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Arne Sommer

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Beschreibung

Als Kind haben ihn seine Eltern für verrückt gehalten, weil er behauptet hat, eine Stimme zu hören. Aus einer anderen Welt. Als Jugendlicher hört Noel sie immer noch. Und er weiß, dass er nicht verrückt ist. Doch warum hat nur er Kontakt zu Leon? Ihre Eltern halten Anni für verrückt, weil sie behauptet, eine Stimme zu hören. Aus einer anderen Welt? Sie weiß, dass sie nicht verrückt ist. Doch warum hat nur sie Kontakt zu Nina? Ist Nina wirklich nur eine imaginäre Freundin? Noel und Anni treffen in der Praxis der undurchsichtigen Psychologin Dr. Stikk aufeinander. Eigentlich soll sie ihnen helfen. Doch sie sind ihr völlig ausgeliefert. Denn Dr. Stikk verfolgt ihre eigenen Ziele. Ohne Rücksicht auf Verluste. Thriller ab 13 Jahren.

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Autorenvita:

Arne Sommer wurde 1970 in Itzehoe geboren. Nach dem Abi hat er vieles versucht – Uni, Theater, Kurzfilme, Katastrophenschutz – und ist beim Schreiben hängen geblieben. An Filmhochschulen in Deutschland, England und den USA hat er Drehbuchschreiben studiert. Seit 1997 arbeitet er für Fernsehen und Kino (z. B. »Polizeiruf 110: Abseitsfalle« oder »Klassentreffen«, beide ARD), seit 2004 schreibt er auch Hörspiele (»Peter Lundt: Blinder Detektiv«) und Bücher. Er lebt mit seiner Familie in Neumünster, liebt Fernsehserien auf DVD und reist gerne.

Buchinfo:

Als Kind haben ihn seine Eltern für verrückt gehalten, weil er behauptet hat, eine Stimme zu hören. Aus einer anderen Welt. Als Jugendlicher hört Noel sie immer noch. Und er weiß, dass er nicht verrückt ist. Doch warum hat nur er Kontakt zu Leon?

Prolog

Kurz vor Schluss soll doch eigentlich das ganze Leben wie ein Film an einem vorbeilaufen. Sagt man das nicht?

Bei ihm nicht. Bei ihm gab es keinen Flashback, bei ihm gab es einen Flashforward. Es lief das Leben vor seinen Augen ab, das er hätte haben können. Ein schönes Leben. Ein gutes Leben.

Die erste Freundin, die zweite. Abitur. Die erste Band und die dritte Freundin (am Schlagzeug). Der erste Auftritt. Eine Tour durch Europa, winzige Klubs und Kneipen und kein Pfennig Geld. Der große Krach, nach dem die Band sich auflöst. Der erste Tag an der Uni. Die vierte Freundin, die er heiratet. Die Geburt ihrer Tochter. Diplomfeier. Der erste Arbeitstag in der neuen Firma. Das eigene Haus. Kündigung. Sich selbstständig machen. Scheidung und Auszug in eine kleine Wohnung und eine fünfte Freundin. Tränen und Wut und ein neuer Anfang. Abitur seiner Tochter. Bei der Feier trifft er ihre Mutter wieder. Die zweite Hochzeit mit seiner Exfrau nach der großen Versöhnung.

»Du musst aufhören, Soaps zu sehen! Oder wo hast du sonst so ein Leben her?«

Eine Stimme irgendwo in der Dunkelheit neben ihm. Müde und doch voller Spott. War das ein Engel? Oder ein Teufel? Oder war er noch gar nicht tot? Der Film war jetzt jedenfalls gerissen!

»Wach auf! Ich bin kein Engel! Wir müssen hier raus!«

Er wollte nicht aufwachen. Er wollte weiter seinem schönen Leben zusehen, das er niemals führen würde. Er wollte wissen, ob er sich ein zweites Mal von seiner Frau scheiden lassen würde. Er wollte wissen, ob er eigentlich Enkel haben würde.

»Dann finde es auf die normale Art heraus und lebe dein Leben!«

Die Stimme war jetzt wütend. Oder doch eher verzweifelt?

