32,99 €
"Hitler muss fallen, damit Deutschland lebe!" Von den über drei Millionen Wehrmachtssoldaten, die zwischen 1941 und 1945 in sowjetische Kriegsgefangenschaft gerieten, starben mehr als eine Million. Heinrich Gerlach überlebte. Das Grauen von Stalingrad hatte er in einem Roman verarbeitet, seinen schier endlosen Weg durch sowjetische Arbeits- und Gefangenenlager beschreibt er in seinem autobiographischen Bericht Odyssee in Rot. Im Lager Lunjowo war Gerlach aber auch Gründungsmitglied des Bundes Deutscher Offiziere (BDO), eines Verbands kriegsgefangener Wehrmachtsoffiziere, die ab 1943 aus der Gefangenschaft deutsche Soldaten zur Desertion und zum Kampf gegen Hitler aufriefen – in aufgezwungener Zusammenarbeit mit Exilkommunisten wie Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht oder Erich Weinert. 1944 wurde in Nazi-Deutschland in Abwesenheit gegen Gerlach ein Verfahren wegen Hochverrats eingeleitet, seine Familie kam in Sippenhaft. In seinem materialreichen Nachwort liefert Herausgeber Carsten Gansel zu Gerlachs aufwühlendem Bericht Hintergrundmaterial aus russischen Archiven – etwa zu den Plänen, die die sowjetische Führung für die BDO-Mitglieder im Nachkriegsdeutschland hatte; Gansel skizziert die Versuche des Geheimdienstes, Heinrich Gerlach und andere Führungsmitglieder zu Agenten zu machen – und wertet erstmalig die Nachkriegstagebücher Gerlachs aus, die dieser von 1951 bis 1991 führte. So rekonstruiert er den Entstehungsprozess der 'Odyssee in Rot' und erzählt anhand der Leitfigur Gerlach, wie die BDOler, die nach dem Krieg in den Westen gingen, keinesfalls als Widerstandshelden gefeiert wurden, sondern sich gegen die Brandmarkung als Kommunistenfreunde und Verräter wehren mussten. Nach dem Riesenerfolg des Spiegelbestsellers Durchbruch bei Stalingrad: die Wiederentdeckung von Heinrich Gerlachs monumentalem Werk über seine Zeit in sowjetischer Kriegsgefangenschaft und den Versuch des Bundes Deutscher Offiziere, Hitler zu stürzen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 1290
Veröffentlichungsjahr: 2017
Heinrich Gerlach
Bericht einer Irrfahrt. Herausgegeben, mit einem Nachwort und dokumentarischem Material versehen von Carsten Gansel
Buch lesen
Titelseite
Über Heinrich Gerlach
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Heinrich Gerlach (1908–1991) war während des Zweiten Weltkriegs als Offizier in Stalingrad. Nach seiner Gefangennahme wurde er Mitglied des Bundes Deutscher Offiziere und des Nationalkomitees Freies Deutschland. 1950 kam er nach Deutschland zurück und war als Lehrer in Norddeutschland tätig. 1957 erschien sein Millionenbestseller Die verratene Armee, 1966 Odyssee in Rot, seine Erinnerungen an die Zeit der Kriegsgefangenschaft.
Carsten Gansel, Jahrgang 1955, ist Professor für Neuere Deutsche Literatur und Mediendidaktik in Gießen. Bei Galiani hat er bereits das von ihm in Russland aufgespürte Manuskript Heinrich Gerlachs Durchbruch bei Stalingrad (2016) sowie dessen Odyssee in Rot (2017) herausgegeben. 2020 erschien mit Wir Selbst von Gerhard Sawatzky eine weitere literarische Entdeckung von Gansel.
zur Kurzübersicht
»Hitler muss fallen, damit Deutschland lebe!«
»Die Entdeckung des originalen Stalingrad-Romans von Heinrich Gerlach und die unglaubliche Entstehungsgeschichte haben mich als ehemaligen Lateinschüler Gerlachs am norddeutschen Gymnasium in Brake besonders elektrisiert. Wir Schuler saßen damals einem Heimkehrer aus Stalingrad gegenüber, der in jahrelanger Arbeit, zum Teil mithilfe eines Hypnotiseurs, sein von den Russen konfisziertes Roman-Manuskript rekonstruierte. Im Jahre unseres Abiturs (1957) erschien dann der voluminöse Antikriegsroman. Während Heinrich Gerlach ein von uns Schülern geschätzter, stolzer und disziplinierter Lehrer war, fand er unter seinen weitgehend nicht entnazifizierten Kollegen als sogenannter ›Überläufer‹ nur geringe Akzeptanz.«
Prof. Dr. Dr. Gero Hillmer, Hamburg
Nach dem Riesenerfolg des Spiegelbestsellers Durchbruch bei Stalingrad: die Wiederentdeckung von Heinrich Gerlachs monumentalem Werk über seine Zeit in sowjetischer Kriegsgefangenschaft und den Versuch des Bundes Deutscher Offiziere, Hitler zu stürzen.
Von den über drei Millionen Wehrmachtssoldaten, die zwischen 1941 und 1945 in sowjetische Kriegsgefangenschaft gerieten, starben mehr als eine Million. Heinrich Gerlach überlebte. Das Grauen von Stalingrad hatte er in einem Roman verarbeitet, seinen schier endlosen Weg durch sowjetische Arbeits- und Gefangenenlager beschreibt er in seinem autobiographischen Bericht Odyssee in Rot. Im Lager Lunjowo war Gerlach aber auch Gründungsmitglied des Bundes Deutscher Offiziere (BDO), eines Verbands kriegsgefangener Wehrmachtsoffiziere, die ab 1943 aus der Gefangenschaft deutsche Soldaten zur Desertion und zum Kampf gegen Hitler aufriefen – in aufgezwungener Zusammenarbeit mit Exilkommunisten wie Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht oder Erich Weinert. 1944 wurde in Nazi-Deutschland in Abwesenheit gegen Gerlach ein Verfahren wegen Hochverrats eingeleitet, seine Familie kam in Sippenhaft. In seinem materialreichen Nachwort liefert Herausgeber Carsten Gansel zu Gerlachs aufwühlendem Bericht Hintergrundmaterial aus russischen Archiven – etwa zu den Planen, die die sowjetische Führung für die BDO-Mitglieder im Nachkriegsdeutschland hatte; Gansel skizziert die Versuche des Geheimdienstes, Heinrich Gerlach und andere Führungsmitglieder zu Agenten zu machen – und wertet erstmalig die Nachkriegstagebücher Gerlachs aus, die dieser von 1951 bis 1991 führte. So rekonstruiert er den Entstehungsprozess der Odyssee in Rot und erzählt anhand der Leitfigur Gerlach, wie die BDOler, die nach dem Krieg in den Westen gingen, keinesfalls als Widerstandshelden gefeiert wurden, sondern sich gegen die Brandmarkung als Kommunistenfreunde und Verräter wehren mussten.
Vorspann
Erster Teil Begegnungen mit der Sphinx
Erstes Kapitel Nebel und roter Dunst
Zweites Kapitel Zellforschungen
Drittes Kapitel Salzfische, Schokolade und ein Manneswort
Viertes Kapitel Unter Klosterbrüdern
Zweiter Teil Das Haus der grossen Träume
Fünftes Kapitel Beziehungen zu einem Objekt
Sechstes Kapitel Tauroggen
Siebentes Kapitel »Seydlitz und Genossen«
Achtes Kapitel Und dann sprach Ulbricht
Neuntes Kapitel Noch einmal Stalingrad
Zehntes Kapitel »Wie viele sind’s, die deutsche Namen tragen«
Elftes Kapitel Zu spät
Zwölftes Kapitel Bedingungslose Kapitulation
Dreizehntes Kapitel Kehraus
Dritter Teil Die Medusa lächelt
Vierzehntes Kapitel Helden I – oder wie man vor die Hunde geht
Fünfzehntes Kapitel Helden II – oder wie man über die Runden kommt
Sechzehntes Kapitel Wo die Grenze verläuft
Siebzehntes Kapitel Ausblick vom hohen Turm
Achtzehntes Kapitel Kriegsverbrecher
Neunzehntes Kapitel Herr Stern und die Freiheit
Anhang
Widerstandsheld, Vaterlandsverräter, wacher Demokrat und Zeitzeuge? – Heinrich Gerlach, seine Odyssee durch die sowjetischen Gefangenenlager und sein Schicksal in der sich neu formenden Bundesrepublik
II. Jahre der Kriegsgefangenschaft, der Bund Deutscher Offiziere und die Rückkehr nach Deutschland
III. Heinrich Gerlachs Tagebücher – Ein neuer Fund und seine Folgen
IV. Der Durchbruch bei Stalingrad entsteht neu
V. Heinrich Gerlach und die Erinnerungskultur der Bundesrepublik Deutschland
VI. Von Entnazifizierungsverfahren und »Kameradenschinderprozessen« – Heinrich Gerlach nach der Rückkehr aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft
VII. Deutscher Widerstand und der Erfolg von Heinrich Gerlachs Roman
VIII. »Am Nachmittag schrieb ich eifrig an der Ssusdal-Partie« – Ein Anfang ist gefunden
IX. »Der totale Krieg ist total aussichtslos geworden« – Über die Gründung des Bundes Deutscher Offiziere erzählen
X. Der Bund Deutscher Offiziere und das Sonderlager Lunjowo – Auf andere Art so große Hoffnung
XI. »Nun scheint Land in Sicht zu sein« – Ein Ende ist absehbar
XII. »Arbeit, Arbeit! Das letzte Kapitel muß fertig werden«
Danksagung
Dieses Buch ist weder Anklage noch Rechtfertigung. Es ist ein Bericht.
Berichtet wird über Vorgänge, von denen man in Deutschland kaum etwas weiß und die ursächlich zusammenhängen mit der Niederlage von Stalingrad. Was man zu wissen glaubt, ist unzureichend und wird hierzulande gern als Verrat bezeichnet, als »Schandfleck auf dem Ehrenschild der Nation« – dem Osten ist es Mythos, Urgeschichte des Ulbricht-Staates. Also beiderseits Tendenz, Verfälschung der Wahrheit.
Was ist die Wahrheit?
Dieses Buch ist ein Bericht. Die eingearbeiteten Reden, Zeitungsartikel, Aufrufe, Rundfunkvorträge und Predigten sind echt und dokumentarisch zu belegen. Nur in ganz wenigen Fällen wurde aus der Erinnerung, aus eigener und fremder, nachgestaltet. Die handelnden Personen erscheinen vorwiegend unter ihrem eigenen Namen, einige der noch Lebenden wurden umbenannt, zumeist auf ihren Wunsch. Wenige wurden ganz oder teilweise erfunden. Auch der Verfasser ist mit seiner Hauptfigur nicht gleichzusetzen.
