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Durchbruch bei Stalingrad E-Book

Heinrich Gerlach

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Beschreibung

Die 1949 vom russischen Geheimdienst konfiszierte und nun in russischen Archiven wiederaufgespürte Urfassung des großen Antikriegsromans. Gefunden, herausgegeben und mit einem dokumentarischen Anhang versehen von Carsten Gansel Heinrich Gerlachs großer Antikriegsroman: Direkt nach der Schlacht um Stalingrad im sowjetischen Kriegsgefangenenlager geschrieben, durch verschiedene Arbeitslager gerettet, aber letztendlich vom russischen Geheimdienst konfisziert – jetzt nach fast 70 Jahren erstmals veröffentlicht. Dieses Buch hat eine der außergewöhnlichsten Publikationsgeschichten seit je: Heinrich Gerlach, als deutscher Offizier in der Schlacht um Stalingrad schwer verwundet, begann in sowjetischer Gefangenschaft einen Roman zu schreiben, der das Grauen von Stalingrad, die Sinnlosigkeit des Krieges, vor allem aber die seelische Wandlung eines deutschen Soldaten unter dem Eindruck des Erlebten ungeschminkt darstellen sollte. Zudem war er im Herbst 1943 Gründungsmitglied des Bunds Deutscher Offiziere, der aus der Kriegsgefangenschaft heraus zur Beendigung des sinnlosen Kampfes aufrief.Gerlach rettete sein Manuskript durch viele Arbeitslager. 1949 aber entdeckte und beschlagnahmte der russische Geheimdienst den 600 Seiten starken Roman. Erst im Frühjahr 1950 war Gerlach wieder zurück in Deutschland – ohne den Roman. Sämtliche Versuche, ihn aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren, scheiterten – bis Gerlach auf eine ungewöhnliche Idee kam. Unter Hypnose konnte er Teile des Buches wieder erinnern. 1957, mehr als ein Jahrzehnt nach seiner Gefangennahme, erschien das Buch unter dem Titel Die verratene Armee – und wurde zum Millionenseller. Carsten Gansel ist nun in Moskauer Archiven ein sensationeller Fund gelungen: das von der Veröffentlichung stark abweichende Originalmanuskript von Gerlachs Durchbruch bei Stalingrad. Vom Herausgeber mit einem reichen dokumentarischen Anhang versehen, liegt es nach 70 Jahren hiermit zum ersten Mal gedruckt vor.

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Seitenzahl: 968

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Ähnliche


Heinrich Gerlach

Durchbruch bei Stalingrad 1944

Herausgegeben, mit einem Nachwort und dokumentarischem Material versehen von Carsten Gansel

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Über Heinrich Gerlach

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

zur Kurzübersicht

Über Heinrich Gerlach

Heinrich Gerlach (1908–1991) war während des Zweiten Weltkriegs als Offizier in Stalingrad. Nach seiner Gefangennahme wurde er Mitglied des Bundes Deutscher Offiziere und des Nationalkomitees Freies Deutschland. 1950 kam er nach Deutschland zurück und war als Lehrer in Norddeutschland tätig. 1957 erschien sein Millionenbestseller Die verratene Armee, 1966 Odyssee in Rot, seine Erinnerungen an die Zeit der Kriegsgefangenschaft.

 

Der Herausgeber

Carsten Gansel, Jahrgang 1955, ist Professor für Neuere Deutsche Literatur und Mediendidaktik an der Universität Gießen. Er ist u. a. Mitglied des P.E.N. Zentrums Deutschland und Vorsitzender der Jury zur Verleihung des Uwe-Johnson-Preises. Er ist Autor zahlreicher Bücher zur Literatur des 18.–21. Jahrhunderts, u. a. über Christa Wolf, Johannes R. Becher und Hans Fallada.

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Über dieses Buch

Ein Buch, zurück aus 70 Jahren Kriegsgefangenschaft.

 

Heinrich Gerlachs großer Antikriegsroman: Direkt nach der Schlacht um Stalingrad im sowjetischen Kriegsgefangenenlager geschrieben, durch verschiedene Arbeitslager gerettet, aber letztendlich vom russischen Geheimdienst konfisziert – jetzt nach fast 70 Jahren erstmals veröffentlicht.

 

Dieses Buch hat eine der außergewöhnlichsten Publikationsgeschichten seit je: Heinrich Gerlach, als deutscher Offizier in der Schlacht um Stalingrad schwer verwundet, begann in sowjetischer Gefangenschaft einen Roman zu schreiben, der das Grauen von Stalingrad, die Sinnlosigkeit des Krieges, vor allem aber die seelische Wandlung eines deutschen Soldaten unter dem Eindruck des Erlebten ungeschminkt darstellen sollte. Zudem war er im Herbst 1943 Gründungsmitglied des Bunds Deutscher Offiziere, der aus der Kriegsgefangenschaft heraus zur Beendigung des sinnlosen Kampfes aufrief.

Gerlach rettete sein Manuskript durch viele Arbeitslager. 1949 aber entdeckte und beschlagnahmte der russische Geheimdienst den 600 Seiten starken Roman. Erst im Frühjahr 1950 war Gerlach wieder zurück in Deutschland – ohne den Roman. Sämtliche Versuche, ihn aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren, scheiterten – bis Gerlach auf eine ungewöhnliche Idee kam. Unter Hypnose konnte er Teile des Buches wieder erinnern. 1957, mehr als ein Jahrzehnt nach seiner Gefangennahme, erschien das Buch unter dem Titel Die verratene Armee – und wurde zum Millionenseller.

 

Carsten Gansel ist nun in Moskauer Archiven ein sensationeller Fund gelungen: das von der Veröffentlichung stark abweichende Originalmanuskript von Gerlachs Durchbruch bei Stalingrad. Vom Herausgeber mit einem reichen dokumentarischen Anhang versehen, liegt es nach 70 Jahren hiermit zum ersten Mal gedruckt vor.

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Erster Teil: Wetterleuchten

I. Kapitel: Heim ins Reich?

II. Kapitel: Unwetter am Don

III. Kapitel: Rückzug – nach Osten!

IV. Kapitel: In der Falle

Zweiter Teil: Zwischen Nacht und Morgen

I. Kapitel: Der Manstein kommt!

II. Kapitel: Hungersorgen und mancherlei Moral

III. Kapitel: Schwarze Weihnacht

IV. Kapitel: Erste Konturen im Nebel

V. Kapitel: Die Knochenstraße

VI. Kapitel: Gibt es wirklich keinen Ausweg?

Dritter Teil: Am Kreuz der Erkenntnis

I. Kapitel: Der Stab ist gebrochen

II. Kapitel: Was haben sie aus uns gemacht!

III. Kapitel: Schuldig vor seinem Volk

IV. Kapitel: Grauen um Gumrak

V. Kapitel: Zurück führt kein Weg mehr

VI. Kapitel: Stirb – und werde!

VII. Kapitel: Die Götter stürzen

Schlussrechnung

Nachwort

Anhang

Nach 70 Jahren aus der Kriegsgefangenschaft zurück – Heinrich Gerlachs Roman Durchbruch bei Stalingrad und seine abenteuerliche Geschichte

II. »Ich weiß wieder was war« – Über die Hypnose an die verschlossene Erinnerung

III. Die verratene Armee – Ein unerwarteter Bestseller

IV. Ein Stalingrad-Roman vor Gericht – Beispiellos in der Geschichte des Rechts und der Medizin

V. Der spektakuläre Fund – Durchbruch bei Stalingrad

VI. Alles vergangen – Erinnerungen eines Königsbergers

VII. Heinrich Gerlach im Speziallager Lunjowo – Gründung des Bundes Deutscher Offiziere – Verschollene Filmaufnahmen

VIII. Heinrich Gerlach im Sonderlager Lunjowo bei Moskau und die deutschen Exilkommunisten – ein Who is Who der späteren DDR

IX. »Sie haben in den Abgrund der Hölle geschaut« oder Schreiben als Befreiung

X. »Er versucht, seine Vergangenheit zu verschleiern« – Heinrich Gerlachs Odyssee durch Gefangenenlager

XI. »Zur Repatriierung nicht geeignet« – Heinrich Gerlach im Griff des Geheimdienstes NKWD

XII. Neue Freiheit und die Angst vor Entführung – Heinrich Gerlach im Fadenkreuz des sowjetischen Geheimdienstes

XIII. Heinrich Gerlachs Durchbruch bei Stalingrad im Visier der sowjetischen Führungsspitze – Malenkow, Berija, Suslow, Kruglow, Grigorian, Serow, Kobulow

XIII. Das Urmanuskript

Zu dieser Ausgabe

Danksagung

Mortuis et Vivis

 

Den Toten, den Lebenden.

Erster Teil:Wetterleuchten

I. Kapitel:Heim ins Reich?

In die Steppe zwischen Wolga und Don hatte der Winter seine Spähtrupps vorausgesandt. Die ungewöhnliche Wärme der ersten Novembertage war um den 6. herum einem schneelosen Frost gewichen, der den Schlamm der endlosen Wege in Asphalt verwandelt hatte. Auf dieser erfreulichen Glätte sprang munter ein kleiner grauer Kraftwagen dahin. Er kam von der großen Schlucht im Süden, in die sich die deutschen Stäbe und Trosse vergraben hatten, und strebte in Richtung auf den Bahnhof Kotlubanj vorwärts. Der Fahrer, der aus winterlicher Vermummung mit zwei pfiffigen Augen und einer geröteten Stupsnase in die Welt blickte, ließ dem kleinen Gefährt alle Freiheiten. Gelegentlich nahm er sogar, obwohl die vereiste Scheibe die Sicht beschränkte, die Hände vom Lenker, um schnell einmal die schilfleinenen Fausthandschuhe abzustreifen und die verklamten Finger zu reiben. Wer im Frieden als Überlandfahrer Mammuts von sechs und acht Tonnen gebändigt hatte, konnte sich das mit so einem Volkswagen-Küken schon erlauben.

Auch dem Offizier neben dem Führersitz machte die Kälte zu schaffen, trotz des gefütterten Übermantels und zweier Decken. Seine Füße trommelten in wechselnden Rhythmen gegeneinander, auf den Boden oder an die blechernen Wände.

