Durch die dunkelste Nacht - Hervé Le Corre - E-Book

Durch die dunkelste Nacht E-Book

Hervé Le Corre

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Beschreibung

Ein Killer – unberechenbar und von einer zerstörerischen Wut getrieben – ermordet in den Straßen von Bordeaux Frauen. Jourdan, ein desillusionierter Polizeikommandant, ist ihm auf der Spur. Dabei trifft er auf die alleinerziehende Louise, die sich nach dem Unfalltod ihrer Eltern und Jahren in der Drogenszene mühsam ein neues Leben mit ihrem kleinen Sohn aufgebaut hat.

Hervé Le Corre folgt den drei Figuren durch eine Stadt der Gewalt und verwebt ihre Wege unwiderruflich miteinander. Jede von ihnen durchlebt ihre eigene, ihre dunkelste Nacht …

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Ähnliche


Cover

Titel

Hervé le Corre

Durch die dunkelste Nacht

Thriller

Aus dem Französischen von Anne Thomas

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Traverser la nuit bei Éditions Payot & Rivages, Paris.Das Zitat von S. 43 stammt aus: Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen. Deutsch von Terese Robinson. Diogenes Verlag, Zürich 1982.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5369.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023© Éditions Payot & Rivages, Paris, 2021

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Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagabbildungen: FinePic®, München (Karte und Struktur)

eISBN 978-3-518-77769-5

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Durch die dunkelste Nacht

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Informationen zum Buch

Durch die dunkelste Nacht

Durch die dunkelste Nacht

1

Unbeweglich und düster stehen sie im bläulichen Licht, das der Regen über ihnen zerstäubt, Atemwölkchen vor den Mündern werden rasch vom trägen Wind verweht, der um die Straßenbahnschienen streicht, und sie warten, etwa ein Dutzend, starr, dick eingepackt, und halten sich von dem regungslosen Mann unter der Bank fern. Sie tun so, als ob sie woandershin gucken, in die Ferne, nach einer ankommenden Bahn Ausschau halten, oder starren aufs Handydisplay, was die Gesichter fahl und hohl wirken lässt. Es ist März, und seit Tagen hüllt der Sprühregen alles in einen ungesunden, schmutzig schimmernden Glanz.

Um 6.22 Uhr hatte eine Frau die 17 gewählt und gemeldet, dass ein Typ an einer Straßenbahnhaltestelle bei der Cité des Aubiers unter einer Bank lag, trotz der Kälte nur im T-Shirt, und besagtes T-Shirt voller Blut, also, sie glaubte jedenfalls, dass es Blut war, und der Mann rührte sich nicht, vielleicht war er tot, weshalb sie, hatte sie hinzugesetzt, lieber die Polizei rief.

Bald wenden die Blicke sich dem Blaulicht des Polizeiautos und den drei Polizisten zu, die sich beim Aussteigen wie tanzende Scherenschnitte scharf vor den grellen, unregelmäßigen Lichtblitzen abzeichnen. Man sieht, wie sie sich dem offenbar leblosen Mann nähern, er dreht allem den Rücken zu, den angewinkelten Arm unterm Kopf, als ob er im Sommer, müde von der Hitze, unter einem Baum döst. Ein Polizist fragt die Frau, die am nächsten steht, ob sie die Polizei gerufen hat, sie verneint ängstlich und zieht das malvenfarbene Kopftuch tiefer in die Stirn, dann wendet sie sich ab und guckt, ob nicht schon die weißen Scheinwerfer der Tram zu sehen sind.

Ein Polizist stößt den Mann mit der Fußspitze an, beugt sich hinunter.

»Atmen tut er.«

Sein Kollege bleibt auf Abstand, eine Hand an der Waffe im Holster. Der dritte steht weiter weg. Er sieht sich um, vielleicht neugierig, als ob er zum ersten Mal im Viertel ist, die aufgetürmten Betonklötze in der Nacht, rechte Winkel, die stocksteife Arbeiterschar im Nieselregen.

»Hey! Polizei! Hoch mit dir! Hier kannst du nicht liegenbleiben.«

Das Blut auf dem T-Shirt ist geronnen. Bräunliche Flecken, kackbraune Schlieren.

Der Polizist richtet die Taschenlampe auf den Kopf des Schlafenden. Er packt ein Ohr und dreht ihn herum, ein bartloses, rundes Gesicht mit Schmollmund wie ein schlafendes Baby. Er fordert ihn noch einmal auf, aufzuwachen, aufzustehen. »Polizei«, wiederholt er.

Schließlich streckt der Mann die Beine aus, der Polizist erhebt sich hastig und tritt einen Schritt zurück, während sein Kollege näher kommt.

»Also, ich hab heute noch mehr vor.«

Sein Funkgerät rauscht. Er macht Meldung.

»Wieder mal ein Säufer«, sagt er. »Wir nehmen ihn mit.«

Eine Art Feixen knistert aus dem Funk.

Langsam dreht der Mann sich auf den Rücken. Er reibt sich die Augen wie ein übermüdetes Kind. Nach und nach faltet er sich auseinander. Bei jeder Bewegung scheint er größer zu werden.

»Da haben wir einen Basketballer aufgegabelt. Der ist doch bestimmt zwei Meter.«

Der Polizist mit der Taschenlampe seufzt. Er leuchtet dem Typ ins Gesicht. Fahler Glanz durch halb geschlossene Lider.

»Los, hoch mit dir. Du kommst mal mit.«

Der Kerl windet sich unter der Bank hervor, stößt sich den Kopf und fasst sich an die Stirn, dann besieht er sich seine Finger.

»Vorsicht. Nachher heißt es noch, wir waren das.«

Sie helfen ihm, sich aufzusetzen. Grummelnd fährt die Tram ein. Neugierig aufgerissene Augen hinter den Scheiben. Der Typ lehnt sich an die Glaswand der Haltestelle, die Hände im Schoß, und schaut stumpf oder vielleicht auch gleichgültig um sich. Er stinkt nach Alkohol und Urin. Seine Jeans sind nass bis zu den Knien.

Der Lichtkreis der Taschenlampe wandert weiter über das runde, pausbäckige, feiste Gesicht. Ziemlich jung. Unter dem besudelten T-Shirt quillt der speckige Bauch hervor. Auf dem linken Arm ein schlecht gestochenes Tattoo. Wie man sie im Knast oder bei einem feuchtfröhlichen Abend nach einer Wette kriegt. Vielleicht ein Hundekopf. Keinerlei Anzeichen von Schlägen, keine sichtbaren Verletzungen.

»Wie heißen Sie?«

Der Mann schaut zu dem auf, der ihn das fragt. Er scheint ihn nicht verstanden zu haben.

»Your name«, versucht der Polizist es wieder.

Tränen laufen über die Pausbacken. Er wendet den Blick ab, wischt sich übers Gesicht.

»Na toll, jetzt heult der auch noch.«

»Kommt vielleicht vom Suff.«

»Bringt ihn schnurstracks aufs Revier«, kommt es aus dem Funk. »Das ist was für die Police Judiciaire.«

Sie ziehen ihn hoch. Er hält sich gut auf den Beinen, schwankt kein bisschen, anders als die anderen Säufer, die sie jede Nacht auflesen. Im Stehen ist er größer als sie. Hängende Schultern, ein bisschen gebeugt. Sie fragen sich, ob sie ihm Handschellen anlegen sollen. Ja, klar, man kann nie wissen. Widerstandslos lässt er sich die Hände auf den Rücken fesseln, langsam und schwerfällig, mit leerem Blick, sinkt er auf die Rückbank.

Auf der Fahrt scheinen der schrille Rhythmus der Sirene, das Brummen des Motors ihn einzulullen, er schließt die Augen, der Kopf sinkt ihm auf die Brust und pendelt hin und her.

