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Die Handlung des Buches befasst sich mit der Zeit 20 Jahre nach einem nicht näher beschriebenen atomaren Weltkrieg, der die Erde verwüstet und auf unbestimmte Zeit unbewohnbar gemacht hat. Der Mensch hat seine Vormachtstellung verloren und kämpft unter der Erde ums tägliche Überleben. In diesen unsicheren Zeiten erlangt Laura mit dem Beginn ihres 14ten Lebensjahres das Recht ihre zukünftigen Arbeit zugewiesen zu bekommen. Doch diese Bewerbungsvergabe bringt ihr nicht nur einen unerwünschten Beruf, sondern auch eine Reise fernab ihrer Heimatstation, ein. Zu Jung um das nötige Verständnis für die aktuellen politischen Machenschaften innerhalb der Gemeinde aufzubringen, vor allem ihrer eigenen Person betreffend, entgeht ihr das schützende Betreuungsnetz, aber auch die Schatten in ihrem Rücken.
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Seitenzahl: 455
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Für Mira
Das Hamburger Metronetz im Jahre 2013
Das Hamburger Metronetz im Jahre 2033
PROLOG
LAURA
SVEN
LAURA
GROßMUTTER
LAURA
LAURA
PETER
LAURA
DIE AUFTRAGSMÖRDER
LAURA
DIE AUFTRAGSMÖRDER
LAURA
DON-K
LAURA
GROßMUTTER
LAURA
GROßMUTTER
LAURA
GROßMUTTER
VERSUCHSOBJEKT – R13A7E
GROßMUTTER
VERSUCHSOBJEKT – R13A7E
GROßMUTTER
LAURA
MOGLI
LAURA
MOGLI
SVEN
LAURA
SVEN
LAURA
VERSUCHSOBJEKT – R13A7E
GROßMUTTER
LAURA
GROßMUTTER
SVEN
LAURA
SVEN
LAURA
SVEN
CHICO
LAURA
SVEN
CHICO
LAURA
NORBERT SCHULZ
GROßMUTTER
LAURA
NORBERT SCHULZ
GROßMUTTER
SVEN
LAURA
SVEN
NORBERT SCHULZ
LAURA
NORBERT SCHULZ
LAURA
GROßMUTTER
LAURA
NORBERT SCHULZ
LAURA
GROßMUTTER
SVEN
LAURA
GROßMUTTER
CHICO
GROßMUTTER
VERSUCHSOBJEKT – R13A7E
SVEN
DER KARAWANENFÜHRER
SVEN
DER KARAWANENFÜHRER
LAURA
SVEN
DER GENERAL
WACHMANN JONAS
SVEN
GROßMUTTER
SVEN
NORBERT SCHULZ
BALDO
NORBERT SCHULZ
SVEN
BALDO
NORBERT SCHULZ
DER GENERAL
LAURA
TANTE LIS
LAURA
VERSUCHSOBJEKT – R13A7E
TANTELIS
SVEN
LAURA
BALDO
NORBERT SCHULZ
SVEN
LAURA
BALDO
SVEN
NORBERT SCHULZ
LAURA
NORBERT SCHULZ
BALDO
LAURA
BALDO
SVEN
BALDO
VERSUCHSOBJEKT – R13A7E
NORBERT SCHULZ
BALDO
LAURA
BALDO
SVEN
BALDO
NORBERT SCHULZ
BALDO
LAURA
HILDEGART
GROßMUTTER
SVEN
BALDO
LAURA
BALDO
NORBERT SCHULZ
LAURA
SVEN
VERA
BALDO
LAURA
SVEN
LAURA
VERA
BALDO
VERA
SVEN
BALDO
VERSUCHSOBJEKT – R13A7E
VERA
BALDO
LAURA
BALDO
LAURA
GROßMUTTER
LAURA
GROßMUTTER
BALDO
LAURA
GROßMUTTER
LAURA
GROßMUTTER
LAURA
BALDO
LAURA
GROßMUTTER
PETER
LAURA
PETER
LAURA
VERSUCHSOBJEKT - R12Z1
EPILOG
Missmutig marschierten die beiden Brüder durch den düsteren Versorgungsschacht auf der Suche nach der neuen Bruchstelle. Marode Telefonkabel waren ein ständiges Ärgernis. Sie gehörten schnell repariert. Als eines der letzten verbliebenen Kommunikationsmittel hing das Wohlbefinden der wenigen überlebenden Menschen von ihrer Funktionsfähigkeit ab. Ob diesmal die Ratten oder der Zahn der Zeit für den neuen Bruch verantwortlich waren, interessierte die beiden nicht. Sie verrichteten diese Arbeit schon seit sieben Jahren, so harmonisch, wie es selbst eineiige Zwillinge nicht vermochten. Wurde eine gestörte Verbindung gemeldet, machten sich die Brüder zum besagten Tunnelsegment auf. Zuerst unterzogen sie dem ersten Feldtelefon einer gründlichen Inspektion, um dieses als Bruchstelle auszuschließen. Dann verfolgten sie das verlegte Kabel durch die Tiefen der Tunnelröhre bis zum zweiten Feldtelefon an der nächsten Metrostation. Einer führte dabei seinen Finger am Verbindungskabel entlang, damit ihm kein Bruch entging, so winzig dieser auch sein mochte. Wurden sie fündig, trennten sie ihn sauber mit einem Messer heraus. Um die beiden Teilverbindungen zu testen, schlossen sie das mitgeführte Feldtelefon abwechselnd an und tätigten einen Kontrollanruf. Blieb eine der beiden Richtungen stumm, war ein weiterer Bruch vorhanden, den sie aufspüren mussten.
Ihr aktueller Auftrag trug sie diesmal fernab ihrer Heimat, der grandiosen Metrostation Wandsbeker Markt, zu zwei kleineren Haltestellen, der Wartenau und der Ritterstraße, die über einen Telefonausfall klagten. Die Order für den Job kam per Kurier, das zweite noch funktionstüchtige Kommunikationsmittel dieser Tage. Damit bildeten sie die kläglichen Überreste einer einst stolzen Vielfalt an Medien, mit der sich die Erdbevölkerung lange Zeit gebrüstet hatte.
Der heutige Auftrag war ein weiterer Routinejob, der alles andere als vielversprechend begann, denn die Suche nach der brüchigen Stelle zog sich unerfreulich in die Länge.
»Hier ist was! Nein, doch nur ein dreckiges Kabel und stinkende Rattenscheiße …«
Angewidert starrte der Leidtragende den verklebten Handschuh an. Das Reinigen der Kleider würde wieder länger dauern. Wenig erfreuliche Aussichten, doch darüber konnte er sich später den Kopf zerbrechen. Je zügiger er den Abschnitt abschritt und wieder in Betrieb nahm, desto schneller war er zurück und konnte sich seinem neuen wie altem Hobby, dem Fachsimpeln in seiner Stammkneipe, widmen.
Kurze Zeit später wurde er endlich belohnt.
»Das kann nicht wahr sein! Jetzt ist das schon der dritte Bruch! Das kann doch keine Ratte gewesen sein. Oder was meinst du?«
»Ratten? Nein, die tun sowas nicht. Vielleicht ein radioaktiv verseuchtes Viech ohne Verstand.«
Die Brüder lachten nervös. Der vermeintliche Scherz setzte ihnen zu. Angeknabberte Isolierschichten waren Standard, durchtrennte Kabel dagegen selten. Den Ratten konnten und wollten sie dieses Werk nicht ankreiden, auch wenn es die bequemste Erklärung gewesen wäre.
Sie hatten die neueste Bruchstelle unter erschwerten Bedingungen geflickt, als sie wieder die gleiche Metrostation wie zuvor in die Leitung bekamen. Es waren noch mehr Brüche vorhanden! Ungläubig schüttelten die beiden den Kopf und zogen von dannen, auf der Suche nach der nächsten beschädigten Isolierschicht. Ihre Laune näherte sich einem neuen Jahrestiefpunkt, was sich an ihrem unterkühlten Wortwechsel bemerkbar machte. Hier ging es doch nicht mehr mit rechten Dingen zu. So viele Bruchstellen hatten sie noch nie zu flicken gehabt – und das auf nicht einmal dreihundert Metern hinter der ersten Station.
Auch die nächste beschädigte Stelle lag schwer erreichbar auf einer Wasserleitung. Kurzes Strecken und schneller Flicken war hier nicht angesagt. Seufzend starrten die Brüder einander an und verfielen unbewusst in ein uraltes Ritual aus ihrer Jugend: den anderen so lange anzustarren, bis er den Drang zu blinzeln nicht mehr unterdrücken konnte. Wer zuerst dem Reiz nachgab, hatte die Arschkarte gezogen und musste die unliebsame Aufgabe erledigen. Ihre massigen Hände verkrallten sich in den dreckstarrenden Pullover des jeweils anderen. Schweißperlen rannen ihnen die Stirn herab und verstärkten ihr Bedürfnis, sich mit der Hand rechtzeitig die Feuchtigkeit abzuwischen, bevor die Schweißtropfen die Augen erreichten. Denn dann fing es an, unerträglich zu brennen. Auf das verräterische Blinzeln würde höhnisches Gelächter folgen, was keiner von ihnen herausfordern wollte. Frustriert, weil der Tag alles andere als normal verlief, fochten die Brüder ihren Kampf aus. So bemerkten sie nicht den Schatten, der sich lautlos näherte.