»Unverschämt kalt!« brummte er zwischen den Zähnen, die an einer Zigarre kauten. »Kaputtfrieren kann man in dieser Blechkiste.« »Das macht der Heckmotor, Herr Oberleutnant«, ließ sich der Fahrer durch seine Wolle hindurch vernehmen. »Die Zivilausführung ist besser. Die wird mit den Abgasen geheizt.« »Schwacher Trost, mein Lieber«, lacht der andere. »Na, stecken Sie sich mal hier den Nasenwärmer an! Dessen Abgase sind auch nicht zu verachten.« Er hatte aus den Tiefen seiner Umhüllungen eine Zigarre hervorgefingert und schob sie seinem Nachbarn unter den Kopfschützer.

»Übrigens wollen wir nicht undankbar sein. Ich weiß jedenfalls nicht, wie ich durch den Morast der Ukraine und die Kalmückenwüste durchgerutscht wäre ohne diesen freundlichen Kasten. Daß wir ihn noch mal im russischen Winter brauchen würden, daran haben seine Väter freilich nicht gedacht.«

»Wir ja eigentlich auch nicht, Herr Oberleutnant – Und das ist nun schon der zweite Winter.«

»Und hoffentlich der letzte, Lakosch! Einmal muß ja auch dem Iwan die Puste ausgehen.«

Der Fahrer Lakosch zog bedächtig an der Zigarre und schielte mit Nase und Augen zu dem Offizier hinüber. Er nahm Witterung. Oberleutnant Breuer, Reservist, vor wenigen Wochen erst als Chef der Abteilung Ic (Sprich »Eins c«!) zum Divisionsstab gekommen, war umgänglicher als der frühere »Ic«, ein aktiver Hauptmann, der streng auf Abstand hielt. Trotzdem war Vorsicht geboten, man kannte sich noch zu wenig. Das Ergebnis befriedigte ihn, es lag Angenehmes in der Luft. So ließ er denn die Frage los, die ihm schon einige Tage auf der Seele brannte:

»Stimmt das eigentlich, Herr Oberleutnant, daß die Division jetzt in Ruhe kommt?«

Wenn man tagtäglich in demselben Wagen durch die Tücken feindlichen Landes stolpert, dasselbe dreckige Bunkerloch teilt und aus demselben Kochgeschirr ißt, dann bleibt da nicht mehr viel Raum für Geheimnisse, mögen sie auch noch so dienstlich abgestempelt sein. Der Offizier betrachtete Lakosch eine Weile aus den Augenwinkeln, dann lachte er.

»Haben Sie schon wieder etwas läuten hören, Sie Schlauberger? Ja, es stimmt. Wenn wir unseren neuen Auftrag da oben im Donbogen ausgeführt haben, geht es nach Millerowo in die Winterquartiere. Aber quatschen Sie vorläufig nicht darüber!« »Dann wird es ja wohl auch mal wieder Urlaub geben?« Breuer zog seinen Schal fester um den Hals und schwieg. Urlaub… Seit über einem Jahr hatte er Frau und Kinder nicht mehr gesehen. Von dem Feldlazarett, in dem er sich über sechs Wochen lang von einer Ruhr gesundgehungert hatte, war ein Erholungsurlaub dringend empfohlen worden.

»Geht nicht, Breuer!« hatte der General gesagt. »Wir brauchen jetzt jeden, vielleicht zu Weihnachten. Legen Sie sich in Ihren Bunker und schonen Sie sich!«

Als ob man sich vor Stalingrad schonen konnte! In langwierigen und verlustreichen Kämpfen hatten die beiden Grenadierregimenter endlich das Traktorenwerk genommen und waren bis dicht an die Wolga vorgestoßen. Jetzt lagen die Kompanien, durchweg nur noch acht bis fünfzehn Mann stark und fast alle ihrer Offiziere beraubt, in dünner Linie am oberen Rande des Steilufers. Verlaust und verdreckt, frierend und zu Tode erschöpft, schon seit Wochen ohne Ablösung. Dem Geschoßregen der russischen Artillerie und Granatwerfer preisgegeben. Und die schlecht ausgebildeten Leute des spärlichen Ersatzes wurden von den Scharfschützen abgeknipst wie die Fliegen. Unten im Steilhang aber saßen die Russen fest wie die Kletten und konnten selbst durch »Stukas« nicht von dort vertrieben werden. Allnächtlich bekamen sie Zuzug über den Fluß und machten ständig Gegenstöße, die der verkrüppelten Division neue Verluste brachten. Wie hatte noch Hitler gesagt? »Ich kämpfe in Stalingrad nur noch mit Spähtrupps!« Ja, Spähtrupps – das war alles, was noch übrig geblieben war. Schonen Sie sich! Ja – Tagsüber in der Wolgastadt, die unter dem Hagel der Bomben und Salvengeschütze unaufhaltsam in Trümmer sank, bei den Gefangenensammelstellen hinter der Front, bei Regiments- und Bataillonsstäben, die in irgendwelchen Kellern ein lichtscheues Dasein fristeten. Nur die Bombennächte in dem Erdloch bei Gorodischtsche… Nun, das war jetzt vorbei. Die Division wurde herausgezogen. Panzerregiment, Artillerie und andere Teile waren bereits im Abrollen, die Grenadierregimenter sollten demnächst folgen. In die Winterquartiere! Und dann vielleicht hatte es Sinn, an Weihnachtsurlaub zu denken.

Allerdings war da noch dieser neue Auftrag im Donbogen… Eine kurzfristige Sache, so hieß es. Nun, er würde in Kürze Näheres darüber erfahren. Ein scharfer Bremsruck riß Breuer aus seinen Gedanken. Lakosch öffnete die Seitentür und sah hinaus.

»Eine Wegekreuzung!« stellte er fest. »Fahren wir geradeaus?«

»Ich glaube, wir müssen hier schon nach links ab. Warten Sie einen Augenblick und reiben Sie die Scheibe inzwischen mit Kraftstoff ab, damit man endlich mal was sehen kann!«

Der Oberleutnant kletterte aus dem Wagen, schüttelte und streckte ein paar Mal die durchgefrorenen Beine und lief dann zu dem verwitterten Wegweiser. Auf dem nach Westen zeigenden Schild entzifferte er mit Mühe die russischen Buchstaben: Wertjatschij.

»Nach links!« rief er dem Fahrer zu. »Noch 25 km bis zum Don!«

Die ausgefahrene Rollbahn nach Wertjatschij war glatt wie eine Autostraße und fast ohne Verkehr. Wie ein Pfeil flog der kleine Wagen gen Westen dahin, fort von der Wolga und von Stalingrad, dem Don entgegen.

»Sie haben es wohl mächtig eilig, hier wegzukommen, was?« meinte Breuer gemütlich.

»Ach, Herr Oberleutnant, dieses verfluchte Stalingrad!«

»Nun, nun, Lakosch! Wir wollen froh sein, daß wir in der Stadt sitzen. Und hoffentlich bleiben wir drin! Ihr Besitz kann den Krieg entscheiden. Da darf man nach den Opfern nicht fragen, und vor allem nicht nach den persönlichen.«

Lakosch hatte dazu seine eigenen Gedanken. Auch Breuer schwieg wieder. Nach dem sturen Einerlei der letzten Tage und Wochen war er heute durch die plötzliche Abreise zutiefst aufgewühlt und kam von seinen Gedanken nicht los. Er empfand, daß seine letzten Worte nicht ganz ehrlich gewesen waren. Hatte nicht auch er immer häufiger den Wunsch gehabt, einmal von Stalingrad wegzukommen? Dachte auch er nicht viel mehr an Urlaub, an Frau und Kinder daheim als an die armen Kerle vorn an der Wolga? Wie egoistisch war man doch geworden in diesen drei Kriegsjahren! Regungen des »inneren Schweinehundes«, gegen die man nur mit äußerster Energie ankämpfen konnte. Breuer fühlte sich verpflichtet, Ekel zu empfinden, gleichwohl wurde er ein Gefühl der Befreiung nicht los. Gewiß, Stalingrad mußte gehalten werden und würde gehalten werden. Die Worte Hitlers aus der Rede zur Eröffnung des vierten Kriegs-Winterhilfswerks, die er im Lazarett am Lautsprecher gehört hatte, klangen ihm heute noch in den Ohren.

»Die Wolga ist abgeschnitten. Jetzt ist es insbesondere die Inbesitznahme Stalingrads, die abgeschlossen werden wird… Und Sie dürfen der Überzeugung sein, daß uns kein Mensch mehr von dieser Stelle wegbringen wird.«

Die Verwundeten, die damals in dem überfüllten Vorraum herumhockten oder dicht nebeneinander auf dem Boden lagen, hatten dazu geschwiegen und mit glanzlosen Augen ins Leere gestarrt. Gewiß mochten sie alle die militärische Notwendigkeit des Kampfes um Stalingrad anerkennen. Aber die erdrückende Schwere des Ringens lastete auf ihnen, und in allen war wohl das Gefühl wach, daß sie jetzt genug geopfert hätten für diesen elenden Trümmerhaufen an der Wolga, daß jetzt einmal andere hier kämpfen sollten. Und dieses Gefühl ließ sie schweigen – Ja, auch die eigene Division hatte genug Opfer gebracht. Die Ablösung war verdient. Man durfte sich darüber freuen!

»Da ist er!«

Der Oberleutnant fährt auf.

»Wer, was?«

»Dort, der Don!«

Die beiden beugen sich vor, um besser sehen zu können. Die Straße fällt allmählich ab, unten liegt eine Ansiedlung, und dahinter zieht sich das silbergraue Band des Stromes hin. Kleine dunkle Waldstücke, monatelang nur noch in Träumen geschaut, grüßen in leibhaftiger Wirklichkeit vom anderen Ufer. Langsam rollt der Wagen durch das fast menschenleere Dorf, biegt dann auf die Knüppeldammzufahrt ein und holpert endlich über die lockeren Planken der Pontonbrücke.

Deutlich hört man jetzt Maschinengewehrfeuer und vereinzelte stärkere Detonationen. Die Riegelstellung, die das Gebiet von Stalingrad nach Norden abschirmt, verläuft hier nicht allzu fern. Der Fluß ist in der Nähe offen, weiter weg zeigt sich mürbes, stumpfgraues Eis. Weiden und kahles Buschwerk bedecken den flachen Strand.

