Dünnhäuter - Jürgen Breest - E-Book

Dünnhäuter E-Book

Jürgen Breest

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Beschreibung

Jürgen Breests Roman »Dünnhäuter« führt mitten hinein in das Machtgerangel an einer deutschen Fernsehanstalt. Held seines Romans ist der Redakteur Feldmann, ein erfolgreicher und geachteter Mann am Sender. Aus einem verkorksten Urlaub mit Frau und Sohn zurückgekehrt, findet Feldmann eine veränderte Situation vor. Wegen eines politisch brisanten Films, den er drehen will, bekommt er Schwierigkeiten. Die Vorgesetzten entziehen ihm ihr Wohlwollen. Ihm gehen die Augen auf, er sieht seine berufliche Umwelt kritisch und klar, nimmt die Leute beim Wort, hört auf, sich etwas vorzumachen, verzichtet auf Anpaßlertum und opportunistische Unterwerfung. Er verhält sich, wie sich ein kämpferischer Demokrat verhalten sollte – und hat unverzüglich Feinde, echte und eingebildete. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 357

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Jürgen Breest

Dünnhäuter

Roman

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Inhalt

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1

Für Feldmann kamen die Depressionen überraschend und unmotiviert. Wieso gerade auf dem Hauptbahnhof in Hannover? Er wollte seinen R 16 auf den Spezialwaggon für Autotransporte fahren, der an den Autoreisezug nach Verona angehängt werden sollte. Er mußte warten. Ein riesiger Mercedes und ein noch größerer Anhänger mit Motoryacht wurden auf einem Sonderwaggon untergebracht. Der Fahrer des Mercedes, ein junger, blonder Mann in blauem Polohemd, mit durchlöcherten, gelben Autohandschuhen an behaarten Händen, fuhr so ungeschickt, daß er mehrmals hin- und herdirigiert werden mußte. Feldmann war wütend. Er hatte es eilig, obwohl der Zug erst in einer Stunde ging. Die Verladearbeiter brüllten dem Mercedesfahrer Kommandos zu. Sie brüllten besonders laut und sahen sich grinsend an, wenn der Mann im blauen Hemd wieder etwas falsch gemacht hatte. Sein Haar hing feucht in die Stirn, die Nase glänzte von Schweiß, die Hände zitterten auf dem Lenkrad. Feldmann sah zu Christiane hinüber, die mit Till etwas entfernt auf dem Bahnsteig stand und auch das Verladen des Mercedes beobachtete. Sicher hat sie Mitleid mit dem Fahrer, dachte Feldmann und wurde noch wütender. Die Frau des Mercedesfahrers hatte sich gegen einen Laternenmast gelehnt und schaute desinteressiert an der Verladeszene vorbei. Sie war blond, gut gebaut und sehr geschminkt. Sie hielt ein kleines Mädchen an der Hand, das so niedlich war, daß man es nicht ansehen mochte. Das Gesicht war wie aus Porzellan, und die blonden Löckchen glänzten künstlich. Um die braungebrannten, nackten Beine der Mutter stand viel Schweinsledergepäck. Die Frau lehnte den gutfrisierten Kopf zurück gegen den Mast und schaute in den grauen Himmel, wo es nichts zu sehen gab. Feldmann hätte sie gern geschlagen.

Auf dem Weg von der Verladerampe zur Bahnhofshalle wurde ihm übel. Der Schweiß brach ihm aus. Till trug nur eine leichte Plastiktüte mit Spielzeug, während er sich mit zwei schweren Handtaschen abschleppen mußte. Aggressiver, als er wollte, forderte er Till auf, mit anzufassen. Till zögerte einen Augenblick, grinste und schüttelte den Kopf.

Feldmann blieb die Luft weg. In seinen Ohren war ein heller Pfeifton, die Taschen hingen schwer an seinen Händen, Schweißtropfen liefen unter seinem Hemd über Brust und Rücken. Daß er ihm gleich eine knallen würde, sagte er scharf, aber gedämpft wegen der Leute. Till fing an zu pfeifen und lief zu seiner Mutter, die etwa zwanzig Meter vorausging. Er hakte sich bei ihr ein. Sie wandte sich ihm zu. Sie steckten die Köpfe zusammen und flüsterten miteinander.

»Der Alte motzt wieder«, glaubte Feldmann zu hören.

In der Bahnhofshalle drehte sich Christiane nach Feldmann um und sah ihn erwartungsvoll an, als käme er von einer vierjährigen Weltreise zurück. Er wich ihrem Blick aus und fixierte wütend seinen Sohn, der sich abseits hielt und in der Plastiktüte kramte. Während Feldmann auf Christiane zuging, spürte er einen schneidenden Schmerz in den Därmen und kurz darauf den heftigen Drang, sich zu entleeren. Er hatte sich schon immer vor Bahnhofstoiletten gefürchtet, deshalb fragte er Christiane, ob sie Lust auf eine Tasse Kaffee im Restaurant hätte. Sie nickte, und ihr Blick war immer noch erwartungsvoll. Feldmann lief auf die Restauranttür zu, Christiane folgte langsam, nachdem sich Till ihr angeschlossen hatte.

Das Restaurant war überfüllt. Nur auf einer kleinen Empore waren ein paar Tische frei. Davor stand ein Schild, auf dem zu lesen war, daß an den Tischen nicht serviert wurde. Feldmann war das egal. Er stellte das Gepäck ab und winkte Christiane und Till. »Hier kriegen wir nichts«, sagte Christiane, und Till fügte hinzu: »Ich hab’ aber Durst.« Feldmann wollte nur eins: auf die Toilette. Sie könnten ja gleich im Speisewagen was trinken, schnauzte er sie an.

In der Toilette waren die Kabinen verschlossen und nur durch Einwurf von zwei Zehnpfennigstücken zu öffnen. Feldmann suchte nach Groschen, fand aber nur ein Markstück. Er fluchte.

Auf dem Gang vor der Toilette bat er einen Kellner, ihm die Mark zu wechseln. Der weigerte sich, weil er gesehen hatte, wie die drei sich an einen verbotenen Tisch gesetzt hatten. Daß er kein Kleingeld und außerdem Feierabend habe, murmelte er mürrisch. Feldmann fuhr ihn an, daß sie auch wechseln können müßten, wenn sie schon die Toiletten nur mit Geld zugänglich machten. Der Kellner knurrte, das seien nicht seine Toiletten, sondern die der Bundesbahn, und ihn interessiere das einen Scheißdreck. Er ließ Feldmann einfach stehen. Ein anderer Kellner, den Feldmann anflehte, war ein Ausländer. Er zuckte nur verständnislos die Achseln. Der Schließmuskel war nah daran aufzugeben. Am liebsten hätte Feldmann auf den Gang gemacht oder mitten ins Restaurant, aber er war gut erzogen. Er biß die Zähne und preßte die Gesäßbacken zusammen. Mit kleinen Schritten ging er hinaus in die Halle und zu einem Kiosk. Er kaufte eine Zeitung für sechzig Pfennige und erhielt vier Groschen Wechselgeld. Langsam ging er zurück.