Mehr jedoch geht es um die innere Wahrheit dessen, was damals gefühlt und gedacht, geschrieben, gesprochen und getan wurde. Diese Wahrheit erschließt sich nicht nur aus Dokumenten, sie will erlebt sein. Der Verfasser hat sie erlebt und war darum bemüht, sie nicht aus der Sicht der Gegenwart zu korrigieren, sondern aus den damaligen Gegebenheiten heraus begreiflich zu machen.
H.G.
»… es kommen andere Zeiten
Und schaffen uns noch rätselhafte Wesen.«
Johannes R. Becher
Da ist sie, die Stadt!
Der Finger fährt über die Karte, fährt den langen grauen Stachelwurm entlang, der sich über 30km weit an das himmelblaue Band des Stromes schmiegt. Ein dunstbrauner Schmutzschleier zieht sich über diese Bahn, oft schon ist der fettige Finger hier entlanggewandert. Sonst jedoch verrät das bunte Kartenbild mit seinen Häuserblocks, Straßenzügen und Plätzen, mit Bahnlinien und Grünanlagen nichts von dem, was hier geschah. Nichts davon, daß hier eine Stadt in Trümmer sank, zum gigantischen Friedhof wurde für Menschen und Dinge.
Stalingrad, Stalins eigene Stadt …
Der Beobachter blickt angestrengt hinaus. Doch von dem, was die Karte, einer fernen Vergangenheit verhaftet, so unzulänglich wiedergibt, zeigt sich zunächst noch nichts. Der stumpfgraue Zinnstreifen unten im Weiß der Steppe ist der Don. Vorn im Osten, von wo aus sich jetzt schon der Wolgabogen entgegenwölben müßte, verschwimmt alles in rötlichem Dunst.
2. Februar 1943, 13.51 Uhr mitteleuropäischer Zeit. Die Ju88 der Luftflotte 4 fliegt Fernaufklärung über dem Kampfraum von Stalingrad. Temperatur 30 Grad unter Null, Höhe 6000 m. Ein paar hundert Meter tiefer hängen einzelne Wölkchen wie Wattetupfen im Raum. Die Wintersonne, die schon tief im Westen steht, läßt ihre Schattenpunkte langsam über die Schneefläche wandern.
»Nördliche Tour, Schorsch!« sagt der Beobachter. »Der Bahnlinie nach und dann den Gumrak-Bogen.« Er hält Karte und Logbuch auf den Knien. Der Mechaniker schaltet die Kameras ein.
Wenig Ortschaften duldet der unwirtliche Raum, kleine Häusergewürfel, zaghaft und gleichsam wie auf Probe hingestreut in das unendliche Weiß. Dort, wo der dünne Faden der Eisenbahn den Flußlauf kreuzt, liegt Kalatscb. Die Maschine ändert den Kurs und folgt diesem Faden, der sich bald mit der bizarren Schlängelschnur des Karpowka-Flüßchens verbindet. Links davon verläuft eine breitere und blassere Linie, die mittlere Rollbahn nach Stalingrad. Einst die Lebensader der 6. Armee … Das da ist Marinowka, die »Nase« des Kessels, die zuerst abgeschlagen wurde. Dort, wo das Flüßchen sich von der Bahnlinie löst, um der alten Kesselfront nach Süden zu folgen, Karpowskaja, Nowyj Rogatschew … Weiter vorn der Bahnhof Bassargino, Schicksalsraum der 6. deutschen Armee.
Auf dem blassen Rollbahnstrich kriechen kleine Punkte entlang, eine Ameisenreihe, hier und dort hineingestreut ein paar dicke Käfer.
»Bespannte und motorisierte Kolonnen, auch Panzer«, stellt der Beobachter fest. »Der Iwan zieht seine Reste ab. Wohl nichts mehr los dort hinten, wie?« Er kritzelt knappe Eintragungen in das Logbuch. Der Pilot dreht nach Norden ein.
Die vier Mann der Besatzung sind alte Hasen, sie kennen jeden Punkt in diesem Gelände. Viele Male sind sie hier geflogen. In jenen Augusttagen des vorigen Jahres, als General Hubes Panzer auf der nördlichen Rollbahn von Wertjatschij aus bis zur Wolga durchstießen und es nur noch eine Frage von Tagen schien, bis der Industriegigant fallen würde. Stalingrad, Stalins eigene Stadt … Später dann die Wolga hinauf in Richtung Saratow und Kuibyschew, unten das flimmernde Glitzerband des Stromes, der sich wie geschmolzenes Silber durch die versengte Steppe ergoß, im Rücken den braungelben Rauchpilz der brennenden Stadt. Und die Nebelflüge im November … Eisenbahnaufklärung nördlich des Donbogens, wo sich irgend etwas zusammenbraute. Diese scheußlichen Flüge durch trübe Milchsuppe, ständig von Vereisung bedroht … Und dann riß mit einmal in 50 Metern Höhe der Wolkenschleier auf und gab für Sekunden den Blick frei auf marschierende Infanterie, auf Panzeransammlungen, Kavallerieeinheiten … Meldungen, die oben niemand so recht ernst nahm. Bis das Unfaßbare geschehen war und der sowjetische Ring sich geschlossen hatte um zwei Dutzend deutsche Divisionen … Die winterlichen Erkundungsflüge zu den russischen Feldflugplätzen jenseits der Wolga; entlang den Eisenbahnlinien bis nach Astrachan hinunter und hinauf bis nach Tambow und Pensa; immer über das kleine Inselreich der 6. Armee hinweg, dessen Grenzen sich bei Tage im Mündungsfeuer der schweren Waffen als huschende Punktlinien kundtaten, in der Abenddämmerung zuweilen als flackernder Feuerkranz.
Und dann die Tage im Januar, die dort unten alles wieder in Bewegung brachten. Dunkel gesprenkelte Flecken in dem schimmernden Teller, in denen ein Gewimmel weißer Ameisen herumkroch; schwarze Qualmwolken um die Flugplätze Pitomnik und Gumrak und Bienenschwärme russischer Ratas und Sturmowikis, die die eigene Maschine in achtbare Höhen zwangen. Umgrenzt jetzt von der Leuchtspur heftiger russischer Bodenabwehr, zog sich der Kessel zusammen wie ein austrocknender Wasserfleck. Zuletzt blieb nur noch die Stadt selbst, dieses rauchende Durcheinander, wie ein Netz ausgeleerter und von blindwütenden Nadelstichen zerstörter Bienenwaben, in denen es kochte und brannte und brodelte.
Da ist sie, die Stadt! Oder das, was davon übrigblieb, von Stalins eigener Stadt … Die Maschine ist auf 3000 Meter heruntergegangen, sie zieht eine Schleife über Gumrak und Gorodischtsche und dreht über dem nördlichen Vorort Rynok nach Süden ein. Hier waren sie gestern noch in den Beschuß schwerer Flak geraten. Heute schweigt alles. Aus den Trümmern steigt brauner Rauch auf und zerfließt in einer trüben Dunstglocke, deren Schleierfetzen die Kanzel umstreichen. Das Traktorenwerk, tags zuvor noch ein flammender Kessel, heute ein kokelnder Schutthaufen.
»Noch mal zurück, Schorsch! Steilkurve rechts!« sagt der Beobachter. »Noch ’n paar Aufnahmen, sicherheitshalber. Irgendwas blitzte da.«
Wenn überhaupt, dann kann nur hier noch Widerstand sein …
Nichts!
Von Norden her rückt eine bespannte Kolonne in das Gelände ein. Auch auf der Straße zum »Schnellhefterblock« Kolonnenverkehr in beiden Richtungen. Vom anderen Wolgaufer spuckt leichte Flak bunte Farbbänder in die Luft.
Die Maschine fliegt das Stadtgebiet entlang nach Süden. Zwischen den Waben der toten Hausruinen ist Leben zu spüren. Die Trümmer der Geschützfabrik; das metallurgische Werk Kraßnyj Oktjabr; die Tennisschlägerschleife … Hier und da kleine, ruhige, wohlbehütete Feuerpunkte. Lagerfeuer wohl. Anderswo steigen planlos rote und weiße Signale hoch, Leuchtspurmunition dazwischen, ein spielerisches Feuerwerk. Nirgendwo Anzeichen eines Kampfes.
Der Rote Platz mit der Kaufhausruine, in deren Kellern bis zum Januarende Paulus mit seinem Stabe hauste; der Theaterplatz; die schartige Zackenlinie der Zarizaschlucht. Der Betonklotz des Getreidesilos. Und rundum und weiter bis zum südlichen Stadtrand die geschwärzten Kamine der niedergebrannten Holzhäuser, wie die geborstenen Grabsteine eines verfallenden Friedhofs.
Auf der südlichen Ausfallstraße aber, die nach Beketowka, Sarepta und Kraßnoarmejsk führt, wieder marschierende Kolonnen. Kleine, breite Marschblöcke in größeren Abständen, die sich langsam, sehr langsam, fast wie Schafherden, nach Süden bewegen.
»Seht ihr noch was?« fragt der Beobachter.
»Nein«, sagt der Funker, sagt der Mechaniker.
»Und du, Schorsch?«
»Nichts mehr, Franz!« sagt der Pilot. »Ich denke, wir stiften heimwärts.«
»Nichts, gar nichts mehr«, sagt der Beobachter, und durch das Kehlkopfmikrophon klingt seine Stimme wie abgewürgt. »Es ist aus.«
Der Pilot dreht zum Rückflug ein, der Sonne zu, die als ein breites, blutrotes Ei am kalten Westhorizont klebt. Und während er die Maschine wieder auf größere Höhen bringt – denn am Donez, wo inzwischen die Front verläuft, ist mit starkem Flakbeschuß zu rechnen –, diktiert der Beobachter die Bordmeldung: »Meldung sowieso, sowieso, 14.46 Uhr: Nur schwache Bodenabwehr. Feindkolonnen im Zug durch die Stadt. Planloses Feuerwerk mit Leuchtspur- und Signalmunition. Keine Kampftätigkeit mehr. Über Stalingrad Nebel und roter Dunst.«
Der Kriegsgefangene Franz Breuer liegt auf dem Rücken im Schnee. Es ist schöner weißer, unberührter Schnee. Er streicht sich eine Handvoll davon in den Mund. Das erfrischt, das stillt Hunger und Durst.