Der Don! Breuer muß an den Tag denken, als er ihn zum ersten Mal überquerte. Es war in den letzten Tagen des Juli, weit unten im Süden. Heiß brannte die Sonne vom Himmel, dichte Staubwolken lagerten auf den Vormarschstraßen und überzogen Laub und Gras, Fahrzeuge und Menschen mit schmutzigem Gelbgrau. Damals war er noch Kompanieführer in einer motorisierten Infanteriedivision gewesen. In schnellem Vorstoß hatte die Division bei dem Weindorf Zymljanskaja den Übergang über den Fluß erzwungen. Kurze Rast hatte den durchgeschwitzten, staubbedeckten Soldaten Gelegenheit geboten zu einem Bad in dem mächtigen Strom, der friedlich vor ihnen lag wie ein schlafender Riese der Vorwelt. Den »stillen« Don, so nannten ihn die Kosaken. Still und verschwiegen waren die bewaldeten Ufer, still die Weinberge und die ärmlichen Holzhäuschen, die hier und da aus dem satten Grün hervorlugten. Und auch der tote russische Flieger, auf einer glänzenden Sandbank mitten im Strom, der neben den Trümmern seiner Maschine, vom Winde halb verweht, eine wächserne Hand zum Himmel streckte, störte nicht mehr diese Stille. Aber die starke Strömung, gegen die der Schwimmer nicht ankämpfen konnte, ließ die verhaltene Kraft ahnen, die in dem Riesen schlummerte.

Wenige Tage danach waren dann alle Hoffnungen, die man sich auf den Kaukasus und die Palmenhaine an der Schwarzmeerküste gemacht hatte, zerronnen. Die Division wurde nach Nordosten abgedreht, und damals fiel zum ersten Mal jener Name, der für Breuer von Anfang an einen unbehaglichen, unheildrohenden Klang hatte, der Name »Stalingrad«. Es folgte der Geschwindmarsch durch die trostlose Kalmückensteppe, deren feiner Sand durch alle Ritzen und Fugen drang und die Motoren der Kraftfahrzeuge zermahlte, es folgten die verlustreichen und erfolglosen Kämpfe im Süden, bis es nach einem Umgehungsmanöver schließlich gelang, von Westen her in die Stadt einzudringen. Und das war erst der Anfang gewesen! Es begann ein erbittertes Ringen um jedes Haus, jedes Kellerloch, um jede Mauer und jeden Trümmerhaufen, ein Kämpfen Mann gegen Mann, das ungeheuerliche Opfer forderte und die Divisionen dahinschmelzen ließ wie Aprilschnee an der Sonne. Noch niemals und nirgendwo hatte es so etwas während dieses ganzen Krieges gegeben. Und heute, nach drei Monaten, war dieses Ringen immer noch nicht beendet –

Doch für ihn war das nun vorbei. Mit stiller Freude genoß er den lange entbehrten Anblick der Hügellandschaft mit ihren Waldstücken und Dörfern. Wie ein Alpdruck war es von ihm abgefallen. Der Don lag hinter ihm. Er würde ihn nicht ein drittes Mal überqueren. Wenn die Division, aufgefrischt und ausgeruht, im nächsten Frühjahr wieder zum Einsatz kam, würde der Kampf um Stalingrad entschieden sein.

 

 

Im Nordteil des großen Donbogens liegt das Dorf Werchnaja Businowka. Ein flaches Flußtal entlang zieht sich kilometerweit das schmale Band der Holzhäuschen, unterbrochen nur durch kleine Baumgruppen, eine graue Holzkirche und ein mehrstöckiges Ziegelgebäude in städtischem Stil, in dem die deutsche Besatzung ein Lazarett eingerichtet hatte. Der Ort war mit Nachschubeinheiten überbelegt. Hier hatte der Divisionsstab Quartier gemacht.

Sonderführer Fröhlich stolzierte durch die Räume der hölzernen Bauernkate und gab seine Anweisungen. In den vier Wänden eines richtigen Hauses waren alle bürgerlichen Ansprüche an die Zivilisation wieder in ihm wach geworden. Seine Habichtsnase stieß in alle Winkel der kahlen Stube und blieb mit Genugtuung an den blanken Ikonen hängen, in denen sich der Schein zweier Kerzen spiegelte. In wenigen Stunden würde hier elektrisches Licht erstrahlen; das Aggregat wurde schon aufgebaut. Sonst aber fehlte noch viel, um für die Abteilung Ic eine angemessene Unterkunft zu schaffen.

»Hier sind morgen früh Scheiben drin! Und dann einen Tisch und fünf Stühle, verstanden?«

Die blasse Frau, die ihm mit Abstand gefolgt war, nickte. Sie strich dem kleinen Jungen über den Kopf, der an ihrem Rockschoß hing und mit großen Augen den Fremden anstarrte. Sie wohnten jetzt in dem winzigen Stall, ihre Schlafstatt war unter den Hufen des Pferdes, das man ihnen gelassen hatte.

»Werden sie kommen?« fragte die Frau.

»Wer?« – Wenn der Dolmetscher Fröhlich mit Russen sprach, hatte er eine unangenehme Art, aus halb geschlossenen Lidern über sie hinwegzusehen.

»Die Unsrigen – ich meine die Bolschewiki.« Die Frau war in Sorge, ihr Mann arbeitete für die deutsche Kommandantur.

»Die Roten?« Fröhlich lachte kurz auf. Sein Russisch war hart, wie gehämmert. Er war Balte. »Wo deutsche Soldaten stehen, kommt kein Bolschewik mehr hin, das merken Sie sich!«

So ein dummes Stück! dachte er. Glaubt immer noch an Väterchen Stalin!

Der Gefreite Geibel, ein Bund frisches Stroh unter dem Arm, kam herein und bereitete an der Längswand des Raumes das Nachtlager. Sein Gesicht, rund wie ein Kürbis, glänzte still und zufrieden. Seit Monaten kannte man nur noch Steppe, Erdlöcher und Ruinen. Dieses Dörfchen mit dem unaussprechlichen Namen, das war schon fast wie zu Hause. Selbst Flieger gab es hier nicht, wenn man den Erzählungen der Landser glauben konnte. Er breitete das Stroh aus, legte die Wolldecken darüber und strich sie liebevoll glatt. Er war glücklich.

Im Nebenraum hantierte Unteroffizier Herbert an dem großen Herdofen herum, in dem bereits ein Holzfeuer prasselte. Seine spitzen Finger holten aus einer Wasserschüssel Kartoffeln heraus, schälten und schnitten sie hurtig und ließen die honiggelben Scheiben in eine riesige Eisenpfanne fallen. Der Ic-Schreiber Herbert, hellblond und blauäugig, war die Hausfrau im Stab. Er war eines von jenen zarten Gewächsen, die beim Kommiß nur in der Treibhausluft einer Schreibstube gedeihen.

Als die Kartoffeln schon in der Pfanne brutzelten, fand Lakosch sich als Zuschauer ein. Er war eben mit seinem Wagen eingetroffen, nachdem er den Oberleutnant bei der Abteilung Ia zur Berichterstattung abgesetzt hatte. Seine roten Struwwelhaare lohten im flackernden Schein des Herdfeuers wie Flammen.

»Mensch, Herbert, Bratkartoffeln! Drei Monate sind es her, wo ich die letzten gegessen habe, oder auch schon vier. Glaubst du, daß ich die Pfanne allein aufesse?«

»Als ob deine Verfressenheit nicht allgemein bekannt wäre!« antwortete Herbert trocken und nahm den Topf mit der kochenden Milch vom Feuer. Lakosch benutzte die Gelegenheit, um eine besonders knusprige Kartoffelscheibe in seinem Mund verschwinden zu lassen. Herbert bekam noch etwas von den Grimassen mit, die die Hitze dem Kleinen abnötigte.

»Laß ja die Finger von der Pfanne, du Dreckschwein! Und wasche dir zunächst mal die Pfoten!«

»Sieh mal einer den!« trumpfte Lakosch auf. »Kaum raus aus dem Dreck, da macht er schon auf feinen Mann! Hast noch genug Zeit, kommst morgen noch nicht nach Hause! Übrigens Pfanne – kennst du die Geschichte mit Pfanne? Sagt der Antek zum Franzek…«

»Hör’ auf!« rief Herbert und hielt sich die Ohren zu. Lakosch hatte selten Glück mit seinen Witzen, er erzählte sie zu oft. Aber er nahm die Ablehnung nicht übel.

»Herbertchen«, schmeichelte er, »morgen backst du uns einen Pulverkuchen, nicht? Weißt du, so einen feinen gelben. Der Chef hat noch Backpulver, und der Panje muß Mehl rausrücken.«

»Einen Dreck werde ich dir!« sagte Herbert, immerhin geschmeichelt durch die offenkundige Anerkennung seiner Kochkunst. Lakosch trat ganz nahe an ihn heran und blinzelte ihm zu.

»Ich weiß noch was, du! Etwas ganz Großes! Wenn du das hörst, bist du platt. Aber das sage ich dir erst, wenn du den Kuchen backst.«

»Quatsch nicht dumm!« brummte Herbert. »Bring mal hier die Kartoffeln rein – oder nein, nimm den Milchtopf! Die Kartoffeln trage ich selber! –«

Nachdem auch Breuer erschienen war, saß man bei Kerzenschein um die große Kartoffelschüssel herum, schnitt dicke Scheiben vom Kommißbrot herunter, trank Milch und tauschte die Erlebnisse der Fahrt aus.

»Schönen Gruß übrigens von Ihrem Kollegen beim Korps!« wandte sich Breuer an den Sonderführer. »Der wohnt da wie ein Fürst, was, Lakosch? Eigenes Haus, russische Aufwärterin und zwei Hilfswillige zur Bedienung. Überhaupt der Stab dort… Ein Kasino, sage ich Ihnen… Sogar Kino gibt es. Wie im tiefsten Frieden!«

»Dann verstehe ich nicht, warum wir eigentlich hergekommen sind«, meinte Fröhlich und polkte mit dem Messer in der Zinntube herum, aus der der Käse schon wieder einmal nicht herauswollte. Breuer zuckte mit den Achseln.

