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Der Fernsehjournalist Tom Becker hat seine ehemalige Freundin Lisa geheiratet, und die beiden haben Nachwuchs bekommen. Doch dunkle Schatten liegen über dem Familienglück: Felix kommt mit einem schweren Herzklappenfehler zur Welt. Während Tom beruflich stark eingespannt ist und an einer neuen Sendereihe mit einem renommierten Zukunftsforscher arbeitet, hofft er, von diesem Hinweise auf innovative medizinische Behandlungsmöglichkeiten zu erhalten. Doch plötzlich gerät die Welt der jungen Familie völlig aus den Fugen: Der Zukunftsforscher wird des Mordes verdächtigt, Lisas vegetarisches Restaurant wird überfallen, und eine kriminelle Bande fordert Schutzgeld. Inmitten dieses Chaos wird Tom unerwartet zum engagierten Unterstützer der Polizei …
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Seitenzahl: 288
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Jörg Lösel
Dunkle Wolken über
Schwabing
Kriminalroman
Inhalt
Titel
Tagebuch
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Danksagung
Impressum
Buchempfehlung 1
Buchempfehlung 2
Ich weiß immer noch nicht, ob ich es wirklich tun soll. Gelegenheit hatte ich schon öfter. Aber dann sperrt sich alles in mir – Wie ist das Leben nach solch einer Tat? Ich spüre in mir so eine gewaltige Wut, wenn ich diese Person sehe. Es fällt mir schwer, meinen Zorn zu verbergen. Ob sie das merkt? Könnte mir eigentlich egal sein! Ist es aber nicht! Ich will meine Gefühle nicht so rauslassen, das kommt in den meisten Fällen nicht gut. Wenn man seine Wut zeigt, gilt man schnell als Psycho, als gefährlich. Dabei sind die anderen gefährlich.
Die Erinnerung an den Traum der vergangenen Nacht taucht in meinen Gehirnwindungen auf. Ich habe ihn schon öfter geträumt, er beginnt immer gleich: Ich sitze am Strand und sehe in der Nacht auf das Meer, wie es sich unruhig im silbernen Licht des Vollmondes bewegt, und die Wellen laut auf den feinen Sand aufschlagen. Um den Mond hat sich ein Hof gebildet, und düstere Wolken wandern den Himmel entlang. Mit einem geräuschvollen Plopp spült eine Welle ein Ding an Land, das aussieht wie ein großer Wurm. Der Wurm wächst, wird immer größer, bekommt Beine und Arme, richtet sich auf und schaut mich mit dem Gesicht dieses Menschen an, den ich so hasse. Ich bin völlig erstarrt und kann mich nicht bewegen. Das Ding wächst weiter, richtet sich auf und hat nun die Größe eines Menschen erreicht. Es kommt langsam mit zunächst noch unsicheren Schritten auf mich zu. Mir fährt ein Schreck durch die Glieder, mein Herz fängt zu rasen an, meine Hände zittern und ich richte mich instinktiv auf. Die Schritte von dem Ding werden fester, es bleckt eine Reihe von Zähnen und röchelt aus voller Kehle. Sabber läuft ihm aus dem Maul, und es versucht, mit langen Armen nach mir zu greifen. Ich schnelle hoch und beginne zu rennen, so schnell, wie es der tiefe Sand zulässt. Aber das Ding verfolgt mich, und ich höre am heftigen Keuchen, dass mein anfänglicher Vorsprung immer mehr schmilzt. Ich muss mich noch einmal zusammenreißen und Gas geben. Gleich bin ich bei ein paar Bäumen, die auf einer Wiese stehen, und dahinter sehe ich ein hell erleuchtetes Haus, in dem offenbar gefeiert wird. Wenn ich das erreiche, bin ich vor dem Ding in Sicherheit. Ich laufe so schnell ich kann auf das Haus zu, schreie dabei um Hilfe, erklimme die ersten Stufen der Veranda – da packt mich das Ding am Knöchel. Ich schreie laut – und an dieser Stelle bin ich bei dem Traum jedes Mal aufgewacht.
Das ging bestimmt fünfzehn-, zwanzigmal so, bis ich merkte, dass ich Träume auch steuern konnte. Als beim nächsten Mal das Ding aus dem Meer kam und zu einem menschengroßen Ungeheuer wurde, hatte ich ein großes Metzgermesser hinter meinem Rücken versteckt. Das Ding wuchs, bekam Arme und Beine, das Gesicht bildete sich heraus, es begann zu röcheln – in diesem Moment nahm ich meinen ganzen Mut zusammen, sprang auf, hob das Messer und stürzte mich mit einem lauten Kampfschrei auf das unglaubliche Wesen aus einer anderen Welt. Ich stach zu, die scharfe Klinge bohrte sich in den aufgeblasenen Leib, es gab ein Geräusch, wie wenn man aus einem Ballon die Luft herauslässt, dann war das Ding in sich zusammengefallen. Ich sah noch etwas Klebriges am Boden, kurz darauf war auch dies verschwunden – alles war so, als ob überhaupt nichts geschehen wäre.
Welche Lehre habe ich aus diesem Traum gezogen? Man muss aktiv werden! Man darf sich nichts gefallen lassen! Man muss sich wehren! Dann hat man die Macht, Situationen so zu gestalten, wie man sie haben möchte.