Zehn Minuten Pause, dann wird es weitergehen. Dann wird die Kolonne von etwa hundert Gefangenen sich wieder in Bewegung setzen zum Marsch nach Süden. Nach Beketowka, Sarepta und Kraßnoarmejsk. Nach jenem sowjetischen Brückenkopf auf dem Westufer der Wolga, der nie eingenommen werden konnte und von dem aus einer der russischen Stoßkeile antrat zur Einschließung der 6. deutschen Armee. Große Auffanglager sollen dort sein …
Gefangen seit vorgestern Mittag.
Kein Schritt mehr allein, aus eigenem Antrieb. Preisgegeben fremdem Willen. Eigentlich hat der Gedanke wenig Beunruhigendes. So war es schon jahrelang, schon seit jenem Julitag 39, als die braune Karte mit dem Gestellungsbefehl kam. Nur daß jetzt andere befehlen. Nein, das ist es nicht. Auch nicht der Hunger. Ihn hat man in den letzten Monaten ertragen gelernt. Und hier soll es 400 Gramm Brot geben! 400 Gramm Brot pro Tag, unvorstellbar …
Breuer starrt in den blaßblauen Himmel hinauf. Hoch droben zieht ein Flugzeug seine Bahn, klein und durchsichtig, eine Amöbe im unendlichen Tropfen der Welt. Ein Fernaufklärer. Merkwürdig, mit diesem fernen deutschen Aufklärer verbindet nichts mehr.
»Dawaj! Pa-idjom!«
Die Posten stoßen die Liegenden mit der Stiefelspitze an, helfen auch hier und da mit dem Gewehrkolben sachte nach. Sie sind nicht bösartig, diese Posten. Sie haben Geduld und treiben nicht. Die Zeit hat hier ein anderes Maß.
Breuer rappelt sich auf. Er zwängt die Schirmmütze über den Kopfverband und wuchtet sein Bündel auf den Rücken. Dann reiht er sich in das vorderste Sechserglied ein. Das ist sicherer. Hinten quälen sich die Schwerverwundeten und siechen dahin, die Sterbenden aus den Kellerlöchern von Stalingrad, die eine neue irre Hoffnung noch einmal auf die Beine gebracht hat. Und ganz hinten randalieren ein paar und versuchen zu plündern. »Beutedeutsche« aus den besetzten Ostgebieten, die jetzt keine Deutschen mehr sein wollen, und russische »Hilfswillige«, die ihre Stunde gekommen glauben.
Langsam geht es weiter. Ein paar hundert Meter voraus eine zweite Kolonne, weiter vorn wieder eine und noch eine. Alle gleichzeitig in Ruhe oder Bewegung, wie an einer Schnur gezogen.
Der Flieger oben dreht nach Westen ein, er wird kleiner und kleiner. Fernaufklärer! Die Front ist fern, Deutschland ist fern. 2000km entfernt. Aber es ist nicht die räumliche Ferne, nein … Bisher war, wohin sie auch kamen, Deutschland stets mit dabei. Als sie an jenem verhängnisvollen Junitag 1941 den Bug überschritten, nahmen sie Deutschland mit. In die verlassenen Schulstuben und Kolchosenbüros, wo noch rote Fahnen und Spruchbänder hingen, und in die strohgedeckten Bauernkaten, in deren dunklen Ecken Ikonen schimmerten. In Kirowograd und Nikolajew, in Krementschug, in Kursk, in den Kosakendörfern am Don, überall war die Heimat innerlich mit dabei. Auch im Kessel von Stalingrad; wie ein abgeschnürtes Glied zwar, aber doch noch verbunden durch einen Nervenstrang von Post und Verpflegung, von Befehl und Gehorsam und von vielerlei Sehnsüchten. Dann aber, vor drei Tagen, als der Reichsmarschall Göring, der sich für die Rettung der 6. Armee verbürgt hatte, sie totsagte und begrub, da wurde dieser letzte Lebensfaden durchschnitten. Die Welt, aus der sie kamen, ist in nebelhafte, unerreichbare Fernen versunken. So mag ein Toter zurückschauen auf sein früheres Erdendasein … Und rundherum, da ist nun diese andere Welt. Eine fremde, durchaus unbekannte Welt, deren Zeichen noch der Deutung harren.
Merkwürdige Gedanken an diesem dritten Tag der Gefangenschaft. Gestern und vorgestern war das noch anders gewesen. Da hatte das Gefühl, der ständig drohenden physischen Vernichtung entronnen zu sein, eine Art Hochstimmung erzeugt. Als sie waffenlos die durchbrochenen Kellertrakte entlangzogen und dann durch die Trümmerstraßen nach Süden und der Kampflärm aus dem Nordteil der Stadt allmählich hinter ihnen verklang, da hatte diese seltsame Stimmung sich eingestellt, war stärker geworden und hatte sie am Ende überwältigt wie eine alles überschwemmende Woge. Es war nicht aus, es ging weiter …
Und dieser glücklichen Stimmung zeigte sich die fremde, neue Welt in fast schwankhaften Zügen. Der erste sowjetische Posten in den Hausruinen südlich des Theaterplatzes. »Urr, Urr!« hatte er gekrächzt und zur Erläuterung in der linken Hand ein Dutzend Armbanduhren geschwenkt, während seine rechte nach neuen Beutestücken griff. Auch Breuer sah seine Uhr verschwinden, ehe er wußte, wie ihm geschah. Und die Frau in Uniform daneben, die Pelzmütze fesch auf dem schwarzen Haar, die Maschinenpistole um den Hals und eine Zigarette zwischen den grell geschminkten Lippen, die mit hartem Blick das Einsammeln überwachte … Sie hatten gelacht. Schwatzende Rotarmisten um kleine Holzfeuer hockend; andere zur Musik eines Schifferklaviers miteinander tanzend oder aus Jux ihre Leuchtspurmunition in den Himmel verpulvernd. Sogar Schokakola und R6-Zigaretten aus deutschen Verpflegungsbomben boten sie an, freigebig und ohne Arg. »Friiitz, Friitz!« – »Nu schto, Gitlär kapuut?« – »Gitlär kapuut, wojna kaput, wir alle Kamrad!« Sie hatten gelacht und Schultern geklopft und dabei immer noch nach den Leberwurstkonserven aufgestoßen, die der blöde Zahlmeister erst am vorletzten Tag herausgerückt hatte.
Und der Bataillonskommandeur, dem sie vorgeführt wurden: eine kugelige Gestalt, barhäuptig und in schnapsseliger Siegerlaune. Er prahlte mit deutschen Satzbrocken, fragte nach »Geethe« und »Genrich Geine« und ließ von einem Dolmetscher die Kapitulationsbedingungen der Roten Armee verlesen, in denen den Gefangenen das Leben und »persönliches Eigentum und Wertsachen« feierlich garantiert wurden. Währenddessen gingen seine Beauftragten durch die Reihen und fingerten mit der Geschicklichkeit von Berufsdieben Füllhalter, Messer und Uhren aus den verborgensten Verstecken. Auch darüber hatten sie kopfschüttelnd gelacht, zumal ihnen Tabak- und Eßwaren belassen wurden. Davon hatten die Russen selbst genug. Noch immer warfen die Ju’s Verpflegung ab.
Auch über den makabren »Scherz« vor dem Schuppen, in dem sie die erste Nacht der Gefangenschaft verbrachten, hatten sie zu guter Letzt lachen müssen. Zu dreien hatte man sie in kurzen Zeitabständen hineingeführt, und irgendwo hinten krachten jeweils kurz darauf drei Schüsse. Und als sie sich dann schreckensbleich und verstört in dem düsteren Stall wiederfanden, alle wohlbehalten, und die Russen sich ausschütten wollten vor Lachen – »Nix Genickschuß, hahaha! Genickschuß nur SS!« –, ja, da hatten die meisten schließlich doch erleichtert mitgelacht.
Der Schwank nach der Tragödie …
Heute sieht alles anders aus. Die Kameraden der letzten Tage von Stalingrad – Hauptmann Eichert, Leutnant Schwarz, der unverwüstliche Findeisen, der »Zahli« Schwiderski aus Danzig, der schwerverwundete Dierk – sie alle sind fort. Ringsum nur fremde Gesichter. Hohle Gesichter, in Stoff oder Fell gepackt. Augen oft nur, die über einen Tuchfetzen hinwegstieren. Zerlumpte Verwundete, auf Stöcke gestützt oder an Krücken humpelnd; Kranke und Ausgezehrte, eine verlauste Decke um die Schultern, statt des Schuhwerks Strohwische an den Füßen. Aber auch andere, wohlgenährt und gut gekleidet, mit sorgsam gepackten Tornistern und Rucksäcken. Stabsoffiziere mit Kordelmütze, Sonderführer, Feldgendarmen in Schafspelzen, das breite Hoheitszeichen an der Fellmütze, russische »Hilfswillige«, Kroaten, Rumänen. Und alle mit diesem merkwürdigen Blick, hart und voll Mißtrauen oder einfach leer. Hier ist nichts mehr, was aneinanderbindet. Die Ordnungsmacht, die Gemeinschaft bildet, ist nicht mehr. Keine Aufgabe, kein Ziel mehr, das verpflichtet. Bei den meisten wohl auch kein Kraftüberschuß mehr, der dem Nächsten zugute käme. Hier ist jeder sich selbst der Nächste. Sie waren totgesagt, hatten tot zu sein. Nibelungen, Spartiaten, Helden des Nationalsozialismus, geeignet nur noch für Gedächtnismale und Erbauungsbücher. Aufgegeben, preisgegeben. Ausgestoßen in die Einsamkeit des eigenen Ich. Tote auf Befehl.