Der Darmdruck hatte nachgelassen, kaum daß das Geld in seiner Hand lag. Er beherrschte sich so sehr, daß er zunächst ins Restaurant und an den Tisch von Christiane und Till zurückkehrte. Er gab Christiane die Zeitung und sagte: »Für dich, Reiselektüre.«

Christiane war erstaunt. Feldmann lächelte. Sie schauten sich an, ohne sich anzuschauen. »Ich komme gleich«, sagte Feldmann und ging gemächlich zum Klo. Kaum hatte er die Kabinentür hinter sich geschlossen, riß er sich Hose und Unterhose gleichzeitig vom Leib, warf sich aufs Klo und ließ alles aus sich herauslaufen. Er hatte das Gefühl, daß mit ihrem Inhalt auch die Därme selbst, daß alle Innereien herausrutschten, daß in seinem Bauch ein großes Vakuum entstand. Kälteschauer liefen über seinen Rücken, kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Ein Gestank von Fäulnis und Verwesung füllte die Kabine.

Feldmann hatte Angst, jemand anderer könnte die Toilette betreten und die Verdauungskatastrophe riechen. Er spülte die braune Jauche weg und setzte sich noch einmal. Es kam nur ein wenig Luft, dann war Schluß. Feldmann hing schlapp auf dem Lokus. Ihm war übel. Speichel lief in seinem Mund zusammen. Im Kopf fing es an zu stechen. Er wischte sich ab.

Als er die Hose hochgezogen und den Gürtel geschlossen hatte, fand er wieder zu sich selbst. Gürtel und Stoffhülle fügten den Leib wieder zusammen, gaben ihm Halt. Feldmann öffnete das Klofenster weit und wusch sich ausführlich die Hände. Er sah sich im Spiegel: die angegrauten, für seine vierzig Jahre zu langen Haare, die graugrünen Augen, deren Weiß ein bißchen rötlich verfärbt war, die zu große Nase, den zu breiten Mund. Die Haut war blaß und schlaff. Er sah aus wie vierzig, auch wenn sich sein Gesichtsschnitt seit zwanzig Jahren kaum verändert hatte. Es lag an der Haut. Die hatte nachgegeben. Ihm fiel ein, daß Büchner schon mit 23 gestorben war. Er kam sich übriggelassen vor.

2

Vor einem Jahr waren sie auch mit dem Autoreisezug nach Italien gefahren. Damals war Feldmann in Hochstimmung gewesen. Jetzt fühlte er sich elend. Daß es am Durchfall liege, sagte er sich und glaubte sich nicht. Auch das kühle Wetter konnte nicht der Grund sein. Vielleicht eine Verkettung mehrerer Gründe, dachte er. Er fand, daß Christiane, die ihm im Abteil gegenübersaß, schlecht aussah. Auch ihr sah man ihre achtunddreißig Jahre an. Das machten nicht die grauen Strähnen im gepflegten, burschikos kurz gehaltenen Haar, nicht die Fältchen um die Augen und den breitlippigen Mund. Es war ein allgemeiner Ausdruck von Schlaffheit und Resignation. Die Haut, dachte er, wie bei mir.

Christiane hob den Blick von der Zeitung und sah ihn an. Feldmann nickte ihr lächelnd zu. »Ich freue mich«, sagte er, »es ist wie vor einem Jahr.« Er löste seinen Blick von Christianes und schaute aus dem Fenster, ohne etwas zu sehen, denn er spürte Christianes Blick noch auf sich ruhen. Er hatte das Gefühl, daß sie ihn nicht mit Sympathie betrachtete. Sie hatte die Angewohnheit, Menschen und Dinge mit Ausdauer zu beobachten. Feldmann litt darunter, wenn sich ihr Interesse auf seine Person richtete. Es machte ihn nervös und wütend. Überhaupt hatte er es nicht gern, angestarrt zu werden. Er wußte, daß er passabel aussehen konnte, wenn sein Gesicht still war. Aber wenn er aufgeregt war, verzerrte sich sein Mund beim Sprechen zu einem häßlichen Loch, seine Nasenlöcher blähten sich wie Pferdenüstern, und seine Augen wurden klein.

Feldmann erschrak, als Christiane ihre Hand auf seine legte. »Es wird uns guttun, wieder etwas Zeit füreinander zu haben«, sagte sie und gab ihrem Gesicht eine fragende Zärtlichkeit, die Feldmann ratlos machte. Außerdem merkte er, wie Till sie von der Seite beobachtete. Er drückte Christianes Hand, zog seine zurück und schaute aus dem Fenster.

Er sah deutsche Landschaft. Schön war sie, das fand er jedesmal, wenn er unterwegs war. Besonders die Strecke zwischen Göttingen und Würzburg mochte er. Es störten nur die vielen Kurven, die der Zug so rasant nahm, daß man Angst bekam, er könnte entgleisen. Und immer wieder erschreckten die plötzlichen Tunnels.

Feldmann hatte Schwierigkeiten, sich vorzustellen, daß die niedliche Berglandschaft keine an den Fenstern vorübergezogene Kulisse war, sondern Realität. Die Bauernhöfe sahen aus wie gemalt. Es war undenkbar, daß in ihnen lebendige Menschen und Tiere wohnten. Er mochte nicht mehr aus dem Fenster sehen.

Er sei müde, sagte er zu Christiane, schloß die Augen und lehnte sich zurück. Er konnte nicht schlafen. Leichte Kopfschmerzen und ein starker Druck auf den Augen hielten ihn wach. Er dachte an den Sender, an sein Büro. Er hatte es vor zwei Tagen verlassen in dem Bewußtsein, alles in Ordnung gebracht zu haben. Er hatte seinen Film über Susanne Becker so weit vorbereitet, daß er sofort nach dem Urlaub mit den Dreharbeiten beginnen konnte. Zwar hatte Wehrenberg das Treatment noch nicht gelesen und genehmigt, aber das Projekt war gründlich vorbesprochen und dem Direktor vertraut. Die Genehmigung war nur noch Formsache. Auch die Planung für das nächste Jahr war mit Wehrenberg diskutiert und von ihm abgesegnet worden. Nicht nur abgesegnet, Wehrenberg hatte sich begeistert über Feldmanns Plan geäußert, eine Frauenreihe zu machen. Gerade daß er nicht die wenigen erfolgreichen Vorzeigefrauen zum Thema der Featurereihe machen wollte, sondern unbekannte, sogenannte »normale« und eben auch völlig unemanzipierte, hatte Wehrenberg gefallen. An denen werde viel mehr deutlich über die Misere der Frau, hatte Wehrenberg gesagt.