Tom Becker legte seine Moderationskarten auf das verchromte Glas-Tischchen neben seinem Sessel und nickte seinem Gast freundlich zu: »Ich glaube, das war ein Gespräch, das unsere Zuschauer sehr interessieren wird. Vielen Dank, Herr Professor.«
Mit einem Mal schien die Spannung im Studio 3 des Fernsehsenders TV 1 von den Mitarbeitern vor und hinter den Kameras abgefallen zu sein. Die Kameraleute schoben die schweren Bosch Fernsehkameras auf den Vinten-Stativen an die Studiowände, und die Kabelhilfen rollten die langen, schwarzen Kabel sorgfältig zusammen und hingen sie in Form von großen Achten an den dafür vorgesehenen Vorrichtungen auf.
Tom fragte in die Regie, mit der er über sein Mikro verbunden war: »War es für euch okay?«
»Bitte noch einen Moment sitzen bleiben«, kam die Antwort von Catrin, die für den Bildschnitt zuständig war: »Wir checken noch kurz die Aufzeichnung.«
Tom sah die Bilder von sich im Gespräch mit dem Zukunftsforscher Alexander Zänkel im Schnelldurchlauf, begleitet von Gesprächsfetzen in hohen Ton-Frequenzen über einen Monitor rauschen. Nach wenigen Minuten hörte er aus einem Lautsprecher, der an der Studiodecke neben zahlreichen Scheinwerfern hing: »Vielen Dank. Wir haben was drauf, und die Sendelänge mit 29‘33‘‘ passt auch. Die Aufzeichnung ist gestorben.«
Tom erhob sich und nestelte am Mikrofon herum, das am Revers seines Sakkos angebracht war, als die Studiotür aufgerissen wurde und der Toningenieur auf ihn zueilte: »Ich helfe Ihnen, Herr Becker! Lassen Sie mich das machen.«
Tom wandte sich seinem Gast zu, der sich ebenfalls aus seinem Sessel erhoben hatte, und sagte: »Das hat mir sehr gut gefallen, wie Sie den Alltag am Beispiel eines Mannes in fünfzig Jahren konkret geschildert haben: Wie Sensoren in der Kleidung seinen Gesundheitszustand überprüfen und wie er telepathisch mit einem Roboter in der Küche und seinem selbstfahrenden Magnetauto kommuniziert. So einen riesigen Entwicklungssprung kann ich mir gar nicht richtig vorstellen.«
Der Zukunftsforscher sah für einen Moment unkonzentriert aus, als der Toningenieur an seiner grauen Anzugjacke herumfummelte und das Gehäuse für den digitalen Sender vom Gürtel seiner Hose löste. Dann strafften sich seine Gesichtszüge, und er sagte: »Im Fernsehen vergeht die Zeit immer so verdammt schnell. Ich hätte noch so viele Beispiele von einem Leben in der Zukunft erzählen können.«
Während Tom mit seinem Gast das Studio verließ, legte er ihm die Hand auf die Schulter: »Mehr Zeit steht uns im Fernsehen leider nicht zur Verfügung. Ich denke, die Leute, die sich für Ihr Thema interessieren, werden Ihre Bücher kaufen – das ist für Sie eh das Beste.«
Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Zukunftsforschers: »Mein vorletztes Buch kommt jetzt schon in der zwölften Auflage heraus. Es freut mich, dass es so gut angenommen wurde.« Und nach einem kurzen Räuspern: »Wo war jetzt die Toilette noch mal, Herr Becker?«
Tom wies den langen Gang entlang und sagte: »Da hinten links. Ich bin dann gleich im Gästeraum direkt gegenüber. Ich habe noch eine persönliche Frage an Sie.« Zänkel nickte ihm zu, sagte »Bis gleich« und verschwand hinter der WC-Tür.
Tom verspeiste gerade ein Kanapee mit Lachs, als der Zukunftsforscher im Gästeraum erschien, ein Mann Mitte 50, mit vollem grauem Haar, das ihm etwas über die Ohren stand, und einer schwarzen Hornbrille auf der Nase. Der Professor war eine Koryphäe auf dem Gebiet der Zukunftsforschung, war ordentlicher Professor an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität und hatte eine Reihe von allgemein verständlichen wissenschaftlichen Publikationen unter die Leute gebracht. Er war jemand, der von seinem eigenen Wissen beeindruckt war und dem es Spaß machte, fremde Menschen daran teilhaben zu lassen. Tom spürte die Aura, die der Mann ausstrahlte.
Mit einer einladenden Geste bot der Fernsehjournalist seinem Gast einen Sessel an und fragte: »Darf ich Ihnen ein Glas Sekt anbieten?«
Zänkel nickte erfreut: »Es ist zwar noch früh am Tag, aber immerhin haben wir etwas geleistet. Lassen Sie uns auf den Erfolg der Sendung trinken. Wann wird sie eigentlich ausgestrahlt?«
Tom rutschte auf seinem Sessel vor, holte zwei Sektkelche von einem Tablett, öffnete eine Flasche Mumm und goss die Gläser voll: »Gleich nächste Woche. Dienstag oder Mittwoch. Wir informieren Sie in jedem Fall noch zeitnah, und eine Kopie der Aufzeichnung erhalten Sie auch von mir. Prost, Herr Professor, es hat mich sehr gefreut, dass Sie in unsere Talksendung gekommen sind.« Er erhob sein Glas und blickte dem Wissenschaftler in die etwas wässrigen braunen Augen.
»Sehr gern«, antwortete er. »Auf Ihr Wohl.« Beide tranken einen Schluck, und Zänkel wandte sich fragend an Tom: »Sie erwähnten vorhin ein persönliches Anliegen – wie kann ich Ihnen da weiterhelfen?«
Tom stellte sein Sektglas zurück auf den Tisch, fuhr sich verlegen mit der Hand durch die braunen Haare: »Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll?« Nervös griff er wieder nach dem Sektkelch: »Ich bin vor vier Wochen Vater geworden, Vater eines süßen Buben.«
»Herzlichen Glückwunsch!«, unterbrach ihn Zänkel, »da müssen wir gleich nochmals darauf trinken!«, und griff ebenfalls nach seinem Glas.