Im Aufzug zu den Büros der PJ lehnt er sich ans Eisengitter, groß, breit, kräftig, und guckt von oben aus halb geschlossenen, manchmal schwerfällig flatternden Lidern auf die drei Polizisten herunter. Sie atmen durch den Mund, weil der Kerl wirklich übel riecht, nicht nur nach Urin und Alkohol, der Gestank in der Kabine ist zum Schneiden, so wie bei manchen Pennern, die sie ab und zu verhaften, wenn die auf der Straße den Mond anbrüllen oder den Regen, der auf sie runterprasselt, sich wehren oder Rückspiegel zerschlagen, vor Elend wahnsinnig, dreckverkrustet, eingehüllt in einen Geruch beinahe Toter, die Körperritzen bereits von Ungeziefer zerfressen.

Der Dienstgruppenleiter, ein Brigadier namens Roland, Jérôme Roland, fragt ihn noch mal, wie er heißt, drückt ihm mit der behandschuhten Hand das Kinn hoch, damit er ihn anschaut. Zuerst starrt der Mann ihn an, wirkt erstaunt, dann huscht sein Blick in alle Richtungen, bleibt an der Decke hängen, flackert über die anderen Polizisten hinweg, als wären sie gar nicht da, vorstehende Augen voller Tränen.

Sie führen ihn in ein Büro, wo ein junger Officier de Police Judiciaire am Computer Kaffee trinkt, ein Lieutenant namens Madec; als er aufblickt und das Mondgesicht des Verdächtigen sieht, rosige Wangen, gebrochene Boxernase, sagt er, »Oha, alles klar«, reißt gleich das Fenster auf und macht einen Stuhl frei, damit sie den Riesen hinsetzen können.

»Scheiße, betrunken ist der auch noch, riecht ihr das nicht?«

Roland hat die Mütze abgenommen, wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

»Wir riechen das seit über einer Stunde, wenn du’s genau wissen willst. Wir haben die Schnauze voll. Von allem anderen übrigens auch. Ist Jourdan nicht da? Oder die anderen?«

»Die sind wegen einem Fall unterwegs. Ich halte die Stellung und kümmere mich um die Anrufe. Wo kommt denn das ganze Blut her?«

»Musst du ihn fragen. Vielleicht verrät er’s dir. Seins ist es anscheinend nicht. Ich weiß nicht mal, ob er versteht, was wir sagen. Vielleicht ist er Ausländer oder ein Vollidiot.«

Die anderen beiden feixen. »Du bist auch so ein Vollidiot«, brummt der eine.

Der Typ hängt auf dem Stuhl und schaut sich um. Er scheint aus seiner Benebelung zu erwachen. Seine Füße scharren die ganze Zeit über die Fliesen, es knirscht. Madec schnippt mit den Fingern, aber der Mann reagiert nicht. Er starrt durchs offene Fenster in den grauen Himmel, der Mund steht halb offen, und er sieht aus wie ein kompletter Trottel.

»He, hallo! Jemand zu Hause? Geht’s jetzt wieder?«

Sein Blick verliert sich im Himmel. Die Wolken, die langsam über die Stadt ziehen.

Madec rollt einen blauen Kugelschreiber zwischen den Fingern hin und her. Er schaut zu Roland: »Also?«

Roland erzählt. Der Riese lag unter einer Bank, Tramhaltestelle Les Aubiers, voller Blut, aber weder Kampfspuren noch irgendwelche anderen Verletzungen, nada. Leere Hosentaschen, keine Papiere, nicht mal ein Straßenbahnticket. Höchstwahrscheinlich alkoholisiert. Nichts Verwendbares. Ein dummer Klotz, ein Fleischberg, den man weichklopfen muss.

Madec nickt unmerklich, mustert den in sich zusammengesackten Riesen auf dem Stuhl, der offensichtlich nur Bahnhof versteht. Keine Chance, anhand der Indizien irgendeine Hypothese zu formulieren. Er reibt die Hände aneinander, seufzt.

»Wie heißen Sie?«

Der Mann richtet sich auf, starrt vor sich auf den Boden. Er schüttelt den Kopf, hampelt so sehr auf dem Stuhl herum, dass die Metallbeine ein bisschen über den Boden kratzen. Mit erstickter Stimme und in kindlichem Tonfall murmelt er etwas.

»Was hat er gesagt?«

Die vier Polizisten tauschen verständnislose Blicke und zucken die Schultern.

»Was haben Sie gesagt?«

»Darf man nicht«, sagt der Typ.

»Was darf man nicht?«

Er zieht den Kopf ein, runzelt die Stirn, zieht einen Schmollmund.

Madec wirft seinen Kollegen einen Blick zu, sie haben die Daumen in die kugelsicheren Westen gehakt und warten. Einer tippt aufs Zifferblatt seiner Uhr und gibt ihm einen ungeduldigen Wink. Heute noch. Seufzend steht Madec auf, er lässt den Riesen nicht aus den Augen, der trotzig auf seine Füße starrt.

»Der geht jetzt erst mal in die Zelle, bis die anderen wiederkommen. Zieht ihm das T-Shirt aus, wir müssen mehr über das Blut rausfinden. Dann kann er seinen Rausch ausschlafen.«

Sie nehmen ihm die Handschellen ab und ziehen ihn hoch. Im Stehen überragt er sie, und sein Blick, der durchs Büro wandert, scheint die neue Perspektive zu verarbeiten. Madec holt eine Plastiktüte für das Beweisstück aus einem Schrank, dann geht er wieder an seinen Schreibtisch. Einer der Polizisten fordert den Typ auf, das T-Shirt auszuziehen, aber der rührt sich nicht.

»Jetzt mach hier kein Theater. Zieh das aus. Wir geben dir ein neues.«

Der Typ rührt sich nicht. Er hat den starren, ausdruckslosen, noch immer tränennassen Blick in den des Polizisten versenkt. Da verliert der Beamte die Geduld. Er zieht ihm das T-Shirt hoch, und dabei steht er ganz nah bei dem Riesen, und es entsteht ein blitzschnelles Gerangel, als ob die beiden sich auf einmal umarmen oder raufen würden, und der Polizist taumelt schreiend rückwärts, knallt gegen einen Bürostuhl, der unter ihm wegrollt, und wird gegen einen Schrank geschleudert.

Der Typ hält dessen Pistole in der Hand und fuchtelt wild damit herum, entsichert die Waffe, schiebt eine Patrone ins Magazin, klickklack. Er zielt unkontrolliert überallhin, den Finger am Abzugsbügel. Roland sagt zu ihm, was man in solchen Fällen eben sagt, »Nimm das Ding runter, mach keinen Scheiß«, wobei er ganz langsam seine eigene Pistole zieht, den Verschluss so geschmeidig öffnet, dass man das mechanische Klicken fast nicht hört. Er lässt den Arm mit der Pistole am linken Bein runterhängen, den Finger am Abzug. »Nimm das Ding runter, hab ich gesagt, wir sind zu dritt, du bist alleine, sei vernünftig.« Hinter ihm steht stocksteif und fassungslos sein Kollege. Er ist noch jung, heißt Martin, alle nennen ihn Tintin. Ein guter Polizist, sagen alle, ehrlich und direkt, und er wird zum ersten Mal mit einer Waffe bedroht, da lässt er wohl lieber seinen älteren Kollegen ran, vertraut auf die Erfahrung, doch plötzlich, warum auch immer, geht er mit ausgestreckten Händen auf den Typ zu und fordert ihn mit sanfter Stimme auf, ihm die Waffe zu geben, aber der richtet nun die Pistole auf ihn, nicht mal einen Meter vor der Stirn, die um den Griff geklammerte Faust zittert, deshalb drückt der Typ die Mündung gegen seine eigene Schläfe, wie um sie zu stabilisieren, er atmet auch ganz tief, wahrscheinlich ringt er um Selbstbeherrschung oder will sich Mut machen, man weiß es nicht, und der junge Martin, Tintin für seine Kollegen und Freunde, unbewaffnet, schreit, »Nein, tu’s nicht, sei vernünftig«, und der Typ richtet überrascht die Waffe auf Martin und schießt über dessen Schulter in den Schrank dahinter, dann hechtet er zum Fenster, alles verschwimmt im Sprühregen, und er stürzt genau in dem Moment ins Nichts, als die Kugel von Brigadier Roland ihm den Hals zerfetzt.

