Dürnsteiner Puppentanz - Bernhard Görg - E-Book

Dürnsteiner Puppentanz E-Book

Bernhard Görg

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  • Herausgeber: edition a
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Eine treue Tochter der Kirche, die einen Mord meldet. Eine Chefinspektorin, der ein Kochkurs bei einem Meister seines Fachs keine Freude macht. Ein Polizeidirektor, der sich um eine große Hoffnung betrogen sieht. Ein Landeshauptmann, der eine Massenpanik verhindern möchte und einen Tobsuchtsanfall bekommt. Und drei Schaufensterpuppen, mit denen jemand ein teuflisches Spiel spielt. Doris Lenhart, die Chefin der Mordkommission, kämpft gegen einen raffinierten Mörder und gegen die brutalen Methoden der Politik in Niederösterreich.

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Seitenzahl: 452

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Bernhard Görg:Dürnsteiner Puppentanz

Alle Rechte vorbehalten

© 2019 edition a, Wienwww.edition-a.at

Cover: Isabella StarowiczSatz: Lucas ReisiglLektorat: Andreas Görg

E-Book-ISBN 978-3-99001-368-7

E-Book-Herstellung und Auslieferung:Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

Freitag, 16. April 16 Uhr 18

Kapitän Leutgeb blickte zuerst voll Stolz auf die vier goldenen Streifen auf dem linken Ärmel seiner dunkelblauen Uniformjacke und dann voll Ungeduld auf seine Uhr. Siebzehn Minuten Verspätung. Und noch immer eine mindestens dreißig Meter lange Menschenschlange an der Spitzer Anlegestelle. Würde wohl noch eine Weile dauern, bis sein Schiff endlich ablegen konnte. Dabei war ihm Unpünktlichkeit schon seit seiner Kindheit ein Gräuel.

Schon in Melk hatte seine MS Wachau bei der Abfahrt vierzehn Minuten Verspätung gehabt. Weil die meisten Passagiere, bevor sie an Bord gingen, noch schnell ein Foto der Benediktinerabtei machen wollten. In Dürnstein würde die Verspätung sicher weiter zunehmen. Die Schlange an Touristen würde dort mindestens dreimal so lang sein wie hier in Spitz.

Er fuhr seit sechsundzwanzig Jahren im Dienst der DDSG Blue Danube auf der Donau. Die letzten zehn Jahre davon zwischen Krems und Melk. Seit sieben Jahren als Kapitän. Zu seiner Zeit als Lehrling vor einem Vierteljahrhundert hatte das Unternehmen froh sein müssen, seine Dampfer wenigstens in der Hochsaison halbvoll zu bekommen. Jetzt waren die Schiffe schon im April ausgebucht. Außer bei schlechter Witterung. Heute herrschte Postkartenwetter. An einem für den Frühling typischen blassblauen Himmel nur eine einzige kleine Wolke und ein einsames, einen Kondensstreifen hinter sich herziehendes Flugzeug, das direkt in die über dem Horizont stehende Sonne zu fliegen schien. Kein Wunder, dass sich die Menschen auf dem Sonnendeck drängten. Er konnte auch sehen, dass viele von ihnen ihre Kameras oder Smartphones griffbereit hielten.

Endlich signalisierte ihm ein Mitglied der Crew mit Handzeichen, dass die MS Wachau bereit zum Ablegen war. Die beiden Dieselmotoren sorgten für ein leichtes Zittern des Schiffs. Er brauchte weniger als eine Minute, um es mit dem Joy Stick in die für ihn vorgesehene Fahrtrinne zu navigieren. Ihm wäre ja das Manövrieren des Schiffes mit dem Steuerrad, wie er es von früher kannte, lieber gewesen. Aber das durfte er nur mehr verwenden, wenn die elektronische Steuerung ausfiel.