Tom nippte nur etwas an dem Getränk: »Leider ist unser Kind nicht gesund. Die Ärzte haben schon vor der Geburt Herzklappenfehler festgestellt und raten nun dazu, unseren Felix möglichst bald operieren zu lassen. Mir zerreißt es das Herz, wenn ich mir vorstelle, dass bei dem kleinen Kerl die Brust aufgeschnitten werden soll.«
Betroffen lehnte sich Zänkel in seinem Sessel zurück, nahm die schwarze Hornbrille ab und zog die Augenbrauen in die Höhe: »Das tut mir sehr leid. Ich kann mir vorstellen, wie schrecklich solche Umstände für Sie und Ihre Frau sein müssen.« Er rieb sich mit dem Knöchel einer Hand über die Augenlider, setzte die Brille wieder auf und fragte: »Aber wie kann ich Sie in dieser Situation unterstützen?«
Tom fixierte die Augen des Professors und sagte, wobei seine Stimme einen heißeren Klang bekam: »Ich weiß, dass Sie einen Überblick über die Gebiete haben, auf denen momentan weltweit geforscht wird. Sie haben vorhin bei der Aufzeichnung der Sendung auch über die Fortschritte in der Medizin gesprochen, die durch Anwendungen der Nano-Technologie möglich werden. Meine Frage heißt schlicht: Gibt es irgendwo auf der Welt ein Hospital, das solche Krankheitsbilder, wie die bei meinem Sohn, minimalinvasiv behandelt? Um ihm eine konventionelle Bypass-Operation zu ersparen, würde ich mit ihm überall hinfliegen, ganz gleich, ob so eine Klinik in Kapstadt, in Singapur oder in den USA steht. Können Sie mir dabei helfen, Professor Zänkel?«
Langsam richtete sich der Zukunftsforscher auf und legte die Stirn in Falten: »Lieber Herr Becker, ich fürchte, zum jetzigen Zeitpunkt ist das noch zu früh.«
»Aber am Herzen werden doch heute minimalinvasiv schon jede Menge Eingriffe gemacht.« Toms rechtes Bein federte auf und ab, als wäre es an eine mechanische Nockenwelle angeschlossen, und in seinem Gesicht stand Verzweiflung: »Sie haben doch gesagt, dass Forscher in der Medizin sich mit den Eingriffen befassen, bei denen man nicht groß schneiden oder sägen muss.«
Zänkel beugte sich vor und legte Tom die Hand auf den Arm: »Mediziner, Bioingenieure und Physiker versuchen, das Problem gemeinsam zu lösen. Die Forschung ist dran, aber die Zeit ist noch nicht ganz reif …«
»Sie haben doch Kontakt zu den entsprechenden Forschungsinstituten«, unterbrach ihn Tom aufgeregt, während er eine feuchte Hand an seiner Hose abwischte, »da gibt es doch sicher Versuche.«
Zänkel bewegte seinen Kopf hin und her: »Können Sie sich vorstellen, Ihr Kind als Testperson der Forschung zur Verfügung zu stellen?«
Entrüstet richtete sich Tom auf: »Nein, natürlich nicht!«
Beschwichtigend legte ihm der Zukunftsforscher die Hand aufs Knie: »Natürlich habe ich Kontakte, und es stimmt, dass in der Medizin jede Menge Neuerungen stattfinden. So stellt Professor Atala, der Direktor des Wake Forrest Instituts für regenerative Medizin, beispielsweise menschliche Organe her. Wenn es gelingt, diese Organe gegen den Abstoßmechanismus in den Körper einzusetzen, bedeutet das eine Revolution in der Medizin. Ob solche Organe minimalinvasiv eingesetzt werden können, glaube ich eher nicht, aber die minimalinvasive Operation wird es in vielen medizinischen Bereichen geben.«
Mit eingezogenen Schultern und gesenkten Kopf saß der Moderator in seinem Sessel und fuhr sich mit der Hand müde durch seine braunen Haare, die er zurückgekämmt trug. Der Professor nahm noch einen Schluck Sekt und fragte: »Sie sprachen vorhin von Herzklappenfehlern, also im Plural, – wie heißt die Krankheit, an der ihr Sohn leidet?«
Tom schnaufte tief aus: »Es handelt sich um die Fallot’sche Tetralogie.«
»Was ist das gleich noch mal?«, fragte Zänkel.
»Bei Felix funktionieren gleich vier Klappen nicht richtig. Durch Sauerstoffmangel läuft er immer wieder blau an, muss öfter husten, und es kann zu Schäden im Gehirn kommen. Deshalb meinten die Ärzte, dass das Kind möglichst bald operiert werden sollte.«
Ohne Zänkel anzusehen, hatte Tom monoton vor sich hingesprochen, doch der hatte ihm aufmerksam zugehört, sich ein paar Notizen gemacht und sagte betroffen: »Das klingt nicht gut, Herr Becker. Ich habe einen guten Draht zu einem Herzspezialisten der Johns-Hopkins-University in Baltimore, da könnte ich für Sie einmal nachfragen, wie man so einen Fall mit den modernsten Methoden behandeln kann.«
Tom hing an den Lippen des Wissenschaftlers und schlug sich, als er geendet hatte, zufrieden mit der Hand auf den Oberschenkel: »Ich hoffe, ich belästige Sie nicht zu sehr mit meinem Anliegen. Jedenfalls freue ich mich sehr, wenn Sie mich in dieser Angelegenheit unterstützen können.« Er hob sein Sektglas in die Höhe und prostete dem Zukunftsforscher mit gerötetem Gesicht zu.