Madec rennt ans Fenster und sieht praktisch, wie er unten aufschlägt und in einer Pfütze aus Wasser und Blut schwach Arme und Beine bewegt, ein bereits ertrunkener Schwimmer, dann wendet er sich ächzend ab. Brigadier Roland schaut seine Männer der Reihe nach an, alles in Ordnung? Sie nicken, blinzeln, noch betäubt von den Schüssen. Der dritte Polizist, Hamache, sitzt auf dem Boden vor einem Schrank, eine Hand am leeren Holster, in der anderen Hand das blutige T-Shirt.

»Gute Arbeit, wie in Algerien«, sagt Roland zu ihm und klatscht lautlos in die Hände.

Taub und benommen, wie sie sind, kriegt keiner mit, dass fünf oder sechs Kollegen in einem Wirbel aus Geschrei, Rufen und umgestoßenen Möbeln hereinkommen, eine lärmende, bis an die Zähne bewaffnete Meute, die abrupt an der Mauer aus Schweigen und Pulvergeruch abprallt. Ein Commissaire in Hemdsärmeln und mit offener Krawatte tritt dazu. Man lässt ihn durch. Er ist sehr blass, keucht.

»Verdammt, was ist denn hier los?«

Madec erzählt. Er stottert, stammelt, berichtigt sich, und die anderen drei stehen um ihn herum, nicken, bestätigen, erklären. Der Commissaire lehnt sich aus dem Fenster, sagt, »Tja, rausfallen kann der Trottel ja nun nicht mehr«, dann dreht er sich um, »Alle raus hier, Tatort sichern, ich will hier niemanden mehr sehen, Herrgott«, und macht einen Schritt zur Seite, um nicht auf eine Patronenhülse zu treten.

Und während die Polizisten langsam und tuschelnd aus dem Büro gehen, heult draußen der Wind und ohrfeigt mit großen nassen Händen die Fenster.

2

Sie hatte auf dem Boden gesessen, und der Hund war knurrend auf sie zugerannt. Ein riesiger Hund mit gelben Augen, mächtiger, plattgedrückter Schnauze, der ihr die labberige, lauwarme Masse gegens Gesicht drückte, ihr Mund und ihre Augen wurden nass von dem großflächigen Geschlabber. Ab und zu spürte sie seine Zähne, die anscheinend an ihr herumkauen wollten, aber sie hatte die ganze Zeit Angst, dass er das Maul aufreißen und ihr das Gesicht zerfetzen würde, weil aus der Kehle des Kolosses ein dumpfes, tiefes Knurren drang, bei dem das ganze Tier bebte. Eine zierliche Brünette stand ein Stück weiter weg und rief ohne jede Autorität nach dem Tier, sie wirkte besorgt, redete aber gleichzeitig beruhigend auf Louise ein. »Keine Angst, er ist ganz lieb.« Aber sie hatte schon keine Stimme mehr, so oft hatte sie gerufen.

Da waren auch die beiden anderen Hunde. Klein und hässlich. Sie kläfften, standen so dicht beieinander, dass man hätte meinen können, sie wären zu einer Kreatur mit zwei kleinen spitzen Köpfen mit rosa Ohren verschmolzen. Die großen, runden, hervorstehenden Augen, kurz davor, aus den Höhlen zu springen, kurz vorm Zerplatzen vor lauter Angst. Trotz ihres eigenen Entsetzens fürchtete Louise, dass das Monster sich auch auf die beiden stürzen und sie zerreißen könnte, und sie fragte sich, warum es nichts tat und ihr weiterhin das Gesicht abschleckte. Sie zwang sich, den gewaltigen Brustkorb wegzuschieben, der über ihr zitterte, aber sie hatte keine Kraft und stieß schließlich einen Schrei aus.

Sie ist aufgewacht und hat sich sofort angeekelt mit dem Betttuch die trockene Wange gerieben. Einen Augenblick lang ist sie auf dem Rücken liegen geblieben, hat an die Decke gestarrt, das verschwommene Viereck im grünlichen Schein des Radioweckers erahnt, gewartet, dass die Angst des Traums sich verflüchtigt und ihr Herz sich beruhigt. Sie hat auf die Uhr gesehen – 5.52 Uhr – und gewusst, dass sie nicht wieder einschlafen würde. Hat Laken und Decke zurückgeschlagen und sich auf die Bettkante gesetzt, fröstelte in einem ihrer alten T-Shirts, die sie am Ende als Nachthemden verwertete, schon jetzt müde, obwohl sie sieben Stunden durchgeschlafen hatte, müde, wenn sie an den gestrigen Tag dachte und an den, der vor ihr lag. Mühsam ist sie aufgestanden, ihr war ein bisschen schwindelig, und sie verzichtete darauf, die Nachttischlampe anzuschalten, weil sie fand, dass die Dunkelheit sie noch ein wenig wiegte, die Nacht sie noch ein wenig im Arm hielt und ihr unhaltbare Versprechen von Erholung zuflüsterte. Tastend fand sie auf dem Stuhl eine Jogginghose, die sie an die Kommode gelehnt überstreifte, dann schlüpfte sie in einen alten, zu großen Pullover, der ihr schwer und weich auf die Schultern fiel. Sie fuhr in die Espadrilles, die als Pantoffeln dienten, und ging in den Flur. Der Geruch von ungemachtem Bett, von Schlaf folgte ihr ins Dunkel. Sie linste durch die angelehnte Tür in Sams Zimmer, lauschte seinem ruhigen Atem und lächelte, als sie sein schwarzes verwuscheltes Haar sah, das bläulich angehaucht vom Nachtlicht unter dem Laken hervorlugte.

Ohne Licht zu machen, setzte sie sich auf die kalte Klobrille. Die Müdigkeit nutzte das aus, kroch ihr auf die Schultern und krümmte ihr das Rückgrat, und sie wusste, wenn sie noch dreißig Sekunden so sitzen blieb, würde sie hier einschlafen, mit nacktem Hintern, im Dunkeln, die Unterarme auf den Oberschenkeln, in den Ausdünstungen ihres erwachenden Körpers.

Mit einem Ruck steht sie auf, dann geht sie im Getöse der Spülung in den Flur und fürchtet, der Krach könnte den Kleinen aufwecken. Sie vergewissert sich, dass die Wohnungstür abgeschlossen ist, ehe sie einen Blick aus dem Küchenfenster wirft. Im schmutzigen Licht der Straßenlampen sieht sie nur ordentlich abgestellte Autos auf dem Parkplatz, nichts, was sie beunruhigen müsste. Es hat geregnet, alles glänzt schmutzig trüb. Der Himmel tut sich schwer mit dem Aufklaren, bläulich und grau wie eine Stahlplatte.

Im Badezimmer blendet sie das Licht, sie senkt den Blick und starrt runter ins Waschbecken, die Haare fallen ihr vors Gesicht wie ein kleiner Schleier. Als sie sich aufrichtet, ist nicht zu übersehen, dass ihr Gesicht über Nacht aufgedunsen ist, eine Falte vom Kopfkissenbezug hat sich quer über die Wange eingegraben. Sie spritzt sich kaltes Wasser ins Gesicht, kühlt den verspannten Nacken, als hätte eine Hand sie stundenlang herunterdrücken wollen, so dass sie gegenhalten musste.

Sie steht in der Wanne und wartet, dass das warme Wasser im Duschkopf ankommt. Sie fröstelt, als sie auf Zehenspitzen tänzelnd den eiskalten Spritzern ausweicht, die ihre Knöchel benetzen. Allmählich geht das Hämatom auf dem rechten Oberschenkel zurück, färbt sich grünlich, und sie muss an den alten Lacombe denken, den sie eines Montagmorgens vor seinem Bett auf dem Boden gefunden hatte, die Haut hatte stellenweise bereits diese unheimliche Farbe angenommen, seit drei oder vier Tagen lag er tot bei sich zu Hause.