»Drüben sind einige neue Divisionen in der Front aufgetaucht, und da haben es die Rumänen mit der Angst gekriegt. Nun sollen wir hier ein paar Korsettstangen einziehen, zur Beruhigung sozusagen.«

»Was sagt denn der Oberstleutnant Unold dazu?«

»›Geistige Betreuung!‹ sagt er. ›Machen Sie geistige Betreuung, Tag und Nacht!‹ Grammophone sollen ran, Spiele, Bücherkisten. Wir hätten lange genug im Dreck gelegen. In drei Tagen will er hier den Rembrandtfilm sehen.«

Der Sonderführer lachte. Ein trockenes, selbstgefälliges Lachen. Also hatte er doch wieder recht gehabt, dieser großspurige »Auftrag« war nichts als ein Zwischenspiel, nach Tagen zu bemessen. So wie ein Reisender etwa während eines kurzen Halts aussteigt, um sich die Beine zu vertreten und schnell noch einen Blick zurückzuwerfen, bevor es davongeht auf Nimmerwiedersehen. Eigentlich machte Fröhlich seinem Namen wenig Ehre. Sein bekannter Optimismus war nicht von jener heiteren Beschwingtheit, die Menschen dieser Art so anziehend macht, sondern stur, verbissen, unerschütterlich wie ein Luftschutzbunker und immer auf Abwehr bedacht.

»Von dem Rembrandtfilm redet Unold ja schon seit Wochen«, fuhr Breuer fort. »Er ist ganz verrückt danach. Ich weiß gar nicht, was ich machen soll. Als Belohnung hat er mir übrigens endlich unsern O3 versprochen.«

Der Abteilung Ic stand ein Ordonnanzoffizier zu. Seit der letzte »O3« bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen war, war die Stelle unbesetzt.

»Wozu denn noch einen O3«, warf Herbert ein. »Ich meine, Herr Oberleutnant, wo wir nun doch bald in die Winterquartiere…«

Breuer sah in das mädchenhafte Gesicht des Unteroffiziers, über das beim Sprechen rote Blutwellen wie Aprilwolken huschten. Da saßen sie nun und bangten um Ruhe, Entspannung und waren alle schon weit fort. Schließlich sagte er:

»Wenn ihr mir versprecht, dichtzuhalten, will ich euch noch etwas verraten. Wißt ihr, was mir drüben beim Korps der General gesagt hat? ›Sie werden uns also nur für einige Tage die Ehre geben‹, hat er gesagt, ›Sie sollen ja heim ins Reich!‹«

»Heim ins Reich? Ja, wie denn –« Fröhlich zog seine Pferdezähne aus der Brotschnitte und vergaß den Mund zu schließen. »Also geht es nicht nach Millerowo?«

»Anscheinend nicht. Es geht wohl nach Hause, nach Deutschland!«

Auf Geibels Mehlgesicht zog das Staunen auf wie der Vollmond über einem Weizenfeld. Herbert blickte Lakosch an, der ihm eine ironische Fratze schnitt.

»Was habe ich gesagt?!« Fröhlich schlug sich mit der Hand auf den Schenkel. »Zu Weihnachten sind wir zu Hause. Und im Frühjahr ist der Krieg aus!«

»Ich weiß, Herr Fröhlich«, lachte Breuer, »dann machen Sie Ihr Fischgeschäft wieder auf und richten an der Wolga eine Filiale für Lachs und Kaviar ein.« Er zog einen Schlüssel aus der Tasche.

»Lakosch, holen Sie mal die kleine braune Flasche aus meiner Kiste! Mir scheint, wir haben Anlaß, einen zur Brust zu nehmen. – Übrigens unterstehen wir ab heute mittag wieder dem Panzerkorps. Wenn es also hier noch irgendwie brenzlig werden sollte, wird General Heinz die Sache schon hinbiegen.«

Die Männer nickten. Den jungen General, der wie ein Komet am militärischen Himmel aufgestiegen war, kannten sie alle gut. Vor kurzem noch hatte er an der Spitze ihrer Division gestanden, erst als Oberst, dann als Generalmajor, und war beliebt gewesen, weil er auch sich selbst nicht schonte. Seit dem 1. November führte er als Generalleutnant das Panzerkorps. Lakosch stellte die Flasche auf den Tisch und beugte sich zu Herbert hinunter:

»Backst du jetzt den Kuchen, du Pfeife?« (Er sagte P-fei-fee.)

Herbert nickte und lächelte mit blanken Augen in die Ferne.

 

 

Oberstleutnant Unold, der 1. Generalstabsoffizier der Division, stand über den breiten Tisch gebeugt und studierte die Lagekarte. Da schwang sich durch grüne und braune Flächen das blaue, verschlungene Band des Don in weitem Bogen nach Osten. Es teilte die Hieroglyphenschrift der Kreidestriche, die Zeichen und Ziffern in eine rote und eine blaue Gruppe. Längs des Flusses verlief die Front, die riesige Nordflanke des auf Stalingrad vorspringenden Keils. Den größten Teil dieses wichtigen Frontabschnitts hatte die deutsche Führung, sich auf das natürliche Wasserhindernis und die Schwäche der Russen verlassend, mit italienischen und rumänischen Divisionen verhältnismäßig dünn besetzt. Diese hatten dann auch nicht verhindern können, daß sich der Gegner einige Brückenköpfe geschaffen hatte, die er mit Hartnäckigkeit hielt. Vor einen dieser Brückenköpfe hatte man jetzt die beweglichen Teile der Division beordert, die Unold nach der Versetzung des Divisionskommandeurs vorübergehend verantwortlich führte. Aus Sicherungsgründen, so hatte es geheißen –

Des Oberstleutnants schmales Gesicht zeigte nervöse Verstimmung. Hin und wieder griff er zum Stift und brachte ein paar herrische Korrekturen an. Die Sache hier gefiel ihm nicht, ganz und gar nicht.

Nicht die zwei oder drei Divisionen beunruhigten ihn, die der Gegner neu in den Brückenkopf bei Kletskaja geschoben hatte. Die Meldungen darüber boten das übliche Bild: knabenhafter oder vergreister Mannschaftsbestand, schlechte Stimmung, dürftige Ausrüstung und Bewaffnung (selbst die Gewehre Modell 41 mit ungezogenem Lauf fehlten nicht). Unold war vom Fach. Als junger Hauptmann i.G. war er in der Abteilung »Fremde Heere/Ost« beim OKH tätig gewesen, damals, als man den Überfall auf die Tschechoslowakei vorbereitete. Er sprach Russisch und vernahm die Gefangenen mit Vorliebe selbst. Mit solchen Divisionen griff der Russe nicht ernstlich an, das wußte er. Aber da war noch etwas anderes. Da waren z.B. zwei neue Brücken über den Don, bei Nacht und Nebel geschlagen, unbemerkt fast. Wozu brauchte der Russe diese Brücken, wenn er nicht…

Am Nebentisch sortierte Hauptmann Engelhard, der 1. Ordonnanzoffizier der Division, die eingegangenen Meldungen. Er war jung und von einer in dieser Umgebung befremdenden Eleganz. Ein Lungensteckschuß hatte ihn zum Divisionsstab verschlagen.

Jetzt stand er auf und legte Unold einen Zettel auf den Tisch. Der Oberstleutnant überflog die Meldung mit einem Seitenblick und nahm ihn dann, aufmerksam geworden, zur Hand. Er las noch einmal, und seine Lippen schlossen sich zu einem Strich. Ein kurzer Blick aus grauen Augen streifte den Hauptmann, der neben dem Tisch stehengeblieben war; dann fuhr seine Hand mit dem Stift in rascher Bewegung über das blaßgrüne Waldgebiet nördlich des Don. Einen Augenblick betrachtete er aus zusammengekniffenen Augen den roten Kreis, der dort entstanden war, und auf seinen Backenknochen spielten die Muskeln. Dann malte er besinnlich und fast liebevoll eine große Fünf in den Kreis und darunter das Rhombuszeichen eines Panzers.

»Glauben Herr Oberstleutnant wirklich an diese Panzerarmee?«

Unold antwortete nicht. Er trat vor das niedrige Fenster und sah hinaus. In dem bläulichen Licht der schlechten Scheiben schimmerte sein hageres Gesicht wie eine Totenmaske. Sein verschleierter Blick eilte über das holperige Pflaster der menschenleeren Dorfstraße zurück durch Raum und Zeit…

1941, Poltawa. Von den Fenstern des Verwaltungsgebäudes, in dem die Heeresgruppe Süd lag, fiel der Blick auf das Denkmal zur Erinnerung an den Sieg Peters I. über die Schweden. Das OKH hatte den Major i.G. Unold zur Vertretung des erkrankten »Ic« nach Poltawa kommandiert. Dieser gesundete jedoch überraschend schnell, und Unold, plötzlich von Arbeit und Verantwortung befreit, hatte sich mehr und mehr in das große Werk des kaiserlich russischen Generalstabes über die Schlacht von 1709 vertieft, das ihm der Zufall in die Hand gespielt hatte. Ausflüge in die Ebene vor der Stadt, deren blutgetränkter Boden ihn hier und da mit einem alten Helm oder einem verrosteten Waffenstück beglückte, erfüllten das Gelesene mit lebendiger Anschauung, und Vorträge im Kasino vor dem Stab und vor Fremden trugen dem redegewandten Major bald den Ruf eines gediegenen Kenners der großen russischen Befreiungsschlacht ein. Im Dezember 1941 – bald nach dem Rückschlag vor Moskau – erschien eines Tages Feldmarschall v. Brauchitsch, der Oberbefehlshaber des Heeres, bei der Heeresgruppe. Eines Abends äußerte er im Kasino den Wunsch, das historische Schlachtfeld zu besichtigen, und schon am nächsten Morgen fuhr man hinaus im offenen Kübelwagen, in Pelze und Decken gehüllt: der Feldmarschall, der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Generalfeldmarschall v. Rundstedt und Unold. Unold sprach fast eine Stunde lang. Auf die im Winterglas schimmernde Fläche zauberte er die Farben des Sommers, belebte sie mit bunten Heerhaufen, erfüllte die frostklare Luft mit Kriegsgeschrei, dem Gebrüll der Geschütze, dem Stöhnen der Verwundeten. Noch nie glaubte er so gut gesprochen zu haben. Nur selten unterbrach der Oberbefehlshaber durch höfliche Zwischenfragen. Und in die endigende Stille hinein, in der die Gegenwart wieder über das Land fiel, sprach Brauchitsch gleichsam als das Bleibende von alledem jenen Satz, der über den Feldern stehenblieb wie die Aufschrift auf einem Grabstein:

»Auch hier ist ein Eroberer gescheitert. Auf eigenem Boden ist der Russe nicht zu schlagen –.«

Schweigend ging man zum Wagen zurück, schweigend trat man die Rückfahrt an. Und hier nun wurde der Major i.G. Unold Zeuge eines Gespräches, das für ihn wie ein Blick war aus der Helle des Tages in einen schwarzen, abgrundtiefen Schacht.

