Dunkle Nächte, stade Zeit -  - E-Book

Dunkle Nächte, stade Zeit E-Book

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Beschreibung

Dunkle Nächte, stade Zeit Weihnachten und Rauhnächte Wenn die Zeit der Wunder und das Fest der Liebe enden, beginnen die zwölf toten Tage außerhalb der Zeit. Die Wilde Jagd bricht auf, sucht die Lebenden heim. Tiere reden. Menschen können einen Blick in andere, dunkle Welten werfen. In diesen Nächten scheint alles möglich. 36 Tage. 36 Geschichten. Die vierte Anthologie der Münchner Schreiberlinge entführt in die geheimnisvolle Welt zwischen den Jahren. Diese Anthologie ist das vierte Projekt der Münchner Schreiberlinge, einem Verein von engagierten, aufgeschlossenen Autor*innen. www.muenchner-schreiberlinge.de Die Erlöse dieser Anthologie werden an den gemeinnützigen Münchner Verein "Kinder ohne Hunger e.V." gespendet, der gesunde, abwechslungsreiche Frühstücke und Mittagessen in Münchner Schulen und Freizeiteinrichtungen finanziert. www.kinder-ohne-hunger.org

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Seitenzahl: 568

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Dunkle Nächte, stade Zeit

Weihnachten und Rauhnächte

Wenn die Zeit der Wunder und das Fest der Liebe enden, beginnen die zwölf toten Tage außerhalb der Zeit.

Die Wilde Jagd bricht auf, sucht die Lebenden heim. Tiere reden. Menschen können einen Blick in andere, dunkle Welten werfen.

In diesen Nächten scheint alles möglich.

36 Tage. 36 Geschichten.

Die vierte Anthologie der Münchner Schreiberlinge entführt in die geheimnisvolle Welt zwischen den Jahren.

Die Münchner Schreiberlinge e.V.

sind ein Verein von engagierten, aufgeschlossenen Autor*innen. Wir treffen uns seit 2017 wöchentlich in einem Café, um gemeinsam zu schreiben. Zusätzlich halten wir Lesungen ab, tauschen Geschriebenes aus, machen Stadtführungen und noch so einiges mehr. Mehr zu uns und unseren Aktivitäten findest du in den Social Media. Hast du einen Bezug zu München und möchtest dich uns anschließen oder uns unterstützen? Hier findest du alle Informationen zu unserem Verein: www.muenchner-schreiberlinge.de

Die Erlöse dieser Anthologie unterstützen den

Münchner Verein „Kinder ohne Hunger“ e.V.

München ist eine reiche Stadt und trotzdem leben besonders viele

Familien unterhalb der Armutsgrenze. Oft fehlen ihnen die finanziellen

Möglichkeiten und vor allem auch das Bewusstsein für eine gesunde

Ernährung. Für diese Kinder ist Bildung der Schlüssel zu einem besseren

Leben. Doch ohne regelmäßige Mahlzeiten und gesunde Ernährung

verringern sich ihre Chancen dramatisch. Genau an diesem Punkt setzt

die Arbeit von „Kinder ohne Hunger“ e.V. an: Wir finanzieren gesunde,

abwechslungsreiche Frühstücke und Mittagessen in Münchner Schulen

und Freizeiteinrichtungen. Denn ein leerer Bauch kann sich nicht

konzentrieren und gesunde Ernährung trägt entscheidend zur

Leistungsfähigkeit eines Kindes im Laufe des Tages bei. Corona hat die finanzielle

Situation in den Familien nochmal verschärft und mehr denn je

ist dieser Verein eine Herzensangelegenheit für

das „Kinder ohne Hunger“-Team.

www.kinder-ohne-hunger.org

Dieses Buch enthält Inhaltswarnungen/Content Notes auf den drei letzten Seiten.

Siehe auch: www.muenchner-schreiberlinge.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Lucia Herbst:

Der Weihnachtskonvent

Roxane Bicker:

Paradies

Kristin Rebehn:

Der Junge mit den Winterhimmelaugen

Julia Valentina:

Auf der Jagd nach Krampus

Beatrice Braun:

Die Perchta

Isabell Hemmrich:

Gruß vom Krampus

Katharina Spengler:

Auf dem Heimweg

Dörte Schmidt:

Wunschsteine

Maximilian Wust:

Fimbulvetr

Friederike Mey:

Vor Anbruch des Morgens

Luna Day:

Die Nacht der Seelen

P. J. Hill:

Rauhnachtssturm

Maria Alasso:

Die Gefahren einer Winternacht

Marlene Pfeifer:

Das Rindvieh

Lucas Snowhite:

Reisebüro Anderswelten

Anja Puhane:

Wilde Rache

Juliette S. Francis:

Raue Weihnacht

Kristina Baumgarten:

Aushilfsjob an Weihnachten

Christiane J. Nathan:

Frau Percht wundert sich

Mae Ludwig:

Thomasnacht

Sylvia Hahn:

Tannennadeln und Frust

Lidia Kozlova-Benkard:

Der Doppelstern

Franziska Bauer:

Vom Glauben ans Christkind

Sarah Malhus:

Jagd

Angela Schwarz:

Der wilde Mann

Gwendolin Simper:

Der Vorreiter

Albertine Gaul:

Die Tochter der Jagdgöttin

Sarah Malhus:

Auszeit unter wid(d)rigen Bedingungen

Sara G. Haus:

Rostchaos

Pia Kasper:

Die letzte Nacht

Claudia Windirsch:

Die Wilde Jagd im versunkenen Dorf

Marie Wilhelmsen:

Zerrissen

Carlotta Schrader:

Frau Brecht und die Jagd nach dem Richtigen

Monika Grasl:

Einer mehr

Dani Aquitaine:

Wäsche

Matthias Sebastian Biehl:

Eine raue Nacht am Königssee

Danksagung

Die Autor*innen

Inhaltswarnungen / Content Notes

München, Juli 2021

Liebe Lesende,

dies ist die vierte Anthologie der Münchner Schreiberlinge und die Zahl vier hat hierbei eine ganz besondere Bedeutung.

Seit vier Jahren treffen sich die Münchner Schreiberlinge regelmäßig zum gemeinsamen Schreiben und Diskutieren.

Im Rahmen einer Lesung der Münchner Schreiberlinge im Oktober 2020 wurde pünktlich vor der Weihnachtszeit die Idee für diese Anthologie geboren.

Über die München Legenden, das Kürbisgemetzel und die Wanderpfade der Liebe führt unser Weg jetzt in die Zeit um Weihnachten und den Jahreswechsel mit den vier Adventssonntagen, dem Heiligabend am 24.12. und den 3x4 Rauhnächten.

Das Jahresende ist voller Gegensätze. Einerseits sehnt man sich gerade in der Weihnachtszeit nach Stille, Einkehr, Freunden und Familie.

Andererseits lauert zwischen den Feiertagen aber auch das Dunkle und die Barriere zwischen dem Dies- und Jenseits wird durchlässig.

Und schon sind wir in den langen und dunklen Nächten einer staden Zeit, den zwölf Rauhnächten.

Wenn sich St. Nikolaus, das Christkind, der Weihnachtsmann, Santa Claus und seine Elfen verabschieden, schlägt die fast vergessene Stunde der Wilden Jagd mit ihrer Anführerin Frau Perchta. Bis Dreikönigstag treiben in der Alpenregion allerlei Geister und Dämonen ihr Unwesen. Vor allem in der Thomasnacht, Heiligabend, Neujahr und an Dreikönig können die Menschen mit dem Jenseits Kontakt aufnehmen und einen Blick auf ihre Zukunft werfen. Durch Lärm und Perchtenläufe sollen die dunklen Mächte vertrieben werden. Das bekannteste Überbleibsel dieses Brauchtums ist das Bleigießen und das laute Feuerwerk in der Silvesternacht.

35 Schreibende aus München, dem gesamten Alpenraum und Deutschland begleiten euch durch die 24 Adventstage und die zwölf Rauhnächte, vom1. Dezember bis 6. Januar, mit ruhigen und stürmischen, herzerwärmenden und grausamen sowie lustigen und gruseligen Geschichten.

Wie bei bisher allen Anthologien der Münchner Schreiberlinge beteiligten sich alle Mitwirkenden vollkommen unentgeltlich an der Fertigstellung dieser Anthologie.

Die Verkaufserlöse kommen diesmal dem gemeinnützigen Münchner Verein „Kinder ohne Hunger“ e.V. zugute.

Wir wünschen euch genauso viel Spaß beim Lesen und Schmökern an dunklen Winterabenden, wie wir beim Schreiben und Zusammenstellen dieser Anthologie hatten.

Eure Lucia Herbst und Matthias Sebastian Biehl

Lucia Herbst

DER WEIHNACHTSKONVENT

Ohrenbetäubender Lärm stand über der weitläufigen Wiese im Norden des Englischen Gartens.

Am liebsten hätte ich mir die Ohren zugehalten, aber das wäre als Gastgeber ziemlich unhöflich gewesen.

Ein paar Krampusse prügelten sich mit einer Horde Perchten der Wilden Jagd. Die Anführerin der Jäger, Frau Perchta, ging brüllend und peitschenschwingend dazwischen. St. Silvester stand mit säuerlicher Miene abseits von uns allen und mied das irre Treiben auf der Wiese.

Alles mit Rang und Namen in der Weihnachts- sowie Neujahrszeit war meiner Einladung nachgekommen und fand sich heute, am 1. Dezember, hier versammelt.

Die Horden der Wilden Jagd waren hingegen ohne Einladung erschienen. Leider. Sie ließen es sich nicht nehmen, beim ersten Konvent dieser Art teilzunehmen und behaupteten stur, auch zur Weihnachtszeit dazuzugehören. Meiner Meinung nach eine ziemlich legere Auslegung der Sach- und Sagenlage, aber sie rauszuschmeißen hätte einen handfesten Skandal in der Vorweihnachtszeit ausgelöst, den wir gerade nicht brauchen konnten. Ich strafte Knecht Ruprecht mit einem wütenden Blick und schüttelte den Kopf.