Also reibt sie den Oberschenkel, will die Durchblutung anregen, den morbiden Abdruck verschwinden lassen, aber sie weckt nur den Schmerz des geschundenen Muskels, Tränen der Wut und der Hilflosigkeit in den Augen. Andere Stellen tun ihr immer noch weh, am Rücken, an den Seiten, und sie seift sie sanft und behutsam ein, lässt ganz heißes Wasser darüberlaufen, als könnte sie ihren Körper betäuben, die Blutergüsse tilgen, die sie noch zeichnen.

Sie erinnert sich, dass sie sich irgendwann aufs Sofa fallen gelassen und zu einem Bündel zusammengerollt hatte, Gesicht und Busen schützte, die nicht mehr ganz so schwungvollen, abgeschwächten Fußtritte einsteckte, erinnert sich an das Hämmern der Fäuste auf Arme und Rippen. »Ich mach dich fertig«, brüllte er, und sie hatte wirklich geglaubt, er würde am Ende ihren Brustkorb zertrümmern und in ihr herumwühlen, um ihr das Herz rauszureißen. Bilder aus Filmen schossen ihr durch den Kopf, wo Gewalttäter mit bloßen Händen Wände oder Türen einschlugen, und sie hatte sich vorgestellt, wie sie explodierte, wie er bis zum Handgelenk in sie hineinschlug, um das Massaker zu vollenden.

Beim Gedanken an den Kleinen, der völlig verängstigt in seinem Zimmer leise hinter der Tür weinte, wie jedes Mal, hatte sie die nötige Kraft und den Atem gefunden, einen tierischen Schrei auszustoßen, markerschütternd und heiser. Sie hatte seinen Namen gehaucht, Lucas, und er war bis zum Sessel hinter sich zurückgewichen, hatte ihn nicht gesehen und wäre beinahe hineingefallen. Er konnte sich gerade noch abfangen und stand reglos, keuchend, wohl auch verblüfft da, die kräftigen Hände an den hängenden Armen zitterten. Er hatte sich umgesehen, vielleicht etwas gesucht, das er zerschlagen oder mit dem er nach ihr werfen konnte, dann hatte er den Kopf geschüttelt und war fluchend aus dem Zimmer gegangen.

Er hatte die Wohnungstür lautlos zugezogen, nicht geknallt, ganz gegen seine Gewohnheit, so dass sie sogar geglaubt hatte, er lauere noch im Flur, würde sich wieder auf sie stürzen, und so hatte sie sich nicht gleich getraut, aufzustehen, hatte nicht mal die schützende Embryohaltung aufgegeben.

Sie steht immer noch in der Badewanne und merkt, dass sie sich mechanisch weiter abreibt, dabei ist sie längst trocken, und es kostet sie eine ungeheure Willensanstrengung, aus der Starre rauszukommen, über den Wannenrand zu steigen und sich vor dem Spiegelbild wiederzufinden, nackt, zerbrechlich, allein, einen bitteren Zug um den Mund, in diesem Licht, in dem die Knochen hervortreten und das die bleiche Haut aushöhlt und ihr diesen unsicheren Leib zeigt, womöglich kurz vorm Zusammenbrechen, wie eine große Puppe, bei der man die Luft rauslässt.

Sie zieht sich eilig an und beendet die Körperpflege, indem sie ihr Gesicht mit einer Lotion reinigt, die Frische, der zarte Duft tun ihr gut, sie reibt die Haut unter den Augen, bis sie sich rötet, als könnte sie so die feinen Linien ausradieren, die die Nacht ausnutzt, um jede Schramme des Tages noch tiefer einzugraben. Die Tagescreme lässt die Haut unter ihren Fingern einen Augenblick lang zarter wirken, jünger, und sie sucht im Spiegel nach ihrem Gesicht als junges Mädchen.

In der Küche isst sie ein Stück Brot, dick mit Marmelade bestrichen, und tunkt es in eine Schale schwarzen Kaffee. Die Wärme in der Kehle, in der Speiseröhre macht sie endgültig wach, und sie dreht sich eine Zigarette, raucht sie auf dem Balkon, erstaunt, wie mild es ist. Der Himmel wird allmählich heller. Vereinzelte Sterne blitzen noch durch die Wolken. Als weiter hinten auf dem Parkplatz eine Autotür zuknallt, zuckt sie zusammen, dann gehen die Scheinwerfer an und das Fahrzeug entfernt sich langsam. Sie sieht ihm nach, bis es zwischen zwei Häusern verschwindet, seufzt auf und stößt den Rauch aus, als hätte sich eine vage Bedrohung aufgelöst. Sie drückt die Kippe in einem Blumentopf aus, den sie als Aschenbecher nutzt, und stützt die Ellbogen auf die Brüstung, lässt wirre Gedanken auf sich einströmen. Mit Sam von hier weggehen, sich woanders ein ruhiges Leben aufbauen, in Sicherheit. Ein Studium anfangen. Grundschullehrerin werden. Aber da sind ihre Toten. Sie wäre dann weit weg von ihnen. Würden sie hören, wenn sie mit ihnen spricht? Kleines Dummchen. Tote hören gar nichts. Der Beweis: Sie antworten nie. Du sprichst immer nur mit dir selber, wenn du sie anrufst. Du glaubst, das tröstet dich.

Warum seid ihr nicht da?

Sie reißt sich aus ihrer Betrachtung, als sie sich fragt, wie spät es wohl ist, und geht rein, guckt auf die Wanduhr über dem Kühlschrank. Sie stöhnt unwillig, als sie sieht, dass die Zeiger bei 3.17 Uhr stehengeblieben sind, wie schon gestern, wie schon letzte Woche und in der Woche davor, denk doch mal dran, Batterien zu kaufen, du blöde Kuh, das will sie sich aufs Handgelenk schreiben, auf der Arbeitsfläche neben einem Haufen Post-its liegt ein Kuli, und weil der nicht mehr gut schreibt und nur Spuren ausgetrockneter Tinte hinterlässt, drückt sie stärker auf, graviert rote Striemen in die weiche Haut ihres Unterarms, für ein paar Sekunden packt sie die Lust, sich zu verletzen, das Blut kommen zu lassen, und sie verschluckt sich fast vor Entsetzen, wirft den Stift von sich wie einen unheilvollen Gegenstand voll böser Absichten.

Als sie nach dem Handy greift, um auf die Uhr zu sehen, vibriert es. Drei neue Nachrichten.

Ich liebe dich so wahnsinnig. Ich denk die ganze Zeit nur an dich. Wir müssen reden.

Das Display zeigt 6.30 Uhr, und sie merkt, wie die Beine unter ihr nachgeben. Sie lässt sich auf den nächstbesten Stuhl fallen, ein bitterer Kloß steigt ihr im Hals hoch, den zwei Schluchzer nicht vertreiben können, dann fängt sie an, lautlos zu weinen, den Kopf auf den verschränkten Armen, und ihr Körper scheint sich aufzutrennen, in sich aufzulösen, so lange, bis auf der Sitzfläche des Stuhls vielleicht nur noch ein Häufchen zerknitterter Haut von ihr übrig ist, das wie ein unnützer Anzug dort vergessen wurde. Sie hat Angst, zu verschwinden, und wünscht sich gleichzeitig nichts sehnlicher in diesem Moment, lauert mit beinahe ungeduldiger Neugier auf den Prozess, der sich da ihrer Meinung nach in Gang gesetzt hat, wie ihr Körper, ihr ganzes Sein durch eine Bresche ins Nichts hineingezogen und aufgesaugt wird.

Sie richtet sich auf, die Schultern zucken noch immer, wischt mit einer Serviette ab, was ihr aus der Nase über Mund und Kinn läuft, dann steht sie auf und holt sich ein Küchentuch, schnäuzt sich. Sie dreht den Wasserhahn auf und hält das Gesicht unters kalte Wasser, trinkt zwei Schlucke, dann fährt sie sich mit der nassen Hand über den Nacken. Ein heftiger Schauer läuft ihr über den Rücken, bis hinunter zum Steißbein, und sie haut sich mit den flachen Händen auf die Wangen, gibt sich heftige, klatschende Ohrfeigen, beißt die Zähne zusammen, um den Schmerz auszuhalten.