Ein Fahrzeug rumpelt heran. Ein Aufschrei, Gebrüll. Der Lastwagen rattert vorüber, oben johlen sie und drohen mit den Fäusten. Einer schwenkt das Beutestück, einen prall gepackten Tornister. Hinten lamentiert der Beraubte, doch niemand dreht sich um. Die russische Fronttruppe war freundlich und großzügig im Bewußtsein des errungenen Sieges. Hier ist schon Hinterland, Etappe. Nachschubdienste, die auch dabeisein wollen, führen hier ihren Privatkrieg. Breuer strafft den Strick, an dem sein Bündel hängt. Nein, an diesem Landstreichergelumpe würde sich niemand vergreifen. Wer sollte auch ahnen, daß in dem verlausten Woilach ein Paar deutsche Filzstiefel stecken! An den Füßen trägt er die Knobelbecher, die ihm der »Zahli« vorsorglich gegeben hat. Mit Filz- oder gar Reitstiefeln kommt man nicht weit …
Die Stadt ist nun schon fern, eine blasse Silhouette, schartig wie ein Granatsplitter, in roten Dunst gehüllt. Rings umher freies Feld. Weiter vorn marschiert die nächste Kolonne, dann noch eine und wieder eine. Die Straße, deren großen Bogen man jetzt weithin überschauen kann, ist besetzt mit diesen kleinen Marschgruppen, die, umkreist von russischen Posten, wie Schafherden dahintreiben. Die Reste der geschlagenen 6. Armee ziehen in die Gefangenschaft. Seit Tagen schon und wohl noch tagelang. 91000 Gefangene, wenn man dem Abschlußbericht der Roten Armee trauen darf, der in der Frühe verlesen wurde. 91000 Mann, 2500 davon Offiziere, 24 Generale, darunter zwei Generalobersten und ein Generalfeldmarschall. Ein auf dem Gipfelpunkt seiner Niederlage beförderter Feldmarschall …
Wieder Pause. Und wieder der köstliche, reine, erfrischende Schnee. Zwei, die neben Breuer liegen, unterhalten sich. Das kommt selten vor.
»Jetzt bloß sehen, daß man durchhält die paar Tage!«
»Paar Tage?«
»Na, der Führer tauscht uns doch aus!«
»So?«
»Ja, über Schweden. Im Verhältnis 1:5. Einen Stalingrader gegen fünf Russen. Soviel hat er allemal noch.«
»Austauschen! Wer sagt denn das?«
»Der Oberst hinten, dem sie vorhin die Stiefel abgezogen haben. Der sagt, das ist sicher.«
»Oberst, hach! Was weiß schon so ’n Oberst!«
»Na, du wirst sehen, du! Soviel wertvolles deutsches Blut, das gibt der Führer nie preis.«
Austauschen, du lieber Himmel! Wertvolles deutsches Blut … Ja, wenn Göring am 30. Januar nicht gesprochen hätte! Am 10. Jahrestag der nationalsozialistischen »Machtergreifung« hat er sie feierlich eingesargt und begraben. Tote tauscht man nicht aus.
Es geht weiter. Weiter dem Unbekannten entgegen, das die Hoffnung verschönt. Es ist kalt, so kalt, daß der Atem als weiße Wolke um die Gesichter hängt. Irgendwo wird Wärme sein.
Austauschen … Tote tauscht man nicht aus. Es gibt kein Zurück. Aus dem Jenseits ist noch niemand zurückgekehrt. Tote …
Da liegt etwas mitten auf der Straße. Ein Häuflein Feldgrau. Langsam kommen sie darauf zu, teilen sich mechanisch in der Mitte und schieben sich zu beiden Seiten daran vorbei. Es sieht aus wie ein Haufen Lumpen. Nur eine Hand ist da, und deren Finger kratzen an dem glattgeschliffenen Eis der Straße. Und ein Kopf, mit Tüchern umwickelt. Liegt in einer Blutlache. Ein schreckliches, hell leuchtendes Rot. Dünner Dampf steigt davon auf … Die Posten sind menschlich, sie treiben nicht, sie schimpfen nicht. Das ist ihr Befehl. Aber es ist auch ihr Befehl, jeden abzuschießen, der nicht mehr mitkann. Und auch das ist wohl menschlich.
Breuer erschauert. Vielleicht liegt Dierk jetzt auch hier irgendwo, er hat kaum Chancen gehabt. Vielleicht würde auch er, Breuer selbst, jetzt schon … Wenn nicht gestern abend …
Gestern abend. Ach ja …
Eine Straße im Südteil der Stadt, in Finsternis gehüllt. Erdlöcher, Draht, vereiste Schutthügel, über die sie, sich aneinander festhaltend, hinwegstolperten. Haaalt! Rechts die schemenhafte Silhouette einer Hausruine. Irgendjemand rief nach dem rangältesten Offizier. Hauptmann Eichert meldete sich und verschwand im Dunkel.
Nach einer Weile kam er zurück.
»Breuer, Sie sind doch Ic! Los, Ihr Typ ist hier gefragt?«
Breuer fühlte sich aus der Reihe geschoben, hinter einer Schattengestalt tastete er sich an Sandsäcken vorbei eine Steintreppe hinunter in Kellerfinsternisse und sah sich plötzlich in einem langgestreckten, überheizten Raum. Ein Grammophon krächzte hektische Kampflieder. Beim Schein einer Einheitslaterne tippte ein Mädchen mit zwei Fingern auf einer Schreibmaschine. An der niedrigen Decke hing eine zweite Petroleumlampe.
Der Schattenmensch, der ihn hereingeführt hatte, zeigte sich in der flackernden Helligkeit als ein schmächtiger junger Mann, der sich sehr geschäftig gab. Er trug eine russische Uniformbluse ohne Rangabzeichen, sein dünnes Haar war nach deutscher Art lang geschnitten und nach hinten gekämmt. Breuer erfuhr von ihm, daß er sich bei der 7. Abteilung im Stabe einer Gardeschützendivision befand und daß »der Herr General« ihn zu sehen wünsche.
Und dann eine wahrhaft gespenstische Szene! Ein niedriges Kellergewölbe. Ein langer, schmaler Tisch. Auf seinen beiden Enden zwei große Messingkartuschen, die Öffnungen zu schmalen Schlitzen zusammengehämmert. Rötlich flackernde Flammenzungen darauf, die breite Rußstreifen zur Decke hinaufschickten. Hinter dem Tisch ein halbes Dutzend sowjetischer Offiziere, wie ein Femegericht. In ihrer Mitte eine Art uniformierter Buddha, dick und schwer, mit einem runden, schlagflüssigen Gesicht. Ein phantastischer Anblick für ein Auge, das monatelang nur in ausgezehrte Hungerfratzen geblickt hatte.
Ein einzelner Stuhl stand mitten im Raum. Man bedeutete Breuer, sich zu setzen. Die Offiziere betrachteten ihn schweigend, und Breuer spürte, wie Schweißtropfen unter seinem Kopfverband hervorquollen und ruckweise zwischen den Bartstoppeln hinunterrannen. Irgendwo seitwärts zwischen Stuhl und Tisch stand abwartend der junge Russe.
Endlich quetschte der dicke Mann, fast ohne die Lippen zu bewegen, ein paar Worte hervor.
»Der Herr General fragt, wie Sie heißen.«
Breuer nannte seinen Namen. Alter, Beruf, Studium? Der Dolmetscher übersetzte.
»Der Herr General fragt, ob Sie glauben, daß Deutschland diesen Krieg noch kann gewinnen.«
»Der Krieg ist verloren«, sagte Breuer leise. Und er erinnerte sich, daß er im Herbst 41 nach der Kesselschlacht bei Kiew von sowjetischen Gefangenen auf die gleiche Frage die gleiche Antwort erhalten hatte.
Die Russen nickten sich zu. Dann flüsterte einer dem dicken Mann etwas ins Ohr, und dieser, weit zurückgelehnt und die Arme über dem Bauch verschränkt, bewegte wieder die Lippen.
»Der Herr General fragt, wieviel Agenten Sie haben eingesetzt.«
Breuer blickte verständnislos.
»Nu, wieviel Spione Sie haben eingesetzt gegen uns! Sie verstehen nicht?«
»Spione?« Breuer schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Spione eingesetzt.«
Die Offiziere lächelten sich zu. Der General winkte ab und stellte eine neue Frage.
»Der Herr General fragt, wenn er Sie jetzt bringt zurück an die Front und läßt frei gehen, ob Sie dann wollen zurück nach Deutschland.«
Frei gehen … Zurück nach Deutschland … Breuer schoß das Blut ins Gesicht. Doch die Welle verebbte. Ein Bild stieg auf: Leutnant Wiese in dem Erdloch bei Gumrak, sterbend und schon mit dem sehenden Blick des Sterbenden. Zurück führt kein Weg mehr …
»Ich habe drüben eine Frau und zwei Kinder«, sagte er hilflos.
Schweigend sahen die Russen ihn an.
»Der Herr General fragt, ob Sie noch einen Wunsch haben.«
»Etwas zu essen«, murmelte Breuer. Seit vorgestern Mittag hatte er außer ein paar Stückchen Schokakola nichts mehr gegessen.
Und dann war da ein Tischchen. Brot, Zucker, Tee. Ein faustgroßes Stück Speck, ein kleines Glas Wodka … Breuer aß, und die ganze Zeit sahen die Russen ihm zu, stumm, reglos. Nur ihre Schatten, vom Flackerlicht der Kartuschen an die Kellerwände geworfen, schaukelten durcheinander wie trunkener Spuk.
Später ein eisernes Feldbett, Decken. Wärme.
»Sie werden hier schlafen bei uns. Der Herr General hat so gesagt. Und morgen früh Sie werden weitermarschieren in ein Lager mit einer anderen Gruppe.«
Breuer nahm das alles kaum noch wahr. Er schob sein Bündel unter den Kopf, zog die Decken hoch und fühlte in das Heranwogen des Schlafes hinein nur noch das träge Krabbeln der Läuse.
Das war gestern gewesen.
Seit Tagesanbruch marschieren sie nun schon. Lange Stunden schon. Pause, weiter. Pause, weiter … Irgendwann wird dieser Marsch zu Ende sein. Irgendwo wird ein Lager sein, wird Wärme sein und eine Pritsche, auf der man sich ausstrecken kann. Und Essen. Die verheißenen 400 Gramm Brot. Breuer ist noch nicht sehr hungrig. Das Abendbrot, das ihm der russische General servieren ließ, hält noch vor. Auch nach Eicherts gehorteter Leberwurst stößt er noch manchmal auf. Eichert und die anderen … Ob er sie wiedersehen wird?
Häuser zeichnen sich in der Ferne ab, kommen näher. Niedrige, einzeln stehende Häuser aus Holz und Lehm, weiter hinten ein paar hohe Steinkästen. Sie überqueren Bahngleise und sind dann schon mitten in dem Ort. BEKETOWKA. Viele Menschen auf der Straße, vorwiegend Frauen und Kinder. So dicht bei der Todesstadt so viel Leben! Verschlossene Gesichter mit forschendem Blick. Selten wird eine Drohung deutlich in Wort oder Gebärde. Halbwüchsige springen vor, holen aus zum Schlag. Die Posten wehren ruhig, aber nachdrücklich ab. Das alles ohne Lärm, fast ohne Laut. Breuer fühlt auf der Haut die Blicke, die sein Gesicht abtasten, und manchmal spürt er verwundert darin einen Anflug von Mitleid. Ach ja, der Kopfverband! Er muß scheußlich aussehen mit diesem schmutzigen, blutverkrusteten Verband. Dabei scheint die Wunde am linken Auge gut verheilt zu sein, er hat kaum noch Schmerzen. Es ist etwas Seltsames um die Wirkung von Kopfverbänden. Alles Bilderbuchheldentum verkörpert sich in einem Kopfverband. Ein Held mit Bauchschuß oder abgefrorenen Füßen, undenkbar!