Mein dunkler Begleiter zuckte mit den Schultern und grinste unverschämt. Er leugnete seine Verwandtschaft zu den Perchten nicht. Bevor er sich mir vor einigen Jahrhunderten angeschlossen hatte, war er sogar bei der Wilden Jagd mitgeritten. Er musste auch unbedingt die Sache mit dem internationalen Weihnachtskonvent an seine alten Freunde weitertratschen. Das Chaos hier ging indirekt auf seine Kappe.

»St. Nikolaus, was ist mit St. Silvester los?«, fragte mich das Christkind. »Ist er auf uns sauer?«

»Es liegt nicht an uns. Sein Todestag naht«, antwortete ich. »Er kommt nicht darüber hinweg, dass die Menschen diesen Tag so exzessiv feiern.«

Das Christkind schaute mitleidig in St. Silvesters Richtung. »Aber wenigstens haben sie ihn nicht vergessen.«

»Mach dir keine Gedanken«, beruhigte ich das Christkind. »Es ist jedes Jahr das Gleiche.«

»Wann kommen sie endlich?«, wechselte das Christkind das Thema und schaute sich ungeduldig um.

»Das gehört zu deren Machtspielchen«, antwortete ich und verkniff es mir, die Augen zu verdrehen. Die Wiese quoll über vor Sagengestalten und Dämonen, aber die wichtigsten Teilnehmer – der Grund für dieses außerordentliche Treffen – ließen auf sich warten.

Als unaufgeregte und wenig schillernde Weihnachtsgestalt fiel mir das Los des Vermittlers zu. Ich hätte es gerne in ein anderes Land ausgelagert, aber mein Einflussgebiet befand sich logistisch genau in der Mitte zwischen den beiden Streithammeln. Wir wollten eigentlich kurz nach Einbruch der Dunkelheit beginnen, um genügend Zeit für die Verhandlungen zu haben. Aber nun warteten wir seit Stunden auf die beiden Platzhirsche des weltweiten Weihnachts- und Neujahrswahnsinns. Die Uhr zeigte schon weit nach Mitternacht. Langsam wurde auch ich ungeduldig. Wenigstens die Wilden Horden amüsierten sich bei diesem Ausflug aus der Unterwelt. Sie degradierten den Konvent zu einem dämonischen Jahrmarkt.

»Ho, ho, ho!«, ertönte es endlich von Westen. Unzählige Glöckchen begleiteten die tiefe, dröhnende Stimme. Ich atmete erleichtert auf. Ein rotgoldener Schlitten, gezogen von acht Rentieren, drehte eine Runde über unseren Köpfen und landete mitten auf der Wiese. Ein paar Dämonen mussten aus dem Weg springen.

Ich rückte meine Bischofsmütze zurecht, fasste meinen Stab fester und schritt auf das Gespann zu. »Santa Claus, willkommen in München!«

Heraus sprangen etwa 50 hüftgroße, grün gekleidete Weihnachtselfen mit spitzen Mützen. Sie rollten einen roten Teppich aus, damit ihr Boss sich nicht die roten Schuhe schmutzig machte.

Dieser kugelte aus dem Schlitten. Die Werbeplakate mit den beleuchteten Trucks und den Getränkeflaschen trafen ihn ziemlich gut. Mit weit ausgestreckten Armen kam er auf mich zu. »Ho, ho, ho! Der alte Nick!«, dröhnte seine Stimme über die ganze Wiese mit einem breiten amerikanischen Akzent. »Wie geht es dir, Cousin? Verteilst du immer noch Mandarinen und Nüsse an deine Kinder?«

Ich lächelte geduldig, denn ich wusste, was nun kommen würde.

»Nur ein Wort von dir, ich schenke dir sofort eine Spielzeugfabrik. Dann stationieren wir da noch ein paar Elfen. Deine Kinder können es genauso schön haben wie bei uns!« Mit einem Zwinkern fügte er leise hinzu: »Dann hast du ganz schnell das Monopol über Christmas in Deutschland. Wäre doch gelacht, wenn wir Santas das Fest nicht weltweit übernehmen könnten.«

»Darf ich vorstellen: das Christkind.« Hinter mir erschien schüchtern lächelnd mein Freund. »Du weißt doch, dass wir hier eine Art Gewaltenteilung in der Vor- und Weihnachtszeit haben.«

»Undin der Nachweihnachtszeit. Oder willst du uns einfach unterschlagen, du alter Pfaffe?«, krächzte Frau Perchta neben mir. Die Anführerin der Wilden Jagd gehörte jetzt wohl auch zum Begrüßungskomitee. Ich schloss kurz die Augen.

»Vergiss Neujahr nicht«, sagte St. Silvester säuerlich. Auch er gesellte sich zu uns.

»Hello Silvester!« Santa strahlte ihn an und verpasste ihm einen herzlichen Knuff in die Schulter, so dass St. Silvester nach hinten stolperte. Dann musterte Santa das Christkind und Frau Perchta. »Dieses kleine Mädchen and the old hag… ähhh Madam, haben hier auch etwas zu sagen?«

»Wie hat mich dieser aufgeplusterte Truthahn gerade genannt? Alte Hexe?« Frau Perchta sprang vor, bohrte einen knorrigen Zeigefinger in Santas beachtlichen Bauch. »Glaubst du, ich bin blöd und verstehe dich nicht? Ich kenne Sprachen aus Zeiten, da warst du noch nicht mal eine mickrige Schnapsidee in den Köpfen der Menschen!«

Frau Perchtas Begleiter knurrten, scharrten mit den Füßen und rasselten mit den Waffen.

Santa riss erstaunt die Augen auf.

Hastig trat ich vor und schob Frau Perchta mit einem gezwungenen Lächeln beiseite.

»Dieser Junge und diese Göttin aus der alten Welt vertreten jeweils eine eigene Glaubensrichtung, haben eine eigene Politik und ein seit Jahrhunderten bewährtes Programm«, erklärte ich Santa.

Er zwinkerte mir zu und flüsterte so laut, dass es jeder auf dem roten Teppich hören konnte: »Deine Gegenspieler? No Problem!«

»Nein, das sind eher …«

»I’m sorry, dass ich der Letzte bin«, unterbrach Santa mich, »aber du weißt ja, das Business kurz vor Christmas. Wo ist denn die alte Frostbeule?« Er sah sich um.

»Du bist nicht der Letzte. Er ist noch nicht da«, teilte ich ihm mit.

Santas Augen blitzten gefährlich auf. Er wollte etwas sagen, doch plötzlich wurde es kalt. Sehr kalt.

Der Boden unter unseren Füßen gefror, Reif überzog Santas Schlitten. Unser Atem legte sich als Eiskruste über Bärte, Augenbrauen und Wimpern. Von Osten hörten wir das Knacken von Eis. Unheimliche Stille legte sich über die Lichtung. Selbst die Wilden Horden verstummten. Für einen Moment hielt die Natur die Luft an, bevor ein gewaltiger Schneesturm über uns hereinbrach. Der Wind tobte und heulte. Ich sah die Hand vor Augen nicht mehr. Innerhalb von Sekunden fielen etwa vierzig Zentimeter Neuschnee. Das Schneetreiben stoppte genauso abrupt wie es begonnen hatte. Nichts rührte sich mehr, nur ein paar letzte Schneeflocken schwebten zu Boden. Da erschienen sie.

Ded Moroz und Snegurotschka – Väterchen Frost mit seiner Enkelin, dem Schneemädchen – traten zwischen den Bäumen am Rande der Wiese hervor und schritten majestätisch auf uns zu. Ihre bodenlangen blau-weißen, traditionell russischen Gewänder und Snegurotschkas hoher Kopfschmuck funkelten und strahlten im Mondlicht. Sie schritten durch die Wilden Horden. Einige Seelenjäger pfiffen Snegurotschka hinterher. Ein eiskaltes Lächeln zuckte für den Bruchteil einer Sekunde über ihr makelloses Gesicht, und die respektlosen Dämonen gefroren zu Eisstatuen. Ihre umstehenden Kumpane wurden unruhig, schauten hilfesuchend zu Frau Perchta neben mir.

»Geschieht euch recht, ihr dreckigen Nichtsnutze«, zischte sie nur.

»Ahhhh, mein alter Freund, Frost! Und seine wunderschöne Enkelin! Welcome, welcome!« Santa ging auf die Neuankömmlinge zu. »Wir dachten schon, ihr werdet mit den New Year’s Vorbereitungen bei euch daheim nicht fertig. Ich wollte schon zu Hilfe eilen. Oder habt ihr euch in den Büschen versteckt und abgewartet, bis ich komme?«

Santa erstarrte mitten im Schritt. Seine untere Körperhälfte begann zu gefrieren. Ded Moroz lächelte eisig. »Du denkst zu viel … alter Freund«, sagte er mit einem harten russischen Akzent. »Deine Hilfe«, er schwang seinen übermannsgroßen Stab aus Eis und vor uns erschien ein Eisblock, in dem sich zehn grüngekleidete eingefrorene Elfen befanden, »hätten sie gebraucht.«

Ein Raunen ging durch Santas Elfen.

»Du! Wie kannst du es wagen, dich an meinen Elfen zu vergreifen?« Santa lief knallrot im Gesicht an.

»Deine Genossen verirrten sich in mein Gebiet. Dich freut sicher, dass ich sie hinausbegleitet habe.« Ded Moroz’ Stimme klang unergründlich wie die Zeit und uralt wie die Natur selbst.

Frau Perchta strich sich die Haare aus dem Gesicht.

Ich stutzte. Sie sah nicht mehr wie 150, sondern wie 80 Jahre alt aus. Mich wunderte nicht, dass ihr diese Art der Machtdemonstration gefiel.