»Das operative Ziel dieses Jahres«, das etwa war der Inhalt dessen, was die beiden Generale in Übereinstimmung feststellten, »ist nicht erreicht. Nach Mobilisierung der 2. und 3. Welle werden 400 russische Divisionen den 175 deutschen gegenüberstehen. Mit unseren Kräften diesen Gegner zu schlagen, ist nicht möglich. Wir müssen zurück auf die Linie Peipussee, Beresina, Dnjepr, vielleicht sogar noch weiter, bis zur Memel und Weichsel, und dort einen Ostwall bauen, an dem er sich die Knochen blutig stößt. Die lebendige Kraft des Heeres erhalten, das ist jetzt die Aufgabe.« –

Unold atmete tief und hörbar und trommelte mit den Fingern gegen die Scheiben. Bis in seine Träume hinein verfolgte ihn dieses Gespräch und zerrte vom Unterbewußten her an seinen Nerven. Er war ein zu guter Generalstäbler, um sich der Logik solcher Überlegungen verschließen zu können. Und er war ein zu großer Hitlerverehrer, um nicht seinen Glauben zu Hilfe zu rufen gegen seine Vernunft.

Ist denn etwas geschehen, was jenen trüben Pessimismus der Fachleute rechtfertigen könnte? So dachte Unold, und sein Blick bekam wieder Glanz und Farbe. Nichts, gar nichts! Brauchitsch und Rundstedt sind fort, in der Versenkung verschwunden als ungläubige Zweifler. Andere, Gläubigere sind an ihre Stelle getreten. Hitler selbst hat den Oberbefehl über das Heer übernommen. Ein Jahr ist vergangen, und heute stehen wir bei Stalingrad. Ein Genie, unbegreifbar in seiner Eigengesetzlichkeit, hat alle Theorie und alle Schulweisheit hinweggefegt. Ein Genie, stark und wundertätig durch den Glauben der Millionen, jenen Glauben, der Berge versetzt. Wer hätte jemals geglaubt, daß eine einzige Division einen Abschnitt von 50 km Breite halten kann? Der Offiziersanwärter, der so etwas auf einer Waffenschule zu sagen gewagt hätte, wäre heimgeschickt worden wegen hoffnungsloser Unfähigkeit. Und heute war so etwas hier im Osten alltägliche Wirklichkeit. Der unerschütterliche Glaube aller machte das möglich, er war der Garant des Sieges. Zweifeln war gleichbedeutend mit Desertieren.

»Wir alle müssen daran glauben!« sagte Unold wider Willen laut in das Zimmer hinein. Und erst der aufgescheuchte Blick Engelhards rief ihm das Doppelsinnige dieses Wortes ins Bewußtsein. Er lachte kurz und hart auf, ging zum Tisch zurück und nahm noch einmal die Meldung zur Hand.

»Ja, was denn?« sagte er befreit. »Hier schreiben sie ja selbst: Die Möglichkeit einer Funktäuschung ist nicht ausgeschlossen! Da haben sie sich von ihrer Nachrichten-Aufklärung mal wieder einen feinen Bären aufbinden lassen.«

Hatte nicht auch das Korps die Möglichkeit eines russischen Großangriffs als absurd bezeichnet? Und wenn der Russe in seiner vom letzten Winter her bekannten Sturheit doch einen Angriff versuchen sollte, dann standen 300 Panzer zur Abwehr bereit, wie die Aufstellung des Korps auswies, darunter die funkelnagelneuen Kampfwagen der 1. rumänischen Panzerdivision. Dieses Mal hatte man die Reserven, die 1941 gefehlt hatten. Was also war zu befürchten?

Unold griff zum Gummi und wischte zugleich mit der bedrohlichen Einzeichnung auch seine Sorgen und Zweifel hinweg, die bald nur noch blaß auf grünendem Grunde schimmerten.

»Es ist Bluff«, sagte er, und Engelhard entzückte sich an dem glasklaren Blick, der ihn traf. »Ein ganz billiger Bluff! Der Russe kommt nicht. Er kann nicht mehr.«

 

 

In den nächsten Tagen schlug das Wetter um. Es wurde naßkalt und nebelig, ein feiner Sprühregen überzog die Kopfsteine der Dorfstraße mit dünner Eislasur und machte jeden Schritt vor die Haustür zu einem Wagnis. Der Volkswagen, in dem Oberleutnant Breuer zu den Nachbarstäben unterwegs war, trudelte auf der Glätte selbst unter Lakoschs sicheren Händen hin und her und hatte Mühe, vorwärts zu kommen.

Bei der 2. Abteilung des V. rumänischen Korps, das in den Holzhäuschen des Dorfes Kalmykow lag, war die Stimmung offenbar etwas gedrückt. Ein Hauptmann in eleganter Khakiuniform, schwarz und rassig wie ein Torero, legte dem deutschen Kollegen die sauberen Planpausen der letzten Tage vor.

»Sehen Sie, Herr Kamerad«, erklärte er in dem gedehnten Deutsch des Balkans, »diese drei Infanteriedivisionen sind neu. Die letzte wurde vor wenigen Tagen festgestellt. Diese beunruhigen uns nicht. Aber dahinter haben wir das III. Kavalleriekorps! Ich frage Sie, wozu braucht man ein Kavalleriekorps, wenn man nicht angreifen will? Und was dieser große Wald hier hinter der Stadt Kletskaja birgt, wissen wir nicht. Wir haben keine eigenen Flugzeuge, und deutsche Maschinen zur Aufklärung standen nicht zur Verfügung. Das gegenwärtige Wetter erlaubt es auch nicht, etwas zu erkennen.

Russische Gefangene haben gesprochen von einer Panzerarmee, die dort liegen soll. Das kann stimmen, kann auch nicht stimmen. Wenn es stimmt, dann ist das sehr schlecht für uns, Herr Kamerad! Wir haben, wissen Sie, keine schweren Waffen, und unsere Leute sind müde…«

Sein dunkler Blick streifte an der Wand entlang, wo aus schweren Rahmen die Köpfe des jungen Königs Michael und des Marschalls Antonescu sehr selbstbewußt in die Welt schauten.

»Deswegen sind wir ja hergekommen, Herr Hauptmann«, erwiderte Breuer und nahm eine der türkischen Zigaretten, die ihm der Hauptmann aus silbernem Etui anbot. »Wir haben genug schwere Waffen und Panzer mit.«

»Ich weiß das, Herr Kamerad. Wann werden Ihre Truppen bereitstehen?«

»Nun, ich denke, in einigen Tagen!« Der Hauptmann goß aus einer Flasche in zwei dünnhalsige Likörgläser.

»Bitte, Herr Kamerad, Sie müssen sich erwärmen! Es ist richtiger ›Tuica‹.«

Er hob sein Glas gegen das Licht und leerte es in kleinen Schlucken.

»Es wäre gut«, meinte er dann, »wenn Ihre Einheiten sich beeilen würden. Wir haben den russischen Angriff schon am 9. November erwartet. Aber er ist nicht gekommen.«

»Passen Sie auf, Herr Hauptmann«, erwiderte Breuer, »er wird überhaupt nicht kommen!«

»Wir wollen das hoffen, Herr Kamerad!« –

 

 

Auf der Rückfahrt schlug Breuer einen Umweg zu dem Höhengelände südlich Kletskaja ein. An einer Kreuzung, wo der Weg zum Don hinabführte, trippelte ein rumänischer Posten, das Gewehr unter dem Arm, fröstelnd im Regen hin und her und warf ab und zu einen Blick nach Norden. Über der hohen, schmutzigweißen Schaffellmütze thronte als Schutzdach der Stahlhelm, von dessen Rand ihm das Wasser in dünnen Fäden auf Schultern und Rücken rann. Die bunte Zeltbahn, die er über seinen Mantel gehängt hatte, gab ihm das Aussehen einer besonders liebevoll ausgestatteten Vogelscheuche. Als er den Wagen bemerkte, bedeutete er durch lebhafte Gesten, daß eine Weiterfahrt hier nicht gestattet sei. Breuer stieg aus und ging ein Stück die Höhe hinan, bis er das nördliche Vorgelände übersehen konnte. Wenige hundert Meter voraus durchschnitten die rumänischen Gräben die kahle Fläche. Alles war ruhig, im Regen ertränkt. Die Höhe senkte sich allmählich auf eine Mulde zu, in der einzelne winzige Häuser erkennbar waren: Kletskaja! Dahinter, kaum sichtbar in dem Grau des Regentages, das Blasse eines Flußlaufs: der Don! Still drehend reckte er seine Arme, er gab noch nicht frei… Der dunkle Schemen dort aber in unwirklicher Ferne, das war das gefürchtete Waldgebiet. Der Höhenzug erschien als ein ideales Verteidigungsgelände. Er beherrschte zweifellos die gesamte Donniederung; bei klarem Wetter erlaubte er eine Sicht bis weit in das feindliche Hinterland hinein. Unter solchen Umständen die Kräfte auf dem Südufer des Don versorgen und sogar Brücken schlagen – weiß der Teufel, wie die Russen das fertigbrachten!