Feldmann versuchte, sich Susanne Becker vorzustellen. Es fielen ihm nur Worte ein wie »rote Haare« oder »T-Shirt ohne BH«. Er würde gern mit ihr schlafen, aber er traute sich nicht, einem KBW-Mädchen einen Antrag zu machen. Er wollte sich keinen Korb holen und sich nicht als bürgerlichen Sexualspießer abtun lassen. Vielleicht würde sich bei den Dreharbeiten was ergeben. Da war er der Regisseur, der Macher, da bestimmte er die Atmosphäre und nicht Mao.

Er hatte Wehrenberg Fotos von Susanne gezeigt. Der hatte sie lächelnd betrachtet. Die sei sicher nicht aus sexueller Frustration im KBW, hatte er gesagt. Sie sei eine Überzeugte. In Feldmanns Stimme war der Neid nicht zu überhören gewesen. Wehrenberg hatte wohlwollend hinzugefügt, daß er es wichtig finde, dem Publikum deutlich zu machen, wie ein junges Mädchen zu diesem politischen Fanatismus kommt. Und was es bedeute, keine Anstellung als Lehrerin zu finden, hatte Feldmann noch sagen müssen.

Ob er seinen Sohn von einer KBW-Lehrerin unterrichten lassen wolle.

Feldmann hatte passen müssen. Diese Frage hatte er sich noch nicht gestellt. Wehrenberg hatte Feldmanns Schweigen positiv in seinem Sinne interpretiert. Er war aufgestanden und hatte Feldmann die Hand hingehalten: »Sehen Sie, das ist die Aufgabe des Films. Machen Sie diesen Widerspruch deutlich. Das schaffen Sie schon.«

Inzwischen hatte Feldmann eine klare Antwort auf Wehrenbergs Frage. Er würde Till von Susanne Becker unterrichten lassen. Susanne war sympathisch. Und Till sollte sich mit dem Marxismus beschäftigen. Das würde ihn nicht gleich zum KBW-Mitglied machen. Schließlich hatten alle christlichen Erziehungsversuche in der Schule und zu Hause keinen Christen aus Feldmann gemacht.

Er öffnete die Augen. Der Zug hatte Gemünden hinter sich und fuhr mit quietschenden Rädern die Schlangenlinien des Mainufers nach. Links Weinberge. Feldmann hatte Lust, sich zu betrinken. Aber er beherrschte sich und brach die Flasche Wein, die er für den Abend mitgenommen hatte, noch nicht an. Immerhin sorgte die Vorstellung von Alkohol für etwas Wärme in Magen und Därmen.

Er fragte Till, ob er mit ihm Schach spielen wolle. Till sah ihn zögernd an. Feldmann, vom Durchfall sensibilisiert, verstand das Zögern. Er hatte Till nach und nach alle Lust auf Schach, Skat, Tischtennis oder Boccia genommen durch seine Sucht, siegen zu müssen. Er lächelte, schlug Till zärtlich und aufmunternd aufs Knie und nahm sich vor, ihn gewinnen zu lassen. Till schien überrumpelt zu sein von so viel väterlicher Zärtlichkeit. Er nickte. Feldmann packte das Reiseschach aus.

Christiane seufzte. Mit Recht, denn Feldmann vergaß, daß er Till hatte siegen lassen wollen. Mit immer größerer Schadenfreude, die nur unterbrochen wurde durch den kurzen Ärger, daß Till mittendrin aufgeben wollte, bereitete er seinem Sohn die obligate Niederlage.

Daß Till hinterher brüllendlaut Popmusik aus seinem Kassettenrecorder hörte, sah Feldmann nicht im Zusammenhang mit der Schachniederlage. Er verbat sich den »musikalischen Unrat« und bekam einen Wutanfall, als Christiane Tills Partei ergriff. Er stellte sich auf den Gang und rauchte zwei Zigaretten schnell hintereinander, um zu zeigen, wie aufgeregt er war.

Er ging nicht zurück ins Abteil Es sah aus, als sängen Christiane und Till die Schlager mit. Schließlich kam er sich blöd vor und wäre gern ins Abteil zurückgekehrt. Aber wenn er daran dachte, wie Christiane ihn nach Wutausbrüchen angrinste, wurde er gleich wieder sauer. Mal war er für Nachgeben, mal für Durchhalten und wußte genau, daß es lächerlich war, immer noch bockig draußen zu stehen. Aber er war inzwischen schon viel zu verkrampft, um einfach seinen Platz wieder einnehmen zu können. Er öffnete die Abteiltür einen Spalt, sagte, ohne die beiden anzusehen, daß er im Speisewagen ein Bier trinken gehe, und schloß die Tür so schnell, daß sie nicht reagieren konnten. Bis München wollte er nicht mehr mit ihnen sprechen.

Als nach Augsburg Christiane und Till auch im Speisewagen auftauchten, hatten drei Schnäpse, drei Flaschen Bier und ein Gespräch mit der vollbusigen Kellnerin Feldmann so entspannt, daß er ihnen zuwinkte, sie an seinen Tisch holte und mit ihnen Abendbrot aß. Der Alkohol und die Hamburger Kraftschnitte machten Feldmann sanft. Versonnen schaute er auf die Bayerische Hochebene, auf der es zu dämmern anfing. Schwarze Tannenwälder standen sauber und ordentlich in der leicht gewellten Gegend. Barocke Zwiebeltürme in weißen Städtchen, reiche, blitzblanke Bauernhöfe, üppiges Vieh, knallgrüne Wiesen: alles machte einen Eindruck von Wohlstand und Zufriedenheit, daß es ganz still in Feldmann wurde. Noch stiller wurde es in ihm, als er schließlich im Abteil seine Flasche Wein trank.

Als sie sich Verona näherten, fing es an zu regnen. Feldmann konnte es nicht fassen. In Italien bei Regen ankommen – das wollte nicht in seinen Kopf. Aber der Regen war nicht der einzige Grund für seine Depressionen oder »schlechte Laune«, wie Christiane zu Till sagte, als der angeschnauzt wurde wegen einer umgefallenen Coladose.

Feldmann hatte schlecht geschlafen. Er war immer wieder wach geworden, besonders wenn der Zug beim Überqueren der Alpen mit quietschenden Rädern in die Kurven gegangen war. Außerdem hatte er einen Kater. Vielleicht hätte ihm ein gutes Frühstück auf die Beine geholfen, aber das gab es erst in Verona im Bahnhofsrestaurant. Feldmann starrte in das trübe Wasser der Etsch und fragte sich, warum sie eigentlich weggefahren waren. Schon immer wollte er mal Urlaub zu Hause machen, aber Christiane war dagegen. Sie drängte es weg von Haushalt und Küche. Sie bestand jedes Jahr darauf, in den Süden zu fahren. In die Sonne. Sonne ist gut, dachte Feldmann und fand Italien häßlich. Ohne Sonne sieht das alles aus wie ausgekotzt.