Langsam kam er wieder zu sich. Schmeckte einen pelzigen Belag auf seiner Zunge. Einen metallischen Geschmack im Mund. Spürte klumpige Dinge, die an seinen Haaren zogen. Fühlte einen stechenden Schmerz nah über seinem rechten Auge. Er versuchte sich zu bewegen. Aber er konnte seine Arme und Beine nicht rühren. Konnte nicht mal spüren, ob sie noch da waren.

»Wo sind wir?«, fragte er in die vollkommene Schwärze, die ihn umgab. Dabei hatte er Mühe, seine Stimmbänder unter Kontrolle zu bekommen. Er krächzte mehr, als dass er sprach.

»Endlich«, antwortete die Stimme neben ihm erleichtert. »Ich dachte schon, dich hätte es erwischt!«

»Wer bist du?«, fragte er. »Wie sind wir hierhergekommen?«

Teil 1:  Nach den Sommerferien

Erwischt

»Das zählt nicht«, sagte Leon.

»Doch!«, sagte Noel.

Leon überlegte kurz. Dann sagte er: »Nein!«

»Doch! Bestimmt!« Noel wurde langsam wütend. Er hatte vielleicht noch keine Freundin gehabt, so wie Leon. Aber erstens war der auch nur für eine Woche mit einem Mädchen gegangen. Einer Austauschschülerin, zu der er schnell wieder jeden Kontakt verloren hatte. Und zweitens, wer sagte denn noch »gegangen«? Außerdem konnte man ja wohl unterscheiden, ob ein Mädchen einen bemerkt hatte oder nicht, das hatte mit Erfahrung nichts zu tun.

»Wenn sie wirklich auf dich stehen würde, dann hätte sie dich ganz lange angeschaut. So ohne wegzugucken. Oder dir zugewunken. Oder eine Cola gebracht«, sagte Leon, der selbst ernannte Experte.

»Sie hat mich ja angeschaut.« Noel wurde langsam selbst unsicher, wollte das aber auf keinen Fall zugeben.

»Wie lange?« Leon blickte seinen Freund prüfend an.

»Zwei Mal!« Langsam wurde Noels Stimme trotzig.

»Nicht wie oft, sondern wie lange!« Leon bemerkte, dass er jetzt die Oberhand gewonnen hatte. Kein Wunder, er hatte ja schließlich recht, oder? Noel antwortete jedenfalls nicht mehr.

»Vielleicht bemerkt sie dich nächste Woche.« Leon hatte gewonnen und konnte nun gönnerhaft werden. Noel setzte sich auf sein Bett und schaute traurig aus dem Fenster. Jetzt tat er Leon fast leid.

»Das wird schon! Sieh es doch mal so: Du siehst Charlotte jede Woche, da muss ja irgendwann was passieren!« Er setzte sich jetzt auch. Für einen Moment lang schwiegen sie. So wie nur echte Freunde schweigen können, ohne dass es peinlich wird. Dann grinste Noel und griff nach seinem Helm, auf dem in großer Schrift »Jugendfeuerwehr« stand. Setzte ihn sich auf den Kopf und rief: »Und wenn es vorher brennt, sehe ich sie sogar noch diese Woche wieder!«

Die beiden brachen in Lachen aus.

»Mir geht es auch nicht besser! Die Neue in meiner Klasse hat mich noch keines Blickes gewürdigt«, sagte Leon. Er seufzte. Dann wollte er noch etwas hinzufügen, als plötzlich die Tür zu Noels Zimmer aufging und seine Mutter im Türrahmen erschien. Sie sah blass aus und müde, wirkte ratlos und enttäuscht.

»Mama. Ich dachte, du bist bei den Jankes.« Noel blickte sie entsetzt an. Sie antwortete nicht. Wie viel hatte sie mit angehört? So wie sie aussah, alles. Sie stand einen Moment lang nur stumm da, dann blickte sie in die Richtung, in der Leon eben noch gesessen hatte, und sagte: »Dein Freund muss jetzt gehen.«

Aber Leon war schon weg. Das war immer so, wenn Noel Ärger mit seinen Eltern bekam. Und Noel wusste, dass es jetzt richtig Ärger geben würde.