Im Rückspiegel seines Steuerstands beobachtete er die teils offenen, teils versteckt ausgetragenen Rangeleien um die besten Aussichtspositionen auf dem Sonnendeck. Dabei hatte er schon des Öfteren Handgreiflichkeiten erlebt. Aber heute schien alles friedlich abzulaufen. Es erheiterte ihn immer wieder, dass unter den Fotografen die Männer bei weitem in der Überzahl waren, während sich die Mehrzahl der Damen darauf konzentrierte, ihre Gesichter in die Sonne zu halten.

Auf weniger als hundert Strommeter genau konnte er den Punkt vor der Ruine Aggstein voraussagen, an dem wie auf Kommando das Klicken der Kameras einsetzte. Er kannte natürlich auch die Stelle kurz nach Weißenkirchen ganz genau, an der sich die Fotografen für die beiden Highlights der Fahrt in Stellung brachten: Für die Ruine der Burg Dürnstein, die vor vielen Jahrhunderten dem englischen König Richard Löwenherz gegen dessen Willen Kost und Quartier geboten hatte, und für die barocke Stiftskirche, die unterhalb der Ruine, aber noch immer hoch über dem Strom lag. Gleich würden sich die Gesichter der Damen von der Nachmittagssonne ab- und Dürnstein zuwenden. Er erinnerte sich, dass es noch vor fünfundzwanzig Jahren an Bord jedes Mal heiße Diskussionen über die Farbe des Kirchturms gegeben hatte. Mit den Jahren waren diese Diskussionen immer lauwärmer geworden. Heute löste das Hellblau des Turms überhaupt keine Debatte mehr aus.

Auf der Höhe von Weißenkirchen sah er von seinem Kommandostand, wie sich auf einmal mehrere Passagiere, die auf der Backbord-Seite des Oberdecks saßen oder standen, über die Reling beugten. Auch ein Mitglied seiner Crew. Sofort übertrug er dem Steuermann das Kommando, verließ seinen Posten und rief zu dem Matrosen hinunter: »Was ist denn los?«

»Kann ich nicht genau sagen«, antwortete der Mann. »Hat wie eine Vogelscheuche oder so etwas Ähnliches ausgesehen.«

»Entfernung?«

»Knapp zehn Meter.«

Ein Passagier, der gerade dabei war, ein Foto zu machen, rief dazwischen:

»Mit einem dunklen Gewand. Aber wegen der Wellen schwer zu erkennen. Ist schon wieder weg.«

Mit dieser Auskunft war der Kapitän noch nicht zufrieden.

»Sicher kein Mensch?«

»Dann müsste er tiefgefroren sein«, antwortete der Fotograf. »Weil sich das Ding ganz steif genau im Rhythmus der Wellen bewegt hat.«

Der Matrose und einige Passagiere nickten.

Der Kapitän betrat wieder den Steuerstand und machte eine Eintragung ins Bordbuch. Er wusste aus langjähriger Erfahrung, dass die Leute alles Mögliche ins Wasser warfen. Es wurde immer schlimmer. Null Verantwortungsgefühl für die Umwelt. Allerdings kein Grund, die Strompolizei zu alarmieren oder gar die Geschwindigkeit zu drosseln, um zu warten, bis der Gegenstand wieder in Sichtweite kam. Er wollte keine weitere Verspätung riskieren.

Freitag, 16. April 16 Uhr 30

Nach sechs Jahren sah ihr am Weinberg gelegenes Haus richtig heimelig verwachsen aus. Weinreben, die sich am warmen, rötlichen Holz des Balkons und über die grobe weiße Fassade entlangschlängelten. Modern und rustikal zugleich. Auf dieses Schmuckstück war sie stolz. Ihr Klaus hatte es vor sechs Jahren gekauft. Um Umbau und Einrichtung hatte sie sich gekümmert. Geld verdiente Klaus als Seniorpartner einer großen Wiener Anwaltskanzlei genug. Daher hatte sie sich hier verwirklichen können. Alles vom Feinsten. Aber dezent, alles andere als überladen, denn Protz war ihr zuwider. Seit Abschluss der Umbauarbeiten hatte sie fast jedes Wochenende hier verbracht. Die Namen Klaus und Theresa Strasser hatte sie selbst in das Türschild geschnitzt. Dass am Hang gegenüber, genau im Zentrum des Blickfeldes, der Spitzer Friedhof lag, betrachtete sie nur als kleinen Nachteil. Durch die ansonsten prachtvolle Aussicht auf die Ruine Hinterhaus, den Tausendeimerberg und die Donau wurde dieser Nachteil mehr als wettgemacht. Ein einmaliges Panorama.