Er stellte sich auf den Gang, um zu rauchen. Nach zwei Zügen machte er die Zigarette aus. Er mußte ein älteres Ehepaar anhören, das einem jüngeren Ehepaar vom letzten Urlaub erzählte. Das jüngere Paar lauschte höflich, aber aus seinem Schweigen war zu spüren, daß es lieber was anderes getan hätte. Die ältere Frau gab den Ton an. Sie erging sich in verzückten Beschreibungen der inzwischen verjährten Urlaubserlebnisse. Manchmal schaltete sich der Mann ein, indem er die letzte Feststellung seiner Frau mit schlichteren Worten wiederholte, um sie zu bestätigen, aber sich auch gleichzeitig von ihrer exaltierten Sprechweise zu distanzieren.

»Also von Sirmione waren wir ganz begeistert. Das himmlische kleine Hotel mit Seeblick, einfach süß, sage ich Ihnen, einfach süß. Und das Essen bei Franco war phantastisch. Soviel Abwechslung und gar nicht mal teuer – wir waren begeistert, wirklich begeistert.«

»Ja, das Essen war ganz gut«, sagte der Mann.

Dann war das Wetter dran: »Seit zwölf Jahren fahren wir jeden Sommer nach Italien, aber wir sind hier noch nie bei Regen angekommen. Es war immer allerliebstes Wetter.«

»Ja, das Wetter war meistens ganz gut«, sagte der Mann.

Feldmann betrachtete die Frau. Die gezierten Bewegungen der Hände mit dem Modeschmuck an den faltigen Gelenken, die braunen Altersflecken auf den Armen und dem Gesicht, das sinnlose gluckenhafte Nicken des Kopfes während des Sprechens, das breite Gesäß und den vorspringenden Bauch in der weißen Sommerhose, die nackten Füße in den Silbersandalen, die verkrüppelten Zehen mit den roten Lacktupfern dort, wo einmal Nägel gewesen sein mußten.

Feldmann dachte, er müsse die Frau hassen. Aber das ging zu weit. Sollte sie ihm leid tun wie der Alte, dessen Nase so traurig spitz war? Auch sein Mitleid war unangebracht. Da er sich nicht zwingen konnte, unbeteiligt zu bleiben, da er immer wieder die alten Füße in den Silbersandalen betrachten mußte, befahl er sich, ins Abteil zurückzukehren.

Christiane schaute aus dem Fenster. Sie sah nur kurz zu ihm hinüber, als er sich setzte, und widmete sich wieder der italienischen Landschaft. Sie sah zerknittert und müde aus, aber trotzdem zufrieden. Sie war wieder ganz bei sich. Sie störte der Regen nicht, im Gegenteil, das nasse und düstere Italien gefiel ihr bestimmt besser als das sonnige Prospekt-Italien.

Es machte ihn wütend und unsicher, wenn Christiane so satt war von sich selbst. Im Moment fand er es jedoch reizvoll. Er mochte sie gern ansehen. Er hatte zärtliche Gefühle für sie. So was wie Sehnsucht. Er hätte sie gern angefaßt. Aber er traute sich nicht. Er sah nach Till, der Comics las und leise Musik hörte. Seine Familie hatte ihn verlassen, obwohl sie bei ihm war. Feldmann war traurig. Traurig wie früher, wenn Christiane in den Semesterferien nach Hause gefahren, wenn er allein auf dem Marburger Bahnhof zurückgeblieben war. Wenn mich jetzt einer anspricht, fange ich an zu heulen, dachte er und schloß vorsichtshalber die Augen.

3

Nach dem kümmerlichen Frühstück im Veroneser Bahnhofsrestaurant fuhren sie mit dem Wagen zum Gardasee. Es regnete immer noch. »Manchmal regnet es hier wie bei uns vier Wochen lang«, sagte Feldmann düster. Christiane lachte und sagte: »Wart’s doch ab.«

In Desenzano hörte es auf zu regnen, in Salò riß die Bewölkung auf, in Gardone schien die Sonne. Sie fuhren den Berg hinauf zur Pension Hohl, wo sie schon im Jahr zuvor gewohnt hatten. Das war früher mal ein prächtiges Jugendstilhaus. Jetzt hatte es den üblichen italienischen Gammel-Charme. Es lag auf halber Höhe zwischen dem See und dem Vittoriale, dem monströsen ehemaligen Wohnsitz des Dichters D’Annunzio.

Die Signora empfing sie mit Handschlag und führte sie in das große Zimmer, das sie auch im Vorjahr bewohnt hatten. Feldmann betrat den Balkon. Da war der See. Und die dunkelblaue Insel mittendrin. Vor dem Haus der Garten, mit den hohen Palmen und den riesigen lärchenartigen Nadelbäumen, deren Namen er nicht wußte. Auf dem Balkon die grünen Klappstühle und der wacklige Holztisch mit der dicken Kerbe, die Till im letzten Jahr »zum Andenken« hineingeschnitten hatte. Alles war noch da und unverändert, und die elf Monate, die dazwischenlagen, einfach weg.

Feldmann setzte sich und schaute auf das Wasser. Der See glänzte in der Vormittagssonne wie ein Spiegel. Feldmann schloß die geblendeten Augen. Und nun? Was nun? Sein Kopf war leer. Was sollte er hier? Wieder vier Wochen lang jeden Tag zweimal schwimmen, vor dem Mittag- und vor dem Abendessen? Jeden Tag voll Ekel sehen, wie Till die Fische nicht vom Angelhaken losbekam und ihnen fast den Kopf abriß? Jeden Tag sich über die italienischen Kinder ärgern, die so laut waren und mit ihren schmutzigen, nassen Füßen auf seinem Badelaken herumtrampelten.

Und jeden Abend dasitzen und seinen Liter Wein trinken. Die Abende waren erträglich. Die Abende auf dem Balkon, wenn die Fledermäuse um die Palmen sausten, wenn die Gäste, die italienischen, noch im dunklen Garten saßen und sich unterhielten, wenn am Wochenende die Musik von der Promenade heraufklang, wenn buntbeleuchtete Boote langsam über den See fuhren.

Feldmanns Laune besserte sich bei der Erinnerung an die weinverklärten Abende. Er ging zurück ins Zimmer, wo Christiane die Koffer auspackte. Till suchte sein Angelzeug zusammen, ließ sich Geld geben für Mehlwürmer und verschwand.