Leises Türknarren. Sie beruhigt ihren keuchenden Atem und horcht. Es gelingt ihr, die Schritte seiner nackten Füße auf dem Teppich wahrzunehmen. Sam läuft immer barfuß. Sie macht sich Sorgen, dass er sich erkältet, und wenn sie ihm das sagt, zuckt er mit schiefem Lächeln die Schultern und blinzelt genervt mit den Augenlidern. Das macht er oft. Seine Knochen wölben sich unter dem T-Shirt, als wären ihm Flügel gewachsen. Mein braunhaariger Engel mit den sanften Augen. Die langen schwarzen Wimpern, so zart wie Schmetterlinge. »Das macht doch nichts«, sagt er manchmal mit leicht heiserer Stimme. Dann muss sie ihm Recht geben. Fühlt sich plötzlich, als ob sie schwebt, ganz leicht nach diesem Spruch des kleinen Zauberers. Das macht doch nichts.

Blinzelnd kommt er in die Küche, reibt sich die Augen. Kratzt sich durchs Oberteil seines Superman-Schlafanzugs unten am Rücken. Sie breitet Arme und Beine aus, und mit gesenktem Blick schmiegt er sich mitten in sie hinein. Er drückt den Kopf gegen ihre Brust. Sie küsst ihn aufs Haar. Spürt, wie die Wärme seines federleichten Körpers in sie hineinströmt, und ihr ist, als ob sie ein Stück Ewigkeit stibitzt, etwas Absolutes, das sie nicht benennen kann. Vielleicht ein Einschub jenseits von Zeit und Raum.

Er verschlingt schmatzend sein Müsli und wirft ihr dabei ab und an einen verstohlenen Blick zu, weil er weiß, dass sie das nicht leiden kann. Sie guckt ihn streng an, und er kichert still in sich hinein, die Nase tief über der Schüssel.

Er träumt vor seinem Kakao herum, weil der noch zu heiß ist. Er sagt nicht viel. Gähnt, verliert einen Hausschuh, verrenkt sich, um ihn ohne Aufstehen aufzuheben. »Wann sind Ferien?« Louise weiß es nicht so genau. »Ich glaube, nächsten Monat. Beeil dich, wir kommen noch zu spät.« Also pustet er mit aufgeblasenen Backen ein paarmal auf die Schale, täuscht plötzliche Eile vor, dann trinkt er in langen Schlucken, gefolgt von einem geräuschvollen Aufatmen, ehe er sich mit dem Handrücken über den verschmierten Mund fährt.

Vor der Schule herrscht die übliche Hektik, schwatzende Eltern, während die Kinder krähend in der Eingangshalle verschwinden. Louise grüßt zwei, drei andere Frauen, sie tauschen die rituellen Höflichkeitsfloskeln aus, Wie geht’s, Und Ihnen, ich muss los, bin spät dran, es soll Regen geben, so langsam reicht’s mir mit dem Wetter. Wie jeden Morgen zieht Sam sie an sich und flüstert ihr etwas ins Ohr, sie versteht nie, was er sagt, und er weigert sich immer, es ihr zu erklären. »Das ist geheim«, sagt er jedes Mal, wenn sie ihn fragt, was es bedeutet. »Ich erzähl’s dir, wenn ich groß bin.« Sie überhäuft ihn mit den üblichen Ermahnungen und küsst ihn auf den Kopf, dann sieht sie ihm nach, wie er sich zu drei Jungen gesellt, die anscheinend auf ihn gewartet haben und ihn mit verschwörerischem Blick empfangen, dann nehmen sie ihn mit, legen einander die Arme um die Schultern und zeigen ihm etwas, alle beugen sich darüber, so gehen sie, gebückt und solidarisch, wie ein Zwergengedränge ohne Rugbyball.

Louise geht die Straße entlang, das Flüstern ihres Sohnes im Ohr, ein undeutliches Abrakadabra, so dass sie kurz überlegt, ob dieses Kind womöglich ein Zauberer ist, dessen Gabe noch in den Anfängen steckt und bewahrt und gefördert werden muss.

Mit einem wohligen Seufzer setzt sie sich hinters Steuer, Beine lang, Augen zu, und lehnt sich in der feuchten Kühle zurück, die die Heizung noch nicht vertreiben konnte. Sie zieht ihre Daunenjacke fest um sich und bleibt so sitzen, eingekuschelt, die Arme um sich geschlungen, und das Verlangen, auf der Stelle einzuschlafen, und sei es für zehn Minuten, wird so übermächtig, lockt sie in die Tiefen des Schlafes wie bei einem sanften Gefälle, wenn sich im Gehen die Müdigkeit auflöst, dass sie sich mit einem angestrengten Knurren aus ihrer eigenen Umarmung reißen muss, um sich gerade hinzusetzen und das Auto anzulassen. Feiner Regen bestäubt die Windschutzscheibe, und sie hat das Gefühl, dass die quietschenden Scheibenwischer bei jedem Schlag die Farben verwischen, als ob der Himmel allmählich sein Grau in den Straßen versprüht.

Sie beobachtet ein dunkelblaues Auto im Rückspiegel, das viel zu dicht auffährt, kann weder Marke noch das Gesicht des Fahrers erkennen, weil durch den Regen alles verschwommen ist und der Scheibenwischer nutzlose Bögen in die klebrige Schmutzschicht der Heckscheibe kratzt. Lucas hat gesagt »Bis heute Abend«, aber es sähe ihm ähnlich, irgendwann aus dem Nichts aufzutauchen und sie entweder zu bedrohen oder anzubetteln, je nach Tag, Uhrzeit oder auch je nachdem, was er kurz vorher getrunken oder eingeworfen hat. Sie durchwühlt ihre Handtasche nach dem Pfefferspray, das sie immer dabeihat, wird endlich fündig, es steckte unter einem Seidentuch, das ihrer Mutter gehört hat. Sie legt es auf den Beifahrersitz, ohne das Auto hinter sich aus den Augen zu lassen. Plötzlich schießt ein junger Radfahrer in einem nass glänzenden schwarzen Cape hinter einem Transporter hervor, der in zweiter Reihe parkt, und sie muss einen Schlenker machen, um ihm auszuweichen. Sie verflucht den Kerl, haut mit der Faust auf die Hupe. Als sie in den Rückspiegel sieht, ist das dunkelblaue Auto verschwunden, und zwei bebende Schluchzer befreien sie von der drückenden Beklemmung auf der Brust.

Sie fährt bald eine halbe Stunde in den ungewissen, vor Pfützen glänzenden Tag hinein. Träge Perlen rinnen über die Autoscheiben, ehe sie zerspringen und läppische Spritzer zurücklassen. Irgendwann ist sie genervt von den immergleichen Kurznachrichten jede Viertelstunde inmitten des Stroms aus Kommentaren und Kolumnen und schaltet das Radio aus, und in der relativen Stille, die ihr in den Ohren dröhnt, hat sie das Gefühl, dass die Außenwelt sich gerade entfernt und bald ganz verschwunden sein wird. Wie gern würde sie die Umgehungsstraße entlangrasen, endlich allein, einzige Überlebende einer furchtbaren Katastrophe, und sofort umkehren können, um Sam zu holen, der es geschafft hätte, sich irgendwo zu verstecken.

3

Die Wohnungstür war nicht abgeschlossen gewesen. Jourdan war als Erster reingegangen, blieb auf der Schwelle stehen und roch, gemischt mit Pulvergeruch, den Kaffeeduft aus der Küche rechts von ihm, er konnte die Hängeschränke über den Arbeitsflächen sehen. Rot lackierte Türen. Eine Packung Toastbrot, eine Schachtel Cornflakes für Kinder mit einem Bärchen drauf, es hatte eine große Schnauze und leckte sich genüsslich die Lefzen. Hinter sich hörte er die Nachbarin von gegenüber heulen, die die Schüsse gehört hatte, fünf oder sechs, und dem mordenden Vater, Waffe in der Hand, im Treppenhaus begegnet war, sie wiederholte immer wieder, »Das ist ja schrecklich, mein Gott, wie furchtbar«, während Elissalde ihr riet, sich zu setzen, gleich hier auf die Stufen, »Bitte bleiben Sie hier, lassen Sie uns unsere Arbeit machen«.