Snegurotschka trat vor und schnippte gegen den Eisblock. Er zersprang mit einem lauten Knacken und gab die Elfen frei. Zu meiner Erleichterung lebten sie noch, benommen rappelten sie sich auf die Beine hoch. Sofort umringten ihre Artgenossen sie und zogen sie hastig hinter Santas breiten Rücken.

St. Silvester vergaß sein Selbstmitleid. Er betrachtete interessiert Ded Moroz, der in seinem Gebiet neben Kälteerzeugung und Geschenkeproduktion auch über das Neujahr herrschte. Gelebter Zentralismus.

Santa ballte die Fäuste.

Bevor er auf Ded Moroz losgehen konnte, trat ich zwischen die beiden Kontrahenten. »Willkommen, Ded Moroz. Sei gegrüßt, Snegurotschka.«

Wir mussten dringend die Verhandlungen einleiten. Bei der Sache mit den Elfen waren beide zu weit gegangen. Eine weitere Zuspitzung des Konflikts konnte ich nicht zulassen.

»Eine Hundewiese?«, fragte mich Snegurotschka, ohne auf meine Begrüßung einzugehen.

»I… Im Sommer sonnen sich hier Leute und spielen Kinder. Kein Gebäude in München würde diese Kälte unbeschadet aushalten. Deswegen haben wir gedacht, dass eine Wiese der beste Ort …«, brabbelte das Christkind darauf los und wurde unter dem kalten Blick der Schneeschönheit immer kleiner und im Gesicht röter.

»Was für ein hübsches Mädchen«, sagte Ded Moroz wohlwollend zum Christkind. Zu seiner Enkelin gewandt fuhr er fort: »Ihr könnt euch anfreunden. Du beklagst dich stets, dass es keine Frauen im Weihnachtsund Neujahrsgeschäft gibt. Sieh, hier sind gleich zwei.« Nun musterte er auch Frau Perchta.

Diese sah jetzt kein Jahr älter als 60 aus, warf sich in Pose, trat mit ausgestreckter Hand vor. »Perchta, mein Name, ich bin wie Sie in der Kälte- und Schneeproduktion beheimatet. Das sind meine Mitarbeiter.« Sie zeigte auf die Wilden Horden. Ihre Stimme verlor das Knarzende und vibrierte angenehm in den Ohren. »Wir machen noch ein paar andere Sachen, aber eisige Stürme sind auf jeden Fall ein Schwerpunkt«, fügte sie mit einem Augenaufschlag hinzu.

»Ich bin entzückt.« Ded Moroz ergriff ihre Hand und gab ihr einen Handkuss, der sie um weitere zehn Jahre verjüngte. »Eine mächtige alte Göttin, die mit Kälte umgehen kann. Warum begegneten wir uns nicht schon früher?«

Die alte Göttin kicherte wie ein Mädchen.

»Wenn du nicht aufpasst, schaust du bald jünger aus als seine Enkelin«, giftete Knecht Ruprecht Frau Perchta an. Ich hegte schon immer den Verdacht, dass er heimlich in sie verknallt war.

»Ich bin übrigens ein Junge«, meldete sich das Christkind mit einer Stimme, die mindestens eine Oktave tiefer klang.

Ich schaute genauer hin. Schien er nicht einen halben Kopf größer, die goldenen Haare kürzer? Das konnte nicht wahr sein. Hatte die Kälte den beiden das Hirn weggefroren?

Snegurotschka musterte das Christkind interessiert, wieder schoss Farbe in sein Gesicht.

Ich räusperte mich. Genug gebalzt, wollte ich sagen. Stattdessen verkündete ich sachlich die Tagesordnung: »Nach der Begrüßung wollen wir uns jetzt den beiden Themen zuwenden, weswegen wir hier versammelt sind: Die Sicherstellung der weltweiten winterlichen Kältezufuhr«, ich warf Ded Moroz einen Blick zu, »und ein internationales Geschenkehandelsabkommen.« Nun fixierte ich Santa. »Ich möchte euch einmal kurz die Lage hier in Mitteleuropa schildern. Wir sind sowohl auf Geschenkimporte von Santa als auch auf die Kältezufuhr von Ded Moroz angewiesen. Frau Perchta kann seit längerer Zeit nur noch kleine Landstriche im Alpenvorland mit Schnee versorgen.«

Die alte Göttin schaute betreten zu Boden.

Bei dem Gedanken an verregnete warme Dezembertage und enttäuschte Kinderaugen an Weihnachten bildete sich ein Kloß in meinem Hals.

»Wieso? Ist die sprachkundige Madam ein wenig altersschwach?«, giftete Santa.

»Warte nur, bis du so alt bist wie ich.« Frau Perchta fuhr vor Wut in die Luft und schwebte über unseren Köpfen. Windböen fegten über den Schnee und zerrten an unseren Mänteln. »Vielleicht haben sich die Menschen bis dahin eine neue Witzfigur ausgedacht.« Ihre Horden bildeten einen gefährlich engen Kreis um Santa. »Und wenn du dann wie ein Luftballon zerplatzt, werde ich immer noch über die Lande jagen.«

Santa lachte höhnisch. »Jagen? Es reicht jetzt schon gerade mal für ein Hinken. Aber Luftballon ist very nice, eine gute Idee.« Er winkte einen Elf herbei. »Wir brauchen 450 Millionen Luftballons bis Christmas. Mit meinem Gesicht darauf. Legt einen zu jedem Geschenk.«

Der Elf notierte eifrig mit.

»Beachten Sie diesen Emporkömmling nicht, meine Liebe«, mischte sich Ded Moroz ein. »Er soll sich an seine Luftballons klammern. Gegen unsere märchenhafte Vorsorge kommt er nicht an. Wenn er verschwindet, werden wir noch viele Jahre durch die Winter wandern.« Er strich sich selbstzufrieden über den langen weißen Bart. Frau Perchta landete sanft auf dem Boden. Galant reichte ihr Ded Moroz eine Hand und der Wind beruhigte sich wieder.

Santa sah die beiden wütend an. Sie trafen einen Nerv bei ihm. Eigentlich bei uns allen. Er betrieb nicht umsonst solch aggressive Werbemaßnahmen und versuchte sein Gebiet auszuweiten. Auch Ded Moroz bewachte aus einem einzigen Grund die Grenzen seines Reichs mit solcher Vehemenz: Wir alle fürchteten das Vergessenwerden.

»In welchem Märchen haben Sie sich verewigt?«, fragte DedMoroz Frau Perchta.

»Frau Holle, ein Volksmärchen«, antwortete die alte Göttin stolz.

Genaugenommen existierte sie nur noch, weil es dieses Märchen gab.

»Ahhh, äußerst klug!« Ded Moroz nickte anerkennend.»Meine Enkelin und ich haben getrennt voneinander in jeweils ein eigenes Volksmärchen investiert. Doppelte Sicherheit.«

Wir schweiften ab. Bevor Frau Perchta etwas erwidern konnte, griff ich ein. »Meine Herrschaften, darf ich Sie bitten, zur Tagesordnung zurückzukehren? Neben der Frage mit der Kältezufuhr müssen wir auch noch die Geschenkimporte reglementieren.«

Santa ging bei diesem Thema sofort in die Vollen: »Es wäre doch wunderbar, wenn wir hier in Europa noch ein paar Geschenkfabriken aufbauen könnten. Ich helfe euch. Das Christkind kann die Buchhaltung übernehmen.«

Mein kleiner Freund sah mich verzweifelt an. Eine solche Regelung würde sein sicheres Verschwinden in naher Zukunft bedeuten. Wir brauchten Santas Geschenkimporte, aber nur unter der Bedingung, dass das Christkind zumindest einen Teil der Gaben unter seinem Namen verteilen durfte. Dann wäre das Christkind gerettet. Gleichzeitig bekäme Santa einen Fuß nach Mitteleuropa.

»Wenn ihr den Bau einer solchen Anlage in eurem Gebiet zulasst, werde ich die Kältezufuhr nach Europa und Amerika mit sofortiger Wirkung stoppen.« Mich fröstelte, als Ded Moroz seine eisblauen Augen auf mich richtete.

»Wir haben Kanada und Alaska«, sagte Santa großspurig und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Nick, lass dich von ihm nicht erpressen. Du hast noch Skandinavien hier in der Nähe. Ich helfe dir bei den Verhandlungen mit ihnen.«

»Spar dir deine leeren Versprechen. Die haben keine Kälteüberschüsse«, mischte sich Frau Perchta ein. Sie sah wieder 20 Jahre älter aus.

»Bei der steigenden Geschenkenachfrage schaffe ich die Produktion und Auslieferung nicht mehr aus einer Hand.« Das Christkind spielte nervös mit einer goldenen Kordel seines weißen Gewandes. »Vielleicht könnten wir uns auf einen kleinen Ableger von Santa hier einigen?«

Snegurotschka hob eine Augenbraue und das Christkind schaute zu Boden.

Wir befanden uns in einem Dilemma. Santa und Ded Moroz schienen nicht bereit, sich von ihren Positionen zu bewegen.

»Du hast doch so viele Überschüsse.« Santa wandte sich mit listig zusammengekniffenen Augen an Ded Moroz. »Was willst du damit machen? Deine Leute mit der Kälte umbringen?«

Ded Moroz und seine Enkelin schwiegen. Sie tauschten einen schnellen Blick aus.

Ich spannte mich an. Irgendetwas stimmte nicht.

»Wir haben seit einigen Jahren eine sinkende Kälteproduktion«, sagte Snegurotschka. »Schon mal was von globaler Erwärmung und schmelzenden Polarkappen gehört?«

Mir stockte der Atem. Auf der Wiese wurde es still. Selbst der dümmste Dämon verstand, was das bedeutete. Unseren Gästen aus dem Osten musste es nicht leichtgefallen sein, ihr Problem hier vor allen offenzulegen.