Christiane lief geschäftig hin und her und verteilte planlos Dinge im Raum. Zwar legte sie die Wäsche in den Schrank und tat die Kleider, Hosen und Pullover auf Bügel, aber alles andere wie Bücher, Kosmetika, Schuhe, Badezeug, Medikamente, Kämme, Bürsten, Spielsachen usw. verstreute sie wie die Bäuerin das Hühnerfutter. Als sie fertig war und die Koffer leer auf dem Schrank lagen, schwitzte sie. Die Sonne schien ins Zimmer, und die immer heißer werdende Luft kam durchs offene Fenster herein. Sie zog Pullover und Jeans aus, ließ beides neben sich auf den Boden fallen und stand nur im Slip mitten im Raum.

Feldmann betrachtete Christiane mit nüchternem Interesse. Sein Körper blieb unbeteiligt. Christiane ging zum Waschbecken. Sie bückte sich und ließ kaltes Wasser über ihre Arme laufen. Der gewölbte weiße Rücken, die kräftigen Schultern, die schmale Taille: Feldmann erinnerte sich daran, daß sie im Jahr davor oft miteinander geschlafen hatten. Eine Zeitlang sogar jeden Tag. Die Beine waren leicht gespreizt, der enge Slip spannte über den Gesäßbacken und teilte sie diagonal in nacktes und bekleidetes Fleisch. Die Ränder des Slips schnitten ein wenig ein.

Feldmann stellte sich so, daß er Christiane von der Seite sehen konnte, ihre Brust, die sie gerade wusch. Christiane schaute ihn an, lächelte und sagte: »Na?« Sie richtete sich auf und nahm ein Handtuch. Während sie die Arme abtrocknete, ging sie auf Feldmann zu. Er sah die Wassertropfen auf ihrem Gesicht, ihrer Brust, fand, daß sie sehr jung wirkte, nahm sie in die Arme und spürte ihre kühle, nasse Brust durchs Hemd. Sie vergaßen, die Tür abzuschließen, was ihnen sonst nie passierte, denn sie wollten nicht, daß Till sie überraschte.

Als sie fertig waren, das heißt, er war fertig, Christiane hatte wie so oft mittendrin aufgehört, hatte er nicht wie sonst das Bedürfnis, zu rauchen oder etwas zu trinken. Er blieb bei Christiane liegen und fand es immer noch aufregend, sie anzufassen. Er wollte es ein zweitesmal schaffen. Das war lange nicht mehr vorgekommen. Er schaute über Christianes Körper hinweg durch die Balkontür auf den See. Die Insel leuchtete violett. Es war sehr still. Christiane lag auf dem Rücken und starrte gegen die Decke. Feldmann legte sich auch auf den Rücken. Zwei Fliegen kreisten um die Lampe. Sie war aus Milchglas und mit blauen Sternchen bedruckt. Die beiden Fliegen und die blauen Sternchen tanzten vor Feldmanns Augen und verschwammen.

Sie wurden geweckt von Till, der nach Fisch stinkend vor ihnen stand und schlechtgelaunt sagte, daß es schon zum Mittagessen geläutet hätte und daß sie alle am Fressen wären. Er hätte schrecklich Hunger, und außerdem könnten sie ja nach dem Essen pennen.

Feldmann aß ein Nudelgericht als Vorspeise, Lachsforelle als Hauptgericht, frisches Obst hinterher. Er trank den gekühlten Weißwein in kleinen, intensiven Schlucken, er ließ den zarten Fisch zwischen Zunge und Gaumen zerfallen, ohne zu kauen, er schlürfte den safttriefenden Pfirsich vom Obstmesser. Christiane beobachtete Feldmann lächelnd. Er nickte ihr zu.

»Es freut mich, daß es dir schmeckt«, sagte sie.

»Und dir schmeckt es auch, nicht wahr?« sagte er mit vollem Mund. Sie nickte und nahm noch einmal Kartoffeln. Till stocherte angewidert in seinem Essen. Feldmann wollte wissen, ob es ihm nicht schmecke.

»Doch«, sagte Till, »aber ich find’ es blöd, wenn ihr plötzlich so ein Theater aus dem Essen macht.«

Feldmann versuchte, seinen Sohn zu verstehen, weil Urlaub war. Wie sollte Till kapieren, daß man einerseits Essen stumpfsinnig in sich hineinstecken konnte, wie Feldmann das normalerweise wochentags tat, und daß man Essen andererseits mit Schmatzen, Schlürfen und Stöhnen zum Kult machte wie im Urlaub oder am Sonntag.

»Wenn du hier ißt, sind deine Nasenlöcher immer so weit und deine Lippen so dick. Wenn du kaust, wackelt die Haut an deinen Schläfen«, sagte Till voller Ekel und schob seinen Teller von sich. Christiane fragte ihn, ob er kein Obst wolle. Er schüttelte den Kopf.

»Ich geh’ schon ans Wasser», sagte er, »bis nachher.«

Es dauerte eine Weile, bis Feldmann sich wieder wohlfühlte. Er trank seinen Wein und rauchte mit tiefen Zügen eine Zigarette. Christiane wollte wissen, ob es ihm gut gehe. Feldmann haßte Fragen nach seinem Befinden. Es ging ihm automatisch schlecht, und seine Stimmung war hinüber, wenn ihn jemand so ansprach. Diesmal ließ ihn die Frage kalt. »Ganz gut«, sagte er lau und betrachtete ein älteres italienisches Ehepaar am Nebentisch. Der Mann saß steif und kerzengerade am Tisch. Er bewegte seine Arme und Hände extrem langsam und gravitätisch, aß wie ein Automat. Die Frau gab sich lebhaft, bewegte sich mit einem Übermaß an Arabesken. Obwohl sie saß, schien sie ständig graziös um den Eisklotz von Mann herumzutänzeln. Er sprach wenig, knurrte nur ab und zu kurze Worte, seinen Blick starr ins Weite gerichtet. Sie redete unentwegt auf ihn ein, ließ keinen Blick von ihm, gab ihm die schönsten Stücke Fisch, schälte ihm das Obst, schenkte ihm Wein ein.

Christiane versuchte es ein zweitesmal. »Bist du jetzt besserer Laune?« fragte sie nett. Sonst explodierte Feldmann, wenn man ihn auf seine Laune ansprach. Seine Stimmungen waren so mühsam ausbalanciert, daß jeder direkte Anruf sie wie erschreckte Schlafwandler abstürzen ließ. Du bist im Urlaub, du mußt dich erholen, sagte er sich. »Ich war gar nicht schlechter Laune.« Er hörte seine Stimme wie die eines Fremden. »Heute morgen in Verona schon.« Christiane nahm seine Hand. »Du bist so komisch, wenn du wütend bist.«

Feldmann holte tief Luft. Er würde nach dem Essen nicht mit Christiane aufs Zimmer gehen, nicht ein zweitesmal mit ihr schlafen, wie er vorgehabt hatte, er würde sich in einen Liegestuhl in den Garten legen.

