereingekommen.

»Sagen Sie bitte Myrthe.« Marc Gaulliers Frau ist kreidebleich. Augen und Nase sind rot vom Weinen.

»Ich weiß, wie erschüttert Sie von der Nachricht sein müssen«, sagt Mertens.

»Erschüttert«, wiederholt Myrthe Gaullier und es scheint, als prüfe sie das Wort auf der Zunge. »Ja, erschüttert.« Sie putzt sich die Nase mit einem weißen Taschentuch. Dann beginnt sie erneut zu weinen.

Ihr Schwager legt ihr die Hand auf die Schulter. »Myrthe ist jetzt sehr verletzlich«, erklärt er. »Ich glaube, es wäre gut, wenn sie sich ein wenig ausruht. Können wir vielleicht später weiterreden?«

»Leider habe ich einige Fragen, die keinen Aufschub dulden«, erwidert Mertens und sieht die Frau an, der die Tränen über die Wangen laufen. Sie nickt.

»Wann haben Sie Ihren Mann zum letzten Mal gesehen? War es ungewöhnlich, dass er in der Nacht nicht nach Hause kam?«

»Nein«, antwortet Myrthe Gaullier mit erstickter Stimme. »Er war schon weg. Er ist nach Brüssel gefahren. Es ging um Beratungen wegen einer Firma, die er gründen wollte. Etwas mit Drucken von Reproduktionen berühmter Kunstwerke. Eine große Sache. Er war Feuer und Flamme für das Projekt.« Ihre Stimme erstirbt.

»Wann ist er gefahren?«

Myrthe Gaullier schluckt. »Früh am Samstagmorgen. Mit dem Zug. Er hatte einige Termine und wollte heute Abend zurück sein.«

Sie schweigt einen Moment und fährt dann mit leiser Stimme fort: »Diese Woche sind Abschlussprüfungen. Er wollte einigen Schülern noch bei den letzten Vorbereitungen helfen.«

Mertens nickt. »Er hatte also einen geschäftlichen Termin in Brüssel? Mit wem?«

»In diesem Punkt kann ich Ihnen weiterhelfen«, mischt sich Gaulliers Bruder ein. »Marc hatte einige Fragen an mich wegen des Vertrags, der ihm zugeschickt worden war. Ich bin Jurist.«

»Sie haben die Namen?«

»Ich kann sie jedenfalls ermitteln.«

»Haben Sie nach seiner Abreise noch mit ihm in Verbindung gestanden?«, fragt Mertens, wieder an Myrthe Gaullier gewandt. »Haben Sie telefoniert? Gemailt?«

»Nein. Nichts, gar nichts … Ein Kuss auf meinen Kopf, als ich noch im Halbschlaf lag, das war das Letzte.«

Wieder füllen sich ihre Augen mit Tränen.

»Haben Sie irgendeine Ahnung, was passiert sein könnte?«, versucht es Mertens. »Wer dahinterstecken könnte?«

Myrthe Gaullier schüttelt den Kopf.

»Keine Streitigkeiten? Wegen Geld? Schulden?«

»Nein, nichts von alldem … Es tut mir leid … Es ist …« Sie zittert am ganzen Körper und Mertens befürchtet fast, dass sie gleich kollabiert. »Er kommt nie mehr wieder!«

Der Bruder von Marc Gaullier schaut Mertens gereizt an, die in ihrer Jackentasche fühlt, ob sie die Plastiktüte gegen die Hyperventilation noch hat.

»Ich glaube, das reicht vorerst«, sagt er und steht auf.

Maud Mertens bleibt sitzen und legt kurz die Hand auf die Schulter der Witwe und sagt: »Mein Beileid. Alles Gute für Sie.«

»Wir sprechen uns später noch«, sagt sie dann an den Schwager gewandt und schaut auf ihre Uhr, die alte Breitling ihres Vaters. »Heute Nachmittag im Präsidium, einverstanden?«

Er schüttelt den Kopf. »Das schaffe ich nicht. Höchstens, wenn Tante Elsa rechtzeitig kommt. Ich kann Myrthe nicht allein lassen. Außerdem muss ich die genauen Informationen noch in der Kanzlei erfragen.«

Maud Mertens steht auf und nickt Myrthe Gaullier zu.

»Nur noch eines«, sagt sie. »Hat Ihr Mann einen Gürtel getragen?«

Die Frau sieht sie erstaunt an. »Einen Gürtel?«

»Ja, einen Hosengürtel.«

Ein Augenblick lang sagt niemand etwas. Myrthe Gaullier hat offenbar keine Ahnung.

»Ich weiß es nicht«, flüstert sie. »Ich weiß es wirklich nicht. Er hat zwar Gürtel, aber … Ich habe nicht darauf geachtet.«

Mertens und Bingsten eilen über den Nieuwendammerdijk zum Auto, das sie ein Stück weiter geparkt haben, beide tief in Gedanken. Mertens ärgert sich, weil sie ausgerechnet heute ein Paar neue Schuhe angezogen hat. Ihre Fersen brennen und am linken Fuß drückt der kleine Zeh.

Ein bekannter Künstler ermordet und am Ufer des Flusses aufgeknüpft. Kein gewöhnlicher Mord, sondern eine öffentliche Hinrichtung, verdammt noch mal. Das bedeutet, dass die Presse sie auf Schritt und Tritt verfolgen wird. Sie muss aufpassen, was sie sagt, sogar im Schlaf. Berichte in den überregionalen Nachrichten, Sondersendungen in den Lokalsendern. Lauter Mist, der ihr und ihrem Team die Arbeit erschwert.

»Die beschissenen Nachrichten-Seiten sind voll davon«, flucht Bingsten, als er sein Handy checkt. »NOS, NU, Telegraaf, AT5, Parool, AD und so weiter.« Er liest einige Schlagzeilen vor und Mertens spürt, wie ihr mulmig wird. Wie soll sie die Ermittlungen bloß in vernünftige Bahnen lenken?

Ein Anruf reißt sie aus ihren Grübeleien. Jetzt geht es erst richtig los mit den Medien. Es ist wie ein tropischer Sturzregen, jedes Mal aufs Neue. Aber diesmal wird es schlimmer sein denn je. Ein Tropfen, dann zwei, drei, und danach eimerweise und in Strömen, sodass man komplett überschwemmt wird. Sie nimmt ab. Es ist der Rechtsmediziner.

»Ich habe schon was für dich«, sagt er tonlos. »Ich habe mir vorhin schon so was gedacht, aber ich wollte ganz sichergehen. Mertens … Der Mund des Opfers ist mit Klebstoff verschlossen. Von einem Mundwinkel zum anderen.«