Ich hegte plötzlich einen Verdacht: Sie wollten nicht verhandeln. Sie baten um Hilfe. Ich machte mich auf eine hämische Bemerkung von Santa bereit. Doch er schwieg. Dieses Problem betraf auch Kanada und erklärte die fehlenden Kälteüberschüsse von Skandinavien.

»Was können wir tun?«, fragte ich in die Runde und übernahm wieder die Rolle des Moderators.

»Das Tempo rausnehmen. Dafür sorgen, dass die Menschen sich besinnen«, sagte das Christkind leise, »was man eben an Weihnachten so tun sollte.«

Frau Perchta nickte. »Stimmt, weder zum Fürchten noch zum Lieben haben sie Zeit. Mich, die Wilde Jagd und die alten Götter haben sie längst vergessen.« Traurig betrachtete sie ihre Horde. Sie wirkte wieder um Jahrzehnte gealtert. »Kaum jemand erzählt noch Geschichten über uns.«

St. Silvester nickte. »Es geht nicht nur dir so. Was bringt es, wenn sie zwar unsere Namen kennen, aber vor lauter Feuerwerk und Geschenken keine Ahnung haben, wer wir eigentlich sind. Weiß noch jemand, dass ich ein Heiliger für Haustiere bin? Oder ob das Christkind ein Mädchen oder ein Junge ist? Was sein Ursprung ist?«

»Vor allem könnte der Planet wieder durchatmen. Wenn es keinen Frost mehr gibt, kann ich ihn nicht einfach herzaubern«, ergänzte Ded Moroz ungewöhnlich emotional. »Ich bin das Kind der Kälte, nicht ihr Erzeuger.«

Snegurotschka legte beruhigend eine Hand auf seinen Oberarm.

Santa räusperte sich. »Besinnen, entschleunigen. Ich sehe doch, worauf das hinausläuft. Die Kids brauchen Geschenke. Die Erwachsenen übrigens auch!« Er redete sich in Rage: »Wie stellt ihr euch ein Christmas oder in deinem Fall New Year ohne Geschenke vor?« Wütend funkelte er Ded Moroz an.

»Zeit«, sagte ich langsam. »Wir schenken ihnen Zeit. Keiner hat sie, jeder braucht sie.«

»Und wie soll das gehen?«, fragte Santa gereizt.

»Wir nehmen ihnen über die Feiertage die Sachen ab, die sie stressen und viel Zeit kosten«, überlegte ich laut.

»Wir sind doch keine Heinzelmännchen«, rief ein Elf. Santa nickte.

Auf der Wiese erhob sich ein Summen, als alle durcheinander redeten und meine Idee diskutierten.

»Wir kommen wieder unter Menschen«, johlte jemand aus der Wilden Horde, und die restliche Meute brach in begeistertes Geheul aus.

Das mit dem Überzeugen ging ja schnell, nur leider bei den Falschen. »Nein! Nicht ihr. Es geht nicht darum, eure Reihen zu füllen«, schrie ich in Richtung der Wilden Jagd und versuchte den Lärm zu übertönen.

Frau Perchta baute sich vor mir auf. »Sei nicht so wählerisch. Nimm, was du kriegst. Wir nehmen schon keinen Unschuldigen mit.«

Sie und ihre Horde brannten für die Idee. Wortwörtlich.

»Aber die leuchtenden Kinderaugen, wenn sie die Geschenke auspacken!« Santa gab nicht auf.

»Schon mal die Kinderaugen gesehen, wenn die Eltern sich die Zeit nehmen und ihnen eine richtig lange Geschichte vorlesen? Oder den Blick alter Menschen, wenn ihre Familie sie besucht?« Snegurotschka trat in die Mitte und hob die Hände. Über der Lichtung erschienen riesige Eisblumen. Sie schwebten durcheinander. Darin spiegelten sich Gesichter von Menschen jeglichen Alters. Das Glück in den Augen der Abgebildeten brachte die Blumen zum Strahlen.

»Meine Erinnerungen«, sagte sie sanft. »Ich beobachte die Menschen seit Jahrhunderten durch ihre Fenster. Amglücklichsten sind sie, wenn sie füreinander da sind.« Ihre Gesichtszüge wirkten fast schon zärtlich.

Alle auf der Wiese legten die Köpfe in den Nacken und beobachteten staunend das Schauspiel.

Snegurotschka fuhr leise fort: »Wenn ich mir einen Augenblick ihres Glücks stehle und als Erinnerung einfriere, lasse ich als Dank eine Eisblume an ihren Fenstern zurück.«

Sogar die Krampusse und Perchten wirkten andächtig.

Ich schmunzelte. Auch wenn sie am anderen Ende von »Gut und Böse« standen, bildeten wir nicht doch ein großes Ganzes? Wenn ich ihre Fratzen so sah, erschien mir zum ersten Mal eine Zusammenarbeit mit ihnen möglich.

Santas Elfen schauten mit offenen Mündern zu. Sie arbeiteten in der Geschenkeproduktion, das Ausliefern übernahm Santa. Viele kannten die Menschen nur vom Hörensagen. Sehnsucht lag in ihren Gesichtern.

Santa betrachtete nachdenklich sein Gefolge. Schließlich seufzte er. »Also gut, wir machen auch mit.«

Langsam sickerten Santas Worte in das Bewusstsein der Elfen und sie flüsterten aufgeregt miteinander.

Ich wurde wieder in die harte Realität katapultiert, als eine Gruppe Dämonen lautstark und todernst ausdiskutierte, wie sie mit einem gewaltigen Eissturm die Straßen glatt und unbefahrbar machen wollten, damit die Menschen daheimblieben.

»Genau so wollen wir das nicht machen«, ging ich dazwischen. »Wir stellen jetzt einen Plan auf und verteilen die Aufgaben.«

Snegurotschka ließ die Eisblumen verschwinden.

Ich bekam wieder die volle Aufmerksamkeit. »Zur Sicherheit werden wir Pärchen bilden. Jeder aus der Wilden Horde bekommt einen Elf zugewiesen.«

»Ich gehe mit Ded Moroz. Zusammen können wir bestimmt für eine weltweit stabile, kalte Wetterlage sorgen«, sagte eine 40-jährige Perchta.

»Dann gehe ich mit dem Christkind«, meldete sich Snegurotschka. Das Christkind sah jetzt aus wie ein Christ-Jugendlicher, mit knallrotem Gesicht.

Zum ersten Mal in dieser Nacht lachte Ded Moroz. Seine Augen leuchteten, brachten das Eis auf der Lichtung zum Funkeln.

Santa stimmte lautstark in das Lachen mit ein. Auch ich konnte nicht widerstehen. Sogar St. Silvester lächelte.

Kurz vor Morgengrauen konnten wir uns endlich einigen und festlegen, wer den Menschen auf welche Weise mehr Zeit verschaffen sollte. Zum Beispiel würden wir für freie Straßen, funktionierende IT, stabile Telefonverbindungen, pünktliche Züge, volle Kühlschränke, saubere Wäsche bei den Erwachsenen und gute Stimmung bei den Kindern sorgen. Das mit der guten Stimmung verstanden die Krampusse auch nach mehreren Erklärungsversuchen nicht.Wortlos ließ Snegurotschka eine Eisblume erscheinen, die uns etwa für fünf Sekunden den Wutanfall eines Dreijährigen zeigte. Den Perchten sträubte sich das Fell, die Elfen hielten sich erschrocken die Ohren zu und den Krampussen ging ein Licht auf. Erleichtert atmeten wir auf, als die Eisblume wieder verschwand.

Doch nicht alle Themen ließen sich so einfach abhandeln. Es gab lange Diskussionen mit den Krampussen und Perchten, weil sie auf so glorreiche Ideen kamen, wie das Stromnetz oder den Bankensektor der Menschen lahmzulegen. Die Logik, dass die Sterblichen mehr Zeit hätten, wenn sie nicht mehr arbeiten oder shoppen könnten, ließ sich nur schwer durchbrechen. Ich zweifelte bis zum Schluss daran, dass alle Unholde den Unterschied zwischen Lahmlegen und Ruhe begriffen hatten.

Damit sie möglichst wenig Unheil anrichten konnten, bekamen die Dämonen das Einflüstern zur Aufgabe, eine ihrer ursprünglichsten Funktionen. Die großen Themen waren: Versöhn dich mit … ; ruf … an; geh nach Hause zu … ; nimm dir Zeit für … ; und was sie sonst noch in den Seelen der Menschen fanden.

Der Gedanke daran brachte einen Krampus und zwei Perchten dazu, sich zu übergeben. Aber wir Lichtgestalten blieben unerbittlich. Entweder sie halfen auf diese Weise oder aber sie mussten umgehend zur Hölle fahren. Den Ausgang während ihrer zwölf Rauhnächte konnten wir zwar nicht verhindern, der stand ihnen zu, aber sie würden keine Sekunde länger davor oder danach bekommen. Frau Perchta ließ einmal die Peitsche knallen. Das reichte für den einstimmigen Beschluss ihres Gefolges, friedlich mitzumachen. Ded Moroz nickte ihr anerkennend zu. Wirkte er nicht auch jünger? Die beiden passten zusammen wie Eis und Wasser.

Die handwerklich begabten Elfen wollten neben Dämonenüberwachung auch noch Haus- und Reparaturarbeiten für die Menschen übernehmen. Santas Produktionsstätten würden dieses Jahr weitgehend stillstehen. Wir einigten uns, dass weltweit jedes Kind ein kleines Geschenk zum Auspacken bekommen würde. Mehr nicht.

St. Silvester bekam zu seiner Genugtuung die Aufgabe, für weniger Feuerwerk zu sorgen. Er wollte ein paar Dämonen zum Einflüstern mitnehmen.