Nach etwa einer Viertelstunde Cruisen hatte Tom endlich einen sehr engen Parkplatz vor dem Standesamt in der Mandlstraße am Rande des Englischen Gartens gefunden. Der Föhn, der München tagsüber einen klaren Himmel und sommerliche Temperaturen beschert hatte, war zusammengebrochen, es hatten sich dunkle Wolken gebildet und die Temperatur war um einige Grade gefallen. Braune Blätter trieb der Wind vor sich her, mit einem Mal war das Wetter herbstlich geworden.
Tom musste nur noch ein paar Minuten zur Trautenwolfstraße gehen, dann war er daheim bei Lisa und Felix. Das war der Nachteil bei seiner neuen Wohnung: Wenn er abends so zwischen 19 und 21 Uhr nach Hause kam, gab es in Schwabing kaum Parkplätze. Als klar war, dass Lisa ein Kind bekommen würde, hatten sie sich dazu entschlossen, einen größeren Pkw zu kaufen; konkret handelte es sich um einen gebrauchten Toyota Avensis in der Kombi-Version, damit genug Platz für einen zusammengeklappten Kinderwagen oder für den Transport von Lebensmittelkisten zu Lisas Restaurant Veggie vorhanden war.
Die sehr viel größere Anschaffung war aber die Eigentumswohnung in dem frisch renovierten Wohnhaus aus der Gründerzeit. Lisa hatte Geld, weil sie das Vermögen von Claudia geerbt hatte, mit der sie vor der Ehe mit Tom verheiratet war, und die eines tragischen Todes gestorben war. Tom hatte Geld von seinem Vater bekommen, der sein Haus in Vaterstetten verkauft hatte, und in eine Einrichtung von betreutem Wohnen gezogen war. Das Paar hatte noch einen günstigen Kredit bei einer Bank aufgenommen und kaufte die 5-Zimmer-Altbauwohnung mit 150 m² mitten in Schwabing für über 1,5 Millionen Euro, einer Summe, die Tom auch vier Monate nach dem Einzug noch erschaudern ließ.
Während er in dem großzügig angelegten Treppenhaus hinauf in den zweiten Stock stieg, dachte er, die Parkplatzsuche war nicht der einzige Mangel an der neuen Wohnung; der Bauherr hätte eigentlich bei der Renovierung zeitgemäß einen Aufzug einbauen sollen.
Als Tom die Wohnung betrat, kam Lisa aus der Wohnküche und winkte ihm mit einem Telefon am Ohr zu. Sie trug ein blaues T-Shirt mit japanischen Zeichen auf der Brust, dazu einen weiten Rock. Ihr Bauch hatte sich nach der Geburt noch nicht wieder zurückgebildet, Lisa sah müde und abgekämpft aus. Der neue Mitbewohner hatte beiden Eltern nachts nicht allzu viel Schlaf gegönnt.
Tom zog es automatisch in das gemeinsame Schlafzimmer, wo das Baby in einem Kinderbettchen lag. Er beugte sich über seinen Sohn, roch den typischen Baby-Duft nach Käseschmiere und Muttermilch und gab ihm vorsichtig einen Kuss auf die Stirn. Der Kleine schlief mit nach oben ausgestreckten Armen. Zärtlich griff Tom nach einer winzigen Hand und strich ihr auf der Innenseite über die Haut. Reflexartig schloss sich die kleine Faust um seinen Zeigefinger.
Als er das Zimmer verließ, hörte er ein leises, heißeres Husten. Er drehte sich um und sah, dass der Kopf des Kindes einen leicht rötlichen Schimmer angenommen hatte.
Lisa hatte das Telefon aufgelegt, kam zu ihm und drückte ihm einen dicken Kuss auf den Mund. Er umschlang sie fest mit den Armen: »Wie gehts dir heute?«
Lisa schob Tom ein Stück von sich weg und blickte ihn ernst an: »Nicht so toll. Ist doch klar. Im Veggie geht auch alles drunter und drüber.«
»Wie ging es dir heute mit dem Kleinen?«
»Er hat fast den ganzen Tag geschlafen. Das ist sicher gut für ihn. Hat dir der Zukunftsforscher etwas gesagt, was man noch machen könnte?«
»Er hat mir keine große Hoffnung gemacht«, sagte Tom bekümmert, »immerhin will er mit Professoren der Johns-Hopkins-Universität Kontakt aufnehmen, die sollen dort eines der weltbesten biomedizinischen Institute haben und an neuen Behandlungsmöglichkeiten forschen.«
Er spürte, wie die Spannung in Lisas Körper nachließ. Sie sah ihn mit großen Augen an: »Ist das noch ein Hoffnungsschimmer?«
Tom legte die Stirn in Falten: »Höchstens ein ganz kleiner. Ich habe auch mit den Leuten vom Deutschen Herzzentrum telefoniert, und die haben mir ebenfalls wenig Hoffnung gemacht. Es wäre im Fall einer Fallot’schen Tetralogie keine minimalinvasive Operation möglich, und von einem Verfahren ohne große Schnitte haben sie in diesem Bereich keine Kenntnis.«
Lisa ließ von Tom ab und seufzte: »Dann sieht es so aus, als müssten wir unseren kleinen Schatz den Messern der Chirurgen ausliefern.«
Lisas Augen wurden feucht, Tom drückte sie fest an seine Brust und küsste sie kräftig. Er spürte die Erregung in seinem Körper, griff Lisa zwischen die Beine und stupste sie aufs Bett. Er zog ihr den Rock über die Hüften und das T-Shirt über den Busen. Der Umfang ihrer Brüste schien sich gegenüber der Zeit vor ihrer Schwangerschaft verdoppelt zu haben, und ihr BH war trotz der Einlagen feucht geworden. Tom kümmerte sich nicht weiter darum und zog Lisa den Slip herunter. In diesem Augenblick begann Felix in seinem Bettchen zu husten. Er strampelte mit Armen und Beinen, und sein dünnes Stimmchen klang für Tom und Lisa durchdringend wie die dröhnend laute Sirene eines Krankenwagens.