Sie hätte heute natürlich auch gleich hier in Spitz einkaufen können. Seit dem Kauf des Wochenendhauses war sie immer darauf bedacht gewesen, sich als loyale Ortsbewohnerin zu zeigen und in den wenigen Geschäften, die es in dem kleinen Ort noch gab, gutes Geld zu lassen. Aber der Freitag Nachmittag gehörte immer der Fahrt nach Krems. Mit einer Entfernung von knapp zwanzig Kilometern ja nur ein Katzensprung. Zum Markt auf dem Dreifaltigkeitsplatz. Denn dort gab es die schönsten Blumen. Also setzte sie sich ans Steuer ihres Einkaufswagens, wie Klaus ihr geräumiges Elektroauto abfällig zu nennen pflegte. Er hätte ihr am liebsten ein repräsentativeres und schnelleres Auto geschenkt. Aber das lehnte sie der Umwelt zuliebe ab.

Als gebürtige Wienerin, die sich immer als reine Großstadtpflanze betrachtet hatte, war sie erstaunt, wie sehr ihr das dörfliche Leben in der Wachau ans Herz gewachsen war. Sogar mehr als Klaus, obwohl der keine fünf Kilometer von Spitz entfernt geboren war. Aber er war ja schon im Alter von acht Jahren mit seinen Eltern nach Wien übersiedelt. Anfangs waren auch noch ihre beiden Kinder regelmäßig nach Spitz mitgekommen. Aber mit der Zeit waren deren Besuche immer seltener geworden. Katja war gleich nach der Matura aus dem Elternhaus ausgezogen. Der jetzt neunzehnjährige Mathias lebte zwar noch bei ihnen, aber an den Wochenenden zog auch er es immer öfter vor, in Wien zu bleiben.

Morgen würden aber beide kommen. Weil eine große Feier anlässlich der Wahl zum Vizepräsidenten der Wiener Rechtsanwaltskammer und des gleichzeitigen fünfundvierzigsten Geburtstags des Vaters anstand. Die offizielle Feier mit Kanzleipartnern, wichtigen Klienten und Vertretern der Anwaltskammer hatte schon vor einer Woche in einem Wiener Nobelhotel stattgefunden. Für morgen waren die privaten Freunde eingeladen. Eine kleine Runde. Zwanzig Gäste. Mehr hatten im Wochenendhaus beim besten Willen keinen Platz.

Klaus hätte lieber einen der umliegenden Heurigen gemietet, lieber mehr Menschen eingeladen. Vor allem solche, die seinen Aufstieg zum Präsidenten der Anwaltskammer fördern konnten. Aber sie hatte sich durchgesetzt. Sie wollte das Fest lieber intim halten. Mit dem Argument »Qualität vor Quantität« hatte sie ihn schließlich überzeugt.

Freitag, 16. April 16 Uhr 50

Der Tag hatte für Josefa Machherndl ganz mies begonnen. Eigentlich schon die Nacht davor. Offenbar half nicht einmal mehr ihr heißgeliebter Marillenschnaps, mit dem sie sonst jeden Ärger zuverlässig hinunterspülen konnte. Sechs Stamperl zwischen neun und elf Uhr abends und keines davon hatte auch nur eine Spur von Trost geboten. Sie legte die Kuppe ihres linken Zeigefingers ganz vorsichtig auf die grau-schwarze Warze an ihrem Kinn, die heute eher eine grau-rote Tönung hatte. Wegen des getrockneten Bluts. Wieso musste sie auch nach so einer Nacht auf die Idee kommen, die beiden Haare zu kürzen, die aus der Warze herauswuchsen? Hätte wohl auch noch bis morgen Zeit gehabt. An diesem katastrophalen Fehl-Schnitt mit dem Rasiermesser, das zu allem Unglück erst vor einer Woche von einem Messerschmied in Krems geschärft worden war, konnte nur diese vermaledeite Maria Magdalena schuld sein. Als angebliche Heilige geradezu eine Provokation für alle treuen Dienerinnen der Kirche, die sich ihr ganzes Leben lang bemühten, den Versuchungen des Teufels zu widerstehen. In Josefas Fall selbstverständlich erfolgreich.