Liebe Nina!

Ich versuch es jetzt mal anders mit meinem Tagebuch und tue so, als ob ich Briefe an Dich schreiben würde. Keine Sorge, ich geb sie Dir nie zu lesen, ich mach das einfach nur für mich. Wenn man an jemanden schreibt, fällt einem mehr ein. Man gibt sich mehr Mühe. Bisher war es so: Ich habe entweder ein paar Tage gar nichts geschrieben oder nur, wenn ich traurig war. Und dann schreibe ich eindeutig zu viel. Ganz großen Müll sogar. Stell Dir vor, das liest jemand irgendwann, wenn ich mal gestorben bin. Oder noch schlimmer: Wir lesen das zusammen, wenn wir Omas sind! Was sollen wir dann von uns selbst denken? Aber vielleicht muss das ja auch so sein? In ein Tagebuch kann man doch alles reinschreiben, was man will, oder? Also, jedenfalls schreibe ich jetzt an Dich, das hilft mir nämlich, aber Du wirst es bestimmt niemals zu lesen bekommen. Wie soll das auch gehen, Dich gibt es ja gar nicht. Sagt jedenfalls mein Vater.

Also ernsthaft, was ist heute so passiert, was kann ich Dir berichten? Die Sommerferien sind jetzt seit einer Woche um und ich habe schon keine Lust mehr, zur Schule zu gehen. Na ja, keine Lust mehr auf Physik jedenfalls. Und einen guten Tipp gebe ich Dir auch noch: Geh niemals auf die Schule, in der Deine eigenen Eltern als Lehrer arbeiten! Das bringt nur Ärger. Also, wie gesagt, Physik zum Beispiel: Dr. Grusel (nein, so heißt er nicht wirklich, er heißt Gruschel, aber das ist ja wohl auch nicht besser) ist ein alter Studienfreund meines Vaters. Und den hab nun ausgerechnet ich in Physik. Ich kann nicht gewinnen, egal was ich mache: Entweder bin ich angeblich zu eifrig oder ich halte mein Wissen absichtlich zurück, weil ich nicht auffallen will, oder ich versuche, eine außerhalb des Unterrichts bestehende private Beziehung auszunutzen. Kein Scherz, das hat der wirklich mal zu meinem Vater gesagt. Dieser ganze Lehrerquatsch eben, den die so reden! Sogar meine Eltern reden ja so, wenn sie über die Schule labern. Und dabei sind die sonst nicht so schlimm! Ehrlich.

Warte, ich muss aufhören. Meine Mutter hat gerade die Tür aufgemacht und ihr ernstes Gesicht auf! Hab ich schon wieder was verbrochen? Wüsste nicht, was ...

Ich schreibe Dir später wieder!

Deine Anni

Nenn es, wie du willst

»Was ist denn los?« Noel versuchte so zu tun, als ob gar nichts vorgefallen wäre. Eine Technik, die er perfektioniert hatte. Aber diesmal klappte es nicht.

»Gib dir keine Mühe. Ich habe schon zwanzig Minuten hinter der Tür gestanden.« Seine Mutter blickte ihn mit einer Mischung aus Spott und Verzweiflung an. Noel wusste, dass es keinen Sinn mehr hatte zu lügen. Sie hatte einfach zu viel gehört. Zwanzig Minuten waren fast sein ganzes Gespräch mit Leon. Wie konnte er nur so leichtsinnig sein? Warum hatte er sie nicht ins Haus kommen hören? Einen Moment lang schwiegen sie und dieses Schweigen war durch und durch peinlich. Dann hörte Noel ein Auto in die Auffahrt einbiegen und die Beifahrertür klappen. Der Wagen fuhr wieder ab und seine Mutter sah ihn drohend an.

»Bis ich das mit deinem Vater besprochen habe, bleibst du hier, verstanden?!« Sie ging die Treppe herunter.