Jourdan wartet vielleicht dreißig Sekunden, ehe er sich in den Flur traut, auf dem Boden PVC-Belag in Parkettoptik, und er ertappt sich, wie er das täuschend echte Motiv genauer anschaut, sich fragt, wie sich das wohl bei ihm zu Hause machen würde. Er schaut hoch zur Decke, ins gelbliche Licht einer Hängelampe mit hellblauem Lampenschirm.

Er sieht sich all das an, um nicht sehen zu müssen. Er hört Corines Atem im Rücken, unterbrochen von mühsamem Schlucken, und merkt, dass sie ihm die Hand auf die Schulter gelegt hat. Lieutenant Corine Berger, genannt Coco. Eine Koryphäe im Strafrecht und bei Gerichtsverfahren. Sie hat schon zwei Schwergewichtsanwälte, die im Ring um sie herumtänzelten, k.o. geschlagen. Jourdan weiß nicht so genau, was sie hier macht. Sie war im Büro, als der Anruf kam. Über Funk die Meldung, dass der Spurensicherungs-Transporter in zehn Minuten da ist. Jourdan holt das Handy raus und schießt drei Fotos vom Tatort. Dann noch zwei mit Blitz. Bei dem, was das weiße Licht dem Halbdunkel entreißt, fängt sein Herz wie unter Strom an zu hämmern.

Also zieht er Handschuhe an und geht rein. »Bleib hier bei ihr«, hört er Elissalde zu Corine sagen. »Ich geh.« Er schließt die Tür hinter sich.

Die Leichen der Kinder liegen an der Wand und weisen zum Badezimmer, wo die Mutter erschossen worden ist, als sie aus der Dusche kam, wahrscheinlich hatte sie die Schüsse gehört, trotz des kleinen Kofferradios auf einem Schrank, das noch immer sein Gequassel verbreitet. Jourdan schaltet es aus.

Drei Kinder. Acht, fünf und drei, ungefähr. Zwei Mädchen, noch im Schlafanzug. Zeichentrickprinzessinnen auf dem Rücken, blutbespritzt. Ein Junge, der Älteste, trägt Jeans und ein Trikot vom FC Barcelona. Jourdan konzentriert sich darauf. Er spricht seine Beobachtungen halblaut ins Handy. Sie liegen auf dem Bauch, Gesichter zur Wand. Der Junge wurde zweimal getroffen. Erst am Rücken, dann am Nacken. Blut auf dem Boden, an der Schwelle zum Wohnzimmer, auf dem Küchentisch. Blutige Schlieren auf der Badezimmertür, an der Klinke. Das Kind hatte sich wahrscheinlich zu seiner Mutter flüchten wollen, nachdem seine beiden Schwestern ermordet worden waren. Jourdan zwingt sich, den Hergang zu rekonstruieren. Der Junge rennt schreiend, vielleicht auch stumm vor Entsetzen, los, will zu seiner Mutter. Weil er sich bewegt, trifft der Vater ihn am Rücken, er fällt gegen die Tür, anschließend erschießt ihn der Vater praktisch aus nächster Nähe.

»Er hat sie umgedreht«, sagt Elissalde. »Damit er die Gesichter nicht sehen muss. Scheiße, eine Kugel in den Nacken. Das ist doch nicht wahr, oder?«

»Vieles ist nicht wahr.«

Jourdan schwitzt an den Händen in seinen Handschuhen. Er hat das Gefühl, dass seine Finger anschwellen, als ob sie im eigenen Saft kochen.

Er schaut auf die drei Kinder. Der Vater hat sie hintereinander gelegt, die Arme längs am Körper.

Elissalde hustet. Ringt nach Luft. Er seufzt. »Scheiße«, sagt er noch mal leise. »Gottverdammtes Arschloch.« Er geht ins Bad und bleibt vor dem Waschbecken stehen.

»Die Mutter hat er nicht angefasst.«

Die Frau war von dem Einschlag der Kugel zurückgeworfen worden und vorm Heizkörper zusammengesackt, mit verdrehtem Hals, die Beine gespreizt. Die Kugel ist ins linke Auge eingedrungen. Ein Steckschuss.

Elissalde geht vor der Leiche in die Hocke.

»Sieht aus wie eine .22er.«

»Stimmt.«

»Der ist mit der Waffe abgehauen. Der wird sich irgendwo die Birne wegblasen.«

»Wir wollen’s hoffen. Nicht, dass der auch noch den Rest der Familie abknallt.«

Jourdan geht aus dem Bad. Er kann nicht verhindern, dass sein Blick auf die toten Kinder fällt, und muss einfach an Barbara denken, er sieht sie wieder vor sich, damals, die reglosen Füße auf den Dielen, die hinter dem ungemachten Bett am offenen Schlafzimmerfenster hervorguckten. Sie hatte ihm Angst machen wollen, und Angst hatte er bekommen, in ihm war etwas eingestürzt, das hatte er gespürt, wie Felsbrocken, die sich von Berghängen lösten, Entsetzen wie ein furchtbares, verheerendes Erdbeben, das die Landschaft für immer veränderte.

Er hatte sie grob hochgezogen, unfähig, irgendetwas zu sagen, und er hätte sie geschlagen, wenn ihm nicht plötzlich der Atem gestockt hätte, ihn zwang, sich aufs Bett zu setzen, während sie sich weinend an ihn schmiegte, es wiedergutmachen wollte und seinen Hals mit Tränen und Küssen benetzte.

Er geht einmal durchs Wohnzimmer, erfasst die Möbel, Nippes, Souvenirs aus Spanien, Flamenco-Puppen in einer Vitrine, Zierteller mit Stierkampfszenen auf einem Aufsteller. Bei einer Reihe Bilderrahmen, aus denen ihm Kinder entgegenlächeln oder vor Lachen prusten, hält er inne, sie tragen Papierhüte, eine glückliche Familie. Daneben Vater und Mutter am Tisch, eine Torte mit Kerzen vor sich. Zehnter Hochzeitstag. Jourdan nimmt das Foto aus dem Holzrahmen und macht ein Foto von dem Mann, dann leitet er es für die Fahndung ans Büro weiter. In einer Schublade findet er Personalausweise von Virginie Dedieu sowie von Chloé, Laura und Léo Caminade, sie tragen den Nachnamen ihres Vaters Cédric, fünfunddreißig.

»Ist er das?«

Jourdan hat Elissalde nicht reinkommen gehört. Fast wäre er beim Klang der Stimme direkt neben ihm zusammengezuckt.

»Eigentlich ein netter Kerl. Das werden die Nachbarn sagen. Freundlich, hat immer gegrüßt, gefragt, wie’s geht, hilfsbereit. Der ideale Nachbar, trägt alten Damen die Einkaufstüten hoch. Genau wie mit den Terroristen. Stets zuvorkommend, lächeln immer freundlich. Nie im Leben hätte man sich vorstellen können, dass die mal wahllos auf dem Bürgersteig in die Menge ballern.«

»Komm, lass stecken«, sagt Jourdan. »Ist gut jetzt.«

Er legt die Ausweise von Mutter und Kindern zurück, behält den des Vaters, stellt das Foto wieder hin, auf den jetzt dem Staub geweihten Altar, dann mustert er die Gesichter derer, die sterben mussten, und auf einmal packt ihn der Drang, den ganzen Krempel mit dem Handrücken vom Schrank zu fegen, den falschen Schein heidnischer Verehrung der Heiligen Familie kaputt zu schlagen. Er hält sich an der Anrichte fest und dreht sich zu Elissalde, der durchs Zimmer wandert und schließlich an der Glasfront vorm Balkon stehen bleibt. Pflanzen vegetieren in den Blumenkästen am Geländer vor sich hin. Die Blätter beben in Regen und Wind.

Unruhe auf dem Treppenabsatz lockt sie in den Hausflur. Zwei Mitarbeiterinnen von der Spurensicherung stehen vor der Tür, sie tragen sterile Schutzanzüge, schleppen sich mit ihren Koffern ab. Die Gerichtsmedizinerin legt letzte Handgriffe an, ihr Mondgesicht steckt bereits in der Kapuze.