»Lass gut sein!«, raunte Lisa ihrem Mann zu, rollte sich auf ihrer Seite vom Bett ab, eilte zu dem kleinen Schreihals und holte ihn aus seinem Bettchen. Sie öffnete ihren BH, legte den Kleinen an ihre Brust, an der er sogleich gierig saugte. Nach ein paar Schlucken musste er wieder husten, der blaue Farbton in seinem Gesicht wurde etwas dunkler, und Lisa legte das Baby über ihre Schulter und klopfte ihm vorsichtig auf den Rücken. Nach einigen Augenblicken stieß der Kleine auf und Lisa nahm ihn wieder in die Armbeuge.
Mit ernstem Gesicht hatte sich Tom das Geschehen vom Bett aus angesehen. Er stand auf, gab Lisa im Vorbeigehen einen Kuss auf die Wange und ging in die Küche, um das Abendessen vorzubereiten. Die Wohnküche hatte Lisa in modernem Grafit-Grau eingerichtet, wobei ein Gasherd mitten im Raum stand, an den sich eine Theke anschloss, an der gegessen wurde.
Tom deckte Teller und Geschirr auf, holte Brot, Käse, Tomaten und Gurke aus dem Kühlschrank sowie eine Flasche Rioja aus einem Vorratsschrank und schenkte sich etwas von dem Rotwein in ein Glas. Lisa hatte schon lange Zeit vor Geburt ihres Sohnes auf Alkohol verzichtet. Das war nicht das Einzige, was sich in ihrem Leben im letzten halben Jahr geändert hatte.
Toms Arbeitsbelastung war deutlich gestiegen, denn er hatte immer mehr Sendungen, für die er verantwortlich war, vom Fernsehdirektor zugewiesen bekommen. Damit verbunden waren immer mehr berufsbedingte Abendtermine mit wichtigen Menschen aus Politik, Kultur und Wissenschaft, die Tom zwar mit Rücksicht auf die schwangere Lisa nach Möglichkeit reduziert hatte, die aber dennoch in der Regel dreimal die Woche anstanden. Je dicker Lisa wurde, umso häufiger verzichteten sie auch darauf, Essen zu gehen oder gemeinsame Freunde zu besuchen. Lisa hatte zudem viel Zeit in die stylish in japanischem Design eingerichtete neue Wohnung investiert, und nach ihren Aussagen war dieser Prozess noch lange nicht abgeschlossen, obwohl sich Tom in seinem neuen Zuhause schon recht wohlfühlte. Ihre Aufgaben im Veggie hatte sie an die neu eingestellte Geschäftsführerin Nadine abgegeben, was aber nicht bedeutete, dass sie sich nicht weiter um ihr Restaurant kümmerte. Jeden Freitagvormittag tauchte Lisa im Veggie auf, um mit Nadine die Essenspläne für die kommende Woche durchzusprechen. Tom wusste, dass ihr Wunsch, einmal einen Michelin-Stern für das vegetarische Restaurant zugesprochen zu bekommen, längst nicht aus ihrem Denken verschwunden war.
Er hob sein Glas, prostete einer imaginären Lisa zu und trank einen großen Schluck von dem wohlschmeckenden Wein.
In diesem Moment betrat die reale Lisa barfuß die Küche und sagte leise: »Er schläft wieder, unser kleiner Prinz.«
»Ich habe dir gerade zugeprostet«, entgegnete Tom.
»Gib mir einen ganz kleinen Schluck«, forderte sie ihn auf. Sie nahm sich das Weinglas und trank ein bisschen. »Das geht mir schon ziemlich ab«, murmelte sie vor sich hin. Sie setzte sich an den Tisch und begann gedankenverloren, ein Brot mit einem Blauschimmelkäse zu bestreichen, eine Tomate aufzuschneiden und mit Salz und Pfeffer zu bestreuen.
»Ich mache mir schon Sorgen, wenn unser Prinz immer wieder blau anläuft. Und die Tatsache, dass sein Zustand Auswirkungen auf sein Gehirn haben kann, macht mir richtig Angst. Vielleicht«, dabei sah sie Tom in die Augen, »ist es doch das Beste, ihn so schnell wie möglich operieren zu lassen.«
Tom griff nach ihrer Hand und streichelte sie: »Warte ab. Vielleicht bringt uns mein Zukunftsforscher doch noch eine positive Nachricht. Außerdem haben die Ärzte gesagt, das Kind muss mindestens fünf Kilogramm wiegen, bevor man es operieren kann.«
Lisa entzog Tom ihre Hand und sagte mit Nachdruck: »Spätestens in zwei Wochen wird er fünf Kilo wiegen, da sollten wir jetzt einen OP-Termin im Krankenhaus ausmachen.«
Tom hatte plötzlich das Gefühl, es würde ein Film ablaufen, in dem er die Hauptrolle spielt, und auch schon weiß, was die nächste Szene beinhaltet. Er hatte geahnt, dass Lisa ihren Sohn so schnell wie möglich operieren lassen wollte. Für sie mussten die Dinge immer gleich geregelt werden, während er noch darüber nachdachte, ob sich nicht noch bessere Lösungsmöglichkeiten ergeben könnten. Er hatte sich auch in die Idee verbohrt, dass diese Operation irgendwo auf der Welt minimalinvasiv möglich sein müsste, und die Recherche kostete Zeit.