Und dort, das ist wohl das Lager! Stacheldraht, behelfsmäßig gezogen und stellenweise schon zerrissen. Dahinter Werkhallen. Flache Ziegelbauten mit leeren Fensterhöhlen, zum Teil ohne Dach … Vor dem Stacheldraht stauen sich die Marschgruppen. Und auch dahinter, wo der Schnee zu Schmutz zertreten ist, Menschen in planlosem Durcheinander. Das Lager … Was hatten sie sich eigentlich gedacht? 91000 Gefangene! Und der Ort ist monatelang bombardiert worden …
Sie machen am Straßenrand halt, dürfen sich hinsetzen. Es kann noch Stunden dauern, bis sie dort drüben eingeschleust sind. Und dann?
»Ic! Ist hier jemand von Ic?«
Ein Sonderführer geht die Reihen entlang, neben ihm ein russischer Offizier. Breuer hat diesen Sonderführer beim Stabe der 6. Armee gesehen. Er ist forsch und geschäftig. Er hat einen neuen Herrn. Dolmetschern wird es hier nicht schlecht gehen. Aber vielleicht geht auch diese Rechnung nicht auf?
»Ic! Wer ist hier von Ic?«
»Hier!« schreit Breuer. Ic ist anscheinend gut, es hat ihm ein Abendessen und eine Nachtruhe in einem richtigen Bett eingebracht. Er blickt hinüber zum Lager. Eine Feldküche ist dort aufgefahren. Rundherum wildes Getümmel. Lärm und Geschrei, dazwischen Kommandos. Ein Schuß fällt …
Ein Stück weiter wartet eine kleine Gruppe von Offizieren. Alles höhere Dienstgrade. Zwei Oberstärzte darunter.
»Was haben Sie denn da?« fragt der eine. »Augenverletzung? Lassen Sie mal sehen!« Er lüftet vorsichtig den Verband. »Ich bin nämlich Augenspezialist. Zwölf Jahre Südamerika. Dr. Unschlichter. Schon mal gehört?«
Breuer verneint bedauernd.
Das Auge liegt jetzt frei. Der Arzt drückt das verschorfte Lid in die Höhe, blendendes Licht schießt in Breuers Kopf.
»Links … rechts … Folgen Sie bitte meinem Finger!«
Das Auge bewegt sich. Er kann sehen. Aber das unerträglich helle Bild deckt sich nicht mit dem des anderen Auges. Es steht schief.
»Achsenverschiebung, Doppelbilder«, murmelt der Arzt. »Hm, tja … da ist wohl mal eine Operation nötig. Jedenfalls ist der Augapfel selbst unverletzt.« Mit ruhiger Hand zieht er den Verband wieder gerade. »Kein Wundfieber, keine Sepsis, erstaunlich … Daß Sie das überlebt haben, mein Lieber …«
Überlebt, ja …
»Also dieses Schwindelgefühl, Doktor Rickmers«, hört Breuer neben sich sagen, »ich weiß nicht … Ich glaube, ich bekomme Flecktyphus.«
Es ist ein Oberst. Innenpelz mit Lammfellkragen, auch die Schirmmütze mit Lammfell besetzt. Darunter ein schmales, feinnerviges Gesicht, glatt rasiert. Zu seinen Füßen ein fast neuer Rindlederkoffer, daneben eine mit Lederriemen verschnürte unförmige Deckenrolle.
»Nun, Herr Dumont«, meint der mit Dr. Rickmers angeredete Arzt, »dazu müßte man erst mal Läuse haben. Und Sie …«
»Aber ich bitte Sie, Doktor, diese ganz unnatürliche Schwäche …« Das Gesicht verzieht sich zu der grämlichen Grimasse eines hartleibigen Schäferhundes. »Wenn ich wenigstens jemanden hätte, der mir mein Gepäck trägt …«
Ein erwartungsvoller Blick fällt auf Breuer. Der blickt verständnislos zurück.
Überlebt. Ja, er hat überlebt. Warum? Warum ist an ihm ein Wunder geschehen?
Ein Lastwagen kommt herangebraust. Darauf hin- und hertorkelnd der russische Offizier und der Dolmetscher.
»Was das alles bedeuten mag«, mault der Oberst. »Vielleicht wäre man doch besser untergetaucht, in Landserkluft, als Schütze Piepenfink …«
Der Sonderführer springt ab. Er greift beflissen nach Oberst Dumonts Gepäck.
Es will nicht hell werden.
In diesem verdammten Dreckloch will es nicht hell werden. Kein Wunder auch! Denn durch die zweimal drei Ziegelsteine, die man hoch oben in der Wand ausgespart hat, fällt das Frühlicht nur spärlich in den Raum. In halber Höhe zieht sich eine zwei Meter breite durchlaufende Holzpritsche an der Längsseite und der einen Querwand entlang. Wer dort oben sitzt, kann mit dem ausgestreckten Arm fast die Decke berühren. Eine dünne Lage fauligen Strohs bedeckt die Pritschenbretter und den Zementfußboden. Oben ist es trockener, dafür ist die Luft dort schlechter. Gestern nachmittag, als sie ankamen, war da oben noch Platz. Jetzt ist alles voll. In der Nacht sind Neue gekommen …
Breuer liegt unten. Es ist feucht hier unten. Von dem Schnee, den die Neuen mit hereingeschleppt haben. Er setzt sich auf. Er kann nicht mehr schlafen, es stinkt zu sehr. Nicht nur von der Tür her, wo die beiden Tonnen stehen. Die Verpflegungstonne und die Latrinentonne. Beide ohne Deckel. Über der Latrinentonne liegt ein Knüppel als Sitzstütze. Hoffentlich verwechselt das niemand, wenn sie nachts im Halbschlaf dorthinschlurfen! Zwölf Schritte hin, zwölf Schritte zurück, begleitet von dem Gefluche der Getretenen.
Eigentlich ziemlich groß, dieser Raum! denkt Breuer. Acht bis neun Meter lang und etwa halb so breit. Als sie vor einer Woche, zitternd vor Kälte und Erschöpfung, zum erstenmal vor dem unheimlichen, fensterlosen Gebäude standen, hatten sie nicht gedacht, daß sich darin ein so großer Raum befinden könnte.
Fassungslos hatten sie gestanden vor diesem zweistöckigen Bau im Stil der Jahrhundertwende, grau verputzt, mit hohen Fenstern und einer zweiflügligen Haustür, zu der eine Steintreppe hinaufführte. Zur Zarenzeit mochte hier ein reicher Kaufmann gewohnt haben. Vielleicht war einmal ein Garten dagewesen mit Bäumen und Sträuchern, mit einer Schaukel für die Kinder.
Jetzt ein Torso in einer Schneewüste, an einem ungepflasterten Fahrweg, der über Schutt und Geröll führte. Die Stuckfassade abgebröckelt, die leeren Fensterhöhlen mit Bruchziegeln zugemauert, ganz oben jeweils ein paar kleine Löcher, wie Schießscharten ausgespart.
Ein totes Haus. Doch aus diesem Haus heraus waren seltsame Geräusche gedrungen. Ein hartes, rhythmisches Klopfen. Rauhe, schimpfende Stimmen. Jemand schrie hell. Eine Frau. Oder ein Kind. Dazwischen ein anhaltendes Winseln, wie von einem Tier.
Stadtgefängnis Beketowka.
Fast eine Stunde hatten sie, mit den Zähnen klappernd, auf der Straße gestanden, diesen Anblick vor Augen. Dann kam der Sergeant fluchend heraus und ließ sie ihr Gepäck zu der alten Unterkunft zurückschleppen. Soviel war seinem Geschimpfe zu entnehmen gewesen, daß das Gefängnis überfüllt sei, und sie hatten aufgeatmet.
Sechs Tage später, am 13. Februar, gestern also, standen sie wieder hier. Und jetzt war Platz …
Woher es nur so bestialisch stinken mag! Nicht allein von der Tonne drüben und auch nicht von den Ausdünstungen, die 40 verdreckte Menschen in einem ungelüfteten Raum verbreiten. Es ist noch etwas anderes …
Rechts liegt Oberst Dumont mit angezogenen Knien, in Pelz und Decken gerollt. Im Schlaf stößt er ein paarmal mit dem Hintern gegen Breuer und quiemt dazu wie ein junger Hund. Überhaupt hat er manche Ähnlichkeit mit einem Hund. Mit einem überzüchteten Rassehund. Einem recht ungepflegten freilich im Augenblick. Aber nachher wird er sich rasieren und die Lederkappen seiner Filzstiefel mit Schuhwichse polieren. Oder vielleicht wird das der Sonderführer von Id machen, der ihm auch das Gepäck bis hierher geschleppt hat. Und der Oberst leiht ihm dann zum Dank den Rasierapparat. Mehr wird dabei kaum herausspringen. Oberst Dumont hat noch alles, was er braucht. Aber er gibt nicht gern etwas ab.
Als sie drüben in der vorigen Unterkunft, die jetzt in der Rückschau als ein wahrer Garten Eden erscheint, ihren ersten Tag verbrachten, waren aus Breuers Manteltaschen noch zwei zerbrochene Tabletten Preßkaffee zum Vorschein gekommen.
»Ach, Sie haben noch Kaffee?«
Oberst Dumont ließ es sich nicht nehmen, den Kaffee in der Küche aufzubrühen, und jeder bekam etwas davon ab. Am Abend fingerte er ein Büchschen Tee hervor und schnüffelte mit krauser Nase daran herum. »Tja, für alle langt’s nicht!« Er trank seinen Tee zusammen mit den beiden Oberstärzten. Die andern bekamen den Satz für einen zweiten Aufguß. Aus den getrockneten Teekrümchen hatten sie dann später Zigaretten gedreht, während der Oberst mit Genuß seine »Senoussi« rauchte.