Bevor wir uns mit den anstehenden Aufgaben und zeitweise neuen Gefährten über die Welt verteilten, beschlossen wir, den Gipfel der Weihnachts-, Neujahrs- und Rauhnächtewesen zur Verbesserung der internationalen Beziehungen und Sicherstellung der Kältezufuhr, kurz Weihnachtskonvent, jährlich zu wiederholen.

Ich werde diese Nacht niemals vergessen. Santa und Ded Moroz, Lichtgestalten und Dämonen, neue und alte Götter würden ab jetzt für 36 Tage im Jahr, vom1. Dezember bis zum 6. Januar, zusammenarbeiten.

Zufrieden sah ich mich um.

Snegurotschka und das Christkind verschwanden tuschelnd und kichernd als erste. Frau Perchta stand untergehakt bei Ded Moroz. Sie hielten mit Santa und St. Silvester noch ein Schwätzchen zum Abschied.

Die Dämonen halfen den Elfen auf ihre breiten Schultern.

»Ob das gutgeht?«, murmelte ich. Aber die Elfen schienen furchtlos und die Unholde neugierig auf ihre neuen Begleiter.

»Bestimmt.« Knecht Ruprecht trat neben mich. »Schau uns zwei an. Vielleicht entstehen da Bindungen für die Ewigkeit.« Er zwinkerte mir zu und legte einen Arm um meine Schultern. »Wollen wir?«

Wir verließen die Lichtung. Es gab viel zu tun, aber das fühlte sich gut an.

Wäre doch gelacht, wenn wir nicht alle zusammen die Menschen glücklicher und die Winter kälter bekämen.

Roxane Bicker

PARADIES

Leise rieselten federleichte Schneeflocken aus den Wolken, als würde Frau Holle ihre Federbetten ausschütteln. Marie blieb einen Moment stehen und schaute hinauf in den trüben Himmel, stellte sich vor, dass der Schnee wirklich weiße Vogelfedern wären. Doch die Illusion starb, als sie feucht auf ihrem Gesicht landeten und der nasse, pappige Schnee durch ihre rissigen Stiefel drang. Ihre Socken waren schon längst durchnässt und sie durfte nicht stehen bleiben. Es war kalt. So kalt! Sie zitterte, zog sich die Felljacke enger um den Körper und band sie mit dem Strick fest zu.

Wo versteckte sich das verfluchte Viech nur? Sie konnte die Spuren der Ziege nur schwer ausmachen. Zu leicht war das Tier und zu schnell bedeckten die herabfallenden Flocken die Hufabdrücke.

Marie blickte zurück ins Tal, wo die kleine Hütte lag, doch sie sah nur Schnee und ihre eigenen Fußabdrücke, die immer schneller verschwanden. Schnurgerade zogen sie sich den Berg hinauf, schnurgerade wie auch die Spur der Ziege, als hätte sie ein Ziel, als wüsste sie, wo sie hin wollte, und wäre nicht nur einfach abgehauen.

Ein leiser Fluch kam Marie über die Lippen und schnell biss sie die Zähne zusammen. Mutter mochte es nicht, dass sie so redete. Aber Mutter war nicht hier und das eine außergewöhnliche Situation.

Weiter. Sie musste weiter. Nur wenn sie in Bewegung blieb, hatte sie eine Chance, das Viech zu finden, zurückzubringen und sich nicht die Zehen abzufrieren. Marie schüttelte den Schnee von der Kapuze, von der Jacke, und lief weiter. Immer weiter bergauf.

»Da musst du wohl die Tür nicht richtig hinter dir abgeschlossen haben. Das tut mir aber leid.« Der süße Tonfall ihrer Schwester Elisa verbarg den Hohn der Worte nicht.

Marie starrte auf den leeren Stall, das offene Gatter, dort, wo die Ziege eigentlich hätte stehen sollen, die sie gerade melken wollte, damit Mutter wenigstens etwas Nahrhaftes bekam. Langsam stellte sie den Eimer ab und drehte sich zu ihrer Schwester um, die mit einem gezwungen unschuldigen Gesichtsausdruck in der Tür stand.

»Und das Gatter?«, presste sie hervor. »Habe ich das auch aufgelassen?«

Elisa zuckte die Schultern. »Muss wohl so sein. Du siehst es doch, nicht wahr?«

Marie ballte die Fäuste und atmete bewusst langsam ein und aus. Am liebsten hätte sie den Eimer genommen und ihn ihrer Schwester an den Kopf geworfen. Ihrer Halbschwester. Die sie immer spüren ließ, dass sie die Ältere war. Dass sie Marie und deren Mutter in der kleinen Hütte nur duldete. Und dass es ihr gar nicht passte, dass die ältere Frau nun so krank darniederlag und sie auf ihre Arbeitskraft verzichten mussten.

Das Leben war nicht leicht in der abgeschiedenen Hütte. Jede Hand wurde gebraucht, damit sie einigermaßen über die Runden kamen. Doch Elisa hielt sich gerne zurück, machte sich nur selten die Finger schmutzig. So blieb inzwischen die meiste Arbeit – und die Pflege ihrer kranken Mutter – an Marie hängen.

Sie versuchte, einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck aufzusetzen, und drehte sich um. »Weit kann sie nicht gekommen sein«, sagte Marie ruhig. »Und vielleicht sehnt sie sich bei dem Wetter da draußen auch schnell wieder in ihren warmen Stall zurück.«

Elisa klimperte mit den Wimpern. »Vielleicht hat sie sich auch einfach entschieden, von hier fortzugehen. Vielleicht solltest du ihrem guten Beispiel folgen.«

Es war kein Geheimnis, dass Elisa Marie und ihre Mutter am liebsten loshaben wollte, dass sie die beiden nur duldete, weil ihr Vater es so bestimmt hatte. Doch sie triezte und piesackte Marie, wo es nur ging, und Marie zweifelte nicht daran, wer Gatter und Tür geöffnet und die Ziege vertrieben hatte.

Was sollte sie also tun? Hierbleiben und hoffen, dass das Tier von alleine zurückkehrte? Doch dann bekäme ihre Mutter keine Ziegenmilch. Hinaus in den Schnee und ihre kranke Mutter Elisas Gnade überlassen?

Sie sah in die harten Augen ihrer Halbschwester und traf eine Entscheidung.

Was wollte das Viech hier so hoch in den Bergen? Es gab hier doch nichts außer Fels, Fels und Fels. UndSchnee. Bei klarem Wetter vielleicht eine schöne Aussicht, aber das kümmerte Marie herzlich wenig. Sollte sie eine zerstörte Welt bewundern? Die großen Krater, die der Brand hinterlassen hatte und die sich wie Pockennarben über das Land zogen?

Marie schüttelte den Kopf, um die düsteren Gedanken zu vertreiben. Die Vergangenheit sollte sie nun nicht kümmern. Sie hatte Wichtigeres zu tun. Mühevoll zog sie ihren Fuß aus dem immer tiefer werdenden Schnee, tat einen Schritt und stieß mit dem Kopf schmerzhaft gegen eine Felswand, die sie im dichten Schneetreiben übersehen hatte. Ein weiterer Fluch löste sich von ihren Lippen und diesmal hielt sie ihn nicht zurück. Sie rieb sich die wehe Stirn und blickte an der Wand empor, die sich im trüben Licht verlor. Die Ziege würde wohl kaum hier hinauf geklettert sein. Oder war sie doch vorher abgebogen und Marie hatte es übersehen? Fast wollte sie ihren Kopf ein weiteres Mal gegen den Stein schlagen. Sie musste das Tier zurückbringen! Sonst würde ihre Mutter über kurz oder lang sterben und das bräche Marie das Herz.

Einen Moment dachte Marie daran, aufzugeben. Sich einfach in den Schnee zu legen, vom fedrigen Weiß bedecken zu lassen, in ihm zu versinken, wie in Frau Holles weichen Betten. Doch nein. Aufgeben war keine Option, das hatte ihre Mutter ihr von klein auf mitgegeben. Die Zeiten waren schwer, jeder kämpfte ums Überleben, und das musste auch sie tun. Marie zog sich die Kapuze vom Kopf, schloss die Augen und lauschte. Vielleicht würde sie so die Ziege finden.

Ein leichter Luftzug streifte Maries Wange. Zart, wie eine Schneeflocke, aber warm und nicht nasskalt. Sie strich sich die Flocken aus den kurzgeschorenen Haaren, zog die Kapuze wieder hoch und stapfte nach rechts, in die Richtung, aus der die Luft kam. Eine Hand hielt sie dicht an der Felswand, um die Orientierung nicht zu verlieren. Das Licht schwand immer schneller und sie verdrängte den Gedanken, wie sie den Weg nach Hause finden sollte, wenn sie das Tier erst entdeckt hatte.

Ihre Hand rutschte ab und Marie taumelte, verlor den Halt und fiel auf die Knie. Der Schnee dämpfte ihren Sturz, gleichzeitig durchweichte er ihre Hose und drang in ihre Ärmel. Sie zitterte. Was hatte sie zu Fall gebracht? Sie hatte sich doch an der Felswand…Langsam drehte Marie den Kopf, streckte die Hand aus, tastete nach dem Fels, fand Halt, ließ ihre Finger weiter gleiten und dort? Dort befand sich eine Lücke im Fels, ein schmaler Spalt. Ein Durchgang?

Sie rappelte sich auf, schüttelte das kalte Nass ab und tastete sich immer weiter in den Fels hinein. Bald wurde der Spalt so eng, dass sie nur noch auf allen vieren vorwärtskam und Maries Schultern an den Wänden entlangschrammten. Für eine dürre Ziege kein Problem, für einen Menschen durchaus. Mit letzter Kraft schob Marie sich durch den Spalt und plötzlich kam sie frei. Der Schwung ließ sie kopfüber einen sanften Abhang hinunterpurzeln.