Feldmann ließ also seinen Körper von der Sonne bescheinen. Er hatte sich dick mit Sonnenöl eingerieben und lag da in der heißen Mittagssonne. Wie heiße Umschläge legte sich die Hitze auf seine Haut. An den Schläfen und hinter der Stirn tat es weh. Die Augenlieder waren hellrot vor den Augen. Das Herz schlug langsam und schwer. Der Schweiß vermischte sich mit dem Öl, bildete Tropfen und fing an zu rinnen, von der Stirn ins Haar, von der Nase und den Wangen über den Hals am Ohr vorbei ins Haar, von der Brust seitlich herab in die Liegestuhlbespannung, an den Beinen hinunter in die Sandalen.

Er sagte sich, daß es gut sei zu schwitzen, daß das Nikotin und der Alkohol herausgespült würden. Und der Ärger. Welcher Ärger? Im Sender war alles in Ordnung. Und sonst auch. Alles in Ordnung, alles in Ordnung, alles in Ordnung. Die Formel wiederholte sich mechanisch in seinem Kopf, während die Gedanken weiterliefen. Auf Wehrenberg war Verlaß. Vielleicht würde sich einiges ändern mit dem neuen Intendanten. Aber das war jedesmal so, wenn der Chef wechselte. Wehrenberg würde schon aufpassen. Bisher hatte Feldmann jeden Intendantenwechsel einigermaßen ungeschoren überstanden. Manchmal hatte es Ärger gegeben, weniger Etat zum Beispiel oder andere Programmschwerpunkte, aber im großen und ganzen hatte man ihn in Ruhe gelassen. Man schätzte seine Fähigkeiten, so Wehrenberg wörtlich. Feldmann hatte einen Namen, man brauchte ihn.

Er hatte den neuen Intendanten Fahrenholz nur kurz kennengelernt. Fahrenholz hatte ihn sehr freundlich, fast ein wenig unterwürfig begrüßt bei der allgemeinen Einführungsfeier, hatte ein paar Worte mit ihm gewechselt und gesagt, daß er sich freue, einen so tüchtigen Mann wie Feldmann im Hause zu wissen. Das hatte ehrlich geklungen.

Feldmann schwitzte und fragte sich, wieso er eigentlich darauf gekommen sei, Ärger aus sich verdampfen lassen zu müssen. Er stellte noch einmal fest, daß alles in Ordnung sei. Es war sehr still. Man hörte nur die Insekten im Garten, weiter weg eine Grille und ab und an Straßengeräusche von unten am See.

Über Sattler hatte er sich schon geärgert, gab er sich zu. Sattler war auf der letzten Redaktionskonferenz völlig betrunken erschienen. Zunächst hatte er sich zusammengenommen und den Mund gehalten, sich aber dann immer häufiger gemeldet, Unsinn geredet und schließlich, nachdem Wehrenberg ihm mehrmals deutlich sein Mißfallen zu verstehen gegeben hatte, unmotivierte Attacken gegen Wehrenberg und den Chefredakteur geritten. Nach der Sitzung hatte Wehrenberg Feldmann und Sattler zu sich rufen lassen. Er hatte Sattler fertiggemacht, aber auch durchblicken lassen, daß Feldmann als Vorgesetzter von Sattler mitverantwortlich wäre.

»Warum lassen Sie Ihren Kollegen so auftreten? Sie haben ihn kurz vor der Sitzung gesehen und wußten, in welchem Zustand er war.«

Bin ich sein Kindermädchen? hätte Feldmann gern gefragt, aber er hatte geschwiegen. Was hätte er tun sollen? Wenn er Sattler von der Sitzung fernhalten wollte, mußte er ihn fesseln oder einsperren. Im Suff war Sattler besonders störrisch. Außerdem hatte er auch ein gewisses Verständnis für Sattlers Auftritt. Wehrenberg hätte den Film über Küstenschutz aus Sattlers Redaktion nicht absetzen müssen. Mit einigen Korrekturen wäre daraus noch etwas zu machen gewesen. Feldmann hatte sich bereit erklärt, den Film zu überarbeiten. Aber Wehrenberg wollte ein Exempel, wollte Sattler die Pistole auf die Brust setzen. Erreicht hatte er damit nichts. Sattler war nicht mehr zu ändern. Mit Härte trieb man ihn nur noch weiter in die Resignation und den Alkohol.

Feldmann sah Sattler vor sich, wie er im Sessel im Foyer gesessen hatte, den Hut schief auf dem Kopf, die Aktentasche an sich gepreßt, den Blick schuldbewußt gesenkt. So hatte Sattler auf das Taxi gewartet, betrunken und todtraurig. Feldmann hätte ihn gern umarmt, was Nettes gesagt, aber er hatte sich an ihm vorbeigeschlichen. Eins war klar: Sattlers Elend hatte mit seiner, Feldmanns, Anstellung begonnen. Sattler hatte damals damit rechnen müssen, selbst Feature-Chef zu werden. Statt dessen bekam er Feldmann vor die Nase gesetzt.

Feldmann wurde schwindelig von der Hitze. Er zog den Liegestuhl in den Schatten eines Baumes. Als er sich hingelegt und die Augen geschlossen hatte, konnte er nur kurz den kühlen Schatten und den leichten Wind genießen, dann fiel ihm wieder der Sender ein.

Er öffnete die Augen. Er wollte sich mit Sichtbarem befassen, den Sender vergessen. Ebenfalls im Schatten des Baumes – es war einer der riesigen Nadelbäume, deren Namen er nicht wußte – saß eine dänische Familie. Der Mann, etwa so alt wie Feldmann, las eine dänische Zeitung, die Frau, eine grobknochige, maskuline Blondine, schlief. Die Tochter saß so im Liegestuhl, daß Feldmann sie nur schräg von hinten sehen konnte. Er sah lange, glatte Beine, die aus sehr kurzen weißen Shorts hervorkamen, nackte Füße in Sandalen, die Fußspitzen so nach innen gestellt, daß die Oberschenkel aneinanderlagen, die Waden sich im spitzen Winkel öffneten: eine nur auf den ersten Blick linkische Haltung. Je länger Feldmann hinstarrte, um so raffinierter kam ihm die Beinstellung vor. Der Oberkörper verschwand unter einer Flut von langen blonden Haaren. Ein rotes Bikinioberteil war nur stellenweise sichtbar, aber die Form der Brust unter den Haaren zu ahnen. Der linke Arm war auch zu sehen, aber er war so mager, daß Feldmann ihn nicht weiter beachtete. Auf den Oberschenkeln hielt das Mädchen ein Buch.