Zwei gezielte Schläge auf ihre Köpfe beendeten den Bruderkampf zum ersten Mal mit einem unerfreulichen Unentschieden.
Wie lange sie mit verbundenen Gliedmaßen auf dem kalten Betonboden lagen, konnten sie nicht abschätzen, denn ihre dröhnenden Schädel überlagerten alle anderen Sinne. In ihrer Besinnungslosigkeit hatte ihnen jemand die Schuhe entwendet. Die Kälte kroch ungehindert über die nackten Füße den Bauch hoch und verstärkte ihre missliche Lage. Ihre Körper zitterten bereits merklich. Das war es auch, was sie geweckt hatte.
Nachdem der unbekannte Angreifer sich von ihrem wachen Zustand überzeugt hatte, beugte er sich zu den Brüdern hinab. Ein weißer Umhang umhüllte seine schmächtige Gestalt und ließ sogar das Gesicht vollkommen unter der Kapuze verschwinden. Nur eine bleiche, spindeldünne Hand, die ihnen ein Foto entgegenstreckte, gab den Brüdern eine spärliche Ahnung von dem Täter. Klapperdünn und fleischlos gehörte er keiner bekannten Menschenart an. Die Erkenntnis, es mit einem der gefürchteten Mutanten der Oberfläche und Verursacher der Kabelbrüche zu tun zu haben, hellte die Stimmung der Brüder nicht unbedingt auf. Ihre weit aufgerissenen Augen wanderten panisch zwischen dem konturlosen Kopf und dem Foto hin und her. Es war eine leicht verschwommene Schwarz-Weiß-Aufnahme, die trotzdem die abgebildete Person deutlich erkennen ließ. Das Konterfei eines jungen Mädchens, nicht älter als sechzehn Jahren, lächelte schüchtern einer Person außerhalb des Bildabschnittes zu. Die Aufnahme stammte von einem Weitwinkelobjektiv und war dementsprechend grobkörnig und leicht verwaschen, wie von einem Schnappschuss eines Privatdetektivs aus dem Hinterhalt. Ob die Zielperson wohl ihr Einverständnis dazu gegeben hatte?
»K-keine Ahnung. K-kenne ich nicht. Nie gesehen! Aaaaah!«
Auf die unbefriedigende Antwort reagierte der Angreifer mit einem Bolzenschneider. Innerhalb von einer Sekunde war der Zeh ab.
Die Brüder versuchten ihrem Gegenüber inbrünstig begreiflich zu machen, dass ihnen diese Person wirklich und wahrhaftig unbekannt sei, doch mit jeder Beteuerung dieser Art büßte einer von ihnen einen weiteren Zeh ein. Ihre Schreie hallten laut durch die unterirdischen Gänge und vermischten sich mit dem aufgeregten Gekreische der Ratten, die der Geruch des Blutes aus ihren Verstecken gelockt hatte. Menschliche und tierische Schreie steigerten sich zu einem immer lauteren Crescendo. Der Überlebenskampf zog sich in die Länge, denn es gab immer noch etwas, dass das scharfe Werkzeug durchtrennen konnte.
Genauso verbissen, wie die Brüder sich an ihr klägliches Leben klammerten, hielt ihnen ihr Folterknecht das Foto immer wieder vor.
Ein Aufschrei löste sich aus ihrer Kehle und ließ das junge Mädchen hochschrecken. Verstört huschten ihre Augen durch das Zimmer auf der Suche nach dem Grund der Störung. Der kleine Raum wies nichts Verdächtiges auf. Die Ursache musste sie wohl oder übel woanders suchen. Bedächtig schob sie ihre Beine über das Bettgestell und legte ihren pochenden Kopf auf die abgestützten Arme. In dieser Haltung gewann sie ihre Fassung wieder und durchforstete die vorhandenen Fragmente des Traumes, bevor sie sich endgültig anschickten, sich im gelobten Traumwalhalla aufzulösen.
Egal, wie sie die Eindrücke zu deuten versuchte, es ergab keinen Sinn und ließ nur ihre pochenden Kopfschmerzen wieder aufflammen. Besser nicht weiter beachten. Sie hatte schon zu lange rumgetrödelt und lief Gefahr, zu spät zu ihrer Schicht zu kommen.
Seit ihrem zwölften Lebensjahr leistete sie ihren Dienst als Kadettenschwester im Altenabteil des Bahnhofes ab. Hier betreute sie bis zu zwanzig vorwiegend ältere Damen ohne Verwandtschaft und regelmäßiges Einkommen und bot ihnen damit eine Unterstützung in der letzten Phase ihres Lebens. Eine ähnliche Einrichtung gab es in der Schwesternstation einen Kilometer weiter nördlich, der große unerschütterliche Hauptbahnhof der Stadt. Hier half Laura ebenfalls aus, wenn es ihre Zeit zuließ.
Die Freude bei der Arbeit und ihre Angewohnheit, sich ausschließlich rennend fortzubewegen, brachten ihr schnell den Ruf als zuverlässige und engagierte Mitarbeiterin und den Spitznamen Rabbit ein, einer Cartoon-Figur einer längst vergangenen Zeit, wo die Menschen auf der Erdoberfläche lebten und frische und saubere Luft atmen konnten. Wenn sie den Gerüchten vieler Erzählungen ihrer SeniorInnen Glauben schenken durfte, stimmten die propagandistischen Aufzählungen der Regierung zu diesem Thema nicht mit der Realität überein. So sauber und frisch mag die Luft kurz vor den Einschlägen der Atomsprengköpfe, die die Welt in Trümmern und die Übriggebliebenen in den Untergrund getrieben hatten, nicht mehr gewesen sein.
Ihr Name erklang aus dem Hauptraum und riss sie aus ihren Tagträumereien. Schnell schob sie den groben Vorhang, der ihrem Zimmer ein bisschen Privatsphäre ermöglichte, zur Seite und winkte ihrer Großmutter in dem anderen Raum zu, welcher ihr als Wohn- und Lebensraum diente.
Die Katzenwäsche war schnell erledigt und ihre Dienstkleidung, bestehend aus angepassten und gekürzten Armeekleidern, angezogen. In diesem Outfit unterschied sie sich kaum von der Mehrheit aller Bewohner, welche ebenfalls diese Bekleidung trugen. Der Grund für diesen Einheitslook war weniger der Verbundenheit untereinander als der verheerenden Einschläge der Raketen, die kaum Nennenswertes übriggelassen hatten, geschuldet. Was den Druckwellen und den hartnäckigen Bränden nicht zum Opfer gefallen war, verzehrten die vielen Unglückseligen, die es nicht rechtzeitig in eine gesicherte Anlage geschafft hatten. Übrig blieben die Bestände der Armee, welche rechtzeitig vor Kriegsbeginn unter der Erde deponiert worden waren.
Beim Eintreten bedachte ihre Großmutter sie mit einem fragenden Gesichtsausdruck. Ihr war kaum der erschrockene Aufschrei verborgen geblieben, der sie unsanft aus ihrem Schlaf gerissen hatte. Laura verspürte keine große Lust, sich auf ein wenig erhellendes Gespräch mit ihr über mögliche Ursachen zu unterhalten, zumal es wieder versprach so zu enden, wie die letzten Male.
Wenn die Ursache nicht in ihrer Pubertät zu finden war, kamen meistens die beklemmenden Verhältnisse, in denen sie lebte, oder Nachwirkungen einer Auseinandersetzung, welche sie mit ihresgleichen gehabt haben musste, in Frage. Damit meinte sie Sven, den Sohn des Chefs des Nachrichtendienstes der U2- Bahnhofsgemeinschaft, der regelmäßig mit ihr aneinander zu geraten schien. Das junge Mädchen wusste es besser. Keiner der genannten Gründe kam der Wahrheit ansatzweise nahe.
Mit einer Lüge über ein angestoßenes Knie humpelte sie zu ihrem Stuhl und vermied so den sich anbahnenden Disput. Das Frühstück verbrachte sie so ohne die zu erwartenden bohrenden Fragen. Es war ihr wieder gelungen, einer Befragung aus dem Wege zu gehen, trotzdem schwante ihr, dass sich das Thema nicht mehr lange ignorieren ließ, da es in immer kürzeren Zeitabständen auftrat.
Mit einem Kuss verabschiedete sie sich von ihrer Großmutter und hastete den Bahnsteig entlang. Sie würde zu spät kommen. Schnell schlängelte sie sich durch die anderen Frühaufsteher der Station und schoss unvermindert um die Ecke. Dem breiten Rücken, der ihr den Weg versperrte, konnte sie deshalb kaum ausweichen. Der Aufprall war heftig und drückte das Hindernis ruckartig nach vorne. Sie selbst vermochte sich im letzten Augenblick an der Person vorbeizudrücken und kam ein paar Meter weiter zum Stehen. Mit einem schlechten Gewissen drehte sie sich um und war schon im Begriff, sich ausgiebig zu entschuldigen, als ihr Blick, den von Sven kreuzte. Verdattert standen drei Jugendliche mit Suppenschalen vor ihr und begutachteten das Malheur. Ein feuchter Fleck breitete sich auf dem Oberkörper des Größten der drei aus, wo ihn die verschüttete Suppe getroffen hatte.