Benommen blieb Marie liegen. Es dauerte eine Weile, bis ihr klar wurde, dass ihr Gesicht nicht im Schnee lag, sondern… Ein leises Klingeln ließ sie den Kopf heben. Nur wenige Meter vor ihr stand die Ziege und sah sie an. Aus ihrem Maul ragten einige saftige Grashalme und schon senkte sie den Kopf, um weiter in der Wiese zu zupfen.

Wiese? Marie rappelte sich hoch und schaute sich um. Sie war in einem Talkessel gelandet. Rings umher erhoben sich die hohen Gipfel der Berge. Nichts deutete hier auf den harten Winter hin. Kein Schnee bedeckte das üppige Gras. Gras! Marie gluckste leise und strich sanft über die weichen Halme, dann erinnerte sie sich, weswegen sie eigentlich hergekommen war. Sie löste den Strick, den sie sich um die Hüften gebunden hatte, stand auf und ging vorsichtig zur Ziege hinüber. Das Tier machte keine Anstalten wegzulaufen, es widmete sich lieber dem Grün und so fiel es Marie nicht schwer, das Seil am Halsband der Ziege zu befestigen. Das andere Ende schlang sie sich um das Handgelenk.

»Du läufst mir nicht so schnell wieder fort.«

Marie zerrte die Ziege mit sich zu einem nahen Baum, den sie in der einsetzenden Dämmerung gerade noch erkennen konnte. Der Felsspalt war längst in der Dunkelheit verschwunden. Heute Abend würde sie nicht mehr zum Hof zurückkehren.

Über ihr ertönte plötzlich ein Brausen und Tosen am Himmel. Mariewollte sich ducken, verbergen, denn auf laute Geräusche aus der Luft folgten meist Explosionen und der Tod, doch wenn man es hörte, war es eh zu spät. Ein helles Licht fiel herab und verschwand irgendwo in der Nähe. Marie lauschte in die Dunkelheit, aber sie konnte nichts Ungewöhnliches hören. So legte sie sich in das Gras und es dauerte nicht lang, bis sich die Ziege zu ihr gesellte.

Maries Gedanken wanderten zu den alten Geschichten, die ihre Mutter früher immer erzählte, wie zur Wintersonnenwende die Wilde Jagd über den Himmel zog.

An die warme Ziege gekuschelt schlief Marie ein. Ihr letzter Gedanke galt dem Tal. Konnte es Wirklichkeit sein? Oder war sie einfach draußen im Schnee zusammengebrochen und längst gestorben? Hatte die Wilde Jagd ihre Seele mitgenommen?

Ein Dröhnen und ein Schlag auf den Kopf weckten Marie und mit einem unterdrückten Schmerzensschrei fuhr sie auf. Hatte Elisa etwa wieder …? Erst dann wurde ihr bewusst, wo sie sich befand. Die entlaufene Ziege. Das verwunschene Tal. Und so lange sie noch Schmerz spürte, war sie auch nicht tot. Ihr Blick fiel auf einen Apfel, der im Gras lag. Sie schaute nach oben und sah, dass der ganze Baum über ihr voller dicker, rotgrüner Äpfel hing. Schnell griff sie nach der Frucht und steckte sie sich in die Kleidung. Frisches Obst war eine Seltenheit in diesen Tagen, noch dazu im Winter und sicher würde Mutter sich darüber freuen. Auch die Ziege hatte bereits die Äpfel im Gras entdeckt und tat sich daran gütlich.

Nun erst erhob sich Marie und nahm das Tal in Augenschein, in das sie das Tier geführt hatte. Eine ganze Reihe weiterer Obstbäume standen auf der Wiese, genau wie beim Apfelbaum hingen ihre Zweige voller Früchte. Und dort hinten erkannte Marie ein großes Haus, nein, nicht nur ein Haus, eine ganze Gruppe von Gebäuden, die sich da zusammendrängten. Doch wieso herrschte hier Sommer, im eigentlich tiefsten Winter? Marie legte den Kopf in den Nacken und schaute hinauf zum Himmel. Er sah genauso trüb und wolkenverhangen aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Wenn sie die Augen zusammenkniff, dann sah sie auch Schneeflocken, die herabfielen, aber irgendwo in der Luft verschwanden und den Boden nicht erreichten.

Marie schüttelte den Kopf und drehte sich einmal um sich selbst. Dort oben am Hang erkannte sie den schmalen Felsspalt, der sie hergeführt hatte. Nachdenklich ließ sie ihre Hand über den Apfel in ihrer Jacke gleiten und entschied sich dagegen, gleich den Rückweg anzutreten. Dieses seltsame Tal musste sie genauer erkunden. Vielleicht gab es einen anderen Zugang. Vielleicht könnte Mutter hier gesund werden.

Als Marie sich versicherte, dass die Ziege nach wie vor fest angebunden war, bemerkte sie einen Korb, der auf der Rückseite des Baumes stand. Einige wenige Äpfel lagen bereits darin und so sammelte Marie kurz entschlossen die am Boden liegenden Früchte ein, pflückte die, an die sie herankam und wuchtete sich den schweren Korb auf die Hüfte. Wenn sie sich schon zu den Gebäuden aufmachte, dann konnte sie sich wenigstens sinnvoll betätigen. Und vielleicht fand sich bei den Häusern auch ein Eimer Wasser für die Ziege?

Beim Näherkommen stellten sich die Gebäude als eine Reihe flachbedachter Schuppen heraus, die nebeneinander standen und in früheren Zeiten, vor dem Großen Brand, vielleicht einmal als Garagen gedient haben mochten. Doch welche Fahrzeuge hätte man hier unterbringen wollen? Der Talkessel sah nicht so aus, als könnte er befahren werden und auch Reste einer Straße hatte Marie bisher nicht entdeckt. Ein Gebäude diente als Lager, in dem sich neben einer Werkstatt allerlei Gerümpel befand. Marie stand einen Moment sinnend vor den Holzbrettern und Metallstreben und überlegte, was man daraus alles bauen könnte. Eine andere Halle fand sie vollkommen leer, auf dem Boden eine dicke, unberührte Staubschicht. Das dritte Gebäude schließlich stellte sich als Vorratslager heraus. Regale zogen sich an den Wänden entlang und Marie gingen wegen der Menge der Lebensmittel schier die Augen über. So viel Nahrung auf einmal hatte sie noch nie gesehen. Wenn sie hier wohnen würden, dann wäre nicht jeder Tag ein Kampf ums Überleben. Kurz presste Sorge um ihre Mutter, die sich nun schon seit einem Tag und einer Nacht in Elisas Obhut befand, ihr Herz zusammen. Hoffentlich ging es ihr gut.

Marie drängte die Angst zurück und stellte den Korb mit Äpfeln in eine Ecke. Sie wischte sich über die Stirn. Für diese Temperaturen war sie viel zu warm angezogen. Seltsam, dass sie noch nirgendwo einen Menschen gesehen hatte, denn irgendjemand musste hier wohnen. Weitere Lebensmittel standen herum und draußen fand Marie sogar eine ganze Reihe frisch gebackener Brote, die herumlagen, als sei jemand gerade bei der Arbeit gestört worden. Marie räumte auch sie in das Lager, doch eines nahm sie für sich und als sie hineinbiss kam es ihr vor, als hätte sie nie etwas Besseres gegessen. Nein, es kam ihr nicht nur so vor. Sie hatte nie etwas Besseres geschmeckt.

Kauend untersuchte sie noch den Rest der Ansiedlung, doch sie fand kein Lebewesen. Alles lag leer und verlassen, aber in einem der kleineren Schuppen stieß sie auf eine Schlafstätte. Schnell schloss Marie die Tür wieder. Sie wollte nicht zu sehr in die Privatsphäre der Person eindringen, der dies alles gehörte. Ihr war schon unangenehm, dass sie hier auf dem Hof herumschnüffelte und so versuchte sie, sich zu revanchieren, indem sie aufräumte und Ordnung schaffte. Sicher war es für einen Menschen schwierig, den ganzen Hof am Laufen zu halten, zumal, wenn diese Person gar nicht da war.

Marie lehnte in der Tür des Lagers, genoss den warmen Wind, der ihr um die Nase wehte und leckte sich die letzten Brotkrumen von den Fingern. Dann wandte sie sich um, holte einen Eimer aus dem Lager und füllte ihn mit frischem, klaren Wasser aus dem Brunnen im Innenhof.

Einen Schluck nahm sie selbst, den Rest brachte sie zu ihrer Ziege, die dankbar den Kopf darin versenkte. Marie hockte sich zu dem Tier auf die Wiese, streichelte ihm gedankenverloren den Kopf.

»Was tun wir jetzt? Es ist so schön hier und ich würde wirklich gerne bleiben«, murmelte sie. »Nein, noch viel lieber würde ich Mutter hierherbringen. Ihr würde es hier so viel besser gehen. Aber denkst du, dass ich sie durch den Felsspalt bringen könnte?«

Die Ziege hob den Kopf aus dem Eimer, schüttelte sich und gab ein leises Meckern von sich.

»Eben nicht, das glaube ich auch.« Langsam stand Marie auf und nahm den Eimer. Das letzte verbliebene Wasser goss sie an den Apfelbaum. »Ich bring das eben zurück und dann brechen wir …«

Hoch über ihren Köpfen erklang das Dröhnen, das Marie schon zweimal vernommen hatte. Sie trat unter dem Baum hervor und sah, wie sich etwas aus dem Himmel näherte.

Die Wild Jagd, durchzuckte es sie kurz, aber dann schüttelte sie energisch den Kopf. Nein, es war kein Flugzeug, was dort kam, dazu war es zu klein, und doch… Marie kniff die Augen zusammen. Jemand saß auf dem Ding, näherte sich der Ansiedlung, verschwand zwischen den Hallen und landete.

Marie überlegte nicht lang. Sie rannte.