»Meinst du nicht auch?«, holte ihn Lisa mit einem finsteren Gesichtsausdruck aus seinen Gedanken.
Tom schnaufte tief durch: »Du hast recht. Anmelden sollten wir uns, absagen kann man immer.«
»Wieso absagen?«, fragte Lisa schnippisch.
»Ich meine nur, wenn es vielleicht doch noch etwas wird mit der Idee von dem minimalinvasiven Eingriff.«
In diesem Moment hörten sie aus dem Schlafzimmer ihren Prinzen jammern, Lisa biss noch schnell von ihrem Brot ab und lief eilig aus der Wohnküche.
»Bring mir noch ein Guinness!«, sagte der Typ mit dem langen Vollbart zum Kellner. Der Typ trug einen schwarzen Hoodie, schwarze Jeans und schwarze New Balance Schuhe und saß mit einem Kumpel im Schanigarten einer irischen Kneipe. Sein Kumpel hatte ein halb volles Weißbierglas vor sich stehen und wirkte mit einem Totenkopftattoo am Hals und den tätowierten Zahlen- und Buchstabencodes auf den Armen noch eine Spur aggressiver.
»Ich war letzte Woche in dem Lokal«, sagte der Bärtige mit einem schmeichlerischen Lächeln im Gesicht, »und ich glaube, das müsste gehen. Nur Tussn sind da rumgelaufen und ein asiatischer Koch. Die erschrecken wir ein bisschen und dann zahlen sie.«
»Welche Kneipe war das jetzt?«, fragte der andere, während er sein Bierglas an die Lippen hob.
»Das ist ein vegetarisches Restaurant in der Neureuther Straße. Es ist sehr gut besucht, das heißt, die machen dort ordentlich Kohle. Die Inhaberin wohnt dort drüben«, dabei zeigte der Bärtige auf das Wohnhaus aus der Gründerzeit schräg gegenüber, »das habe ich im Internet recherchiert. Eine Lisa Becker. Wer sich hier eine Wohnung leisten kann, muss einfach Geld haben. Und außerdem hat sie grad geworfen. Da hat sie sicher keine Lust auf Knatsch. Du wirst sehen, die zahlt gleich 15 % von den Tageseinnahmen.«
Der rothaarige, klein gewachsene Kellner mit einem irischen Akzent brachte das Guinness, stellte es auf den Tisch und sagte: »Kann ich bitte abkassieren, wir haben Schichtwechsel.«
»Komm, Bruder, das muss jetzt nicht sein. Wir sind noch länger hier«, antwortete der Bärtige. »Sorry, ich muss meine Abrechnung machen, und da gehören Ihre Biere dazu.«
»Jetzt schleich dich einfach«, fuhr ihn der Tätowierte lautstark an. »Wir zahlen, wenn wir das wollen!« Mit diesen Worten wandte er sich wieder seinem Kumpel zu.
»Auf der Rechnung stehen 19,60 €, und die werden mir vom Lohn abgezogen, wenn ich das Geld nicht bekomme«, beharrte der Kellner eingeschüchtert. »Ich muss auch meine Wohnung zahlen.«
»… muss auch meine Wohnung zahlen«, äffte ihn der Tätowierte nach, dabei erhob er sich, griff nach der Jacke des Kellners mit einer Hand und wischte ihm mit der anderen über den Hinterkopf. »Jetzt lass uns endlich in Ruhe, du bescheuerte Nervensäge. Kapiert?!«
»Unverschämtheit!«, schimpfte der Kellner vor sich hin, zog sich aber zurück, während er weiter polterte: »Ich sage es dem Geschäftsführer und der ruft die Polizei! So geht das, wenn man nicht zahlt.«
»Komm, Georg, lass uns gehen«, sagte der Bärtige zu seinem Kumpel, »der holt wirklich noch die Polizei. Das können wir jetzt nicht gebrauchen.«
Der Bärtige stürzte sein Guinness in einem langen Zug hinunter, der andere trank sein Bier auch aus. Beide standen auf, ließen die Gläser auf den Boden fallen, wo sie in viele Stücke zerbrachen, und liefen, ohne sich nach einer möglichen Reaktion noch einmal umzudrehen, vor zur Leopoldstraße.
»Ich halte das für eine gute Idee mit dem vegetarischen Restaurant«, sagte der Bärtige, während er Georg leicht in die Seite boxte. »Außerdem ist mir die Kohle ausgegangen, da müssen wir was machen.«
»Klingt gut, Toni. Da gibt es nur Tussn?«
»Ja, wirklich! Ich erzähl keinen Scheiß.«
»Okay, machen wir. Holen wir uns den Angelo noch dazu. So ne Nummer ist besser zu dritt als zu zweit.«
Tom saß an einem Tisch im italienischen Restaurant La Stella, knabberte auf ein paar Grissini herum, die neben Tellern und Besteck auf einer frisch gebügelten weißen Tischdecke standen, und wartete auf Professor Zänkel. Er hatte den Forscher angerufen, um ihm mitzuteilen, dass er eine Idee für eine Sendereihe mit ihm hätte, die er gern mit ihm durchsprechen möchte. Natürlich hatte er im Hinterkopf, bei dieser Gelegenheit Neuigkeiten aus der Welt der Forschung zum Thema Fallot’sche Tetralogie zu erfahren. Vielleicht hatte der Professor schon mit den Kollegen von der Johns-Hopkins-University gesprochen, oder für den Fall, dass diese Gespräche noch nicht stattgefunden hatten, würde sich der Zukunftsforscher sicher an Toms Wunsch erinnern und hoffentlich zum Hörer greifen.