Sogar an der Backe meinte Laura einen Pilz ausgemacht zu haben. Doch es blieb ihr keine Zeit, diesen Umstand auszukosten, denn drei Augenpaare hatten sich ihr mittlerweile zugewandt. Bevor sich einer der drei in Bewegung setzen konnte, huschte Laura mit einem schnell dahingeworfenen „Entschuldigung“ davon. Böse Flüche schallten durch die Katakomben und begleiteten sie auf ihrem Weg zur Schwesternstation.
Warum musste sie ausgerechnet Sven, den Kotzbrocken der Station, rammen. Ein schelmisches Lächeln breitete sich unvermittelt auf ihrem Gesicht aus, als sie sich an das Bild des eingesauten Oberkörpers erinnerte. Schnell presste sie ihre Hand auf ihren Mund, bevor sich ein unkontrollierter Lachkrampf verfestigen wollte und schoss um die nächste Ecke.
An der Schwesternstation empfing sie eine ihrer Bewohnerin. Vornübergebeugt und schwer atmend, stützte sie sich an der offenen Eingangstür ab und bewahrte sich dadurch vor einem schmerzhaften Sturz. Dankend nahm sie die dargebotene Hand entgegen und ließ sich von Laura in das Zimmer führen. Stöhnend sank sie auf der großen Couch nieder. Das junge Mädchen setzte sich hilfsbereit dazu und goss der greisen Frau ein frisches Glas Wasser ein.
Paulina wurde liebevoll Tante Paula genannt und war vermutlich die älteste Frau im Ganzen intakten und bewohnten U-Bahn-Netz der Stadt. Keiner konnte sich an ihr genaues Alter erinnern und Dokumente, die darauf Aufschluss hätten geben können, führte keiner mehr mit sich herum. Warum auch? Gab es doch nur noch um die 5000 Seelen, die sich rechtzeitig unter Tage gerettet und die restlichen zwanzig Jahre darin überlebt hatten. Wurde sie selbst danach gefragt, gab sie, mit immer der gleichen stoischen Ruhe, die gleiche Antwort: Zu alt für diese Welt. Das führte dazu, dass sie lange Zeit sogar als die älteste lebende Person in Deutschland galt. Doch wer wollte das schon so genau wissen, zumal es genug Menschen gab, die außerhalb der U-Bahn-Tunnel unter den toxischen Bedingungen an der Oberfläche zu überleben vermochten. Sogar die Kommunikationsverbindungen zu den anderen Städten in unmittelbarer Nähe von Hamburg waren, nur unter idealen Wetterbedingungen möglich. Ein besonders klarer Himmel und kaum Oberflächenstrahlung mussten schon sein, um mehr als nur ein Störgeräusch der alten Apparatur zu entlocken.
»Hast du Stress mit Sven?« Ihre lebendigen Augen streiften ihren abgekämpften Körper Lügen und fixierten belustigt das junge Mädchen neben ihr.
»Ja, sieht danach aus. Keine Ahnung, was er hat. Er ist immer so leicht erregbar«
Das Wortgefecht ging noch ein paar Minuten so weiter und lud auch andere Bewohner ein, sich dem verbalen Geplänkel anzuschließen. Nachdem Laura sich vergewissert hatte, dass es den Damen gut ging, machte sie sich auf den Weg in die Küche. Die vorwurfsvollen Blicke der anderen Kadettenschwestern, wie sie alle liebevoll genannt wurden, ignorierte sie dabei gekonnt.
Der restliche Vormittag verlief sonst ereignislos. Nach dem Frühstück folgte das Beziehen der Betten und Putzen der Gemeinschaftsräume und mündete nahtlos in die Zubereitung des Abendmahles. Für Laura, die noch kein vollwertiges Mitglied der Kadettenschwestern war, eine Selbstverständlichkeit. Was konnte einem Jugendlichen schon Besseres widerfahren, als sich körperlich zu betätigen und als Dank den ganzen wunderschönen, aber auch zum Teil dramatischen Geschichten der Bewohner, beizuwohnen, die sie über ihre Zeit an der Oberfläche zu berichten hatten? Für das junge Mädchen, welches selbst nie diese unbekannte Welt kennenlernen durfte, waren die Erzählungen wie aus 1001 Nacht. Nächtliche Tanzveranstaltungen, das Flanieren am Strand mit seinem Liebsten – ein unendliches sanftes Meer im Hintergrund. Bilder manifestierten sich in den Köpfen der gespannt lauschenden Kinder, um dann jäh durch die trostlose Gegenwart verdrängt zu werden. Laura ließ sich nie davon irritieren, denn sie konnte an dieser Tatsache nichts mehr ändern und genoss das Zusammensein mit ihren Bewohnern. Vor allem, da auch ihr diese Ausflüge in einer anderen Zeit über die immer stärker auftretenden Albträume der letzten Wochen und den damit verbundenen morgendlichen Kopfschmerzen hinweghalfen. Aber was wollte sie noch lange darüber lamentieren, denn morgen war ihr Tag. Dann wurde sie endlich vierzehn und konnte sich dem monatlich stattfindenden Auswahlverfahren in der Nachbarstation widmen. Die offizielle Benennung als Mitglied der Kadettenschwestern stellte einen weiteren Meilenstein auf ihrem Weg dar. Eine Formalität, geboren aus der Tradition und dem engen Korsett, den die Menschen der Unterwelt zum Überleben unterworfen waren. Die Heranwachsenden wurden über ein Losverfahren, welches nur bedingt die Eignung der Bewerber berücksichtige, verteilt. Laura war trotzdem davon überzeugt, dass das Verfahren nicht gänzlich ohne das Einbeziehen der Wünsche und Voraussetzungen erfolgen konnte. Wie sonst sollte die Harmonie, die eine zusammengepferchte Gemeinde zu ertragen hatte, gewährleistet werden, wenn nicht über diesen Mechanismus?
Schweigend absolvierten die Mädchen den Abwasch und verabschiedeten sich dann artig bei den Insassen des Altersheims. Vor der Tür nahm jeder der Schwestern ihren Weg durch die abgedimmten Gänge des Bahnhofes.
Die Metrostation Berliner Tor bediente sich der allgemeinen Praxis, die Deckenbeleuchtung im Rhythmus gewohnter Tageszeiten ein- und auszuschalten, um der Bevölkerung das Gefühl von Normalität, auch Untertage, zu vermitteln. Der Verlust ihrer angestammten Oberfläche ging erst durch die globalen Kriege und dann, auf unbestimmte Zeit, an die, mit Wucht auftauchenden Mutanten, verloren. Solche und ähnliche Tatsachen waren nun die neue Realität vieler Bewohner der wenigen intakten Hamburger Tunnelsegmente. Für Laura dagegen, ein Kind der Nachkriegsgeneration, kaum der Rede wert. Wie sollte es auch anders sein, da sie nie eine andere Welt als mit einer künstlichen Tageszeit und der ständigen Bedrohung von Oben kennengelernt hatte?
Wehmütig schlenderte Laura durch die Gänge und bog auf den Treppenabsatz zum Bahngleis ab. Schneller, als beabsichtigt, erreichte sie die Zeltplane zu ihrer Behausung am Ende des Bahnsteiges. Die Unterkunft selbst bestand aus Blech- und Holzverschalungen und ähnelte denen, die sich in diesem Bahnhof ein Dach über den Kopf leisten konnten. Die Oberen, womit sie die Oberschicht meinte, nutzten die wenigen Räumlichkeiten weiter oben im Bahnhofstrakt und erreichten dadurch den größtmöglichen Abstand zum Abschaum, der die Gleise zum Überleben bewohnte.
Kaum hatte sie den Hauptraum betreten, wurde sie ihrer Großmutter gewahr, welche am Esstisch auf sie wartete. Ihre Körpersprache signalisierte eindeutig Unmut und Laura wappnete sich des kommenden Sturmes, welcher nicht lange auf sich warten ließ.
»Warum musst du dich immer mit Sven anlegen? Warum spielst du ständig diese kindischen Streiche, um deine Überlegenheit gegenüber einem so braven Jungen, der so früh seine Mutter verloren hatte, zu demonstrieren?«, echauffierte sich ihre Großmutter empört.
Es folgten weitere Fragen dieser Art, doch Laura hatte schon innerlich abgeschaltet. Ihre Großmutter schien die Tatsache außer Acht zu lassen, dass sie ein Waisenkind war und beide Elternteile bei einem unaufgeklärten Brand verloren hatte. Auch tat die ältere Frau ihre Beteuerung, dass der Zusammenprall ein Versehen und sie sich schon bei Sven entschuldigt hatte, mit einer unwirschen Handbewegung ab. Laura empfand sich ungerecht behandelt.