Ja, Oberst Dumont hat noch allerlei: Schokolade, Tabak, Kekse und kleine Konservenbüchsen, aus denen er nachts, wenn die anderen schlafen, heimlich löffelt. Als sie gestern gleich nach ihrer Ankunft zur Entlausung befohlen wurden, mit allen ihren Sachen, hat er seinen Koffer blitzschnell unter das Stroh geschoben …
Gespenstisch auch diese Entlausung. Die Banja – der Baderaum, ein Loch irgendwo im Keller, beleuchtet allein von dem Feuerschein eines riesigen Ofens. Zwei schwitzende Kerle davor, nur mit Drillichhosen bekleidet, wie die Henkersknechte vom Eisenhammer. Und 30 Mann zusammengequetscht wie die Ölsardinen, sich aneinanderklammernd in dem Bestreben, sich zu entkleiden. Der brandige Geruch der Klamotten, die ihnen die Kerle nach fünf Minuten wieder zuwarfen, versengt und verschrumpelt und so heiß, daß man sie kaum anfassen konnte. Eigentlich hätten sie sich hier waschen sollen, doch bei der Enge war das unmöglich. Entlausung! Die kurze Hitze hatte die Läuse erst richtig munter gemacht. Und jetzt hatte wenigstens jeder welche … Und Filzung natürlich! (Mit einmal war dieses neue Wort da, und niemand wußte woher.) Alles, was aus Metall war und die bisherigen Versuche dieser Art überdauert hatte – Messer, Feuerzeuge, Brillenfutterale, Löffel – verschwand. Und nicht nur dieses. Auch Breuers Füllfederhalter. Beim Abklopfen der Taschen entdeckten sie ihn. In Wien hatte er ihn gekauft, 1928, als Student im ersten Semester. Und alles damit geschrieben, 15 Jahre lang. Die Kollegnachschriften. Prof. Reininger: Kant; Prof. Kralik: Das deutsche Heldenepos. Ein paar Glossen für die Wiener Neuesten Nachrichten, in deren Verlagshaus in der Josefsgasse er zusammen mit drei anderen wohnte. Sommersemester in Genf – Ansichtskarten von der Rousseau-Insel, vom Völkerbundspalast, von Evian, Montreux und den Dents du Midi … Die Examensarbeiten in Königsberg … Und mit roter Füllung die Korrekturen der Schulhefte. Er hatte sich so daran gewöhnt, daß er mit keinem anderen Halter mehr schreiben konnte. Später dann die Briefe von der Front, aus Warschau, Paris, Sarajewo. Aus Polonoje, Kirowograd, Nikolajew, Kursk … lange Selbstgespräche oft voll quälender Fragen. Und auch den letzten Brief an Irmgard aus Stalingrad … Zwar war die Kappe unten abgeplatzt, aber sonst war der Halter noch wie neu. Und nun kam so ein Urviech mit seinen dicken Fingern und vergriff sich daran. Wieder packt Breuer die Wut, und er staunt, worüber er noch in Wut geraten kann.
Nein, hier wird es nicht heller. Hier wird es nie heller. Es sei denn, die Sonne scheint einmal, und diese Mauer mit den drei Luftlöchern liegt nach Süden oder Westen hin. Wenn sie genügend tief steht, würden ihre Strahlen weit in den Raum fallen. Sie würden etwa dorthin fallen, wo dieser alte, weißhaarige Major sitzt …
Und auf einmal weiß Breuer, warum es so stinkt.
Der Major ist einer von den Neuen, die in der letzten Nacht gekommen sind. Er hat sich aufgesetzt und ist mit den Lappen beschäftigt, die seine Füße umhüllen. Neben ihm steht ein Paar Filzstiefel, daran lehnt ein als Gehstock zurechtgeschnittener Knüppel. Er löst den einen Lappen, vorsichtig und voll Erwartung, als packe er ein Geburtstagsgeschenk aus. Dabei murmelt er vor sich hin. Der Fuß liegt jetzt frei, und alles ist schwarz. Wie flüssiger Teer. Der Major blickt darauf hin und schüttelt den Kopf. Dann packt er alles wieder ein.
Aber es stinkt immer noch. Es stinkt wie damals in Polen, in jenem heißen Herbst, als die Toten klein und grau in den Gräben der Vormarschstraßen verwesten, und 41 in Rußland, wo Pferdekadaver mit aufgedunsenen Bäuchen in der Sonne gärten …
Das Schloß klappert, kreischend dreht sich die Eisentür in den Angeln. Es ist der Posten. Immer zeigt sich nur dieser stumpfsinnige, maulfaule Posten. Kein Sergeant, kein Offizier. Auch nicht der freundliche Oberstleutnant, der sich in dem vorigen Quartier um sie kümmerte. »Sie kommen in eine menschenwürdige Unterkunft!« hatte er gesagt, und sie hatten ihm geglaubt …
Der Posten schreit etwas.
Einer der Schläfer, auch jemand von den Neuen, die in der Nacht kamen, richtet sich auf, antwortet auf Russisch und ruft dann in den Raum:
»Zwei Mann zum Verpflegungsempfang; zwei Mann die Scheißtonne raustragen!«
Breuer blickt auf. Dieses knochige Gesicht, das dünne Flachshaar … den Mann kennt er. Das ist der O3 der motorisierten Division vom Karpowka-Abschnitt. Vor Weihnachten, als die Ausbruchspläne schwelten, war er ein paarmal dort unten gewesen, und die von Ic hatten ihn stets ganz groß aufgenommen. Die lebten damals noch gut.
»Hallo, Leutnant Kuhlemmer!«
Der Leutnant blickt kurz herüber. »Mahlzeit, Mahlzeit!« ruft er. Das Wiedersehen scheint ihn nicht zu beeindrucken. »Na, will wohl keiner, was? Dann wird eben jemand bestimmt!«
Vier Mann schleppen die Tonnen hinaus. Inzwischen sind auch die anderen fast alle wach geworden. Verpflegung! Endlich! Gestern hat es hier nichts gegeben außer einer Tonne voll heißen Wassers.
Breuer mustert die Neuen. Quer zu seinen Füßen hat sich ein Generalstabsoffizier niedergelassen, ein noch junger, breitschultriger Oberstleutnant, den Oberst Dumont mit »Herr Wegener« begrüßte. Rechts auf der Pritsche sitzt ein rumänischer Oberst, die Lammfellmütze auf dem Kopf. Zwei Sonderführer in Luftwaffenuniform sind noch da, ein paar Landser, Leutnant Kuhlemmer, der weißhaarige Major, der von seiner Nachschubeinheit erzählt. Das System, nach dem hier Auslese gehalten wurde, ist nicht zu erkennen.
Neben ihm rüstet sich Oberst Dumont zum Rasieren. »Ob man hier wohl um heißes Wasser bitten kann? Zur Not würde es ja auch mit Tee gehen, obwohl die Gerbsäure die Haut angreift.«
Die vier Mann kommen mit den Tonnen zurück. An der einen haben sie schwer zu schleppen. Sie ist gefüllt bis zum Rand mit einer dampfenden Flüssigkeit.
»Und Brot? Wo ist das Brot? – He, Brot! Chleba!«
Der Posten schlägt die Tür zu und schließt ab. Leutnant Kuhlemmer macht sich an die Ausgabe. Bereitwillig füllt er die Kochgeschirre. Es ist heißes Wasser …
Breuer schlürft das Wasser aus dem Kochgeschirrdeckel. Kein Brot. Nun, vielleicht gibt es noch welches, später. Menschenwürdige Unterkunft …
Und dabei hatte sich in den ersten zwei Wochen alles so gut angelassen. Der Lastwagen hatte sie zu einem der sechsstöckigen Steinkästen gefahren, die zwischen den Holzkaten standen wie Elefanten auf einem Hühnerhof. Eine Zwei-Zimmer-Wohnung im dritten Stock. Mit Parkettfußboden, Zentralheizung und Spülklosett. Ohne Möbel zwar, und Heizung und Wasserleitung waren eingefroren, und das elektrische Licht brannte nicht. Aber da war ein eiserner Ofen gewesen, dessen Rohr zu einem der Fenster hinausführte. Und eine Küche mit Herd. Das alles für acht Mann. Und sie hatten sich fast frei bewegen können. Im Hausflur unten stand ein Zivilist auf Posten. Ein gebeugter, schwindsüchtiger Mann unbestimmbaren Alters mit einer roten Armbinde und einem Schießprügel, den 1812 ein Poilu hier vergessen haben mochte. Wenn sie hinunterkamen, um auf dem Hof Holz kleinzumachen oder die Behelfslatrine aufzusuchen, öffnete er seinen zahnlosen Mund zu einem freundlichen Grinsen. »Sdrasdwujtje!« sagte er und: »Skoro domoj!« – »Bald nach Hause!« hieß das und war ehrlich gemeint. Tag und Nacht stand er dort, ohne jemals abgelöst zu werden, und ließ sie jederzeit passieren, fragte nicht nach Wohin und Warum. Er hatte wohl mehr auf Säge und Axt aufzupassen und auf den Stapel dicker Holzstämme. Die konnten schneller verschwinden als die fußlahmen und halb verhungerten Deutschen, die schon nicht weglaufen würden. Wohin hätten sie auch laufen sollen bei 30 Grad Kälte? Ihr dünner Lebensfaden hing an dem Brennholz hier, an ein paar runden Broten und einem Säckchen Hirse. Nein, jene erste Unterkunft war nicht schlecht gewesen, dort hätte man überdauern können.
Oberst Dumont schält sich aus seinen Decken, schafft mit den Ellenbogen Platz und richtet sich auf.
»Es scheint kein Brot zu kommen«, sagt er. »Man sollte doch wohl etwas unternehmen. Der Leutnant da drüben … Sie sprechen doch Russisch! Könnten Sie nicht einmal …«
»Der Leutnant da drüben!« erregt sich Kuhlemmer. »Warum gerade ich? Machen Sie doch gefälligst selbst etwas, wenn Sie so gute Vorschläge haben! Sie sind doch hier der Ranghöchste!«
»Ja, wirklich«, meint Oberstarzt Rickmers, der sich leise mit Dr. Unschlichter unterhalten hat. »Wir sollten einen Gruppenältesten bestimmen. Herr Dumont, nicht wahr?«
»Nein, also bitte!« Der Oberst setzt wieder seine Leidensmiene auf. »Bei meinem Zustand … Ich glaube doch, es ist Fleckfieber.«
»Na, dann will ich mal!« sagt Oberstleutnant Wegener, der Generalstabsoffizier. Er erhebt sich ächzend, macht ein paar Kniebeugen und geht zur Tür. »Es muß doch so etwas wie einen Kommandanten geben in diesem Scheißladen!«
Er bullert mit den Fäusten gegen die Tür. Nichts regt sich. Er nimmt den Knüppel von der Lokustonne und haut damit gegen das Blech, daß die Wände dröhnen.
Schwere Schritte stapfen die Treppe herauf.