Tom hatte um den Tisch im Eingangsbereich gebeten, da dieser groß genug war, falls sie etwas schreiben oder zeichnen mussten. Ein Kellner kam auf ihn zu und fragte: »Möchten Sie schon mal etwas zum Trinken?«
»Bringen Sie mir bitte eine Flasche Mineralwasser und einen Vernaccia di San Gimignano. Der passt doch eigentlich immer.«
Abgehetzt mit einer viertelstündigen Verspätung betrat der Professor das Restaurant, schüttelte Tom die Hand: »Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe, aber ständig klingelte zu Hause noch das Telefon, und da waren einige wichtige Telefonate darunter.«
»Ist nicht so schlimm, ich habe schon mal eine Flasche Weißwein geordert, ich hoffe, Sie mögen Vernaccia de San Gimignano auch?«
Zänkel legte eine Aktentasche auf den Tisch, setzte sich und sagte: »Sehr gut, Herr Becker, ein gutes Glas Weißwein, das ist das, was ich jetzt brauche.«
Der Kellner reichte ihnen die Speisekarte, und Zänkel wählte Antipasto misto sowie Seezunge vom Grill, und Tom einen gemischten Salat und als Hauptgericht Kalbsmedaillons mit Zitronensauce.
»Prost, Herr Professor, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«
»Keine Ursache, ich bin gespannt, was Sie mir berichten.«
»Ich hatte die Idee«, begann Tom, »jeweils fünfzehnminütige Gesprächssendungen zu Ihren Zukunftsthemen zu machen.«
»Wie stellen Sie sich das vor?«, fragte der Professor.
»Wir thematisieren zum Beispiel Sensoren, die schon bei der Morgentoilette Krebs erkennen können, oder autonome Magnetfahrzeuge, die die Rolle der Autos übernehmen, oder den Traum eines Menschen digitalisieren und ein Video davon machen und so weiter.«
Zänkel nahm einen Schluck Mineralwasser und fragte: »Wie soll so eine Sendung aussehen?« Tom rutschte ein Stück näher zu ihm hin: »Ich habe mir gedacht, ich befrage Sie einfach vom Standpunkt eines Zuschauers aus, der überhaupt keine Fachkenntnisse besitzt.«
Zänkel nahm seine Brille ab und sagte: »Sie wissen, dass ich wissenschaftliche Themen auf ein populärwissenschaftliches Niveau herunterbrechen kann, aber mit all den Floskeln zu Beginn einer Sendung und deren Ende ist das doch sehr wenig Zeit. Vor allem, wenn auch noch Fragen gestellt werden. Diese Zeit muss man auch noch von meiner Erklärung komplizierter Inhalte abziehen.«
Tom nickte ihm mehrfach zu: »Sie haben sicher recht, aber wir haben im Fernsehen immer sehr begrenzte Sendezeiten. Der Hörfunk hat es diesbezüglich viel besser, aber er findet auch nicht die Aufmerksamkeit wie das Fernsehen.«
Der Professor kratzte sich nachdenklich am Kopf: »Was brauchen Sie von mir und wie viel springt für mich bei diesen Sendungen heraus?«
In diesem Moment kam der Kellner an den Tisch und brachte die Vorspeisen: »Lassen Sie es sich schmecken, meine Herren.«
Tom bedankte sich und machte sich über den gemischten Salat. Zänkel schob seinen Teller etwas von sich weg und sagte: »Ich kann überhaupt nicht einschätzen, wie aufwendig diese Aufgabe für mich ist.«
»Wir müssen zwölf bis 16 Themen aussuchen«, entgegnete Tom, »die sich gut im Gespräch darstellen lassen. Dann kalkuliere ich die Kosten und reiche einen Projektplan beim Fernsehdirektor ein. Der wird für das nächste Jahr für gut befunden oder – im schlechtesten Fall abgelehnt, was ich mir aber nicht vorstellen kann – und dann müssen wir Details besprechen, und Sie müssen die Sendungen ausarbeiten. Wenn wir beide Zeit haben und auch ein Studio zur Verfügung steht, gehen wir an die Produktion der Sendefolgen. Es sollten nach Möglichkeit drei bis vier an einem Produktionstag sein. Können Sie mir etwa sagen, wie viel Zeit Sie für die Vorbereitung einer Sendefolge veranschlagen?«
Zänkel hatte inzwischen begonnen, seine Antipasti zu verdrücken, er wischte mit der Stoffserviette über den Mund und sagte: »15 Minuten, das sind drei bis vier DIN-A4-Seiten – das ist kein Problem, die habe ich sehr schnell, aber ich muss auch eine bestimmte Dramaturgie hierzu ausarbeiten. Na ja, kann schon sein, dass ich für eine Folge einen halben Tag Arbeit benötige?«
Tom, der seinen gemischten Salat aufgegessen hatte, trank einen Schluck von dem Vernaccia: »Okay, dann weiß ich jetzt in etwa, wo wir stehen. Sie brauchen sechs bis acht Tage Vorbereitung, und dann bedarf es nochmals drei bis fünf Tage Studioproduktion. Das kann ich kalkulieren.«
Der Kellner kam wieder an den Tisch, räumte das Geschirr für die Vorspeisen weg und sagte: »Meine Herren, jetzt kommen gleich die Hauptgerichte.«