»Du bist vierzehn Jahre alt und hast dir das Recht, bei der Beschäftigungsvergabe offiziell benannt und als neues Mitglied in die Arbeitergemeinde aufgenommen zu werden. Es ist an der Zeit, dass du mit diesen Streichen aufhörst«, endete die ältere Frau ihre Maßregelung in einem sanfteren Ton.
Laura ließ die Belehrung stoisch über sich ergehen und half dann ihrer Großmutter beim Tischdecken. Mit einem Gehstock bewaffnet half die alte Frau, wo es ging, sonst übernahm die Jüngere solche oder ähnliche Tätigkeiten, welche sie auch schon im Altersheim zu tun pflegte. Wackelig und unsicher auf den Beinen war ihre Großmutter sowieso keine große Hilfe und nachdem einige Teller zu Bruch gegangen waren, übernahm sie diesen Part gerne.
Der Abend endete ereignislos und gab Laura die Möglichkeit, sich zeitig zurückzuziehen.
Sven saß brütend in seinem Zimmer, als es laut an der Tür klopfte. Er unterdrückte den Impuls, sofort darauf zu antworten, da ihm klar war, wer vor der Tür und aus welchem Grund dort stand. Sein Vater war von der Arbeit nach Hause gekommen und hatte von dem Zwischenfall heute Morgen erfahren. Er war darüber nicht erfreut und das würde er ihm nun mitteilen wollen. Der Bote klopfte erneut gegen das Holz, diesmal lauter und drängender. Ein weiteres Zeichen für die schlechte Laune seines Vaters. Boten haben ein gutes Gespür für die aktuelle Stimmung ihrer Dienstherren. Heute war es wohl angebracht, die Aufgabe zeitnah zu erledigen und den Fremdkörper, als den sie ihn ansahen, zur Frustbewältigung anzupreisen.
Ironisch verzog sich der Mundwinkel seines feingeschnittenen Gesichtes. Ein Geschenk seiner toten Mutter, wie er immer wieder zu hören bekam. Er konnte es ihnen nicht verübeln, da ihm selbst der Gedanke gekommen war, entweder Schwabbelbacke oder den Schwachkopf, wie er seine Kumpels Dieter und Udo im Geheimen nannte, zu seinem Vater zu schicken, um das Donnerwetter für ihn abzuholen. Traurig schüttelte er den Kopf, da der Kelch diesmal nicht an ihm vorbeiziehen würde. Es wäre besser, es schnell hinter sich zu bringen. Je länger er wartete, desto schlimmer würde es werden. Falls der Bote durch seine Verzögerung was abbekam, würde er es ihm irgendwann heimzahlen. Eine kleine Träne löste sich aus dem Augenwinkel und rann die staubige Wange hinunter. Gedankenverloren wischte er sich durch das Gesicht.
Immer wieder dieses verfluchte Mädchen lässt dich wie einen Idioten dastehen. Sogar die Dienstboten behandeln mich schon wie eine Kakerlake.
Mit dieser Erkenntnis trottete er schicksalsergeben Richtung Vaters Arbeitszimmer, den starren Blick des Boten im Nacken spürend. Er schien ihm nachzurufen, es nicht zu versauen. Zum Wohle der beiden. Als ob er das nicht selbst besser wüsste.
Die junge Frau stand an der Zeltöffnung und wippte auf den Fußballen hin und her. Schon lange bevor das künstliche Oberlicht die erste Dimm-Phase zur nächsten Tageseinheit einleitete, hatte sie das Bett verlassen und ihre neuen Kleider, die sie zu ihrem Geburtstag bekommen hatte, angezogen. Ihre Hand strich gedankenverloren über die weiche Baumwolle und nur ihr Unterbewusstsein registrierte die feinen Fasern. Eine Beschaffenheit, welche Laura schon lange nicht mehr gespürt hatte. Dessen ungeachtet galt ihr Augenmerk dem schlichten Wandrelief an der gegenüberliegenden Decke. Die vereinzelt angezündeten Kerzen hüllten die Marmorplatten in ein rötlichbraunes Licht.
Laura senkte enttäuscht den Kopf. Ihre Augen musterten stattdessen die unterschiedlichen, bunt zusammengewürfelten Zeltbehausungen auf beiden Seiten des Mittelbahnsteigs. Leider war nirgends eine Aufbruchsstimmung unter den Bewohnern zu erkennen. Kopfschüttelnd verzog sie das Gesicht. Es sollte ihr Tag werden. Als 4-jährige, würde sie heute den Pulk, der sich zur Beschäftigungsvergabe aufmachte, begleiten, um als neues Mitglied der Arbeitergemeinde aufgenommen zu werden. Bei den Jugendlichen war die Vergabe als eine Lotterie verschrien, da der Wunsch, den gewählten Beruf auch tatsächlich zu ergattern, nicht immer in Erfüllung ging. Laura ließ sich davon nicht entmutigen.
Bedächtig legte sich die Hand ihrer Großmutter auf ihre Schulter.
»Komm, meine Liebe. Du hast noch genug Zeit, bis sich deine Gruppe Richtung Hauptbahnhof Nord sammelt. Du musst etwas essen, sonst kippst du mir noch aus den Latschen.«
Das Frühstück bestand aus einer harten Brotkruste und der täglich warmen Pilzsuppe mit Einlagen, mit der sich dieser Tunnelabschnitt einen Namen gemacht hatte. Der bekannte Innenstadttunnel der roten Linie U2, die sich aus den Metrostationen Berliner Tor – Hauptbahnhof Nord – Jungfernstieg – Gänsemarkt – Messehallen – Schlump und der Christuskirche zusammensetzte. Vor allem die beiden Letztgenannten dienten als Versorgungstunnel für die Schweine- und Pilzzucht und waren der Grund für unzählige Annektierungsversuche der weiter im Norden gelegenen Metrostationen. Die meisten Auseinandersetzungen endeten friedlich, was den Wohlstand und den allgemeinen Sicherheitszustand aller hiesigen Stationen der roten Linie festigte, und den Bewohnern einen verhältnismäßig hohen Lebensstandard bescherte.
Hastig und ohne Genuss verschlang Laura ihr Frühstück. Dabei wurde sie von ihrer Großmutter liebevoll beobachtet. Sie selbst würde ihr Frühstück später nachholen. Eine Tatsache, die dem jungen Mädchen bewusst war, aber nicht zu einer Änderung ihres Verhaltens führte. Sie war nun einmal zappelig und unruhig, vor allem an einem Tag wie diesem.
Die Geräusche der aufwachenden Gemeinde lenkten Laura immer wieder von ihrem Frühstück ab und ließen ihren Blick zum Zeltvorhang wandern. Sie hatte keinen Hunger, wollte ihre Großmutter aber nicht besorgt zurücklassen, deshalb schob sie sich einen Bissen nach dem anderen in den Mund. Sie wusste, dass ihre Tage sich dem Ende zuneigten. Nicht nur, dass sie ständig über die alte Fußverletzung rieb, sondern generell einen müden und abgehalfterten Eindruck hinterließ.
Ein Räuspern vor dem Zeltvorhang unterbrach ihre Gedankengänge. Laura sprang auf. Der Schatten eines großen Mannes zeichnete sich vor dem Zelt ab. Es waren die vertrauten Konturen von Peter, der die Aufgabe hatte, sie zur Lotterie in der Nachbarstation zu begleiten. Schnell war Laura draußen und fiel Peter mit voller Wucht um den Hals. Ihre Vorfreude über den gemeinsamen Weg zur anderen Station kannte keine Grenzen. »Endlich, Peter!«
Peter, ein guter Freund der Familie und geistig leicht zurückgeblieben, lächelte verlegen. Die Augen gesenkt, zog er sich die abgewetzte Stetson-Mütze vom Kopf und knetete sie in seinen gewaltigen Pranken. Linkisch warf er einen Blick ins Zelt und schwenkte zum Gruß die rechte Hand. Dann wandte er sich jäh ab in Richtung Nordschleuse, zum anderen Ende des Bahnsteiges. Laura tat es ihm gleich.
»Stopp! Du noch nicht. Sei so nett und gewähre mir noch ein paar Minuten deiner kostbaren Zeit.«
Laura, die diesen formellen Ton kannte, verzog das Gesicht und gesellte sich wieder zu der alten Frau. Ihre Augen fixierten sehnsüchtig den offenen Zeltvorhang. Es war nicht schwer zu erraten, was ihr dabei durch den Kopf ging, doch ihre Großmutter ignorierte dies und zwang mit ihrer Hand behutsam ihr Gesicht in ihre Richtung. Damit sie die Botschaft auch ernst nahm, beließ sie gleich ebendiese an Ort und Stelle und nötigte Laura, den Ausführungen ihrer Großmutter zu lauschen.
»Ich weiß, dass dir diese Lotterie sehr viel bedeutet. Auch Sven wird euch Richtung Hauptbahnhof Nord begleiten. Sei also auf der Hut und bleibe in Peters Nähe. Die Lotterie verspricht auch vieles, was sie am Schluss nicht hält. Sei also nicht enttäuscht, wenn es doch anders kommen sollte, als du es dir wünschst. Vergiss nicht, alles hat einen Sinn und es ist immer jemand in deiner Nähe, der über dich wacht«, schloss die Frau ihren Vortrag ab.