Um diese Zeit traf der neue Divisionskommandeur in Werchnaja Businowka ein. Er äußerte alsbald den Wunsch, die Herren des Stabes zusammen mit den Offizieren der unterstellten Verbände, soweit diese schon erreichbar waren, zwanglos im Kasino kennenzulernen. Dem Kommandanten des Stabsquartiers, Hauptmann Fackelmann, ward befohlen, ein reichlicheres Abendessen für etwa vierzig Herren vorzubereiten. Der kleine Reservehauptmann, ein Meister weniger zwar des Kriegshandwerks, wohl aber einer gediegenen Kochkunst, entledigte sich dieser Aufgabe mit Eifer und Geschick, nach Kräften unterstützt von drei ihren Posten liebenden Ordonnanzen. Am Abend prangte der Seitenraum der hölzernen Dorfkirche, der als Kasino diente, im Festglanz zahlreicher Leuchter und blütenweißer Tischtücher. Der General, eine massige Erscheinung mit rötlichem Fettgesicht, erschien in Begleitung von Oberstleutnant Unold, der sich zur Feier des Tages in schnittiges Panzerschwarz geworfen hatte. Er begrüßte die versammelten Herren einzeln, ließ sich Namen und Dienststellung nennen und bedachte jeden aus kleinen wasserblauen Augen mit einem kurzen Blick, in den er vergeblich etwas Feuer zu legen versuchte. Dann bat er die höheren Dienstgrade zu sich an das obere Ende des Tisches, während die jüngeren Offiziere sich um den übrigen Teil der langen Tafel gruppierten. Auffallend war hier die große Zahl junger Hauptleute. Der strohblonde, sommersprossige Hauptmann Siebel, der als Kompaniechef am Wolchow seinen linken Arm auf dem Altar des Vaterlandes geopfert hatte, einstweilen abgefunden mit einer klappernden Prothese, Ritterkreuz, Ib-Stelle beim Divisionsstab und der Aussicht auf den Dank kommender herrlicher Zeiten, war 27 Jahre alt. Der erste Ordonnanzoffizier »O1«, Hauptmann Engelhard, und der Divisionsadjutant Hauptmann Gedig, ein munterer Berliner mit braunen Eichhörnchenaugen, hatten die Mitte der Zwanzig noch nicht erreicht. Unter dem Einfluß des weißen Bordeaux wurde die Unterhaltung sehr schnell lebhaft. Sie drehte sich vorwiegend um die Speisenfolge, mit der Hauptmann Fackelmann überrascht hatte. Als Hauptgericht gab es Leberknödel mit Salzkartoffeln.

»Also wirklich ganz delikat, lieber Fackelmann«, meinte Hauptmann Siebel gönnerhaft.

»Wohl Purr-purr, was?«

»Das dürfte ich wohl nicht wagen, meine Herren«, beeilte sich der dicke Fackelmann zu erklären.

»Obwohl Sie dadurch in einen besonderen Genuß gekommen sind. Sie wissen wohl nicht, daß Pferdeleber zu den größten Delikatessen gehört? Selbst für die berühmte Braunschweiger Leberwurst wird vorwiegend Fohlenleber verarbeitet.«

Man blickte ihn unsicher und etwas belustigt an. Sein Hang zum Aufschneiden war bekannt. Hauptmann Endrigkeit, der Führer des Feldgendarmerietrupps, ein vierschrötiger Ostpreuße mit dichtem Schnurrbart, reichte der Ordonnanz seinen Teller, um sich Kartoffeln nachlegen zu lassen, und wandte sich über den Tisch hinweg an den Zahlmeister:

»Na, wenn Sie morgen nach Tschir fahren einkaufen, Herr Zimmermann, dann vergessen Sie man nicht, gleich so ’n halbes Dutzend Panjepferdchens mitzubringen! Dann machen wir hier mal richtiges Wurstessen.«

In der weiteren Erörterung kulinarischer Möglichkeiten wurden die Herren unterbrochen. Der General klopfte an sein Glas, erhob sich schwer, räusperte sich und ließ eine blecherne Stimme ertönen.

»Meine Herren! Das Vertrauen des Führers hat mich an die Spitze dieser Division berufen, die unter der bewährten Führung meines Vorgängers so viel Ruhm an ihre Fahnen geheftet hat. Es wird mein Bestreben sein, mich des mir geschenkten Vertrauens und der Traditionen der Division würdig zu erweisen. Von jedem von Ihnen erwarte ich Gehorsam, treueste Pflichterfüllung und rücksichtslose Härte gegen sich selbst, gegen unsere Männer und gegen den Feind. Der Name unserer Division muß für den bolschewistischen Weltfeind der Inbegriff aller Schrecken werden. In diesem heiligen Kriege gegen das asiatische Untermenschentum muß und wird der Sieg unser sein! Für ihn ist kein Opfer zu schwer. Ohne ihn wäre das Leben nicht mehr lebenswert. In diesem Sinne ans Werk! Ich fordere Sie auf, Ihr Glas mit mir zu leeren auf unser geliebtes deutsches Vaterland und Adolf Hitler, unsern obersten Kriegsherrn und einzigartigen Führer!«

Dem Toast folgte betretenes Schweigen. Breuer warf einen Blick auf sein Gegenüber, den blassen Leutnant Wiese, der mit schmalen Lippen dasaß und nur leicht den Kopf schüttelte.

»Na prost!« meinte Hauptmann Siebel, nur den Nachbarn verständlich, »ich glaube, wir gehen herrlichen Zeiten entgegen.«

Oberleutnant v. Horn, der Adjutant des Panzerregiments, blitzte durch sein Monokel zum oberen Ende der Tafel hinüber.

»Wette einen Korb Sekt«, näselte er, »daß der noch keinen Panzer von innen gesehen hat.«

»Panzer?« warf Hauptmann Eichert, Kommandeur der Panzerjäger-Abteilung, ein alter Zwölfender, grob dazwischen. »Wenn der von Rußland überhaupt schon etwas gesehen hat, fress’ ich ’nen Besen. Riecht mir so nach SS oder Polizei!«

Hauptmann Fackelmann kicherte vor sich hin und wischte sich mit dem Taschentuch über die spiegelnde Glatze.

»Also offen gestanden, meine Herren«, flüsterte er, »schön durchgekocht auf einer silbernen Schüssel und mit einer Zitrone im Maul wäre mir der Kopf da lieber!«

Lautes Lachen polterte los und zum Tisch sah man befremdet herüber. Hauptmann Engelhard war geniert:

»Meine Herren, ich muß doch sehr bitten! Der General hat seit Anfang 42 ein Artillerieregiment und seit einigen Monaten eine Division geführt hier in Rußland!«

»Regen Sie sich bitte nicht auf, Engelhard«, begütigte Hauptmann Fackelmann. »Wir werden ja sehen. Und für Frankreich wird es ja schließlich auch reichen.«

Man horchte auf. Frankreich – – ?

»Ja wissen Sie denn noch nicht, meine Herren?« Fackelmann strahlte im Vollgefühl seiner Wichtigkeit. »Wissen Sie es wirklich noch nicht? Die Division kommt doch nach Frankreich! In die Gegend von Le Havre, nur einen Katzensprung von Paris entfernt!«

»Nach Frankreich?«

»Möchte mal wissen«, grollte Hauptmann Eichert, »auf welcher Latrine Sie diesen Mist wieder ausgegraben haben.«

Fackelmanns fette Hände führten beschwörende Tänze auf.

»Nein wirklich, meine Herren, Sie können mir glauben! Ich habe meine guten Beziehungen! Die Nachricht stammt aus absolut zuverlässiger Quelle.«

»Dazu müßte der ›O1‹ doch etwas zu vermelden haben?« Hauptmann Engelhard blieb reserviert.

»Unmöglich ist nichts«, sagte er unbestimmt. Der alte Endrigkeit reckte unter dem Tisch die Beine und schnaufte wie ein Walroß.

»Na, Gedig«, meinte er zu dem Adjutanten, der am nächsten Tage zu einem Lehrgang abreisen sollte, »denn lassen Sie man gleich Ihren Rückfahrschein umschreiben! Und vergessen Sie nicht, den Unold nach seinem Lieblings-Bums in Paris zu fragen, hahaha! Sonst finden Sie womöglich keinen von uns!«

Der junge Hauptmann lachte. Sonderführer Fröhlich hatte sich seinen rechten Nachbarn als besten erwählt.

»Sehen Sie, Herr Pfarrer, was habe ich gesagt! Jetzt kommt der große Schlag gegen England! Wie stark müssen wir sein, wenn Hitler jetzt sogar eine ganze Division von Stalingrad abziehen und nach dem Westen schicken kann. Passen Sie auf, im Frühjahr ist der Krieg aus!«

Johannes Peters, der evangelische Divisionspfarrer, lächelte nachsichtig aus einem friedfertigen Gesicht heraus, zu dem das EK 1 auf seiner Brust nicht recht passen wollte.

»Auch umgekehrt wird ein Schuh draus, lieber Herr Fröhlich.«

»Vielleicht ist Hitler gezwungen, die Division abzuziehen, um sich auf die drohende zweite Front vorzubereiten.« Der Sonderführer wandte sich den Zigarren zu und hüllte sich schweigend in dicke Rauchwolken. Er war ernstlich gekränkt.

Am anderen Ende der Tafel entwickelte der General inzwischen seine Gedanken zur Lage.

»Ich habe mich über den Zustand der Division natürlich frühzeitig genau unterrichtet«, sein trüber Blick schwamm über die Gesichter der Umsitzenden hinweg. »Es ist klar, daß eine gründliche Auffrischung nötig ist. Keitel, mit dem ich vor meiner Abreise sprach, hat volles Verständnis dafür. Und Sie sehen, es wird ja auch!… Ein Skandal nur, daß wir jetzt hier durch das hysterische Geschrei dieser Pferdediebe festgehalten werden. Sollten froh sein, daß man sie überhaupt der Ehre würdigt, ein Blutopfer für die Freiheit Europas bringen zu dürfen. Aber das kennt eben keinen Heroismus und keine Ideale. Na, ich hoffe nur, daß der Führer nach dem Endsieg auch bei den sogenannten Bundesgenossen einmal gründlich aufräumt.« –

Man ging frühzeitig auseinander. Der General wünschte mit den höheren Offizieren noch allein zu bleiben.

Schweigend gingen die beiden Offiziere durch die Nacht, an dem verfallenen Friedhof entlang auf die Felder hinaus. Ein frischer Nordost wehte, leichter Frost hatte die Wege betrocknet. Ab und zu blinkte ein Stern durch zerrissene Wolken. Aus dem Dorf klang ferner Gesang herüber:

»Wenn sich die stillen Nebel dre-hn,

Werd’ ich bei de-her Laterne steh’n

Wie ei-einst, Lili Marlen…«

»Was halten Sie eigentlich von der Lage hier, Breuer?« fragte der Hauptmann. Breuer blieb verwundert stehen. Die Frage hatte besorgt geklungen.