»Schto takoj!«
»Wo ist der Kommandant! Den Kommandanten wollen wir sehen!«
»Nix Kommandant!«
Die Schritte entfernen sich.
»Scheiße!«
Der Offizier geht zu seinem Platz zurück, legt sich hin und zieht die Decke über den Kopf.
Es schmerzt bis in die Eingeweide hinunter, an die Verpflegung jener ersten zwei Wochen zu denken. Zwei große runde Brotlaibe hatte der sowjetische Oberstleutnant, der wie ein Schauspieler aussah, herangeschafft. Sie hatten die Brote, ohne viel zu überlegen, gevierteilt, und jeder hielt plötzlich ein gutes Kilo in der Hand. Schönes durchgebackenes Graubrot. Und einen Blechteller voll Zucker. Und ein Säckchen Hirse. Verwirrt hatten sie zuerst auf die kleinen harten Körner gestarrt, den Finger hineingesteckt und probiert. Hirse kannten sie bis dahin allenfalls als Vogelfutter. Aber die beiden geschwätzigen Rumänen verstanden sich darauf. Sie bemächtigten sich des Säckchens, verschwanden damit in der Küche und rumorten dort mit viel Geklapper und Geschrei. Der strohgelbe Brei, in dem der Löffel stand, schmeckte so gut, daß man davon träumen konnte. Der russische Oberstleutnant, eine Art Harry Piel mit tiefliegenden Augen unter dichten Brauen, sah ihnen zu, bis sie sich sattgegessen hatten. Dann hielt er eine Ansprache.
»Sie haben natürlich geglaubt, daß Sie hier alle werden erschossen«, sagte er mit einer großartigen Handbewegung. »Das hat Ihnen Ihre Propaganda erzählt. Aber die Sowjetunion ist eine Kulturnation. Sie ist großmütig. Sie vergilt nicht Böses mit Bösem. Wir achten die internationalen Verträge. Man wird Sie korrekt behandeln. Und wenn der Krieg ist zu Ende und der Faschismus vernichtet, Sie können reisen zu Hause oder in ein anderes Land, wohin Sie wünschen zu gehen.«
Oberst Dumont hatte sich in wohlgesetzten Worten herzlich bedankt. Er hatte von der großen Sowjetunion gesprochen und von dem tapferen Gegner, dem man in ehrenvollem Kampfe unterlegen sei und auf dessen Ritterlichkeit man zu hoffen wage, und es war sehr peinlich gewesen. Selbst der russische Offizier hatte ganz runde Augen bekommen.
»Sie haben uns überfallen, Sie sind Faschisten, Verbrecher, alle!« hatte er gesagt und war gegangen.
Nun, man braucht nicht anzunehmen, daß Dumonts Rede es war, die sie in dieses Stinkloch gebracht hat. In dem Zwei-Zimmer-Appartement war es mit der Zeit wirklich zu voll geworden. Immer Neue waren gekommen. Zu zweien, zu dreien. Am Tage, in der Nacht. Ein Intendanturrat, ein Flakfeldwebel, Rumänen, zwei Landser, die nur gebrochen Deutsch sprachen, ein Kriegsgerichtsrat … Und alle zwei Tage hatte es zwei Brote gegeben. Für 10 Mann, für 16 Mann, für 24, für 30 … Zuletzt war das Teilen schon sehr schwierig und ging nicht ohne viel Streit und Geschrei ab. Und es wurde sehr eng in den beiden Räumen. Aber man konnte sich, so oft man wollte, auf dem Hof herumtreiben, konnte Holz sägen und hacken und mit dem Posten radebrechen. Manche waren zu faul oder zu schwach, die drei Stockwerke in dem Treppenhaus, das erst im Rohbau fertig war und noch kein Geländer hatte, hinunterzusteigen. Den Fliesenboden in der Toilette bedeckte bald eine gelbliche Eisschicht, und in dem geborstenen Abortbecken türmte sich der hartgefrorene Kot zu einer Pyramide. Sonst war kaum etwas geschehen in jenen Tagen. Ein Stockwerk tiefer hatte ein sowjetischer Hauptmann zusammen mit einer Sekretärin, die zugleich dolmetschte, die Personalien aufgenommen.
»Chaben Sie ein Haus, ein Rittergut, eine Fabrik?« – »Nein!« – Die Russen waren sehr verwundert, daß so wenig Deutsche Rittergüter und Fabriken besaßen. »Welche Nationalität?« – »Deutsch.« – »Aber Sie chaben gesagt, daß Sie sind geboren in Wien! Dann Sie sind Österreicher!« – Der Kriegsgerichtsrat zuckte die Achseln. »Von mir aus … bitte schön!«
Und dann hatte der Oberstleutnant, der wie Harry Piel aussah, von einem Quartierwechsel gesprochen. »Sie kommen in eine menschenwürdige Unterkunft«, hatte er gesagt, und er habe die Räumlichkeiten selbst in Augenschein genommen, und er gebe sein Wort als Offizier …
Es muß Mittagszeit sein; denn wieder klappert der Schlüssel im Türschloß.
Verpflegungsempfang! Zwei Mann bringen die leere Tonne hinaus. Und jetzt setzen sich alle auf und warten. Nach ein paar Minuten schleppen die Träger die Tonne wieder herein. Sie ist voll bis zum Rand. Auf der dampfenden Oberfläche glitzern ein paar Fettaugen.
Kuhlemmer bedient die Schöpfkelle. Schweigend reichen sie ihm die Kochgeschirre hinüber. Sie warten, daß außer dem Wasser noch etwas anderes zum Vorschein kommt. Es kommt nichts, obwohl Kuhlemmer jedesmal bis zum Grund hinunterstößt.
Schweigend schlürfen sie die heiße Flüssigkeit. Sie schmeckt wie Abwaschwasser.
An diesem Tag spricht kaum noch jemand.
Abends wird die Tonne noch einmal gefüllt. Mit heißem Wasser …
Die Nacht verläuft unruhig. Beim Schein von Taschenlampen poltert eine randalierende Gesellschaft herein und drängt sich zwischen die Schlafenden. Fremdartige Sprachfetzen klingen auf. Jemand fällt stöhnend über die Füße Wegeners geradeswegs auf Breuers Beine. Der schiebt den murrenden Dumont zur Seite und kratzt etwas Stroh zusammen.
»Legen Sie sich hier hin! Es geht schon.«
In Wahrheit geht es kaum noch. Man kann sich nicht mehr rühren, ohne jemand empfindlich zu stoßen.
»Ach, würden Sie … könnten Sie mir wohl beim Ausziehen helfen? Es ist sehr warm hier …«
Breuer löst den Haken eines lächerlich leeren Rucksacks, er zerrt an einem Übermantel und faßt dabei auf ein Schulterstück mit zwei Sternen.
»Wissen Sie, ich bin etwas … etwas behindert. Mein Daumen hier ist nämlich …«
»Schon gut! Nun legen Sie sich mal hin und versuchen Sie zu schlafen!«
Dreimal muß Breuer zur Latrine, das viele Wasser drückt auf die Blase. Die Tonne leckt anscheinend. Auf dem Weg dorthin patscht man durch Pfützen.
Als Breuer aufwacht, fällt das erste Licht durch die Wandlöcher. Neben ihm macht der Neue sich zu schaffen. Er sitzt da in der grauen Wehrmachtsstrickjacke, die Feldbluse auf den Knien, und bemüht sich, zu einem der Lichtlöcher hinaufvisierend, vergeblich, einen Faden in eine Nähnadel einzufädeln. Seinen Kopf bedeckt eine feldgraue Skimütze, die auf zwei erstaunlich großen Ohren aufliegt. Das blasse Gesicht ist auch jetzt im Winter dicht mit Sommersprossen bedeckt. Auf dem Kinn krausen sich zollange, rötliche Haare zu einem spärlichen Bart.
»Geben Sie mal her!« sagt Breuer.
»Sehr freundlich, ja …« Zwei kleine helle Augen, die weder Wimpern noch Brauen zu haben scheinen, sehen Breuer unter dem großen Mützenschirm hervor an. »Diesen Knopf hier, bitte! Ich bin nämlich … Ich habe nämlich einen steifen Daumen. Zu Hause hat meine Frau das immer gemacht.«
Die Krakeeler von heute nacht palavern quer durch den Raum in einer fremden Sprache. Ihre Stimmen und Blicke sind frech und feindselig. Ihr Wortführer sitzt auf der Pritsche über Oberst Dumont. Er trägt die blaugraue Luftwaffenkluft mit roter Paspelierung und merkwürdigen Kragenspiegeln. Seine Beine, die von der Pritsche herunterbaumeln, stecken in pelzgefütterten Fliegerstiefeln.
»Sind Sie mit denen da gekommen? Was sind das für Burschen?«
Der Hauptmann zuckt die Achseln.
»Ich habe sie erst in diesem Haus – ich meine, beim Entlausen. Mich haben sie bisher allein umhergeschleppt. Im Fußmarsch um ganz Stalingrad, scheint mir. Drei Wochen lang, immer allein. Zwei Tage in einem Schweinestall, vier in einem Erdbunker, zwei in einer Scheune. Bei allen möglichen Stäben haben sie mich herumgereicht und bestaunt wie ein Monstrum. Ich bin nämlich Ic. Mein Name ist übrigens Cramer. Curt Cramer, beides mit C. Das machen Sie den Russen mal klar! Die kennen doch kein C. Einmal haben sie mich verprügelt, weil sie dachten, ich wollte sie … Meine Frau nennt mich allerdings Kullemännchen. Na ja, sie ist noch jung, 19 Jahre jünger als ich. Mein Gott, ja … Und sie werden uns doch erschießen. Eines Tages, wenn sie alles aus uns herausgequetscht haben, werden sie uns erschießen …«
Diesmal meldet sich Breuer zum Transport der Latrinentonne. Er muß hinaus. Einmal den Himmel sehen. Einmal frische Luft atmen. Und draußen ist soviel Zeit, daß man eben mal abprotzen kann. Hier drinnen, auf dieser wackeligen, besudelten Tonne, hat er das nicht fertiggebracht, und in seinen Eingeweiden rumort es. Zwar hat er seit Tagen nichts mehr gegessen, aber so ein Darm folgt eigenen Gesetzen.
Die Tonne hat keine Tragegriffe, man muß sie am oberen und unteren Rand packen. Er schleppt sie zusammen mit dem Sonderführer von Id die Treppe hinunter auf den Hof, über vereiste Schutthügel hinweg zu einer Kalkgrube. Natürlich besudeln sie dabei sich und die Treppe. Hinter ihnen flucht der Posten. Aber da draußen ist es herrlich. Hosen runter! Sie hängen ihre Kehrseiten über die Grube. Es ist kalt, herrlich kalt! Und die Luft! Und das viele, viele Licht! So schön war noch kein Tag. Der Posten flucht mörderisch über die Verzögerung, aber er wartet. Es ist wohl nur Routine bei ihm.