Laura versuchte ein überzeugendes Nicken, was ihr jedoch nicht gelang, da die Hand der Großmutter ihre Bewegungsfreiheit einschränkte. Sie hatte ohnehin nur mit einem Ohr den Ausführungen gelauscht.
Sven, der Kotzbrocken der Station und eine Lotterie, die nicht den gewünschten Beruf brachte, waren das Letzte, woran sie ihre Gedanken verschwenden wollte.
Großmutter hatte ihre Botschaft überbracht. Doppelt überprüfte sie das bunte Band am Arm auf ihre Festigkeit und küsste Laura liebevoll auf die Stirn. Kaum hatte sich die Hand von ihrem Gesicht gelöst, rannte diese schon hinter dem vorauseilenden Peter hinterher.
Allein und traurig stand sie am Zeltausgang und schaute den beiden hinterher, lange noch nachdem sie aus ihrem Sichtfeld verschwunden waren. Sie kehrte zu ihrem Bett zurück, mit einer schwermütigen Last auf dem Herzen. Die ersten Tränen der Trauer kullerten aus ihren Augen und zogen einen feuchten Pfad über das verrunzelte Gesicht. Sie gönnte dem verblichenen Bild ihres Sohnes Nils und seiner Frau Elba, Lauras Adoptiveltern, einen traurigen Blick und faltete die Hände zum Gebet. Ihre Lippen bewegten sich fast lautlos, nur ein leises Wispern war zu hören. Als sie ihre Rezitation abgeschlossen und sich etwas beruhigt hatte, lehnte sie sich zurück und starrte erneut das Bild an der Wand an. Ihr vorwurfsvoller Blick richtete sich auf ihren toten Sohn.
»Warum musstest du mich so früh verlassen? Ich brauche dich. Es wird bald etwas Schreckliches geschehen. Ich spüre es. Ich weiß nicht, ob ich die Kraft dafür aufbringen kann, das zu tun, was getan werden muss.«
Sie gönnte sich ein paar Augenblicke der Ruhe, bevor sie sich erhob und zielgerichtet Kleider und Reiseproviant für die kommenden Tage in einen Rucksack verstaute. Eine kleine Dose, welche hinter dem Kleiderschrank unter einer geschickt getarnten Holzklappe verborgen war, folgte ebenfalls in den Stoffbeutel.
Wäre ihre Enkelin noch anwesend, hätte sie sich über die mühelosen Bewegungen und die Vitalität ihrer Großmutter gewundert. Schnell huschte sie durch das Zelt und verrichtete ihre Arbeit. Von der angeblichen Verletzung und der Altersmüdigkeit keine Spur mehr.
Die Zeit der Abreise war gekommen und die Jugendlichen fanden sich am vereinbarten Treffpunkt ein. Die meisten von ihnen strahlten Zuversicht und Vorfreude aus, nur einige wenige versteckten sich ängstlich und schüchtern hinter ihren Verwandten. Ein Spiegelbild der Gefühle, je nachdem, wie die Beschäftigungsvergabe angenommen wurde. Sogar die zwei Soldaten, die ihren Dienst an den nördlichen Tunnelröhren versahen, fixierten amüsiert die Gruppe und machten leise ein paar wenig wohlgesonnene Witze. Dem Alter nachzuschließen waren sie selbst noch nicht lange Berufstätige und kannten das Unbehagen des Unbekannten aus eigener Erfahrung.
Laura ließ den Blick über ihre Mitstreiter wandern. Man kannte sich und nickte dem anderen flüchtig zu. Vereinzelt tauchten einige andersfarbige Bänder auf, die ihre Reise von einer ferneren Metrostation begonnen hatten. Gemeinsam würden sie den letzten Teil bis zum Hauptbahnhof Nord zurücklegen. Die bunten Armbänder entsprangen einer Zeit, wo die Bahnhöfe noch unterschiedlichen Gruppierungen angehörten, doch mittlerweile hatte sie dieser Brauch überholt, da die Stationen der roten Linie sich als eine Lebensgemeinschaft betrachteten. Die Bänder wurden nur noch aus einer nicht näher überlieferten Tradition heraus getragen, was für die Station Berliner Tor ein in gleichen Teilen rot-weiß unterteiltes Band bedeutete. Das Rot stand für die rote U2 und das Weiß für die Farbe der Wandkacheln. Stations- und fraktionsunabhängig dagegen die Einheitsbekleidung aller Anwesenden, welche aus ebendiesem grünbraunem Armeestoff in den unterschiedlichsten Abnutzungsstadien bestand. Da es so gut wie unmöglich war, an kaum verseuchtes Material heranzukommen, erregte eine neue Kleidergarnitur großes Aufsehen. Laura ignorierte die verstohlenen Blicke der Umstehenden und gesellte sich zu Peter in die vorderste Reihe. Normalerweise hätte sie diesen Augenblick genossen, doch diesmal empfand sie ihn mehr als störend und unpassend. Einige Sätze von Großmutter hallten noch dumpf in ihrem Schädel wider und beanspruchten ihre Aufmerksamkeit nachhaltig. Irgendetwas war ihr in diesem Gespräch entgangen und es nagte an ihr. Konnte es die Meinungsverschiedenheit wegen ihrer neuen Bekleidung gewesen sein? Dieses Thema beschäftigte vor allem Jugendlichen, da auch über zwanzig Jahre nach der globalen Umwälzung ein neues Kleidungsstück Bewunderung unter ihnen auslöste. Lauras Großmutter wurde nicht müde, immer wieder darüber zu spotten: »Dieser Blödsinn hat uns damals schon angetrieben. Und was hat es uns gebracht? Habt ihr Jugendlichen denn nichts anderes im Sinn?« Laura fand daran nichts Verwerfliches. Ein neuer Pullover, der nicht an etlichen Stellen geflickt und dadurch hart wie Brot auf der Haut lag, sondern sich zart und weich an die Haut anschmiegte ...
»Hallo zusammen. Danke, dass ihr euch alle so zeitig eingefunden habt. Für die, die mich noch nicht kennen: Ich heiße Flavio Conte und werde euch mitsamt euren Verwandten zum Hauptbahnhof Nord begleiten. Dort werden wir uns nach einer kurzen Rast in den großen Saal begeben, wo die Wahl stattfindet. Die Wahl ...«
Oh Gott, nicht schon wieder.
Laura kannte die Prozedur in- und auswendig. Im Hintergrund äfften die Soldaten Flavio, den Assistenten des Stationsvorsitzenden, unverhohlen nach. Den meisten Jugendlichen entging das nicht, ganz anders Flavio, der seine Ansprache mit dem feierlichen Ernst hielt, die sein Amt und diese verantwortungsvolle Aufgabe geboten. Nur schade, dass auch »die graue Eminenz« Mitglied ihrer Reisegruppe war. Ein kurzes Neigen seines Kopfes in Richtung der Soldaten brachte diese im Nu zur Räson. Zackig salutierten sie und fanden sich auf ihren Bewachungsplätzen ein. Das Geräusch zusammenschlagender Hacken ließ Flavio herumfahren. Sein irritierter Blick glitt über die strammstehenden Soldaten. Da aber weder dort noch irgendwo in Sichtweite sich irgendetwas rührte, führte er seinen Monolog fort.
Die graue Eminenz hatte ihren Namen nicht nur aufgrund der grauen langen Haarsträhnen erhalten, die das kantige Gesicht umfluteten, sondern durch die unzähligen Gerüchte und Erzählungen, die sich um seine Person rankten. Sie behaupteten, dass »Nooorbert«, wie Lauras Großmutter besagten Norbert Schulz bezeichnete, der heimliche Drahtzieher war, der die Geschicke ihrer Station lenkte: immer im Hintergrund bleibend, ohne Hast und Aufregung, aber auch ohne selbst einen Finger krumm zu machen. Ob das der Wahrheit entsprach, wusste Laura nicht, aber seine gelassene Haltung, der wohlgenährte Körper und die makellose Kleidung erhärteten den Verdacht. Zu dem untersetzten Körperbau gesellten sich zwei stämmige Oberschenkel, die in teuer aussehenden Lederstiefeln mündeten. Dem Erscheinungsbild nach war Sven eine jüngere Ausgabe seines Vaters. Der herablassende Blick und der verächtliche Gesichtsausdruck waren die Markenzeichen seiner Familie. Sie lernte schon frühzeitig Sven und seine kleine Gang kennen und eignete sich ebenso schnell die Fähigkeit an, ihnen aus dem Weg zu gehen. Gelang ihr das einmal nicht, endeten die Aufeinandertreffen meistens mit einem verbissenen Kampfstarren oder mit vereinzelten Knuff- und Spuckattacken, bei denen sie meistens den Kürzeren zog. Der Gedanke daran ließ sie frösteln und nötigte den mitgereisten Peter, schützend seinen Arm um ihre Schulter zu legen.