In aller Herrgotts Früh war sie schon mit dem alten Fahrrad von ihrem Haus in Oberloiben zur Stiftskirche gefahren. Auf der Fahrt hatte sie nicht einmal einen kurzen Blick auf die Marillenbäume geworfen, die links und rechts der alten Wachaustraße blühten. Denn auf dieser Fahrt war ihr, der pensionierten Dürnsteiner Gemeindesekretärin, klar geworden, dass sie unbedingt etwas unternehmen musste. Kneifen war ja so gar nicht ihre Art. Geradezu eine Frechheit, was sich diese deutschen Fernsehsender leisteten. Jede Woche mindestens eine Sendung über ein angebliches fünftes Evangelium. Gefunden in einer obskuren Wüstengegend und geschrieben von einem noch obskureren Philippus, der sich erdreistete, aus Jesus und dieser Hure Maria Magdalena ein Liebespaar zu machen. Mit allem Drum und Dran, an das sie lieber gar nicht denken wollte. Gestern wieder so ein Machwerk im TV. Fast zur Hauptsendezeit. Konnte nicht mehr lange dauern, bis auch österreichische Sender diesen Schund bringen würden. Nicht nur, dass diese Fernsehmacher alle linke Brüder und Schwestern waren. Jetzt machten sie sich auch noch daran, den Herrn und Meister systematisch in den Schmutz zu ziehen. Was für eine teuflische Strategie dieses gottlosen Packs. Wobei sie Jesus von einer gewissen Mitschuld gar nicht freisprechen wollte. Warum musste er für den Beweis, dass es für eine Umkehr nie zu spät sein würde, ausgerechnet eine Dirne auswählen? Eine reuige Oliven-Diebin hätte es doch auch getan. Mit zweitausendjähriger Verspätung begann sich das jetzt zu rächen. Jesus Christus war eben eine Person, die in der Öffentlichkeit stand. Eine solche Person musste bei der Wahl ihres Umgangs eben vorsichtig sein. Schon damals. Heutzutage wusste das doch jeder kleine Provinzbürgermeister.

Seit einiger Zeit kaufte sie in einer Trafik am Täglichen Markt in Krems alle Programmzeitschriften, derer sie habhaft wurde. Einerseits, um keine der Sendungen, die von diesem angeblichen neuen Evangelium handelten, zu versäumen. Andererseits, um sich einen Raster anzulegen, mit dem sie die zunehmende Häufigkeit dieser Schandberichte dokumentierte. Wäre doch gelacht, wenn sie diesen Spießgesellen des Teufels nicht die Masken vom Gesicht reißen könnte. Natürlich würde sie Verbündete brauchen. Den Dürnsteiner Pfarrer hatte sie schon darauf angesprochen. Aber der schien kein Interesse an der Sache zu haben. Kein Wunder, dass es bei solch lahmarschigen Vertretern mit der Kirche bergab ging. Wenn sie das früher gewusst hätte, hätte sie ihm die Bitte, für den Blumenschmuck der Stiftskirche zu sorgen, wahrscheinlich abgeschlagen. Ihren Blumendienst heute Früh hatte sie jedenfalls mit heftigem Widerwillen erledigt. Wenigstens hatte ihr der Erlöser, als sie gerade vor dem Hochaltar stand, einen Geistesblitz eingegeben. Sie sollte sich an den Chef des Pfarrers, den Propst von Stift Herzogenburg, wenden. Der war ja ein gelernter Fleischhauer. Also ganz sicher kein Weichei, und schon allein deshalb ein Mann nach ihrem Geschmack.