»Glauben Sie ernstlich, Herr Hauptmann«, fragte er, »daß wir hier irgend etwas zu befürchten haben?«

Der Hauptmann schwieg eine Weile. »Wissen Sie«, sagte er schließlich, »manchmal habe ich Zweifel, ob die Sache hier gutgehen wird. Unold darf man ja mit so etwas nicht kommen, er wird sofort kribbelig. Über unseren neuen General – na, da ist wohl kein Wort zu verlieren. Ich verstehe das Heerespersonalamt nicht mehr. Und dann das Korps… Ich will nichts gegen Heinz sagen; aber ob er hier wirklich der rechte Mann ist…«

»Mit Oberst Fieberg hat er einen alten Routinier zum Chef!«

»Fieberg, die Seele des Korps! Ein kalter Rechner, ja – Ein hervorragender Taktiker. Und gerade deswegen kann ich es mir nicht erklären, daß jetzt auf einmal alles nicht klappen will. Sehen Sie, was ist denn das! Keine Zusammenarbeit mit den Rumänen, keine vernünftige Aufklärung! Und der Aufmarsch ist immer noch nicht beendet…«

In weiter Ferne stand plötzlich ein Leuchtfallschirm am Himmel und verbreitete gelbliches Licht. Rote und grüne Leuchtspurbänder rankten sich ihm vom Boden aus entgegen. Nach einer langen Weile plätscherte der schwache Schall der Abschüsse hinterher.

»Und dann die Russen –«, fuhr der Hauptmann fort. »Ich glaube, auf Grund unserer Anfangserfolge neigen wir dazu, sie zu unterschätzen. Wie oft war die Rote Armee schon totgesagt, und sie lebt immer noch, ja sie ist stärker geworden! Die schnelle Umstellung auf die Granatwerfer und Stalinorgeln war eine enorme Leistung. Und vergleichen Sie einmal ihre heutige Luftwaffe mit der von 1941! Da hinten sehen Sie es… Auch ihre Führung lernt immer mehr hinzu. Seien wir doch mal ehrlich, Breuer, das elastische Ausweichen Timoschenkos im letzten Sommer ist doch geglückt! Wir haben ja damals kaum Gefangene gemacht. Aber damit kommen Sie mal jemand! Das will keiner wahrhaben.«

Später lag Breuer noch lange wach auf seiner Strohschütte. Das krauseste Zeug ging ihm im Kopf herum. Wenn selbst Engelhard schon zu »meckern« anfing, dann… Schließlich schlief er über dem Gedanken ein, daß der Hauptmann die Dinge heute wohl besonders schwarz sah. Seine Braut wohnte in Essen, und die Stadt war neuerlich schwer bombardiert worden.

Die Kinofrage löste sich wider alles Erwarten gut. Beim Nachbarkorps war man auf eine höfliche Anfrage hin bereit, den Filmwagen, der die Einheiten des Korps betreute, laufend für zwei Vorstellungen in der Woche der fremden Division zur Verfügung zu stellen. Und ein toller Zufall wollte es, daß auch der ersehnte Rembrandtfilm sich dort befand und zwei Tage hintereinander in Businowka laufen konnte.

Der Hauptraum der Holzkirche wurde als Kinosaal hergerichtet, und Breuer entwarf einen Plan zur möglichst gerechten Verteilung der Vorführungen auf die einzelnen Einheiten. Eines Vormittags konnte man dem »Ia« melden, daß Donnerstag, den 19. November, nachmittags 5 Uhr die Eröffnungsvorstellung des Kinopalastes Businowka mit dem Rembrandtfilm und einer Wochenschau als Beiprogramm stattfinden würde.

Oberstleutnant Unold war, was bei ihm selten vorkam, des Lobes voll:

»Also, was ich versprochen habe, halte ich. Breuer, Ihren ›O3‹ sollen Sie haben! Schon jemand ausgesucht?«

»Ich habe an Leutnant Wiese gedacht, Herr Oberstleutnant!«

»Den Zugführer von der Nachrichtenabteilung? Na schön, wenn Mühlmann ihn freigibt, habe ich nichts dagegen.«

Am gleichen Tage noch schrieen zwei buntscheckige Plakate, von dem Zeichner der Kartenstelle gemalt, vor der Ortskommandantur und an der Kirchenpforte das bevorstehende Ereignis in die staunende Umwelt hinaus.

Lakosch hegte bezüglich der Veranstaltung ganz besondere Erwartungen, denen er gegenüber Geibel gelegentlich einer gemeinsamen Wagenwäsche Ausdruck gab:

»Der Film, das wird klasse, sage ich dir! Der Rembrandt, das war so ein Maler, der schon im Mittelalter Flugzeuge zeichnete und U-Boote und so. Und den haben sie dann geköpft, weil er zuviel wußte … He, glotz nicht so blöde, du Mond! Dir werden sie deswegen den Kürbis nicht abhacken!«

II. Kapitel:Unwetter am Don

Grau dämmerte der 19. November herauf. Der Gefreite Geibel warf sich auf seinem Lager hin und her. Ihn quälte ein scheußlicher Traum. Er saß in seinem Laden in Chemnitz, der dem letzten Bunker vor Stalingrad auffallend ähnlich sah, und sortierte emsig und schwitzend Erbsen aus einem Sack in einen Emailletopf. Jede Erbse, die er in den Topf fallen ließ, rauschte nieder wie eine Bombe und zerplatzte mit einem Knall am Boden zu nichts. Und Geibel wunderte sich, daß der Topf sich nicht füllte, obwohl der Sack schon zur Hälfte leer war. Plötzlich stand ein Mann vor ihm, auf dem Kopf einen goldenen Stahlhelm, unter dem eine schwarze Haarsträhne hervorsah, und blickte ihn groß und durchdringend an. Und Geibel wußte sofort, daß es Rembrandt war. »Ich habe Flugzeuge und U-Boote«, sagte der Fremde drohend, »aber mir fehlen noch Heringe!« »Aber bitte, mein Herr!« beeilte sich Geibel zu erwidern. »Wir haben ausgezeichnete Matjesheringe, zart wie Butter.« Und er wies auf das große Faß, über dessen Rand die Heringe ängstlich ihre Köpfe steckten. »Ich nehme das ganze Faß!« erklärte der Mann mit dem Goldhelm und griff mit beiden Händen in die Tonne. Die Heringe, plötzlich sehr menschlich aussehend, schrieen auf vor Entsetzen, aber der Fremde stopfte sich einen riesigen Berg von Fischen in das weit aufgerissene Nilpferdmaul und verschlang ihn. Geibel durchfuhr ein heißer Schmerz. »Es macht 57,30 RM«, sagte er traurig. – »Sind das alle Heringe?« fragte der Fremde und sah sich gierig im Laden um. »Alle, die es in Deutschland gibt!« antwortete Geibel entschlossen. – »Das genügt mir nicht!« schrie Rembrandt. »In Europa muß es noch viel mehr Heringe geben!« Sein Gesicht wurde riesengroß und verzerrte sich zu einer scheußlichen Fratze. »Sie wissen zu viel!« rief er höhnisch. »Ich muß Ihren Kürbis haben!« – Geibel wurde von wahnsinniger Furcht gepackt. »Der Kürbis ist unverkäuflich«, beteuerte er zitternd, »es ist ein Ausstellungsstück. Wir haben andere, auch sehr schöne Kürbisse, das Pfund zu 35 Pf.!« – »Ich will aber diesen Kürbis!« schrie der Fremde und griff mit seinen langen grünlichen Fingern nach Geibels Hals. »Niemand darf etwas wissen, verstehen Sie? Niemand!« Verzweifelt schlug Geibel um sich. Er wußte: Wenn er seinen Kürbis verliert, ist es aus mit ihm. Mit der linken Hand fuhr er der Fratze in die schwammigen Augen, während er mit der rechten den Telefonhörer ergriff, um das Überfallkommando anzurufen, »Hilfe!« schrie er in höchster Not. »Hilfe!!!« – –

Geibel fuhr hoch, von einem schmerzenden Stoß in der Seite geweckt, der von einem Ellbogen herrührte.

»Ich werde dir Hilfe, verdammter Kerl!« wetterte Lakosch, »Phantasiert hier und macht alle Leute wach, und währenddem klingeln die sich tot!«

Wieder klingelte es. Es war der Fernsprecher, den Geibel über Nacht neben seinem Schlafplatz stehen hatte. Er merkte erstaunt, daß er den Hörer bereits in der Hand hielt.

»Geschäftszimmer Ic, Gefreiter Rembrandt!« meldete er sich, noch ganz verstört. Lakosch bekam einen Lachanfall, der von dem noch schlafenden Unteroffizier Herbert durch ein empörtes Zischen gerügt wurde.

»Gute Nacht, Sie Tüte!« tönte es aus dem Apparat. »Hier Ia, Unteroffizier Schmalfuß! Oberleutnant Breuer soll sich sofort marschfertig beim ›Ia‹ melden! Ohne Wagen!«

»Oberleutnant Breuer sofort ohne Wagen beim ›Ia‹ melden!« wiederholte Geibel mechanisch. »Jetzt mitten in der Nacht?« setzte er erstaunt hinzu. »Ja wieso, ist denn was los?«

»Quatschen Sie nicht so dämlich!« antwortete barsch die Stimme.

»Erstens ist es acht Uhr, und zweitens ist was los! Die Russen greifen an!«

Im Augenblick war Geibel munter. Er warf den Hörer hin, ohne abzuläuten, sprang auf und stürzte ins Nebenzimmer.

»Aufstehen!« brüllte er, »Aufstehen, Herr Oberleutnant! Die Russen greifen an!«

»Nun ja doch!« gähnte Oberleutnant Breuer. »Ist ja gut! Deswegen brauchen Sie doch nicht so zu schreien!«

Also doch! dachte er noch im Halbschlaf. Eins zu null für die Rumänen! Er zog sich mit einiger Eile an und goß im Stehen eine Tasse kalten Tee herunter, während Lakosch schnell noch zwei Klappschnitten mit Büchsenleberwurst zum Mitnehmen schmierte.

»So ein Pech, daß der Schwindel gerade heute anfängt!« verabschiedete sich Breuer. »Also kümmern Sie sich mal um den Film, Herr Fröhlich! Wahrscheinlich sind wir bis fünf Uhr längst wieder zurück.«

 

 

Langsam fraß sich das Licht des Morgens durch die dicken Nebelschwaden, die über der Donniederung und den Höhenzügen vor Kletskaja lagerten. Weiß schimmerte die weite Schneefläche, vielfach durchschnitten von dem Schwarzbraun der Wege und Fahrspuren und den schlecht ausgebauten rumänischen Gräben. Die Beobachter bei den Maschinengewehrständen blickten unter ihren Zeltbahnen gelangweilt über die Drahthindernisse hinweg in die wogende Milchbrühe. Die Sicht nach dem Don hin betrug in der Halbdämmerung knapp hundert Meter. Die Nacht war ruhig verlaufen. Auch jetzt herrschte auf der Feindseite tiefe Stille. Kein Schuß, kein Laut, kein Motorengeräusch. Wer sollte bei diesem Wetter auch Lust zum Kriegführen haben!