Flavios Redeschwall ging zur Neige. Zum Abschluss klatschte er einmal in die Hände und rief: »Na, dann wollen wir mal!« Das war der Startschuss. Die Gruppe schob sich an den ernst dreinblickenden Soldaten vorbei. Die Doppelgleisröhre war mit eng aufeinanderfolgenden Glühbirnen gut ausgeleuchtet und roch kaum muffiger als anderswo in der restlichen Station. Ein kontinuierlicher Strom kleinerer Menschengruppen, die ihrem Tagesgeschäft nachgingen, durchquerte den Tunnel zu beiden Seiten. Lebensmittelprodukte kamen vom großen Markt, während technische Erfindungen und Reparaturen, für die sich Berliner Tor einen Namen gemacht hatte, ihre Heimatstation als Gegenleistung verließen und in die entfernteren Haltestellen transportiert wurden.
Laura ergriff Peters warme Pranke. Sie spürte die Wärme und Kraft, die von ihr ausging. Er war ihr Beschützer. Sie zweifelte nicht daran, dass er trotz seiner geistigen Einschränkung alles um sich herum wahrnahm und es auf seine Art und Weise zu ergründen versuchte. Vielleicht waren diese Gedankengänge weniger komplex als bei normalen Menschen, aber sie hatte keinen Zweifel, dass er sehr wohl vieles begriff und erfasste, eben auf seine eigene, ganz besondere Art. Seine Anwesenheit milderte das unangenehme Kribbeln auf dem Rücken, wo noch vor kurzem die Augen ihrer Großmutter verweilten. Laura spürte solche Sachen schon seit ihrer Kindheit, ohne ergründen zu können, was sie zu bedeuten hatten. Ihre Versuche mit Großmutter darüber zu diskutieren, scheiterten kläglich. Die alte Frau versicherte ihr immer wieder geduldig, dass mit ihr alles in Ordnung sei. Auch die Gespräche mit den Freundinnen halfen nicht weiter, da niemand ihre Erlebnisse teilte. Stattdessen begannen sie Laura misstrauisch zu beobachten, weshalb sie dazu überging, ihr Problem für sich zu behalten. Doch Laura sehnte sich danach, den Grund der Erscheinungen zu finden, die über die Jahre in immer kürzeren Abständen auftraten. So wie in diesem Moment, wo das Kribbeln durch die zurückgelegten Meter zwar schwächer, aber nicht gänzlich verschwunden war. Sie spürte, dass etwas passieren würde, was ihre Großmutter betraf. Sogar die Hand des großen Mannes neben ihr strahlte eine gewisse Anspannung aus. Da konnte nicht mal sein gewohnt schlurfender Gang ablenken. Peter war tagein, tagaus in den Röhren der Stationen unterwegs, und half dort, wo seine Bärenkräfte von Nöten waren. War er ihretwegen so nervös? Konnte das sein? Es war doch nur eine Beschäftigungslotterie. Eine immer wiederkehrende Prozedur und Arbeitsverteilung, um freie Stellen oder Engpässe mit neuen Mitarbeitern zu besetzen. Im Vorfeld liefen genug Sondierungsgespräche ab, um die Wünsche und Persönlichkeiten der Jugendlichen, soweit es ging, zu achten. Auch Laura hatte zweimal diese Gespräche geführt. Beide ergaben die Notwendigkeit, die Schwesternkadetten aufzustocken und ihre Befähigung, diesen Posten zu besetzen.
Nach fünfhundert Metern zweigte eine Hälfte der Eisenbahnschienen nach rechts ab und verschwand nach der nächsten Kurve aus dem Blickfeld. Jeder wusste, dass diese Schienen über den südlichen Teil des Hauptbahnhofes verliefen, wo sie sich, weiter im Westen, mit der Ringbahn, der gelben U3, vereinte. Erbaut vor dem Zweiten Weltkrieg, war sie zum größten Teil oberirdisch verlegt und somit für die Menschen der Nachkriegsgeneration für immer verloren und unbrauchbar.
Die Gruppe um Laura blieb der roten U2 treu und folgte den Schienen unaufhaltsam gen Norden. Die Wände der U-Bahn-Röhre bestanden aus Spritzzement, hin und wieder unterbrochen von Öffnungen zu Versorgungsräumen und Lüftungsschächten. Die Türen zu diesen Räumlichkeiten waren schon vor Jahren entfernt und einem anderen Gebrauch zugeführt worden. Übrig blieben hohle, dunkle Räume, in denen Reisende schnell ihre Notdurft verrichteten. Dementsprechend roch die Wandergruppe diese zweckentfremdeten Abstiege, lange bevor sie sie in der Dunkelheit auftauchen sahen. Flink wechselten sie die Gleise, um eine möglichst große Distanz zu der Geruchsbelästigung zu wahren.
An den Wänden verliefen unzählige Telefonkabel und Rohrleitungen. Ein Überbleibsel einer Zeit, in der ein reger Informationsaustausch die Grundlage einer intakten Gesellschaft darstellte. Die Beschaffenheit der Tunnelröhre ließ Laura sich an eine Geschichtsstunde erinnern. Dort hatte der Lehrer über eben jene Technikaffinität der Menschen, aber auch über den Einsatz der Hamburger Rohrpostleitung, philosophiert, welche intakt und einsatzbereit in einigen Tunnelröhren schlummerten. Davon vermochte Laura jedoch keine Spur entdecken, geschweige denn, dass sie kaum wirklich wusste, wie eine Rohrpostleitung auszusehen hatte. Dickere Rohrleitungen gab es hier zuhauf, die dafür infrage kommen könnten. Da weckten die vereinzelt auftauchenden Schächte schon eher ihre Neugier. Mit kryptischen Symbolen und einem Hängeschloss versehen, waren sie gut gegen unbefugtes Betreten gesichert. Man würde kaum leerstehende Versorgungsräume derart sichern, oder?
Laura wandte sich an Peter.
»Wohin führen, deiner Meinung nach, diese Schächte?« Peter ließ seine Augen in die besagte Richtung gleiten, doch mit keiner Regung ließ er erkennen, ob der angesprochene Gegenstand für ihn eine Bedeutung hatte. Somit war von ihm kaum mehr als sein gleichgültiges Achselzucken zu erwarten. Laura wollte sich nicht so billig abspeisen lassen, denn diese Luken versprachen mehr. Bevor sie erneut zu einer weiteren Frage ansetzen konnte, unterbrach ein Tumult in der vorderen Gruppe den gleichmäßigen Marsch. Das laute Quieken einer Ratte hallte durch den U-Bahn-Schacht und ließ die Menschen zusammenzucken. Diese Plagegeister waren keine Seltenheit und galten sogar als Nahrungsmittel unter der Bevölkerungsschicht. Das ungewohnte Verhalten erregte deshalb Lauras Neugierde und zwang sie durch die Gruppe nach vorne, wo sie sich einen ungehinderten Blick auf die Ursache des Durcheinanders versprach. Unsanft wurde sie zur Seite gestoßen und der Körper der grauen Eminenz schob sich an ihr vorbei. Mit einem zweiten obligatorischen Rempler folgte sein Sohn hinterher. Laura nutzte die Gunst der Stunde und drängelte ebenfalls durch die entstandene Gasse nach vorne. Sie glaubte noch zu spüren, dass Peter ihre Schulter leicht berührte, um sie daran zu hindern, doch ihre Neugierde zwang sie an die Spitze. Sie kam zwischen Flavio und Sven zum Stehen.
Die größte Ratte, die sie je gesehen hatten, stand breitbeinig mitten auf den Schienen. Kampfbereit hob sie ihren mächtigen Kopf den Neuankömmlingen entgegen und sondierte die Umgebung mit ihren langen Barthaaren. Das schwarze Fell klebte feucht am wuchtigen Körper, so als wäre sie erst vor kurzem der Kanalisation entstiegen.
Fasziniert starrte Laura den meterlangen kahlen Schwanz an, der bewegungslos zwischen den monströsen Tatzen des Tieres lag. Es erinnerte sie an einen gehäuteten Aal.
Wahnsinn, der ist länger als ich.
Bilder einer kleinen Ratte, die eine Wachstumsmetamorphose zu durchleben schien, tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Der Mutationsprozess wirkte alles andere als schmerzlos, da das Tier krampfhaft seine Schnauze zu einer Fratze verzog. Der Körper beulte sich weiter ruckartig aus. Die streichelnde Hand ließ das mittlerweile zu schwer gewordene Tier fallen, wo es auf wackligen Pfoten den neuen, unförmigen Körper aufrecht zu halten versuchte. Unter permanenten Krämpfen streckte sich das Tier zu seiner vollen Größe und kam immer besser mit der neuen Körperfülle zurecht, denn die Pfoten hatten sich proportional zum Körpergewicht zu massigen Klauen deformiert. Müde von dieser kolossalen Verwandlung verweilte das Tier schwer atmend und mit hängendem Kopf. Es passierte lange nichts, bis Laura schon glaubte, nur ein Standbild zu betrachten, wären da nicht die immer stärker funkelnden Augen des Tieres. Es hatte eine dunkelrote, kräftige Farbe angenommen, die an Blut erinnerte. Das Tier wandte seinen geneigten Kopf dem unsichtbaren Menschen zu und öffnete sein übergroßes Maul. Zum Vorschein kamen vier mächtige Hauer. Die Augen visierten den Peiniger und der Körper duckte sich zum Sprung …
Laura wich erschrocken zurück und stieß mit Peter zusammen, der sich ebenfalls durch die entstandene Gasse gezwängt hatte. Ein spitzer Schrei entwich ihrem Mund und ließ sie schnell herumfahren. Mit großen Augen fixierte sie Peter.