Ihr Kopf brummte. Immer noch beinahe so stark wie um sechs Uhr, als der Wecker geläutet hatte. So früh aufzustehen war sie seit ihrer Zeit als Gemeindesekretärin gewohnt. Sie hatte nie einen Grund gesehen, im ungeliebten Ruhestand von dieser Gewohnheit abzuweichen. Weder die Fahrt mit dem Rad und noch weniger ihre morgendliche Beschäftigung in der Stiftskirche hatten Linderung gebracht. Sie war sicher, dass die Kopfschmerzen nur von ihrem Ärger über die gestrige Fernsehsendung herrühren konnten.

Nach dem Mittagessen mit bereits am Vortag zubereiteten Fleischlaberln samt Erdäpfelpüree war bei ihr der Entschluss gereift, noch einmal nach Dürnstein zu fahren, um an der Schiffsanlegestelle den Touristenstrom zu beobachten, der die MS Wachau bestieg. An der Massenansammlung an sich hatte sie kein Interesse. Sie wollte lediglich die Menschen zählen, die die Frechheit gehabt hatten, sich am Blumenschmuck der Kirche zu vergreifen und ihn als Andenken an den Ausflug nach Dürnstein mitzunehmen. Solchem Pack sollte der Eintritt in ein Haus Gottes verboten sein.

Jetzt saß sie auf einer Bank nahe der Anlegestelle. Vor ihr Treppelweg und Donau, hinter ihr die Mauer von Schloss Dürnstein, die ihr den Blick auf den Turm der Stiftskirche verstellte. Zum Glück. Scheußliche Farbe. Die meisten Leute hatten sich in der Zwischenzeit an die hellblaue Fassade gewöhnt und wollten sich gar nicht mehr daran erinnern, wie heftig ihr Widerstand gegen die Vorgabe des Denkmalamts bei der Restaurierung des Turms vor mehr als dreißig Jahren gewesen war. Sie war stolz darauf, aus einem ganz anderen Holz geschnitzt zu sein. Die Farbe des Turms blieb ihr verhasst und das betonte sie bei jeder Gelegenheit. Trotz aller Ärgernisse genoss die ehemalige Gemeindesekretärin die ehrerbietigen Grüße der Dürnsteiner, die die wärmende Nachmittagssonne für einen kleinen Spaziergang auf dem Treppelweg nutzten. Einmal Respektsperson, immer Respektsperson. Zu ihrer Freude würdigten ihre Dürnsteiner Mitbürger die Touristenschlange keines einzigen Blickes.

Sie schätzte die Zahl derer, die aufs Schiff wollten, auf mindestens hundert. Und mindestens jede zehnte Person hielt ganz ungeniert eine Narzisse oder eine Tulpe in der Hand. Eine Frau hatte offenbar die Frechheit gehabt, sogar einen Topf mit violetten Krokussen mitgehen zu lassen. Alles Blumen, davon war sie überzeugt, die sie gestern in Dürnstein und Umgebung mühsam zusammengebettelt hatte. Vor vierzig, fünfzig Jahren hatten es die Dürnsteiner ja noch für eine Ehrenpflicht gehalten, eifrig für den Herrn zu spenden. Heutzutage alles längst vorbei.

Nachdem das Schiff endlich abgelegt hatte, stand sie auf und bestieg ihr Rad. Der Gedanke an den heimischen Marillenschnaps flößte ihr eine gewisse Vorfreude ein. Heute würde der Schnaps ihr seine tröstende Wirkung nicht versagen. Da fiel ihr Blick auf ein mannsgroßes Etwas, das sich in einem kleinen Strudel auf und ab drehte, um dann weiter stromabwärts zu treiben. Josefa Machherndl war stolz auf ihre Augen. Was ihr Adlerblick da erspähte, ließ ihr die Nackenhaare zu Berge stehen. Es konnte keinen Zweifel geben. In knapp fünfzig Metern Entfernung trieb eine Leiche. Den Schädel wie mit einer Hacke eingeschlagen. Jetzt versank sie. Im nächsten Moment tauchten die Beine wieder auf, dann der Rumpf, dann tauchten sie wieder unter. Leblos. Unfassbar. Niemand schien etwas zu bemerken. Zehn Meter stromabwärts waren wieder ein paar Teile knapp an der Wasseroberfläche zu sehen.