Das Gefährt parkte neben dem Brunnen und eine Gestalt stieg ab, als Marie den Innenhof erreichte. Die Person zog eine Lederkappe vom Kopf und schob sich die Schutzbrille in das wilde graue Haar. Ein Blick aus scharfen Augen traf Marie und sie klammerte sich an ihren Eimer.

»Und was bringt dich hierher, Schätzchen?«, fragte eine kratzige Stimme.

»Die Ziege ist weggelaufen.«

Mit nur wenigen Schritten stand die Gestalt vor ihr. »Die Ziege. Soso. Und du bist?«

»Marie.«

»Berta.« Sie entledigte sich ihrer Handschuhe, steckte sie in die Tasche und stemmte die Hände in die Hüften. »Wie bist du hierhergekommen?«

Zögernd deutete Marie hinter sich. »Der Felsspalt. Die Ziege hat den Weg gefunden.« Wie zur Bestätigung erklang vom Apfelbaum her ein leises Meckern.

Marie musterte die alte Frau und stellte die Frage, die sie schon die ganze Zeit umtrieb. »Was ist das hier? Und wieso liegt hier kein Schnee?«

Berta deutete mit dem Kopf gen Himmel. »Schutzschild. Klimakontrolle. Neben dem Aerobike eines der wenigen technischen Geräte, das hier noch funktioniert. Das hier war mal eine Forschungsstation. Vor dem Brand. Blieb zum Glück unentdeckt und, nun ja, jetzt lebe ich hier.« Sie schaute auf ein kleines Display am Handgelenk. »Die Sensoren haben gemeldet, dass sich hier jemand herumtreibt. Ich dachte mir, ich schau mal lieber nach.«

»Ich habe einen Eimer Wasser für die Ziege genommen«, sprudelte es aus Marie heraus. »Und ein Brot für mich, aber ich habe die Äpfel eingesammelt und die anderen Brote ins Lager gebracht und aufgeräumt. Gerade wollte ich gehen. Ich bin schon viel zu lange fort. Und Mutter. Ich weiß nicht, ob Elisa …«

Berta zog sich die Schutzbrille aus den Haaren und betrachtete Marie nachdenklich. Dann deutete sie auf eine Holzbank vor dem kleinen Schuppen, in dem sich ihr Nachtlager befand. »Setz dich dahin. Ich hol uns Kaffee und du erzählst mir, was dir auf der Seele lastet.«

Aus einem Schränkchen im Lager zog Berta eine Packung mit kleinen weißen Pillen, dazu ein Fläschchen, in dem sich eine klare Flüssigkeit befand.

»Gib deiner Mutter davon zweimal am Tag, dann sollte es ihr bald besser gehen. Und nun wird es Zeit für dich.«

Marie steckte die Medikamente tief in ihre Jacke. »Danke.«

Berta begleitete sie noch bis zum Apfelbaum, wo Marie die Ziege losband und sich an den Anstieg zur Felsspalte machte. Sie hob zum Abschied die Hand und Berta nickte kurz.

»Ich werde wohl die Spalte verschließen müssen.« Berta wandte sich zum Gehen, doch sie drehte sich noch ein letztes Mal um. »Schick mir vorher aber deine Schwester vorbei.«

Kristin Rebehn

DER JUNGE MIT DEN WINTERHIMMELAUGEN

Mit den Fingerspitzen streiche ich über morsches Holz, vergilbtes Papier und blindes Glas.

Ich liebe diesen Ort, weil es hier lauter zerbrochene Dinge gibt, die trotzdem wertvoll sind. Die nicht auf dem Müll landen, sondern von Menschen gekauft werden, die in ihnen einen Wert sehen. Nicht wie bei uns zu Hause. In meinem Mund sammelt sich ein schaler Geschmack.

Ich taste nach dem Geld in meiner Jackentasche, streiche über die Geldstücke und schließe meine Finger darum. Kalt und hart.

Geh dir etwas Schönes kaufen, sagten sie. Später haben wir Zeit für dich. Aber ich weiß genau, was ihr »später« neuerdings heißt. Nie.

Ich vermisse die Zeit, in der ich meinen Vater noch für mich alleine hatte. Als es Weihnachten nur ihn und mich gab. Als wir den ganzen Tag gemütlich vor dem Fernseher gesessen und Weihnachtsfilme geguckt haben. Und in den Keksen noch Zucker und kein Dinkelmehl war.

Mein Blick bleibt an einem Spiegel hängen, an dem sich silbrig schwarze Flecken emporranken und mein Gesicht seltsam verzerren.

Sie sehen mich überhaupt nicht mehr.

Ich schlendere weiter durch den Trödelladen, puste Staub von einer kleinen Stehlampe, ziehe die Schublade eines alten Sekretärs auf und knarrend wieder zu. Da entdecke ich auf einem Regal ein kleines Räuchermännchen. Es ist nicht so ein niedlicher, kleiner dicker Mann mit Pfeife, sondern ein unförmiges, grob geschnitztes Ding, in das blutrote Steine als Augen eingelassen sind und im dämmrigen Licht des Ladens unheilvoll glimmen. Der Mund ist wie zu einem Schrei erstarrt.

Als ich das Preisschild sehe, klatsche ich aufgeregt in die Hände. Das ist perfekt. Einfach perfekt. Sie werden sich furchtbar darüber aufregen, dass ich ihr Geld für so etwas Scheußliches ausgegeben habe.

Ich ziehe es aus dem Regal und laufe zur Kasse. Achtlos werfe ich es auf den Tresen.

Der Perlenvorhang dahinter raschelt und eine alte, grimmig dreinblickende Frau knallt die Handfläche auf den Tisch und lässt mich zusammenzucken.

»Du solltest mehr Respekt zeigen. Insbesondere vor Dingen, von denen du nichts verstehst.«

Ihre Stimme ist schneidend.

Trotzig stemme ich die Hände in die Hüften. »Was soll das bedeuten?«

»Das soll heißen, dass das ein altes Relikt ist, das sorgsam behandelt und nicht leichtfertig benutzt werden sollte.«

Ich verdrehe die Augen. Wie bitte soll man eine Räucherfigur leichtfertig anzünden?

»Wie meinen Sie das?« Ich versuche höflich zu klingen. »Brauche ich dafür spezielle Räucherkerzen?«

Sie lacht trocken auf. Es ist ein heiseres Krächzen, als hätte ihr Körper vergessen, was Freude ist.

»Ihr jungen Dinger wisst gar nichts mehr. Nicht einmal von den Rauhnächten wisst ihr etwas. Alle Bräuche, die uns jahrelang Schutz geboten haben, geraten nun in Vergessenheit.«

Mit dunklen Käferaugen durchleuchtet sie mich.

Langsam reicht es mir. Predigten kann ich mir schon genug zu Hause anhören. Ich presse die Zähne aufeinander, verschränke die Arme und starre die alte Frau provozierend an. »Ich will ein paar unliebsame Hausgäste ausräuchern. Dafür sollte die Figur doch ihren Zweck erfüllen oder nicht?«

Ihr Blick gleitet an mir vorbei. Als würde sie in die Schrecken ihrer Vergangenheit blicken.

»Du solltest dich darauf konzentrieren, welche unguten Gefühle in dir sind und was du loslassen willst.«

Oja. Das weiß ich genau.

Irgendetwas im Gesicht der Alten verändert sich. Aber ich kann es nicht deuten.

Dann plötzlich greift sie nach meiner Hand.

»Hüte dich aber vor bösen Gedanken an den toten Tagen außerhalb der Zeit«, raunt sie mir zu.

Ich unterdrücke den Impuls, laut aufzulachen.

Warnend streckt die Alte ihren Finger in die Höhe und zieht ihre Augenbraue hoch.

»Nur in diesen zwölf Nächten zwischen dem Erstweihnachtstag und dem sechsten Januar stehen die Pforten zur Anderswelt offen und Dämonen streifen umher auf der Suche nach Tölpeln, die ihre Seele verkaufen. Nimm dich in Acht. Und denk immer daran. Egal, was dir geboten wird… Es wird dir doppelt genommen.«

»Ich werde es mir merken.«

Klirrend lasse ich das Geld auf den Tresen fallen und eile aus dem Laden.

Rauhnächte. Dieses Wort liegt schwer und verheißungsvoll in meinem Mund. Das Gefasel lässt mich einfach nicht los. Mehr als eine Stunde sitze ich jetzt schon vor dem Rechner und lese mir alle möglichen Mythen und Legenden durch.

Es ist so verrückt, wie abergläubisch die Menschen früher waren und welche Bräuche sich bis heute halten.

Junge Mädchen warten an Mitternacht an vermeintlich magischen Orten auf eine Erscheinung, die ihnen ihren zukünftigen Geliebten zeigt. Silvesterknaller werden entzündet, um Werwölfe und andere düstere Erscheinungen zu vertreiben. Ja, sogar vor dem Aufhängen der Wäsche wird gewarnt, weil sich in den Laken böse Geister verfangen könnten.

Und auch, wenn ich nicht wirklich daran glaube, so übt es doch eine unglaubliche Faszination auf mich aus.

Ich lehne mich auf dem Drehstuhl zurück und greife nach dem Messer, das ich aus der Küche geholt habe.

Wer weiß … Sollte es in diesen Tagen wirklich eine Brücke zu einer anderen Welt geben, dann werde ich sie nutzen.

Seufzend stehe ich auf und streiche mit der Messerklinge über das Tannengesteck und ein paar Nadeln fallen zu Boden. Ich durchquere den Raum. Atme tief ein und aus. Anstatt nach Gebäck, Bratapfel und Punsch riecht es jetzt nach gebrauchten Windeln und Babykotze. Von Weihnachtsstimung in der Luft ist hier keine Spur. In mir fühlt sich nichts friedlich oder festlich an.