»Die Ratte!«, stammelte sie atemlos.
Er beugte sich vor und legte wieder seine Hände auf ihre Schultern. Die tröstenden Worte erreichten Laura diesmal nicht, sie konnte die stumme Botschaft aber dennoch lesen. Sie musste sich nicht fürchten, das Tier würde ihr kein Leid zufügen.
Verwundert spähte Laura wieder nach vorne. Das Tier stand immer noch kampfbereit auf den Gleisen. Es war die gleiche Haltung, doch das Bild einer sprungbereiten Ratte mit überdimensionalen Hauern war nur in ihrem Kopf entstanden und nun einer genauso wuchtigen, aber passiven Version gewichen. Hatte sie sich das alles nur eingebildet? Sie fühlte sich dem Tier verbunden, so als hätten die Bilder in ihrem Kopf eine bis dato unbekannte Vertrautheit geschaffen. Laura wandte den Kopf nach rechts, um besser an Flavio vorbeischauen zu können. Die Ratte tat es ihr gleich. Ihre Augen funkelten in ihre Richtung.
»Verschwinde, du hässliche Kröte«, entwich es Laura stockend. Die Ratte schien kurz darüber zu sinnieren, ob ihr diese Bemerkung galt, quiekte mehrmals und verschwand mit einem mächtigen Satz durch die nächste Luke. Das immer leiser werdende Kratzen ihrer Krallen auf dem Zementschacht zeugte von ihrem Verschwinden. Die Menschen starrten erschrocken die leere Wandöffnung an.
Flavios lautes Räuspern riss sie alle aus ihrer Betäubung und brachte Bewegung in die Gruppe. Schweigend folgten sie den Anweisungen und formierten sich neu. Sie setzten ihre Wanderung fort, einzig die verstohlenen Blicke über die Schulter und die unnatürliche Ruhe erinnerten noch an den Vorfall. Die Beschäftigungsanwärter betraten kurz Zeit darauf die Station Hauptbahnhof Nord, wo sie von einer adrett gekleideten Delegation empfangen wurden. Flavio, als Anführer ihrer Gruppe, ging dem Stationsvorsteher mit einem breiten Lächeln entgegen.
»Danke für diese liebevolle Begrüßung«, bedankte er sich überschwänglich bei dem anderen Kollegen. Man konnte ihm seine Erleichterung förmlich ansehen. Ein bisschen irritiert, aber nicht minder erfreut, erwiderte der Gastgeber die Umarmung und vergaß dabei fast das Protokoll. Diese sah eine Aufteilung der Reisegruppe in einer kleineren Gruppe vor, unterstützt durch einen hiesigen Assistenten, welcher für die Einweisung der Neuen eintrat. Bereitwillig zerstoben die Gäste in alle Richtungen.
Das Gästezelt war zweckmäßig für die Besucher eingerichtet. Zwei harte Militärpritschen flankierten zu beiden Seiten der Zellwand einen kleinen runden Tisch in der Mitte. Links der Zeltöffnung stand ein wackeliger Kleiderständer, rechts davon ein niedriges Sideboard. Den Hauch einer persönlichen Note verströmten zwei ungleich gemusterte Decken und eine dicke kleine Kerze auf dem Tisch.
»Es wird ja nur für eine Übernachtung sein«, tröstete sich Laura über die Zweckmäßigkeit der spartanisch eingerichteten Behausung hinweg und legte sich erschöpft auf ihr Klappbett hin. Nach der aufregenden Wanderung dämmerte sie sofort weg. Peter dagegen starrte sie unter seinen buschigen Augenbrauen an. Sein Räuspern riss Laura aus ihrem Dämmerschlaf. Schnell wurde sie hellwach und blickte überrascht zum Zimmernachbarn. Ihre Augen fanden seine. Diesen Blick kannte das junge Mädchen gut. An ein kurzes Nickerchen war nicht mehr zu denken. Jetzt, wo sein schwacher Geist sich auf ein Ereignis konzentrierte, schwand die Behinderung fast gänzlich, und in seinen wachen Augen las Laura die kommende Frage.
»Wie fühlst du dich?«
»Ach, es geht.«
»Was hast du gesehen?«
»Was meinst du?«
»Was hast du gesehen?«
Laura fühlte sich unwohl in ihrer Haut. Was sollte sie ihm sagen? Dass sie bei der Geburt dieser Monsterratte durch die Augen eines Tierquälers gespäht hatte? Dass sie eine familiäre Bindung zu dem sabbernden Monster gespürt hatte? Nein, diese Blöße wollte sie sich nicht geben. Was würde ihre Großmutter von ihr denken?
»Was hast du gesehen?«
»Nichts!«
Sie sprang auf. Aufgewühlt durch Peters Hartnäckigkeit hastete sie aus dem Zelt. Er sollte ruhig versuchen, sie einzuholen mit seinem Hinkefuß, dachte sie gehässig. Was fiel ihm ein, sie so zu bedrängen? Sie war ihm keine Rechenschaft schuldig, trotz seiner Rolle als fürsorglicher Ersatzonkel, in die er über die Jahre hineingewachsen war.
Die Station beherbergte aktuell die größte Menschenansammlung der roten Linie U2. Dieser Umstand war an allen Ecken und Enden unübersehbar. Auf jeder freien Fläche standen entweder Zelte für die Besucher oder das eines Händlers, der lauthals seine Waren feilbot. Dazwischen wuselten die fahrenden Händler und die Bewohner und beanspruchten jede Lücke in der Menge auf ihrem Weg zum nächsten Ziel. Alles schien, trotz der Unordnung, einem Drehbuch zu folgen, in dem jeder seine Rolle kannte und verinnerlicht hatte. Sogar der Geräuschpegel sprengte alles Dagewesene und zwang Laura mehrmals, ihre Hände gegen diesen Lärm auf ihre Ohren zu drücken. Da die junge Frau schon zu Besuch bei den hiesigen Schwestern war, führten ihre Füße sie automatisch zum Hospiz und sie betrat den kleinen, aber sauberen Raum am Anfang der U-Bahn-Station. Auf ihrem Weg war Laura die große Anzahl Soldaten aufgefallen, die strategisch positioniert waren und die die Bedeutung des heutigen Tages unterstrichen. Kurz blitzte das Bild einer großen Ratte in ihrem Kopf auf und brachte sie ins Grübeln, ob es auch andere Gründe für diese massive Präsenz geben könnte. Auch ein weiterer Gedanke schlich sich ein und schmeckte schal.
Ich kenne diese Augen aus meinen Träumen.
Der um ihren Hals baumelnde Pass wies sie als Teilnehmerin der kommenden Bewerbungsveranstaltung aus und erlaubte ihr einen freien Zugang zu allen öffentlichen Räumlichkeiten der Station.
»Hallo. Kann ich dir helfen?« – Eine ihr unbekannte, ältere Kadettenschwester empfing sie im Vorraum.
»Hallo. Ich heiße Laura und komme vom Berliner Tor zur Lotterie. Ich bin eine Kadettenschwesteranwärterin und hoffe, meine Freundin Schwester Marie anzutreffen«
Nach ein paar weiteren Nettigkeiten begleitete sie die Ältere zu ihrer Freundin. Beide fielen sich stürmisch in die Arme und begannen sofort mit dem Austausch von Erlebnissen, welche sich seit ihrem letzten Treffen ereignet hatten. Sie zogen sich in eine ruhigere Ecke zurück, damit sie ungestört tuscheln und kichern konnten.
Die Räume der Schwestern bestanden aus mehreren kleinen Kabuffen, die als Schlafkabinen eingesetzt wurden, und einem großen Gemeinschaftsraum. Nicht üppig für die Anzahl der Bewohner, doch eben das, was den Kadettenschwestern zugesprochen worden war. Freie bewohnbare Flächen waren ein kostbares und rares Gut in diesen Tagen und deshalb sorgten die vielen liebevollen Handwerkbasteleien an den Wänden für ein Gefühl der Geborgenheit. Schwester Marie war nur zwei Jahre älter als Laura und brachte die gleiche Fürsorge für die Pflege hilfebedürftiger Menschen auf wie sie. Auf Anhieb war eine innige Freundschaft zwischen ihnen entstanden. Jedem Besuch in der Station der anderen, folgte ein Gegenbesuch, auch wenn er diesmal kürzer ausfallen würde, da gleich die Bewerbungslotterie begann. Ihr Tratsch erschöpfte sich zusehends und machte dringenderen Themen Platz.