Die beiden Lehrer, die mitsamt ihren Schulklassen gerade von Bord des Schiffes gegangen waren, wollte sie unter keinen Umständen alarmieren. Ihre Beobachtung würde den Kindern womöglich einen Schock versetzen. Nach kurzer Überlegung entschied sie, auch den Radfahrer nicht anzuhalten, der gerade den Treppelweg fröhlich pfeifend entlang fuhr. Das sollte einzig und allein ihr Fall sein. Bei so etwas kannte sie sich aus. Schließlich war sie ja schon einmal im Zentrum einer Mord-Untersuchung gestanden. Oder zumindest in der Nähe des Zentrums.

Freitag, 16. April 17 Uhr 07

Doris Lenhart war so aufgekratzt, dass sie einen ABBA-Song trällerte. Einen so populären, dass auch er ihn kannte. »Waterloo,… Waterloooo«, sang er leise mit und lehnte seinen massigen Körper an den Türrahmen.

Sie warf ihm einen amüsierten Blick zu, trällerte jedoch weiter und ließ sich auch sonst nicht von den letzten Handgriffen in ihrem Büro abhalten. Freitag, 17 Uhr, war Dienstschluss.

»Waterloo handelt von einer verlorenen Schlacht«, kommentierte er. »Kein passender Song, um sich auf das Wochenende einzustimmen.«

»Banause!«, schimpfte sie, während sie ihren Computer abschaltete. »Waterloo handelt von der Übermacht der Liebe.«

»Du freust dich wohl auf euren Kochkurs. Freu’ dich nicht zu früh. Mörder arbeiten auch nach Dienstschluss. Sogar in Österreich.« Er nippte an dem Becher aus Pappendeckel, den er seit fünf Minuten in der Hand hielt. Pappendeckel passte hervorragend zu der wenig repräsentativen grau-beigen Büroeinrichtung. Und der unnötige Papierhenkel passte zu den Fenstern, die Formen und Ausmaße von Schießscharten hatten. Sogar ihn, dem jeglicher Sinn für Ästhetik fremd war, störten diese schmalen Fenster. Bei jedem Blick hinaus stellte er sich die Frage, ob der verantwortliche Architekt das Gebäude in der Überzeugung geplant hatte, die Polizei vor Attacken anstürmender Verbrecherhorden schützen zu müssen. »Scheußliches Gesöff«, murrte er. »Mit der Besteilung einer neuen Kaffeemaschine könntest du unsterblich werden.«

»Das werde ich auch ohne neue Kaffeemaschine. Bist du am Sonntag wieder auf einem Fußballplatz unterwegs?«

»Klar, in Hohenau. Nicht gerade eine Traumgegend, aber immer noch besser als euer Kochkurs. Was dein Erich dort soll, ist mir schleierhaft.«

»Mein Erich weiß wenigstens, was eine Frau glücklich macht. Wenn du den Kochlöffel beizeiten geschwungen hättest, dann wäre deine Frau vielleicht bei dir geblieben.« Mit einem Seufzen nahm sie die Tulpen auf ihrem Schreibtisch, die schon den Kopf neigten, aus der Vase. Über dem Mistkübel hielt sie inne, überlegte es sich offenbar anders, zog ein kleines Messer aus der Schreibtischschublade, schnitt die braunen Stellen unten an den Stielen weg, holte frisches Wasser und stellte die Tulpen zurück in die Vase.

Er schüttelte den Kopf. Ausgeschlossen, dass die Blumen das Wochenende überlebten.

»Oder wenn du wenigstens dein Hemd über deinem Bauch zugeknöpft hättest«, kommentierte sie sein Kopfschütteln.