»Also?«

Jourdan macht die Tür weit auf. Die drei Frauen halten kurz inne, ehe sie hineingehen. Als würden sie einen Tempel betreten. Eine der Technikerinnen, Camille, atmet plötzlich hörbar durch den Mund, als ob sie in eiskaltes Wasser eintaucht.

Jourdan wendet sich Elissalde zu.

»Übernimmst du?«

Elissalde nickt. Er streift Überzieher über die Schuhe, nimmt das Notizbuch aus einer Tasche. Der Rest des Teams ist da. Bernie, Greg, Clément. Zu Hause angepiepst. Jourdan umreißt kurz die Lage. Ihre starren, glänzenden Blicke sind auf ihn gerichtet. Bernie hat drei Kinder ungefähr im selben Alter. Zehn Sekunden lang sagt niemand was. Das ganze Mietshaus rauscht vor unterdrücktem Getuschel. Polizeibeamte halten Schaulustige zurück. Ab und zu müssen sie laut werden, weil manche die Inspecteurs sprechen wollen.

Jourdan verteilt die Aufgaben. Wohnungsdurchsuchung, das Umfeld, Familie und Freundeskreis. Er muss zurück aufs Revier, um die Ermittlungen zu koordinieren. Nicht die geringste Lust, auf den Staatsanwalt zu warten. Er zieht Corine hinter sich her ins Treppenhaus.

»Nehmen wir nicht den Fahrstuhl?«

Ein Stockwerk tiefer stoßen sie auf eine Traube Schaulustiger, sie palavern im Flur und werden von einem Polizisten in Schach gehalten. Ein Typ kommt auf Jourdan zu, sobald er die Armbinde sieht. Groß, massiv, glatzköpfig. Er trägt ein Metallica-T-Shirt und Jogginghosen. Und Latschen an den Füßen.

»Erfahren wir vielleicht mal, was hier los ist?«

Jourdan macht einen Schritt auf ihn zu. Er wartet, bis Corines Absätze nicht mehr auf den Stufen klackern.

»Drei tote Kinder, plus die Mutter. Reicht Ihnen das? Da sollte das Gespräch doch eigentlich wieder in Gang kommen, oder?«

Jourdan dreht den Leuten den Rücken zu und geht weiter die Treppe runter.

Der Mann murrt vor sich hin. »Wir wohnen hier, verdammt noch mal, da wird man uns wohl informieren können!«

Jourdan bleibt stehen, dreht sich um, nimmt drei Stufen und tritt so dicht an ihn heran, dass er den Mundgeruch riecht. Tabak und Zahnstümpfe. Der Mann weicht einen Schritt zurück. Rote, tränende Augen mit schweren Lidern.

»Da wird eine Wohnung frei. Bald kriegen Sie neue Nachbarn. Das ist doch mal eine Information.«

Am Ende geht er mit steifen Beinen und zitternd vor Wut die Treppe runter. Er findet keine anderen Worte, um seinen Zustand zu beschreiben. So fühlt er sich oft. Zitternd, das Herz rast. Oft für nichts und wieder nichts. Er kann gar nicht mehr anders. Versuchen, zu verstehen. Überlegen. Ihm ist, als wäre im Laufe der Zeit etwas in ihm abgestorben, abgefallen, und nun wäre lediglich noch ein schmerzender emotionaler Stumpf übrig. Ein wunder Stumpf. Das hat nichts mit dem Idioten zu tun, der ihn gerade angegangen ist. Aber da sind die drei toten Kinder. Diese Frau unterm Fenster, zurückgeschleudert, nackt, zusammengesackt, mit einer Kugel im Kopf. Im Auge, als hätte ihr Mörder sie hässlich machen wollen, so, wie er sie vielleicht selber sah. Dieser Kerl, Vater und Ehemann auf der Flucht, den es aufzuspüren galt in dem Bau, wo er sich versteckt hielt, oder man müsste ihn vom Lenkrad seines Wagens kratzen, den Schädel von der letzten Kugel zerfetzt, oder ihn aus einem Wasserloch fischen, in das er hinterrücks gefallen war, vom Einschlag zurückgeworfen, ohne begriffen zu haben, was ihn zum äußersten Ende der eingestürzten Brücke getrieben hatte, die sein Leben vielleicht gewesen war. Jourdan weiß nicht, was Männer ins Verderben stürzt. Er will es auch gar nicht mehr wissen. Daher die Wut als einzige Reaktion auf unlösbare Fragen. Letzter Ausweg, ganz hinten in der Sackgasse.

Wut, weil man sich da wenigstens lebendig fühlt, weil es nicht so wehtut wie Traurigkeit.

Er tritt aus dem Haus in den Wind und den Regen, und er hält das Gesicht ins schlechte Wetter und schaut hoch zu der grauen Decke, die ihm in die Fresse spuckt.

Corine stellt sich dicht neben ihn.

»Willst du hier Wurzeln schlagen?«

Die Kapuze ihres Parkas verdeckt das halbe Gesicht. Sie schaut ihn von unten herauf an, mit schief gelegtem Kopf.

»Ich kann fahren, wenn du willst.«

»Ja, okay. Fahr du.«

Er hält ihr die Autoschlüssel hin und läuft hinter ihr her, schlank und zierlich, wie sie ist, biegt sie sich fast unter den Windböen.

4

Weil eine Straße wegen Bauarbeiten gesperrt ist, kann Louise nicht ihre übliche Route nehmen, sie verfährt sich und kreuzt eine Weile durch ein Viertel, das sie nicht gut kennt. Sie kommt nur zum Arbeiten her, nimmt immer denselben Weg, hin und zurück. Straßengewirr, Sackgassen mit Vogelnamen. Schließlich hält sie einfach schräg vor einer Apotheke und findet sich dank Smartphone zurecht. Sie hat keine Ahnung, wie ihr Standort bestimmt wird, wie sofort Route und Dauer angezeigt werden, zu Fuß oder mit dem Auto. Als hätte eine höhere, allwissende Intelligenz Wege und Geschicke im Voraus festgelegt oder vorgezeichnet. Als gäbe es einen Gott, der sein Spiel mit diesen Witzfiguren namens Menschen treibt, die fest an den freien Willen glauben. Sie weiß Bescheid über Satelliten, Navi-Systeme, Lokalisierung, Überwachung, über die Kontrolle, die all die gierigen, kalten Augen und Spione ausüben. Das weiß sie. Aber bei den Netzwerken, die überallhin reichen, bei dem Geflecht, das den Planeten umspannt, bei diesem praktisch blinden Vertrauen, das Milliarden Menschen da hineinsetzen, könnte man das Ganze auch für die Erfindung einer Gottheit ohne Transzendenz halten, einer selbstherrlichen, boshaften Entität. Und so versinkt sie manchmal in Fragen wie schwindelerregende Hirngespinste und schimpft sich dann leise aus, arme Irre, komm mal wieder runter, guck dir lieber an, in was für einer Scheiße du steckst, und überlass das Hirnwichsen denen, die am Ende auch zum Schuss kommen.

Sie lässt den Motor wieder an. Das Auto holpert und ächzt, als sie vom Gehweg runterfährt. Ihr ist zu warm, und als sie die Scheibe runterlässt, schleudert der Wind ihr kalten Wasserstaub ins Gesicht.

Die Dumas wohnen in einem kleinen Haus mit roten Fensterläden. Louise quält sich aus dem Auto. Steifer Rücken, Kurzatmigkeit. Sie sieht sich in der menschenleeren Straße um, eine öde Aneinanderreihung niedriger Häuser im drögen Grün, mit dem Regen legt sich eine stille Traurigkeit darauf, der Wunsch, abzuhauen, packt sie, und sie schlägt mit der flachen Hand aufs Autodach, um das Zucken zu bannen, das sie erfassen will. Endlich stößt sie das Tor auf, geht an einem Beet mit kurzgeschnittenen Rosenstöcken entlang, um einen Lorbeerbaum herum, steht unter dem Vordach in Form einer Jakobsmuschel und klingelt. Eine Katze schmiegt sich an ihre Beine, schüttelt sich die Regentropfen vom Fell und sieht sie mit ihrem Jaspis-Blick an.