Durchgefroren und froh der Bewegungsfreiheit, die der Nebel gewährte, kamen die ersten Infanteristen aus ihren Bunkern und Schlupflöchern gekrochen, schlugen die Arme nach Kutschermanier übereinander und liefen mit kurzen Schritten ein Stück über die Felder. Bald standen kleine Gruppen außerhalb der Gräben zusammen, rauchten und schwatzten. Schwatzten sich ihren Ärger von der Leber.

Es war nämlich so: Die rumänischen Divisionen wurden nur für einen Zeitraum von sechs Monaten an die Ostfront geschickt. Einen längeren Einsatz konnte die rumänische Heeresleitung ihren Soldaten, die ohnehin schon lustlos genug kämpften, nicht zumuten. Für die Infanteriedivision, die den Mittelabschnitt der Front vor Kletskaja besetzt hielt, war schon seit längerem der 18. November als Tag der Ablösung vorgesehen gewesen. Seit Wochen hatten die Soldaten diesen Tag herbeigesehnt. Ihre Gedanken waren nicht mehr in der grausamen fremdländischen Gegenwart, sie waren vorausgeeilt in die Heimat zu Frau und Kind, zu den fruchtbaren Niederungen der Dobrudscha, den wilden Karpatenwäldern, den Freuden des leichtlebigen Bukarest. Infolge irgendwelcher Transportschwierigkeiten war jedoch die ablösende Division noch nicht eingetroffen. Durch ein Versehen deutscher Versorgungsstellen hatte man aber die für die Wartenden bestimmte Verpflegung für die letzten zwei Tage bereits der neuen Truppe zugeleitet. Kein Wunder also, daß die Männer heute schimpften und fluchten. Auf den erbärmlichen Fraß, auf den scheußlichen russischen Winter, von dem man nun zu guter Letzt doch noch etwas abbekam, und überhaupt auf diesen elenden Krieg, den sie nicht gewollt hatten und der nicht der ihre war.

Da –! Plötzlich zischt und schwirrt es böse und unheimlich, schwillt gräßlich an über den ganzen Frontabschnitt hinweg… Schreckensschreie, Warnrufe. Und schon bricht das Unwetter los. Urplötzlich steht da ein Wald von Stichflammen auf der dröhnenden Erde, Splitterhagel fegt pfeifend daher, Wolken schwefeligen Qualms wälzen sich über die Fläche. So plötzlich dieser Feuerüberfall, so unerwartet in der trägen Ruhe des Morgens, daß hier selbst der immer wache Instinkt des Frontsoldaten versagt. Ein Teil nur der ahnungslos herumstehenden Männer hat die drohende Warnung des Rauschens erfaßt und ist blitzschnell in Deckung gesprungen. Die übrigen sind niedergemäht, ehe noch ihr Bewußtsein begriffen hat.

Die Beschießung nimmt an Stärke zu. Zu der Unzahl von »Stalinorgeln« gesellen sich Geschütze aller Kaliber. Eine Wand von haushohen Erdfontänen schießt empor, schiebt sich über die berstenden Minenfelder im Vorgelände hinweg, zerfetzt die Drahthindernisse, befällt die Gräben und Maschinengewehrnester, Holzteile, Waffen und Menschenleiber mit sich emporwirbelnd, und rollt auf die rückwärtigen Artilleriestellungen zu. Das brodelt und rauscht und heult und kracht… Die Erde selbst, zerrissen und zerfetzt, duckt sich unter dem höllischen Ausbruch der Materie. Was ist der Mensch –?

Die Artillerievorbereitung dauert etwa anderthalb Stunden und bricht dann ebenso plötzlich ab, wie sie begonnen hat. Vereinzelte Nachzügler gurgeln noch durch die Luft und detonieren irgendwo weiter hinten. Als die Rauchschwaden sich verziehen, ist die Landschaft aufgerissen wie ein von Riesenhänden umgepflügter Acker. Von den Stellungen der Rumänen ist nicht mehr viel übrig. Tote ringsum, und in die plötzliche Stille klingt das Wimmern und Stöhnen der Verwundeten.

Die Überlebenden in ihren Löchern krallen die Hände in den nassen Boden, pressen die verzerrten Gesichter in den Lehm, gegenwärtig, daß jeden Augenblick die Hölle von neuem sich öffnet. Sie beginnen wieder zu denken, und es ist bei allen nur ein Gedanke: Schon lag das alles hinter uns, schon winkte die Heimat! Und jetzt, jetzt noch zu guter Letzt hier elend verrecken für diese aufgeblasenen Hakenkreuzanbeter? Aus blitzartigem Gedanken erwächst ohne Worte blitzartiger Entschluß: Fort, nur fort aus diesem Hexenkessel! Das Leben retten um jeden Preis! Und sie springen auf, einzeln erst, dann in Gruppen. Weg die Waffen, weg alles, was hindert! Zurück zurück! Wie die Hasen hoppeln sie über die Fläche, zwischen den braunen Trichtern dahin, stürzen zu Boden, rappeln sich hoch, verschwinden im Nebel. Hier und da brüllt ein Offizier mit wilden Gesten, schießt aus der Pistole hinter den Fliehenden her. Aber was ist schon auszurichten gegen den Willen zum Leben! Und so bleibt auch den Offizieren zuletzt nichts anderes übrig als das zu tun, was sie noch nie getan haben, was aber in dieser Lage allein noch zu tun ist: ihren Soldaten zu folgen.

Als später die russische Infanterie zum Sturm antrat, fand sie bei den gegnerischen Stellungen dieses Abschnitts kaum noch Widerstand. Einzelne verstreute Gruppen, die noch kämpften, wurden schnell vernichtet. Und die Massen der russischen Panzer, die aus ihren Bereitstellungsräumen in den Wäldern die eigenen Linien überrollen und geradewegs zum Angriff übergingen, stießen tief in das feindliche Hinterland hinein.

Oberstleutnant Unold wurde durch einen eiligen Funkspruch vom Panzerkorps geweckt. Die fast 40 km lange Fernsprechverbindung zum Korps war schon wieder unterbrochen.

»Gegner greift seit den Morgenstunden auf ganzer rumänischer Front mit starker Artillerie- und Panzerunterstützung an«, las er, »Lage zur Zeit ungeklärt. Mit vereinzelten Panzerdurchbrüchen ist zu rechnen. Division bezieht befohlene Auffangstellung hinter 1. rum. Kav. Div. mit Schwerpunkt Höhe 218 und wirft einbrechenden Gegner im Gegenstoß.«

»Da haben wir den Salat!« sagte er und reichte den Zettel zu Hauptmann Engelhard hinüber. »Jetzt aber Tempo! Geben Sie die Einsatzbefehle an Kallweit und Lunitz hinaus!« (Major Kallweit führte die 30 Panzer, die der Division noch verblieben waren, Oberst Lunitz war Kommandeur des Artillerie-Regiments.) »Herrliche Orientierung übrigens!« setzte er aufgebracht hinzu. »Lage ungeklärt! Was heißt denn das! Rufen Sie mal das rumänische Korps an!«

»Die Leitung ist seit zwei Stunden gestört«, sagte der Hauptmann lakonisch und kletterte in seine Panzerhosen.

»Dann funken Sie!«

»Funken? Zu den Rumänen?« Engelhard lächelte mitleidig. »Zu den Rumänen haben wir keine Funkverbindung!«

»Es ist doch zum Kinderkriegen!« brach der Oberstleutnant los. »Wozu sitzt man denn eigentlich hier herum! – Schmalfuß, meinen Wagen, aber ein bißchen Trab!«

»Herr Oberstleutnant wollen selbst…?« wunderte sich Engelhard. Es war das erste Mal, daß ein Ia während einer Kampfhandlung den Gefechtsstand verlassen wollte.

»Jawohl, ich fahre selbst!« schrie Unold. »Ich will wissen, was los ist. Oder meinen Sie vielleicht, daß der General uns hinreichend orientieren wird!«

Hauptmann Engelhard meinte das nicht. Und da er das schlecht sagen konnte, zog er es vor zu schweigen. Beim Hinausgehen stieß Unold auf Oberleutnant Breuer.

»Sie fahren mit dem Herrn General mit!« rief er ihm im Vorbeigehen zu. »Passen Sie ein bißchen auf, daß… Na, Sie wissen ja!«

Die beiden Personenkraftwagen des Stabes mit der dreieckigen schwarzweißroten Kommando-Flagge fuhren zunächst zu dem rumänischen Stab in Platonow. Der General, im eleganten Pelzmantel, die Schirmmütze mit der goldenen Kordel auf dem Kopf, saß schweigend neben dem Fahrer der großen grauen Horch-Limousine und hüllte sich in den Rauch einer dicken Brasil. Breuer hatte es sich, ohne irgendwelcher Beachtung gewürdigt zu werden, auf den Lederpolstern des Rücksitzes bequem gemacht. Die Orientierung durch den Stab der 1. rumänischen Kavalleriedivision war dürftig genug.

»Es ist erstaunlich«, erklärte der deutsche Verbindungsoffizier, »wie die Russen die viele Artillerie völlig unbemerkt heranführen konnten. Vor unserem Abschnitt sind alle Angriffe, die bisher ohne Panzer geführt wurden, abgewiesen. Bei dem linken Nachbarn, bei dem augenscheinlich der Schwerpunkt des Angriffs lag, scheint dem Gegner allerdings ein Einbruch gelungen zu sein. Näheres ist nicht bekannt. Wir haben keine direkte Fernsprechverbindung nach dort, und die Leitung zu unserem Korps ist schon seit heute früh gestört.

»Natürlich«, brummte der General ärgerlich.

»Außerdem kann uns das egal sein.«

Die Fahrt ging weiter. Die beiden Wagen überholten einige kleinere Kolonnen von motorisierten Fahrzeugen und Geschützen, die langsam dem Einsatzraum zurollten, und strebten dem Punkt 218 zu.

 

 



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