Widerwillig nahm er einen weiteren Schluck Kaffee, bevor er an dem Becher vorbei an sich hinabblickte. Allerdings machte er keine Anstalten, sich das Hemd über dem Gürtel zuzumachen. »Frauen stehen doch auf Männerbäuche. Habe ich einmal gelesen.«

Seine Chefin warf ihm einen Blick zu, den er nur zu gut kannte. »Es ist wirklich ein Jammer mit dir. Mein innigster Wunsch ans nächste Christkind ist, dass du einmal in einem Gewand im Büro aufkreuzt, in dem du nicht die Nacht davor geschlafen hast. Ein einziges Mal würde mir schon genügen.«

Er kraulte seinen Bart, von dem er wusste, dass der ihn zusammen mit seinem Leibesumfang wie eine Kopie von Bud Spencer aussehen ließ. An seinen bürointernen Spitznamen »Spencer« hatte er sich längst gewöhnt. »Kann ich dir leicht versprechen. Bis zu den nächsten Weihnachten hat mich nämlich unser hochverehrter Herr Polizeidirektor längst in Pension geschickt.«

»Schafft er nur über meine Leiche.« Doris Lenharts Augen blitzten.

Aber auch ohne dieses Blitzen, dessen einschüchternde Wirkung auf manchen Verbrecher er nur zu gut kannte, hätte er, der fünfzehn Jahre älter war als seine Chefin, gewusst, dass er sich auf sie verlassen konnte. Sie hatte in den letzten Monaten wie eine Löwin für ihn gekämpft und sie würde das auch weiterhin tun.

»Außerdem würde ich nicht darauf wetten, dass wir unseren hochverehrten Chef noch bis Weihnachten haben.« Das Blitzen in ihren Augen wich einem verschmitzten Zwinkern. »Meine Wiener Spione berichten mir, dass er auf einen Sprung nach oben spitzt.«

»Oh.« Er rieb sich vergnügt den Bauch. »Deine Spione versüßen mir mein Wochenende auch ohne Mehlspeis-Kurs bei einem Meisterkoch.«

Doris strich sich eine Strähne ihres kohlrabenschwarzen Haares, ein Erbe ihrer Großmutter, wie sie ihm einmal erzählt hatte, aus dem Gesicht. »Von mir aus kann er gern nach oben springen. Hauptsache, er springt von St. Pölten weg.«

»Exzellente politische Verbindungen zahlen sich halt immer aus.« Er löste sich vom Türrahmen, stellte den Pappbecher auf ihren Schreibtisch und fläzte seine hundertfünf Kilo in den davor stehenden Sessel, der wie üblich mit einem leisen Ächzen antwortete. »Du willst wohl sagen, dass große Idioten besonders gern noch größere Dummköpfe rekrutieren.«

Da klopfte es an der offenen Tür. Ein Mitarbeiter, der offenbar Journaldienst hatte, wandte sich an Doris Lenhart. »Da ist eine Frau Machherndl am Apparat, die sich absolut nicht abwimmeln lässt. Sagt, dass sie unbedingt mit Ihnen sprechen muss.«

Malzacher schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Um Himmels willen. Die alte Schnapsdrossel hat uns gerade noch gefehlt. Hast du nicht gerade etwas von ‚Waterloo‘ gesungen?«

Offensichtlich hatte sie seine Spitze nicht gehört oder überhört, was er eher vermutete. In solchen Dingen war sie eine absolute Meisterin und ihm haushoch überlegen. Stattdessen blickte sie den Beamten an.

»Hat sie gesagt, weswegen sie mit mir sprechen möchte?«

»Absolut nicht aus ihr herauszukriegen. Will es nur Ihnen sagen.« Der Journalbeamte machte ein unglückliches Gesicht.