Noel bekam auch bei sich oben jedes Wort von dem Streit mit, den seine Eltern unten in der Küche hatten. Sie schrien sich so laut an, dass man es in der ganzen Mühle hören konnte. Der Altbau war ohnehin ziemlich hellhörig. Noel hoffte sehr, dass sie wenigstens das Fenster geschlossen hatten. Der nächste Nachbar wohnte zwar mindestens fünfzig Meter weiter, aber die Hauptstraße führte nah an ihrem Küchenfenster vorbei. Er wollte seinen »Fall« ja nicht zur Diskussion im Dorf freigeben.

Noels Eltern warfen sich Sachen wie »Mein Sohn ist nicht verrückt« und »Er hat ein Problem« und »Na und, wir haben alle Probleme« an den Kopf. Sie sprachen von »Phase« und »Pubertät« und »Das wird schon wieder« (Papa), »Du machst die Augen zu« und »Nicht in diesem Alter« und »Nenn es, wie du willst, er braucht Hilfe« (Mama). Es ging eine Weile um seinen Geburtstag – Noel wurde nächsten Montag 14 –, aber nicht etwa um die Geschenke oder so. Nein, sein Alter schien nur Anlass zu großer Sorge zu sein. Er war nämlich zu alt für sein Verhalten (Mama), obwohl man in seinem Alter manchmal verrückte Dinge machte, um mit dem Leben klarzukommen (Papa).

Warum hatte er nicht aufgepasst? Seit Jahren war alles gut gegangen! Seine Eltern hatten nie etwas mitbekommen. Er hatte immer rechtzeitig reagiert, bevor sie irgendwie in etwas hätten reinplatzen können. Und falls sie ihn doch mal schräg angeschaut hatten, als ob sie vielleicht Verdacht geschöpft hätten (eigentlich nur Mama), dann war ihm immer etwas eingefallen wie »Ich habe gerade mit Stefan telefoniert, wegen der Hausaufgaben«, und der Verdacht war verflogen.

Jetzt hörte er seine Mutter schreien: »Diese ganzen Telefonate mit Stefan oder Nils oder wie sie alle heißen. Haben die ihn jemals zu Hause besucht? Wer besucht ihn denn überhaupt? Ich habe schon immer gedacht, da stimmt was nicht. Und du hast das alles abgetan und gesagt, dass die Sache mit Leon Schnee von gestern ist!«

»Ach, jetzt bin ich an allem schuld?« Noels Vater protestierte halbherzig. »Schließlich hat die Beratungsstelle damals auch gesagt, dass es vorbei ist!«

Seine Frau war aber nicht zu stoppen: »Ich erkundige mich! Das Kind braucht professionelle Hilfe, alles andere macht die Sache nur noch schlimmer.«

Dann hörte Noel die Tür zum Garten zuknallen. Vor seinem inneren Auge sah er seine Mutter zu ihren geliebten Rosen dampfen. Noel hatte genug gehört. Er stöpselte sich die Ohren mit seinem Kopfhörer zu und drehte die Musik laut.

Oh Mann, Nina,

das glaubst Du nicht! Meine Eltern drehen jetzt richtig am Rad und alles nur wegen Dir! Mist! Ich habe das eben mal gegoogelt und ... Nein, der Reihe nach, das kannst Du ja gar nicht wissen: Also, meine Mutter kam rein und dann ging wieder diese Litanei los. »Wir wissen nicht mehr weiter! Wir sind ratlos! Du lässt uns nur auflaufen! Du musst doch auch mal an uns denken. Was sollen wir nur mit dir machen?« Und so weiter, wie immer eben.

Dann kam das Gespräch auf Dich: Du bist nämlich eine Fantasiefreundin. Oder ein »imaginärer Gefährte«. International als »imaginary companion« bekannt. Alles klar? So wie dieser blöde Film mit dem grünen Mann, den Mama so mag. »Fred« heißt der, glaube ich, und da bringt dieser Typ, also Fred, das Leben von einer jungen Frau durcheinander und nur sie kann ihn sehen und hören. Musste ich mir total oft mit ihr anschauen, dabei finde ich den wirklich zu kreischig! Und Du würdest doch niemals grüne Klamotten tragen, oder? Du lebst auch ganz bestimmt nicht nur in meiner Fantasie. Weiß ich ja, weißt Du auch, aber meine Eltern, die glauben das nicht. Warum erzählt man seinen Eltern eigentlich überhaupt was, wenn sie einem nicht zuhören? Das hätte ich mir ja auch denken können!