»Wie steht es um eure Medikamentenvorräte? Wir haben seit mehreren Tagen keine neue Lieferung erhalten.«, fragte Laura hoffnungsvoll ihre Freundin. Ein bedauerndes Kopfschütteln zerstob diese allerdings. Die prekäre Situation, die sich über die rote Linie U2 gelegt hatte, zwang die hiesige Einrichtung ebenfalls zum Warten. Beide verzogen besorgt ihre Mienen. Die geplünderten Bestände in den sicheren städtischen Zonen waren schon vorher zu einem Problem geworden. Volle Lager gab es nur außerhalb des Zentrums, vor allem, wenn die dringend benötigte Ladung über den Bedarf einer Kopfschmerztablette hinausging. Die Hamburger Stalker mieden seit längerem Ausflüge in die Vororte der Stadt, nachdem mehrere Expeditionen mit einem hohen Verlust an Mensch und Material bezahlen mussten.
Um ihr Zusammensein nicht mit diesem deprimierenden Thema zu ruinieren, wandte sich der Gesprächsinhalt den Geschichten rund um ihre Heimbewohner zu. Kichernd erhellte sich sofort ihre düstere Stimmung, denn hier gab es immer lustige Anekdoten. Die ältere Schwester gab einige von ihnen zum Besten. Sie versäumte dabei nicht, sich vorher über die Abwesenheit besagter Heimbewohner aus ihren Pantomimen zu überzeugen.
Marie Dornbusch an der Felde, kurz Schwester Marie, teilte ihr Schicksal mit unzähligen anderen Jugendlichen. Sie kam in einem trostlosen muffigen Tunnel zur Welt, verlor beide Elternteile an Kummer und Verzweiflung, um dann von der Stationsgemeinde oder diversen Pflegeeltern großgezogen zu werden. Dabei hatte sie Glück gehabt, denn ihre Eltern waren Lehrer an der Gesamtschule Lüneburg und begleiteten sie bis zu ihrer Pubertät. Sie lehrten sie noch nützliche Sachen vor allem im Umgang ihrer aktuellen Situation. Gemäß dem Motto: Nur wer mental und logistisch auf einen Atomkrieg vorbereitet war, konnte ihn auch überleben. Sie trichterten ihrer Tochter ein paar Überlebensstrategien ein. Eine Regel lautete: Verlasse nicht zu früh den sicheren Bunker, um ihn gegen die verseuchte Luft an der Oberfläche einzutauschen. Dies bewahrte sie davor, mit der ersten Welle an Menschen, die es nicht mehr unter Tage aushielten, mitzugehen.
Ihre Mutter zeigte früh die Symptome. Die Ausweglosigkeit und das Wissen, nie wieder unter einem freien blauen Himmel zeichnen zu können, löschten zuerst den Glanz ihrer Augen und verdunkelten dann ihr sonniges Gemüt. Die abgemagerte Körperhülle folgte kurze Zeit darauf. Saft- und kraftlos schlief sie eines Abends ein, um nicht wieder aufzuwachen. Der Vater, der lange alles Erdenkliche unternommen hatte, seiner Frau neuen Lebensmut einzuhauchen, nahm ein Jahr später denselben Weg. Vollwaise und ohne eine Bleibe, übergab der damalige Stationsvorsteher sie in die vermeintlich wohltätigen Hände einer Pflegefamilie. Doch diese gierten nur nach den zusätzlichen Essenrationen, die eine weitere Person dem Haushalt einbrachte. Für die Bedürfnisse und Nöte einer traumatisierten Minderjährigen hatten sie weder die Lust noch das notwendige Wissen. Sich ihrem Schicksal überlassend, gelangte sie auf den täglichen Streifzügen durch die Stationen zu den Schwestern. Dort fand sie zuerst zu sich selbst, indem sie bedürftigere Bewohner unterstützte, dann zu einer neuen Familie, die sie offenen Herzens aufnahm und beherbergte. Ihre Bewerbungslotterie bestätigte sie in Form eines vollwertigen Mitglieds der Kadettenschwestern. Mit Laura gewann Schwester Marie eine Freundin, wie Seelenverwandte im Geiste.
»Sag mal, wie spät ist es eigentlich. Die Lotterie beginnt gleich. Ich muss los!«
Wie durch Zufall schlurften im selben Moment zwei ältere Damen auf ihren Gehstöcken gestützt in deren Richtung. Der Anblick versetzte Laura einen reumütigen Stich im Herzen und ließ sie gleich an ihre eigene Großmutter denken. Was sie wohl gerade so machte?
»Kinder, macht Platz für unsere müden alten Knochen. Ihr findet doch überall ein Plätzchen zum Schwatzen.«
Beide Mädchen sprangen gehorsam auf und halfen den Seniorinnen, sich auf dem Sofa niederzulassen. Dann nahm Marie Laura zur Seite und drückte sie fest an sich. »Ich muss noch ein paar Kleinigkeiten erledigen und komme nach. Ich lasse mir doch nicht deine Ernennung zur Kadettenschwester entgehen!«
Laura winkte und rannte, wie es ihre Art war, aus der Tür hinaus ins Freie. Sie hatte die Konfrontation mit Peter lange genug vor sich hergeschoben. Es war an der Zeit, sich ihm zu stellen. Sie benötigte ihn für die Lotterie, wo ein Elternteil oder ein Bürge die Rechtmäßigkeit der Identität bezeugen musste. Da Großmutter mit ihrer Beinverletzung besagte Aufgabe nicht leisten konnte, übernahm Peter per Bürgschaftserklärung dieses Amt. Langsam, fast widerstrebend, schlich Laura, um Zeit zu schinden, auf dem längsten Weg zum Zelt. Am Ende fand sie sich doch vor dem Eingang wieder, blieb aber davor stehen. Sie zierte sich, bis ihr bewusst wurde, dass sie sich kindisch benahm. Sie schob die Plane langsam zur Seite und wappnete sich innerlich gegen die erwartete Schelte. Doch nur die Kerze auf dem Tisch flackerte leicht durch den entstandenen Zug, sonst war das Zelt aber leer.
Die Freude über Peters Abwesenheit hielt nur kurz und machte einer größeren Sorge Platz, da sich ihre Situation zunehmend zu verschlechtern schien.
»Wo bist du, wenn ich dich brauche?«
Geschwind kehrte sie die halbe Strecke zurück und folgte diesmal dem anderen Gang Richtung Südseite des Hauptbahnhofes. Hier lag der ehemalige Bunker, ein Relikt des Zweiten Weltkrieges, welcher zu diesem Zeitpunkt die Verwaltungszentrale des Stationsvorsitzenden und vor allem heute, durch den geräumigen Hauptraum, als Wahllokal für die Lotterie diente. Beim Betreten merkte Laura, dass der Raum gut gefüllt war. Unruhe machte sich in ihrem Magen breit. Was, wenn sie Peter nicht rechtzeitig fand? War die Angelegenheit für sie dann schon beendet, bevor sie überhaupt begonnen hatte? Ihre Augen glitten durch den Raum auf der Suche nach ihrer Begleitung. Ihre Freundin konnte sie ebenfalls nirgends entdecken.
Auf der anderen Seite des Raumes, unbemerkt des ganzen Trubels, beobachteten zwei weitere Augenpaare die Versammlung. Als Kopfgeldjäger ging es ihnen leidenschaftslos um das Erfüllen ihres neuen Auftrages, der im Dunkel eines U-Bahn-Schachtes benannt und mit einer großen Summe an Patronenhülsen im Voraus bezahlt worden war. Die Zielperson würde an der heutigen Bewerbungsvergabe teilnehmen, war das Letzte, was der Auftraggeber ihnen noch mitteilte, bevor er um die nächste Ecke verschwunden war. Da beide schon für bedeutend weniger Geld gemordet hatten, war dieser Auftrag eine Chance, sich einen Namen in der Branche zu machen.
»Vielen Dank für euer zahlreiches Erscheinen. Ich weiß um das mühselige und auch nicht immer unproblematische Anreisen zu dieser Veranstaltung. Doch sollten wir stets auch den Nutzen vor Augen haben, vor allem in den unsicheren Zeiten, wo die Gesamtzahl unserer kleinen Gemeinde kontinuierlich abnimmt ...«. Benno Hoffmann, der Stationsvorsitzende des Hauptbahnhofes, stand aufrecht am Podest. Seine rote Tunika leuchtete elegant und ließ schlagartig die letzten Gespräche verstummen. »... Wochen wurden alle Kandidaten besucht und einem Interview unterzogen, um ...«
Die Aufregung des Tages und die Sorgen um die noch abwesende Freundin machten es Laura schwer, sich auf das Geschehen zu konzentrieren. Ihr umherschweifender Blick blieb an einem Mann rechts hinter dem moderierenden Benno hängen. Sein Name fiel ihr nicht auf Anhieb ein, aber das Gesicht hatte sie schon häufig gesehen. Sie konnte sich erinnern, dass er die rechte Hand des Stationsvorstehers und für die Sicherheit zuständig war. Schwester Marie hatte nur lobende Worte für seine Hilfsbereitschaft übrig. Seine Kleidung war zweckmäßig – Armeeuniform und solide Stiefel – und stand im Kontrast zu der seines Chefs, der in der Rolle als Schirmherr dieser Veranstaltung herausgeputzt leuchtete wie ein Goldesel.
»... Leider bringen diese unsicheren Zeiten auch von uns nicht gewollte kurzfristige Anpassungen mit sich. Ich werde somit einige von euch leider enttäuschen müssen, was den angestrebten Wunschberuf ...«