Zänkel rieb sich freudig die Hände und fragte: »Wie teuer ist so eine Sendereihe eigentlich?«
Tom stützte sich auf sein Kinn: »Das ist immer schwer zu sagen. Das Studio und die gesamte Mannschaft werden bei uns indirekt verrechnet. Aber dann muss ein Titel für die Sendereihe festgelegt werden, der muss juristisch über eine Schutzanzeige abgesegnet werden, die Grafik-Abteilung muss einen Vor- und Abspann entwickeln, eine Trailer-Musik muss ausgewählt oder komponiert werden. Ein Bühnenbild muss hergestellt werden, dafür müssen eventuell Elemente gebaut und schließlich müssen noch die Bauchbinden festgelegt werden.«
»Bauchbinden, was ist denn das?«, fragte der Professor mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Die Einblendungen«, fiel Tom schnell ein. »Der Folgentitel oder die Namen der Sprechenden; also, wenn Sie zum Beispiel reden, wird ihr Name und ihre Funktion eingeblendet, damit man weiß, wer Sie sind. Die Bezeichnung Bauchbinden hat sich dafür eingebürgert. Zu diesen Kosten kommen noch Honorare für den Regisseur, freie Mitarbeiter und natürlich auch für Sie.« Dabei sah Tom den Professor gut gelaunt an. »Insgesamt ist man schnell einmal bei 120.000 bis 150.000 €.«
»Jetzt wird es interessant – wie hoch ist mein Honorar bei so einer Sendung?«, fragte Zänkel und strahlte dabei Tom an, als würde er einen Millionenbetrag erwarten.
In diesem Moment brachte der Ober die Hauptgerichte, stellte die Kalbsmedaillons vor Tom auf den Tisch und begann die Seezunge zu filetieren.
Tom raunte dem Professor zu: »Warten Sie einen Augenblick, unsere Fernsehhonorare muss nicht jeder kennen.«
Der Kellner stellte den Teller mit dem entgräteten Fisch und den verschiedenen Gemüsen vor Zänkel und fragte: »Fehlt noch etwas? Pfeffer aus der Mühle?« Tom schüttelte den Kopf, der Forscher nickte dem Ober zustimmend zu und ließ sich die Seezunge noch mit etwas Pfeffer bestreuen. Tom erhob sein Glas: »Prost, Herr Professor, lassen Sie es sich schmecken!«
Beide tranken einen Schluck, Tom schob ein Stück von den Kalbsmedaillons in seinen Mund. Nachdem er mit einem anerkennenden Gesichtsausdruck einen Bissen geschluckt hatte, sagte er mit gedämpfter Stimme: »Lieber Herr Professor, uns ist ein Honorarrahmen vorgegeben, nach dem liegt die Gage für eine ausgearbeitete 15-minütige Sendung bei 2.200 €. Wäre das in Ihrem Sinne?«
Zänkel stutzte einen Moment: »Da werden Vorträge zum Beispiel für Wirtschaftsunternehmen aber deutlich höher honoriert.« Bei diesen Worten zog er sein Handy aus der Sakko-Brusttasche und multiplizierte die genannte Summe mit der Zahl 16. »Das wären gut 35.000 €. Da bleiben nach Abzug der Steuern noch rund 20.000 € übrig. 2.500 € für eine Sendung würde mir deutlich besser gefallen. Haben Sie so einen Spielraum?«
Der Professor hatte ein Pokerface aufgesetzt und sah Tom aus kleinen Augen hinter seiner Hornbrille aufmerksam an. Tom schürzte die Lippen, fuhr sich mit der Hand über die Stirn und holte ein Notizbuch aus der Jackentasche. Es sah aus, als würde er eine komplizierte Rechnung bearbeiten, dann schloss er es wieder und sagte: »Ich denke, ich kann das zusagen, vorausgesetzt der Direktor stimmt dem Projekt zu. Wissen Sie, mit meinem Etat muss ich ein großes Terrain beackern.«
Er schob sich ein weiteres Stück Kalbfleisch zwischen die Zähne, während der Zukunftsforscher, der gerade einen Schluck Wein trank, losprustete: »Sie tun gerade so, als würde der Sender zugrunde gehen, wenn Sie mir 5000 € mehr zugestehen.«
Toms Gesichtsfarbe nahm eine deutlich erkennbare, rötliche Färbung an. Er trank einen Schluck Wein, und sein rechtes Bein begann wieder heftig zu wippen, als würde es dem Rhythmus einer nur für ihn hörbaren Rock-’n’-Roll-Nummer folgen: »Sie müssen wissen, lieber Herr Professor Zänkel«, begann Tom sich zu verteidigen, »wenn ich den Etat bei einem Projekt aufstocke, muss ich den bei einem anderen kürzen. Die Gesamtsumme, die mir zur Verfügung steht, bleibt immer gleich.«
Der Zukunftsforscher zauberte sich ein überlegen wirkendes Lächeln ins Gesicht: »Sie meinen, ich müsste mich beschränken, damit Sie irgendwelche langweiligen Fernsehshows produzieren …«
»Lieber Herr Professor«, fiel ihm Tom, der seine Unsicherheit überwunden hatte, ins Wort, »Fernsehsendungen, in denen Sie so prominent auftreten, sind doch Multiplikatoren für Ihre Bücher. Das dürfen Sie nicht vergessen!«