Das ist genauso wie damals mit Andrea, der blöden Nachbarstochter, als wir noch in der Tornquiststraße gewohnt haben. Da musste ich immer zum Kindergeburtstag, weil Mama die Mutter so nett fand. Dass diese Andrea mich an den Haaren gezogen und mir die T-Shirts zerschnitten hat und sowieso total dumm war, die doofe Zicke, das hat sie mir nie geglaubt. »Die Familie ist doch so nett!« Pah! Jedenfalls hat man mich immer dahin mitgeschleift, bis meine Mutter dann doch mal selbst gesehen hat, wie Andrea mir den Zopf abgeschnitten hat. Danach war Schluss mit Kindergeburtstagszwang. Und Mama hat hoch und heilig geschworen, mir alles zu glauben, was ich sage.

Aber auf Schwüre von Eltern darf man nichts geben!

O.k., zurück zu Dir und Deiner eingebildeten Identität! Nächsten Montag habe ich einen Termin bei Prof. Dr. Dr. Mette Stikk, Psychoanalytikerin und Physikerin (was ist das denn für ‘ne schräge Kombination?), damit die Tante mir ausredet, dass Du existierst. Ich habe die Dame wie gesagt mal gegoogelt, und sie ist »weltweit eine der führenden Koryphäen auf dem Gebiet der imaginary companions (IC)«. Was ist eigentlich eine Koryphäe? Klingt nach Hyäne oder so, als ob die totes Fleisch fressen würde. Eine Kostprobe ihrer Arbeit gefällig?

»Die von der Forschung vernachlässigte Fragestellung der imaginierten Fantasiegefährten bedroht heute mehr als jedes dritte Kind in der westlichen Hemisphäre und ist in seiner Gefahrenstufe gleichzustellen mit ADS oder PTSS.«

Alles klar? – Ja danke, mir auch nicht. Ich kann Dir noch erzählen, dass diese Mette Stikk 59 ist, in Freiburg und Stockholm studiert hat und ein Buch von ihr mit dem Titel »Låtsaskompis – ingen kompis« in Schweden ein Riesenerfolg ist. So ein Erziehungsratgeber, in dem man lernt, wie man mit verrückten Töchtern wie mir umgeht. Leider nicht ins Deutsche übersetzt, sonst würde ich ihn gleich meinen Eltern bestellen und mir den Termin bei der Tante sparen.

Schau mal in der Bildersuche nach einem Foto von ihr, da siehst Du eine alte, verkniffene Mumie mit Solariumshaut, die aussieht wie ein 80 Jahre alter Boxer. Der Hund, nicht der Sport. Sie hat eine Praxis hier in Hamburg und scheinbar sind Du und ich für sie interessant genug, um mich nächste Woche zu analysieren. Meine Mutter hat doch glatt gesagt, ich soll schön brav und nett sein, weil der erste Termin ein Probetermin ist. Erst dann würde die Professorin entscheiden, ob ich weiter zu ihr kommen dürfte!

Tja. Und dabei wollte ich Montag doch mit Gritt in den Japanladen. Wird wohl nichts ...

Weißt Du was? Ich benehme mich einfach total daneben, dann wird diese Psychotante mich nach einem Mal wieder abschießen. Ja, so mache ich es. Hat bei anderen Sachen ja auch immer geklappt. Ich sage nur: Schulfestkomitee. Ich habe so lange immer wieder laut nach einer Schnapstheke für alle Altersstufen gefragt, bis ich rausgeworfen worden bin. Jetzt fällt mir übrigens noch was zu dieser Geschichte mit »Fred« ein. Der existierte nämlich am Ende doch nicht nur in der Fantasie. Ist so eine Art Kobold oder so. Typisch, nicht mal ihren eigenen Lieblingsfilm nimmt meine Mutter ernst!