Es gibt wieder heißes Wasser.
Auch zu Mittag gibt es heißes Wasser. Einige Fettaugen schwimmen darauf.
Der Mann mit den Fliegerstiefeln, obwohl selbst einer der Leidtragenden, kommentiert die Lage mit höhnischen Bemerkungen. »Nix Fressen für Deitsche! Wasser saufen wie Vieh!« Er imitiert vollendet das schlabbernde Schlürfen einer Kuh. Seine Kumpane lachen.
»Maul halten!« schreit Wegener.
Der Mann oben auf der Pritsche zieht den Kopf ein.
»Oberstleitnant! Herr Oberstleitnant! … Nix mehr Oberstleitnant! Die Deitsche haben ausgehustet, ausgepustet, Pfft! Der Herr Oberstleitnant sind nur noch ein Scheißerchen! Soooo ein kleines Scheißerchen.« Er kneift ein Auge zu und zeigt mit Daumen und Zeigefinger minutiös die geschätzte Winzigkeit an.
»Verflucht noch mal!«
Wegener ist auf die Beine gekommen.
»Ich will dich Saukerl lehren, was ein preußischer Oberstleutnant ist!«
Er zieht den Mann mit einem Ruck von der Pritsche. Klatsch, klatsch! Der Kopf fliegt nach rechts und nach links, zwei Arme fuchteln in der Luft herum. Dann bricht der Mann in die Knie. Ein Fußtritt befördert ihn wieder hoch. Wie ein Aal windet er sich auf die Pritsche hinauf und verschwindet unter einer Decke. Man hört nichts mehr von ihm.
Abends gibt es heißes Wasser.
In der nächsten Nacht bleibt es ruhig. Es kommen keine Neuen mehr. Nur zur Latrinentonne ist ständiger Pendelverkehr, in Reihe stehen sie dort an.
Morgens heißes Wasser …
Oberst Dumont rasiert sich nicht mehr. Nachts knistert es noch manchmal, wenn er in seinem Koffer wühlt. Aber seine Vorräte scheinen zu Ende zu gehen.
Der alte Major besieht wieder seine Füße. »Es tut ja nicht weh«, sagt er. »Aber gehen … Ich kann doch so nicht gehen! – Was halten Sie denn davon?« fragt er zu den Ärzten hinüber.
Die beiden schweigen. Schließlich sagt Dr. Rickmers:
»Machen Sie mal am besten jetzt gar nichts daran! Später, hm … wenn Sie in ein Lazarett kommen, da bringen sie das schon wieder in Ordnung.«
Er sieht sich verlegen um, schluckt ein paarmal und legt sich auf sein Lager zurück.
Mittags gibt es heißes Wasser. Mit Fettaugen darauf.
Als einer der letzten reicht Breuer sein Kochgeschirr hinüber. Und als Kuhlemmer die Kelle ausschüttet, plumpert etwas hinein. Breuer starrt den Leutnant an, und der starrt zurück. Dann fährt er Breuer an:
»Na, nun haben Sie’s und nun fressen Sie’s!«
Es ist ein Stück Fleisch, so groß wie sein Handteller.
Langsam geht Breuer zu seinem Platz zurück, das Kochgeschirr trägt er wie einen kostbaren Schatz vor sich her. 70 Augenpaare folgen ihm. Er setzt sich, faßt das Stück Fleisch mit zwei Fingern am Knochen an und hebt es vorsichtig aus dem Wasser. 70 Augenpaare sehen ihn an. Das Fleisch ist zäh wie Leder, man kann nichts davon abbeißen. Aber es ist Fleisch. Er kaut eine Weile daran herum, dann gibt er es dem Hauptmann. Der beginnt an der anderen Seite zu kauen. Oberst Dumont sieht mit großen Augen zu, seine Zungenspitze fährt an seinen Lippen entlang.
»Mit einer Rasierklinge könnte man doch …«
Breuer und Cramer kauen abwechselnd an dem Fleisch, und der Hauptmann, plötzlich munter geworden, erzählt dabei arglos in die tödliche Stille hinein. Er war Ic einer leichten Division, die am Mittelabschnitt der Wolgafront eingesetzt war. Höhe 102, Tennisschlägerschleife …
»Also unseren General möchte ich jetzt sehen, was der für ein Gesicht machen würde! ›Mit den Fingern essen Sie, Cramer? Keine Manieren, was? Und so was hat nun studiert, ist Syndikus! Syndikus sind Sie doch, wie?‹ – Die Division hatte schon lange nichts mehr, aber beim Stab gab’s noch alles. Im Kasino drei Sorten Verpflegung: getrennt für Stabsoffiziere, für Subalternoffiziere und für Beamte. Sogar zwei Schweine ließ er füttern. Und zu Neujahr stieg ein großes Fondue-Essen. Auch Weiber hatte er sich zugelegt, einen ganzen Harem. Als Wäscherinnen angeblich.«
Oberst Dumont wirft sich auf seinem Lager herum. »Ach, bitte, wollen Sie … Könnten Sie nicht endlich damit aufhören!«
»Nanu, was regt Sie denn so auf?« fragt Wegener, »die Weiber?«
»Weiber! … Aber erst werden hier in aller Öffentlichkeit Koteletts gefressen, und dann noch von Fondue-Essen zu erzählen …«
Später geht noch einmal die Tür auf, und ein klappernder Sack fliegt herein. Hartbrot? Nein, es sind nur die Metallgegenstände, die ihnen bei der Entlausung abgenommen wurden. Kuhlemmer bietet sie einzeln aus.
»Ein Brillenfutteral!« – »Hier, meins!« – »Ein Löffel … Eßbesteck … ein Schlüsselbund … Löffel …«
»Das hier, das ist aber nicht mein Brillenfutteral!« protestiert Dumont. »Meins war dunkelgrün und mit gelbem Filz ausgelegt.«
»Ach, Scheiße!« faucht Kuhlemmer zurück. »Seien Sie froh, daß Sie überhaupt eins haben!«
Breuer bekommt einen Löffel. Es ist nicht seiner. An diesem ist der Stiel abgebrochen. Statt dessen hat man ein gefalztes Stück Eisenblech mit zwei Kupfernieten daran befestigt. Lange betrachtet Breuer dieses Stück. Er hat noch nie in seinem Leben einen reparierten Aluminiumlöffel gesehen.
Abends gibt es heißes Wasser. Breuer und der Hauptmann kauen noch immer an dem Stück Fleisch, das jetzt wirklich aussieht wie ein Stück Sohlenleder.
»Wie lange kann eigentlich ein Mensch unter solchen Bedingungen am Leben bleiben?« fragt Oberst Dumont.
Die Ärzte sind sich darüber nicht einig. »Zehn Tage bis drei Wochen«, meint Dr. Rickmers. »Das kommt ganz auf die Konstitution an.«
»Zehn Tage«, murmelt der Oberst. »Da kann man nur hoffen …« Er beendet den Satz nicht.
Hoffen! denkt Breuer. Worauf? Er denkt an Hitlers Sonderbestimmungen für die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener. An den »Erlaß über die Einschränkung der Kriegsgerichtsbarkeit« in der Sowjetunion, der jedem Soldaten den Weg freigab zu Mord, Raub und Plünderung. Und an den »Kommissarbefehl« vom 6. Juni 41, nach dem sämtliche politischen Kommissare der Roten Armee, kenntlich an einem fünfzackigen Stern auf dem Unterarm, sofort und ohne kriegsgerichtliches Verfahren zu erschießen waren. Und an das Titelbild jener Wehrmachtsillustrierten vom Winter 41: Ein Güterzug mit offenen Waggons im Schneetreiben, die Waggons vollgepfercht mit stehenden Russen … Und an jenen Tag zu Anfang des Rußlandkrieges. In Ostpolen war es, in Dubno oder Rowno, das weiß er nicht mehr so genau. Ein eingezäuntes Stück Feld, ein äußerer Stacheldrahtzaun und in einem Abstand von 20 Metern ein innerer. Darin 500 sowjetische Offiziere, dicht zusammengedrängt am Boden liegend. An den vier Ecken Wachttürme, mit Scheinwerfern und Maschinengewehren bestückt. Und: Wer den Kopf hebt, wird erschossen! Jeder, der wollte, durfte mal schießen. Flaksoldaten, Männer von Nachschubeinheiten, vom Arbeitsdienst. Die ganze Nacht über knatterten die MG-Stöße. Morgens lagen dort 500 Tote …
Worauf sollen wir hoffen? denkt Breuer. Wer gibt uns ein Recht, zu hoffen?
Am nächsten Morgen gibt es kein heißes Wasser. Es gibt überhaupt nichts mehr. Auch die Latrinentonne wird nicht geleert, obwohl sie schon überläuft. Sie sind bereits zu schwach, um sich darüber zu erregen. Die Luft ist stickig, bei jedem Atemzug rinnt der Schweiß über die Gesichter. Niemand spricht. Es ist auch nichts mehr zu sagen. Die Zeit verläuft nicht mehr, sie ist zu einem Punkt geworden, der in der Unendlichkeit schwebt.
Später irgendwann klappert es an der Tür. Kaum jemand hebt den Kopf.
Aber es ist nicht der Wachposten.
Es ist der Sergeant, der sie herbrachte. Mit ihm betritt ein zweiter Russe den Raum, ein baumlanger Kerl, fremdartig wie von einem anderen Stern.
Und mit einmal sitzen sie aufrecht. Irgend etwas geschieht jetzt gleich, etwas Entscheidendes.
Ihre Blicke tasten den fremden Russen ab. Ein weißer, glockiger Schafspelz, der knapp bis über die Knie reicht. Eine weiße Pelzmütze mit einem großen dunkelroten Stern. Weiße, mit hellbraunem Leder abgesetzte Filzstiefel. Ein hellbraunes Koppel, über den Pelz geschnallt; daran eine hellbraune Ledertasche. Aus ihr schaut der Kolben eines schweren Revolvers heraus, mit einer Messingkette an dem Koppel befestigt. Ein kaltes, intelligentes Gesicht. Ohne Frage ein Offizier.
Der Sergeant hält eine Liste in der Hand, er beginnt Namen zu verlesen.
»Fischer, Major!« – »Hier!« – »Wasche imja?« – »Walter.« – »Otschestwo?« – »Hermann.« – »Germannowitsch«,