Feldmann studierte den Körper mit großer Sorgfalt. Vor allem die Beine machten ihm zu schaffen. Die Haut war hell, fast weiß, sehr glatt, ohne jeden Flecken, ohne jedes Haar, oder so fein behaart, daß man es nicht sah. Die Beine wirkten so sauber und unschuldig, daß es Feldmann weh tat. Er fragte sich, wie der Vater es aushielt mit so einer Tochter um sich herum.

Feldmanns Verlangen, die Beine anzufassen, wurde so groß, so zwanghaft, daß er beschloß, aufs Klo zu gehen und zu onanieren. Vom Klo aus konnte man, wenn man den Fensterladen einen Spalt öffnete, in den Garten schauen, ohne gesehen zu werden. Das Mädchen saß so, daß es vom Fenster aus gut zu beobachten war.

Ihm fiel ein, daß er das Gesicht des Mädchens noch nicht gesehen hatte. Plötzlich war er neugierig darauf. Er stand auf, nahm sein Hemd und den »Spiegel«, in dem er hatte lesen wollen, und ging langsam an dem Mädchen vorbei. Er ließ den »Spiegel« fallen. Während er sich bückte und ihn aufhob, sah er das Mädchen an. Das schaute ihn auch an. Er erschrak. Das Mädchen war häßlich. Eine grobe, große Nase, weit auseinanderliegende Augen, ein schmallippiger Mund, jedes Detail für sich häßlich und das Ganze lieblos zusammengehauen, ohne jede Harmonie.

Nach dem Schrecken überkam Feldmann Mitleid. Das arme Geschöpf einfach in den Arm nehmen und beschützen. Aus dem Mitleid wurde Wollust, eine unbeherrschte, viel schlimmer als vorher. Sich einfach auf das Kind stürzen. Wieder erschrak er. Diesmal vor sich selbst. Er machte sich klar, daß das Kind höchstens vierzehn Jahre alt war. Er atmete tief durch. Aber es blieb der Wunsch, seine Hände zwischen die weißen Schenkel zu legen.

Er schloß die Klotür sorgfältig ab, öffnete den Fensterladen einen Spalt, zog die Hose herunter, rieb sich die Hände mit Wasser und Seife ein und nahm sein Glied.

Dann kam er sich lächerlich vor. Er sah sich zu, wie er vor dem Jugendstilklo stand, die Hose in den Kniekehlen, das halbsteife Glied in den Händen, ein häßliches, langbeiniges Schulmädchen aus zwanzig Meter Entfernung fixierend. Aber er wollte das durchhalten, um danach gelassen in den Garten zurückkehren zu können. Das Mädchen würde er mit keinem Blick mehr beachten. Lustlos rieb er an sich herum, als das Mädchen aufstand und auf das Haus, auf ihn zuging. Vorsichtig trat er etwas vom Fenster zurück. Die auf ihn zu bewegten Beine machten ihm wieder Lust. Das Mädchen kam ins Haus und den Korridor entlang. Er hörte das Platschen der Sandalen auf den Fliesen. Er kam in höchste Erregung. Vor der Toilettentür blieb das Mädchen stehen und drückte die Klinke herunter. Ihm war eiskalt. Noch einmal ging die Klinke herunter, dann war es still. Er war sicher, daß das Mädchen durchs Schlüsselloch guckte. Hastig riß er seine Hose hoch und stellte sich in einen toten Winkel. Die platschenden Schritte entfernten sich wieder. Er trat ans Fenster. Das Mädchen kam in den Garten. Es drehte sich um und sah zum Klofenster zurück.

Er zog die Wasserspülung. Er nahm sein Hemd und hielt es sich über den Arm gelegt vor den Bauch, damit das steife Glied verdeckt war. Er ging zu Christiane aufs Zimmer. Sie schlief. Sie lag, nur mit einem Slip bekleidet, auf dem Bett. In ihren Achselhöhlen standen Schweißtropfen, auf der Stirn klebten nasse Haare. Es roch nach feuchter Haut. Feldmann zog sich aus und legte sich auf Christiane. Ehe sie richtig zu sich kam, hatte er ihr schon den Slip heruntergezogen. Er tobte sich auf ihr aus, daß sie vor Schmerzen wimmerte.

Hinterher war ihm übel. Er kam sich mies vor. Christianes mißhandelter Körper tat ihm leid. Aber er konnte keine Zärtlichkeiten mehr nachliefern. Er wußte nicht, was er sagen sollte, als sie ihn fragte, was los sei. Er mußte an das Mädchen denken und hatte Angst, ihm beim Abendessen zu begegnen. Schließlich sagte er: »Ich bin oft so deprimiert.«

4

Im Wasser fühlte Feldmann sich wohl. Er schwamm weit hinaus, obwohl ihn Einheimische davor gewarnt hatten. Sie erzählten geheimnisvolle Geschichten von Menschen, die plötzlich verschwunden waren. Der See hatte sie »geholt«. Und das nicht etwa bei Sturm oder Gewitter, nein, einfach so.

Feldmann konnte sich nicht vorstellen, daß dieser friedliche See heimtückisch sein sollte. Er fürchtete sich nur vor den Motorbooten, die mit rasender Geschwindigkeit über das Wasser heulten. Manchmal sah es so aus, als kämen sie direkt auf ihn zu. Er malte sich aus, wie der Bug eines Bootes ihn rammte, wie die Schraube ihn zerfetzte.

Er drehte um und schwamm zurück. Das Ufer war so weit entfernt, daß er Christiane und Till unter den herumwimmelnden nackten Körpern nicht erkennen konnte. Er betrachte die Berge hinter Gardone, die in Richtung Riva immer höher wurden. Er sah die Pension Hohl, konnte sogar den Balkon vor ihren Zimmer ausmachen und als winzigen grünen Punkt das Handtuch, das Christiane zum Trocknen über die Brüstung gehängt hatte. Das gab ihm ein Gefühl von Geborgenheit.

Er legte sich auf den Rücken und machte »toter Mann«. Er schaute in den Himmel, in die Wolken, die sich hinter den Bergen zusammenzogen. Das Wasser umschloß ihn sanft und kühl, trug ihn, bewegte ihn mit leichten Wellen, reinigte ihn. Er hatte Lust zu leben. Er schlug wild mit den Beinen, bis das Wasser weiß aufschäumte, jauchzte, stieß kleine Schreie aus, drehte sich um sich selbst, plantschte mit den Händen – und fand sich kindisch. Er schaute sich nach allen Seiten um, ob ihn jemand gesehen hatte. Es hatte niemand, und er war erleichtert.