Und nun gehe ich schlafen. Studiendirektor Borns (auch als mein Vater unterwegs) klopft gerade von unten gegen die Decke. Und vielleicht sollte ich nicht ausgerechnet heute eine Diskussion über die meinem Alter angemessene Dauer des gesunden Schultagsschlafs anfangen, oder? Außerdem ist Schlafen ja so gut für die Haut.

Oh Mann, in meinem Alter hat man es wirklich nicht leicht!

Bis bald,

Deine Anni

Wer ist das SIMS?

Noel nahm die Ohrhörer raus und lauschte. Es war wieder still im Haus. Als er sich umdrehte, saß Leon auf der Fensterbank im geöffneten Fenster, baumelte mit seinen Beinen und grinste ihn frech an.

»Was gibt’s denn da zu grinsen?«, giftete Noel. »Hättest du nicht aufpassen können? Dann hätte meine Mutter uns nicht erwischt!«

»Ich?« Leon zeigte fragend auf sich selbst und schüttelte lautlos pfeifend den Kopf. Dann fügte er hinzu: »Ich existiere doch nur in deiner Einbildung! Wie hätte ich da aufpassen können?«

»Typisch! Immer eine bequeme Ausrede parat! Und du willst real sein?!« Noel spürte Ärger in sich hochsteigen. Und dabei wollte er doch einfach nur mit seinem Freund beratschlagen, was er jetzt tun sollte. Aber einmal auf dem Kriegspfad, war der nicht mehr so leicht zu verlassen. Weswegen Noel Streit sonst eben gerne aus dem Weg ging. Dazu war es jetzt leider zu spät, denn Leon fuhr fort: »Komm wieder runter, die Sache ist gar nicht so schlimm. Real bin nämlich ich und du hast deine Probleme nur in meinem Kopf. Und ich bin noch nie erwischt worden.« Leon lachte jetzt und das machte Noel erst recht wütend.

»Das liegt nur daran, dass deine Eltern nie zu Hause sind und sich nicht genug um dich kümmern!« Autsch! Das stimmte und deshalb war es überhaupt nicht in Ordnung, es als Munition gegen einen Freund zu benutzen. Noel tat es augenblicklich leid. Er versuchte von seinem Tiefschlag abzulenken: »Wenn ich nur in deinem Kopf lebe, warum kann ich dann mein Spiegelbild sehen und deins nicht?« Aber den Verdacht, dass Leon ein Vampir sein könnte, hatten sie schon vor Jahren ausgeräumt. Es war ein alter Hut. Leon zuckte unbeeindruckt mit den Schultern: »Ist doch klar. Weil ich mir das eben so einbilde und nicht anders.«

»Ich habe Ärger mit meinen Eltern wegen dir, und zwar auch wenn du nicht da bist, also muss ich echt sein und du bist ein Fake!« Noel hatte wirklich keine Lust mehr auf diese Diskussion. Erstens hatten sie schon zu oft darüber gestritten und zweitens hatte er jetzt andere Probleme. Aber er wusste schon, was Leon als Nächstes sagen würde, und genau das sagte er auch: »Das ist mit uns eben so wie bei den SIMS oder Animal Crossing oder diesen ganzen Lebenssimulationen. Die gehen ja auch weiter, wenn man den Computer oder die Konsole ausschaltet.«

Leon sah zufrieden aus, aber Noel hatte seit ihrem letzten Streit dieser Art etwas dazugelernt: »Tun sie nicht! Das berechnet die Maschine erst alles, wenn man sie wieder einschaltet. Habe ich letzte Woche in Informatik gelernt.« Eine der wenigen Schulstunden, die Noel richtig spannend gefunden hatte. Er schaute Leon triumphierend an.

»Soso. Und du glaubst alles, was die in der Schule sagen?« Leon grinste wieder höhnisch. »Dann habe ich dich eben gerade erst berechnet, als ich dich eingeschaltet habe.«

»Hast du nicht.«