Die Frau, die die Tür öffnet, streckt ihr ein von Falten zerfurchtes Gesicht entgegen, blinzelt und beäugt sie misstrauisch. Das ist Lidia. Kurze, weiße Haare. Sie waren mal blond. Louise hat auf den gerahmten Fotos auf der Anrichte gesehen, wie schön Lidia war, lächelnd neben ihren drei Söhnen.

»Was wollen Sie?«

Barsche, schroffe Stimme. Diese Frau, die sich an der Türklinke festklammert, erweckt den Eindruck völliger Ruhe; nicht das geringste Zittern ist zu erkennen.

»Ich bin’s. Louise. Das wissen Sie doch.«

Lidia lächelt und macht die Tür weiter auf.

»Ach ja, Louise. Ist Vincent nicht bei dir? Er trödelt immer, wenn er aus der Schule kommt.«

Ein Mann taucht im Flur auf, er guckt besorgt. Sanft nimmt er die Frau bei den Schultern. »Das ist Louise«, sagt er. »Komm.« Sie zuckt zusammen, macht sich mit einer flüssigen Bewegung los und schüttelt den Kopf, aus Trotz vielleicht, dann verschwindet sie im Haus. Der Mann bittet Louise herein. Er heißt Georges. Er ist dünn, hat breite Schultern, hält sich sehr gerade. Kahl rasierter Schädel. Gute Freunde nennen ihn Yul Brynner. Alle sagen, dass man ihm sein Alter nicht ansieht.

»Ich habe immer Angst, dass sie mir wegläuft«, sagt er.

Weil Louise sich erstaunt zu ihm umdreht, erklärt er: »Allein losgeht, auf die Straße, meine ich, und sich verläuft. Wie im Januar, wissen Sie noch? Und nur im Pullover.«

Louise weiß es noch. Der alte Mann hatte in Tränen aufgelöst die Polizei angerufen, wo man versprach, eine Streife vorbeizuschicken. Eine Nachbarin hatte Lidia im Supermarkt gefunden, mit vollem Einkaufswagen, wo sie der Kassiererin erklärte, dass man sie hier stets anschreiben ließ.

Louise fragt, wie es denn so geht seit letztem Donnerstag, und Georges seufzt, reicht ihr eine Tasse Kaffee und erzählt, dass Lidia sich gestern in den Kopf gesetzt hatte, ihren jüngsten Sohn Manuel von der Schule abzuholen, und so oft er ihr auch erklärt hatte, dass Manuel sechsundvierzig war und in Montréal lebte, sie hatte nichts davon hören wollen und sich weiter ausgehfertig gemacht, ihn als Lügner beschimpft, als Irren, »Was redest du da«, hatte sie gesagt, »du bist es, der senil wird«, bis sie dann hinauswollte und vor der abgeschlossenen Tür stand und anfing, um Hilfe zu schreien, Hilfe, Hilfe, und da hatte Georges sie festhalten und die Stimme erheben, ja, sie sogar anraunzen müssen, »Manuel ist sechsundvierzig, er lebt in Kanada, verdammt noch mal, begreif das doch endlich«, und da war Lidia ihm in die Arme gesackt, schlaff wie ein Betttuch, unmöglich, sie wieder aufzurichten, und sie hatte geschluchzt und sich entschuldigt, »Entschuldige«, hatte sie immer wieder gesagt, »was ist nur los mit mir, ich weiß nicht mehr, wo ich bin, alles habe ich verloren«, und sie hatte geweint und zu Georges gesagt, »Halt mich, halt mich ganz fest, bleib bei mir«, und Georges hatte sie an sich gedrückt und wurde von ihren Schluchzern geschüttelt und weinte ebenfalls, und so hatten sie alle beide auf dem Boden gesessen und einander lange Zeit gehalten.

»Können Sie sich das vorstellen? Ich glaube, wir waren glücklich, da unten auf dem Fußboden, wie zwei herrenlose Viecher. In dem Moment hätten wir ruhig sterben können, es wäre alles gut gewesen.«

Louise sieht den alten Mann flüchtig lächeln, bemerkt den geistesabwesenden Blick Richtung Fenster, und sie versteht das Lächeln nicht. Sie versteht nicht dieses seltsame Glücksgefühl, das sein Gesicht leuchten lässt.

»Warum sagen Sie so was? Das Leben …«

Sie bricht ab, ehe sie die hohlen Worte aussprechen kann, die üblichen Lügen, die man von sich gibt, ohne wirklich dran zu glauben, ohne zu wissen, was man da eigentlich sagt.

»Das Leben? Ich klammere mich seit einiger Zeit daran wie an eine löchrige Boje. So, wie wir uns gestern Abend aneinandergeklammert haben. Und Lidia treibt auf einem verlassenen Meer, zwischen Himmel und Wasser, ohne irgendeinen Anhaltspunkt außer mir. Und es macht mich müde, neben ihr herzuschwimmen. Und ich weiß nicht, was ich sonst machen soll … So bin ich wenigstens bei ihr …«

Louise weiß nicht, was sie sagen soll, sie bleiben voreinander stehen, verstecken sich hinter einem falschen Lächeln, dann dreht Georges ihr den Rücken zu und stellt seine Tasse ins Spülbecken, und dieses leise Klirren bricht das Schweigen, das sie eingeschlossen hat. Man hört, wie die alte Frau im Wohnzimmer herumgeht, mit sich selbst spricht. Georges legt Louise sacht die Hand auf die Schulter.

»Ich will Ihnen nicht den Tag verderben. Na. Ich geh mal gucken, was sie anstellt.«

Louise zieht die Jacke aus, streift den Kittel über, schlüpft in Sandalen. In der Speisekammer sind ihre Handschuhe, die sie gleich anzieht, die Putzutensilien, die Reinigungsmittel. In der Luft hängen ein paar Düfte wie in dem Eisenwarenladen, in den sie so gern mit ihrer Mutter ging und sich das Sammelsurium anschaute, das bis hoch zur Decke reichte, Regale, Schränke, Holzfächer, die antiken Schubladen, aus denen der Inhaber, der bis auf den letzten Nagel genau wusste, was er an bunt zusammengewürfelten Schätzen besaß, vor den Augen seiner Kunden klirrende Kuriositäten hervorzog und in der hohlen Hand klingeln ließ wie Goldnuggets. Noch einmal atmet Louise tief die chemischen Ausdünstungen ein, doch die Erinnerung verfliegt bereits wie der Duft durch die offene Tür.

Sie hört die beiden im Wohnzimmer reden. Sie sitzen auf dem alten Ledersofa vor dem stumm geschalteten Fernseher, Lidias leerer Blick schweift abwesend durchs Zimmer, sie hebt kurz die Hand, als sie Louise bemerkt, während Georges ihr die Einkaufsliste vorliest, er wird gleich in den Supermarkt gehen. Louise hält den Staubsauger in der Hand und traut sich nicht, ihn einzuschalten, sie hat Angst, das Gespräch zu stören. Dann zeigt Lidia mit dem Finger auf den Fernseher. »Wer ist das denn?« »Unser Präsident, das weißt du doch.« Lidia zuckt die Schultern und prustet los: »Der sieht ja aus wie so ein Yéyé-Sänger in seinem komischen Anzug!« Georges lacht und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. Die Frau schließt glücklich die Augen.

Louise spitzt durch das Staubsaugergetöse die Ohren. Ab und zu wirft sie einen Blick ins Wohnzimmer. Lidia döst vor sich hin, eine Rätselzeitschrift neben sich. Bald wird sie aufwachen, aufstehen und fragen, welchen Tag sie haben und wie spät es ist, und im Haus umherirren und die Schränke aufreißen, etwas suchen, was sie nicht in Worte fassen kann und niemals findet. »Wo hab ich das verflixte Ding bloß hingetan?« Wenn man fragt, was sie meint, winkt sie ärgerlich über die Schulter ab. »Nichts«, sagt sie manchmal. »Das ist meine Sache.«