Mit langen, wohlabgezirkelten Zügen brachte er seinen vierzigjährigen Körper ans Ufer zurück, an toten Fischen vorbei, an Abfällen, Plastiktüten und leeren Flaschen. Er roch den Öl- und Abgasgeruch der Motorboote und sah, wie das Sonnenlicht sich regenbogenfarben in den Ölflecken auf dem Wasser brach. Er sagte sich, daß es gesund sei zu schwimmen, daß der Dreck nicht durch die Haut dringe, daß dieses natürliche Wasser immer noch besser sei als das Chlorwasser im Schwimmbad zu Hause. Immerhin gab es jede Menge Fische im See, ein Zeichen dafür, daß es um das Wasser nicht allzuschlecht stehen konnte.

Christiane richtete sich halb auf und sah ihm entgegen, als er aus dem Wasser kam. Er zog den Bauch ein und streckte die Brust vor, denn außer Christiane sahen ihn auch mehrere halbwüchsige Italienerinnen an. Er hatte im letzten Jahr nicht zugenommen, er konnte sich immer noch sehen lassen.

Till zog ein Netz aus dem Wasser und zeigte seinem Vater stolz die sechsunddreißig Fische, die er schon gefangen hatte. Die meisten waren tot.

Feldmann trocknete sich ab und setzte sich zu Christiane auf seinen Bademantel. Christiane trug einen knappen Bikini und konnte sich auch noch sehen lassen. Feldmann stellte befriedigt fest, daß man ihnen ihr Alter nicht ansah. Nur Till verriet es.

Feldmann betrachtete junge Italiener. Die Mädchen saßen in einer Gruppe zusammen. Die Jungen hockten darum herum. Plötzlich sprangen alle auf und liefen ans Wasser. Die Jungen reizten die Mädchen, spritzten sie naß oder warfen sie in den See. Sie nahmen ihre Kleidungsstücke, zogen sich Röcke und Blusen an, stopften sich Handtücher in die Blusen und ahmten das Hüftenschwingen der Mädchen nach. Sie erfanden immer neue Spiele, um die Mädchen anzufassen, sie zu umarmen. Feldmann fand das aufregend. Da war nichts von der öden Nüchternheit, mit der fünfzehnjährige Paare in Deutschland miteinander umgingen.

Die Sonne brannte auf der kühlen Haut, das Wasser klatschte rhythmisch gegen die Pfähle des Bootsstegs, die italienischen Kinderstimmen verschmolzen in seinen Ohren zu einem monotonen Singsang – Feldmann schlief ein.

Als sie die Treppe hinuntergingen zum Abendessen, dachte Feldmann wieder an das dänische Mädchen. Das Baden im See und in der Sonne ließ ihn sich so wohl und sicher in seiner Haut fühlen, daß er ohne Hemmungen den Speisesaal betrat, fest entschlossen, das häßliche Kind zu ignorieren.

Das Mädchen saß über seine Suppe gebeugt, die langen Haare auf das weiße Tischtuch um den Teller gelegt. Man sah wenig vom Gesicht, nur die dürren, nackten Arme und die hellen Beine unter dem Tisch. Feldmann war wieder fasziniert, aber das Mädchen beachtete ihn nicht.

Während des Essens wandte Feldmann dem Dänentisch den Rücken zu und widmete seine ganze Aufmerksamkeit der Familie. Er verlor sich so sehr in die Rolle des aufmerksamen Gatten und Vaters, daß er mit Christiane und Till wie mit Fremden sprach. Christiane lächelte und hatte glänzende Augen, weil Feldmann sie so gut behandelte, aber Till betrachtete seinen Vater nüchtern und prüfend. Feldmanns Betulichkeit, seine eifrige Konversation über alles und nichts, seine Witzchen, seine Geschichtchen, seine Lebensweisheiten: Till ignorierte alles, sagte nichts, lachte nicht, aß schließlich auch nicht mehr. Feldmann spürte den Widerstand seines Sohnes und rutschte aus seiner Rolle heraus. Er sah sich als Hampelmann am Tisch sitzen, sah sein Imponiergehabe, das gar nicht Christiane und Till galt, sondern dem dänischen Mädchen. Er befahl Till, seinen Nachtisch aufzuessen. Till weigerte sich. Feldmann wurde weiß vor Wut. Christiane war enttäuscht. Auch sie wurde wütend auf Till.

»Jetzt hast du Papa die Laune verdorben.« Im Grunde bewunderte Feldmann die Haltung seines Sohnes, aber als Christiane ihn feucht ansah, ihre Hand auf seine legte und sentimental sagte: »Sei wieder guter Laune, es war so nett«, packte ihn Zorn auf Christiane, den er an Till abreagierte, indem er ihm befahl, sofort ins Bett zu gehen. Till zog ab, trotzig »Let it be« summend.

Feldmann schämte sich und rauchte. Christiane, immer noch nicht bereit, sich mit der kaputten Stimmung abzufinden, versuchte eifrig, Feldmann wieder in ein Gespräch zu verwickeln. Aber Feldmann nickte nur, sagte »ja« und »hm« und schaute Löcher in Wand und Decke, bis Christiane es aufgab.

Als sie den Speisesaal verließen, war die dänische Familie nicht mehr da. Er wollte noch ein paar Schritte durch den Garten machen, sagte Feldmann. Christiane ging aufs Zimmer, um nach Till zu sehen.

Die Dänen waren nicht im Garten. Feldmann fand nur alte Italiener, die in Gruppen zusammenhockten und laut palaverten. Im Jahr davor hatte Feldmann sich darüber amüsiert, jetzt ging ihm das Gequatsche auf die Nerven. Er setzte sich in den Liegestuhl, in dem das Mädchen gesessen hatte, schnüffelte an der Bespannung und versuchte, etwas dabei zu empfinden. Er empfand nichts, auch nicht, als er sich ausmalte, wie der schmale, helle Körper an eben dieser Stelle gelegen hatte.

Feldmann rauchte, beobachtete den Rauch im Schein einer Gartenlaterne und hatte ein schlechtes Gewissen wegen Till. Er nahm sich vor, ihm Geld zu schenken.

Die Angst kam mit einem Schlag. Die Dunkelheit wurde körperlich spürbar, legte sich auf ihn wie ein schwarzes Tuch. Die erleuchteten Fenster der Pension waren weit weg, helle Löcher in einer makabren Dekoration. Die riesigen Nadelbäume beugten sich über ihn und streckten ihre behaarten Arme nach ihm aus. Die Luft war angefüllt mit dem Pfeifen und Flattern der Fledermäuse und dem süßlichen Friedhofsduft der Blumen. Die schrillen Stimmen der Alten schwollen immer mehr an und kreisten Feldmann ein. Das waren keine Worte, sondern obszöne Schreie.

Er lag wie gelähmt im Liegestuhl. Er würde nie mehr aufstehen können. Er würde an dieser italienischen Nacht ersticken. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen und wartete darauf, daß alles wieder vertraut und an seinen Platz gerückt würde. Die Fledermäuse sollten wieder Fledermäuse sein, die Bäume wieder Bäume und die Stimmen wieder menschliche Stimmen.