Immer fester krampft sich meine Hand um das Messer. Sie sollen wissen, wie es sich anfühlt, als Eindringling gesehen zu werden. Meine Fingerspitzen kribbeln, während ich das Messer anhebe.

Der goldene Haarflaum breitet sich wie ein Heiligenschein um den Kopf meines Bruders auf der Krabbeldecke herum aus.

Wenn man einen Dämon beschwören möchte, braucht man ein Opfer. Ich starre auf das Heben und Senken der winzigen Brust bei jedem Atemzug und das vollkommen entspannte, rosige Gesicht.

Langsam senke ich die Klinge. Sie ist nur noch wenige Zentimeter entfernt von ihrem Ziel. Ich stoße die Luft aus und lasse das Messer herunterschnellen.

Der Winzling zuckt zusammen als eine blonde Haarsträhne von seinem Schopf auf dem Boden landet. Schnell bücke ich mich danach und eile zum Tisch.

Zusammen mit einer dieser grässlichen, selber gestrickten Babysocken stopfe ich die Strähne in das Innere der Räucherfigur und presse die vorbereitetenKräuter darauf.

Mein Herz pocht schmerzhaft in meiner Brust.

Nach meiner Internetrecherche hatte ich eine wunderbare Liste, auf der selbst gewöhnlichem Unkraut eine magische Wirkung nachgesagt wird. Löwenzahn zum Beispiel ermögliche es, das eigene Schicksal zu erkennen. Ich zünde gleich mehrere Streichhölzer an und beobachte, wie die Flammen gierig daran lecken.

Ein schwelender Brandgeruch breitet sich langsam im Zimmer aus. Gegen meine Erwartung nehme ich keinen Duft von den Kräutern wahr, sondern nur einen kratzigen, im Hals beißenden Qualm, der aus dem Fratzenmund dringt. Zäh, dunkel und gefräßig.

Zufrieden beobachte ich, wie der Rauch langsam durch das Zimmer kriecht, vorbei an den Porzellanengeln und den Holzwichteln. Wie er sich über die Krabbeldecke legt und sich wie etwas Lebendiges auf den Tannenbaum zubewegt.

Das Baby verzieht das Gesicht und beginnt zu schreien. Aus dem Flur vernehme ich hektische Schritte.

»Oh mein Gott.« Beim schrillen Tonfall meiner Stiefmutter ziehe ich es plötzlich doch in Betracht, dass mir der Löwenzahn einen Blick auf die Zukunft zeigt. Jedenfalls weiß ich jetzt sicher, was in den nächsten Minuten geschehen wird.

Eingehüllt in einem rosa Bademantel steht sie da, fuchtelt hilflos mit den Händen.

»Björn.« Ihr Kreischen wird nur noch vom Aufheulen des Babys überdeckt. »Ich glaube, es brennt.«

Mein Vater kommt ins Zimmer gestolpert. Weiß im Gesicht. Für einen Sekundenbruchteil liegt Verwirrung in seiner Miene. Dann schreit er mich an.

»Verdammt nochmal, Becca. Was tust du da?«

Ich setze eine Unschuldsmiene auf.

»Ich wollte nur die bösen Geister vertreiben, Daddy.« Oder besser gesagt die Quälgeister, die er ins Haus geschleppt hat.

Seine Hand, die auf das Männchen gerichtet ist, zittert. Scheiße. So wütend habe ich ihn lange nicht mehr gesehen. An seiner Schläfe pocht eine Ader.

Mit einem Satz ist er bei der Figur, reißt sie vom Tisch und läuft zur Terrassentür. Im nächsten Augenblick verschwindet die Figur in der Dunkelheit.

»Was tust du da?« Ich kreische auf. »Das gehört mir.«

Ein Blick in sein Gesicht bringt mich zum Schweigen.

»Du wirst jetzt die Wäsche nach draußen bringen und erst wieder reinholen, wenn dieser Gestank verschwunden ist!«

Seine Stimme duldet keinen Widerspruch. Vielleicht bin ich doch zu weit gegangen. Ich zerre die Wäsche vom Ständer, stopfe sie in den Wäschekorb und stolpere durch die Terrassentür ins Freie.

Ich ertrage den Blick zurück nicht. Es ist unerträglich, sie als Einheit gegen mich zu sehen. Tränen brennen auf meiner Haut.

Ich hasse es hier. Ich hasse es. Niemand sieht, was ich brauche. Ich laufe weiter zu der Wäschespinne, an der sich Raureif gebildet hat, und werfe ungeschickt die Laken darüber.

Erst als der Korb leer ist, werde ich ruhiger. Und auch von drinnen ist kein Geschrei mehr zu hören.

Meine Finger tanzen über die weißen Laken und die gepunktete Bettwäsche. Im Licht des Mondes leuchtet der weiße Baumwollstoff gespenstisch. Ich vergrabe mein Gesicht in dem klammen Stoff.

Mom hätte mich niemals im Winter raus geschickt. Selbst mit Baby nicht. Ich halte es mit ihnen unter einem Dach einfach nicht mehr aus. Weil sie alles mit Füßen treten, was mir wichtig ist.

Selbst die Marke des Weichspülers hat sie gewechselt. Ich vermisse den ozeanfrischen Duft, der mich an unsere Ausflüge ans Meer erinnert. An Freiheit und Sommer. Stattdessen werde ich von diesem herben Rosenduft mit Zimtnote erschlagen. Ist es nicht schlimm genug, dass Mom nicht mehr da ist? Ist es zu viel verlangt, dass mein Vater sich auch ein wenig Zeit für mich nimmt?

Ein Windstoß erfasst die Laken. Ein Brausen und Raunen durchschneidet die Stille der Nacht.

Ein kalter Windhauch streift meinen Rücken. Auf meinen Armen bildet sich Gänsehaut und ich streiche schaudernd darüber.

»Ich wünschte, mein dummer Bruder würde einfach wieder verschwinden.«

Die Luft ist klar und kalt, mein Atem verursacht eine kleine Wolke. Die Kälte dringt nun intensiver durch meine Kleidung. Ich zittere.

Als ich gerade zurück ins Haus laufen möchte, lässt mich eine Bewegung hinter dem Laken innehalten.

Ein dunkler Schatten.

»Hallo?« Meine Stimme ist ein ersticktes Fiepen und wird mit dem nächsten Windstoß davongetragen.

Die Laken blähen sich auf. Ich bin sicher, dass dahinter etwas verborgen ist.

»Ist da jemand?« Mein Herz klopft wild in meiner Brust. Trommelt, schlägt, stolpert.

Der Wind verstummt und ein Lachen, kalt und hart, dringt zu mir durch.

Gänsehaut kriecht über meinen Rücken.

Im Schatten bewegt sich etwas. Scharf ziehe ich die Luft ein. Meine Hände sind eiskalt. Da erkenne ich die Umrisse eines Jungen. Er konnte nicht viel älter sein als ich. Wie Nadelstiche dringt die Kälte in meine Haut. Aber er steht dort, als wäre nichts. Als wäre es vollkommen normal, mitten in der Nacht in einem fremden Garten zu stehen.

Er wirkt so fehl am Platz mit seinem schwarzen, kurzen Shirt, das sich um seinen schmalen Oberkörper spannt. Wieso trägt er keine Jacke? Mein Blick gleitet an seinen Beinen herunter, hin zu den mit Gravuren verzierten Stiefeln und wieder herauf zu dem von tintenschwarzen Haaren umrahmten Gesicht.

Im Mondlicht ist es fast weiß, nur seine Augen liegen in tiefen, dunklen Höhlen.

»Was machst du hier?« Meine Stimme ist zu hoch. Zu schrill.

Doch statt zu antworten, grinst er mich nur an. Es ist ein maskenhaftes, überhebliches Lächeln.

»Hat dir deine Mutter nie erklärt, dass man in den Tagen zwischen der Zeit keine Wäsche aufhängen darf?« Er zieht eine Augenbraue nach oben, während er mit der Hand über den Stoff fährt.

»Ich glaube keine Ammenmärchen von bösen Geistern.« Ich stemme die Arme in die Hüften.

»Vielleicht solltest du das aber.« Lässig streicht er eine Haarsträhne zurück.

Natürlich. Der Junge ist sicher aus der Nachbarschaft. Er hat unseren Streit belauscht. Aber was ist, wenn er sich nur über mich lustig machen möchte?

»Findest du das witzig? Soll das ein Scherz sein?« Ich mache einen Schritt auf ihn zu und hoffe, dass ich mutiger wirke, als ich mich fühle.

»Für Späße habe ich keine Zeit.« Seine Augen verengen sich und er erinnert mich an einen Raubvogel, der sein Opfer betrachtet. »Ich will«, beginnt er und leckt sich über die Lippen. »Nein, ich muss wissen, ob du es wirklich willst.«

Wenn das möglich ist, klingen seine Worte schneidend und rau, aber zugleich auch weich und betörend. Sie bringen etwas in mir durcheinander, weil er mir zuhört. Vielleicht versteht er mich.

»Was meinst du?« In meinem Inneren flattert es, als würden Falter aufgeregt mit ihren Flügeln schlagen.

»Dumeinst, ob ich wirklich will, dass mein dummer Babybruder verschwindet?« Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Weil ich etwas Verbotenes ausgesprochen habe. Sollen die Nachbarn doch denken, was sie wollen. Ich mache noch einen Schritt auf ihn zu und kann jetzt deutlich sein makelloses, ebenes Gesicht erkennen.

»Ja verdammt. Ich wünschte, er wäre nie geboren worden. Ohne ihn wäre alles besser. Alles.« Er fixiert mich mit seinem Blick. Noch nie habe ich solche Augen gesehen. Eisblau wie der Winterhimmel.

»Und was würdest du dafür geben?« Sein Mund öffnet sich leicht.

»Alles.« Ich stoße das Wort hervor, als könnte ich mich daran verbrennen.