Doris ließ sich die Laune jedoch sichtlich nicht verderben. Mit dem Anflug eines bösen Lächelns deutete sie auf die Stelle, wo sein Bauch zwischen den Hemdknöpfen zum Vorschein kam. »Ich bin schon auf dem Sprung zu einem wichtigen Termin. Du redest mit ihr.«

»Sorry, das ist dein Waterloo.« Nun war es an ihm, verschmitzt zu grinsen. »Sie will nur mit dir reden, wie du ja gehört hast. Abgesehen davon bin ich dafür nicht der Richtige. Bei Nervensägen neige ich dazu, meine gute Erziehung zu vergessen.« Er kraulte einmal mehr seinen Bart. »Aber ich habe einen Vorschlag zur Güte. Du sprichst mit ihr, aber schaltest den Lautsprecher ein. Damit ich dich seelisch unterstützen kann, wenn das Gespräch aus dem Ruder läuft.«

Doris gab dem an der Tür wartenden Beamten einen Wink. »Dann geben Sie mir die Gute halt in Gottes Namen.«

Kurze Zeit später war die pensionierte Gemeindesekretärin in der Leitung. »Hier Frau Machherndl aus Dürnstein. Ich hoffe, Sie erinnern sich noch an mich.«

»Wie könnte ich Sie je vergessen. Wo brennt es denn?«

Er reckte seinen rechten Daumen hoch, während die Chefinspektorin begann, die Strähne ihres Haars, die wieder in die Stirn gefallen war, um ihren Zeigefinger zu drehen.

»Ich möchte einen Mord melden.«

Er sah, wie sich der ganze Körper seiner Chefin plötzlich anspannte, und sie die Haarsträhne wieder ins Gesicht fallen ließ. Er merkte aber auch sofort, dass sie sich um betonte Ruhe und Unaufgeregtheit bemühte.

»Und wo soll der Mord passiert sein?«

Freitag, 16. April 17 Uhr 05

Der Kapitän hatte auf seinem Steuerstand so lange gewartet, bis der letzte Passagier in Krems von Bord gegangen war. Er zog den Knoten seiner roten Krawatte enger und rückte seine weiße Mütze so zurecht, dass sie auf seinem Kopf ganz leicht, aber erkennbar, schief saß. Nach rechts abfallend. Würde ihm nach Meinung seiner Frau ein besonders schneidiges Aussehen verleihen. Dann verabschiedete er sich von seinem Steuermann mit Handschlag und winkte den auf dem Deck stehenden Mitgliedern der Crew zu.

Er war froh, nur ein paar Schritte von der Anlegestelle entfernt einen reservierten Parkplatz zu haben. Weil Parken an dieser Stelle ein riesiges Problem war. Viele Passagiere ließen sich deshalb von Verwandten oder Bekannten mit dem Auto abholen. Nachdem die MS Wachau deutliche Verspätung gehabt hatte, würde heute kaum jemand auf seinen Chauffeur warten müssen.

Zu seiner Überraschung standen noch immer sechzig bis achtzig Leute um die Anlegestelle herum, einige sogar noch auf dem Ponton. Als er das Schiff verließ, wusste er genau, was folgen würde. Kameras und Handys wurden mit ihm als Ziel gezückt und einige Passagiere wollten sich mit ihm gemeinsam fotografieren lassen, wobei sich zwei Damen bei ihm sogar einhängten. Er war diese Prozedur gewohnt und ließ sie geduldig und auch recht gern über sich ergehen. Kundenzufriedenheit war für ihn oberstes Gebot. Allerdings hatte er eine eiserne Regel: Er würde sich nie zu einem Kaffee oder einem Glas Wein einladen lassen. Nicht einmal ins der Anlegestelle gegenüberliegende »Wellenspiel«. Das probierten alleinstehende Damen immer wieder.

Kaum war er mit der Foto-Prozedur fertig, steuerte ein schlanker, bebrillter Mann auf ihn zu, an den er sich erinnerte. Es war der Passagier, der die Vogelscheuche fotografiert hatte. In der Hand hielt er ein Tablet.

»Entschuldigung, Herr Kapitän. Ich wollte Ihnen nur das Foto zeigen, das ich gemacht habe. Ich habe es jetzt rüberkopiert.« Er hielt ihm den Bildschirm hin. »Hier in der Vergrößerung, sehen Sie? Ich habe mich geirrt. Es war doch keine Vogelscheuche.«

Freitag, 16. April 17 Uhr 09

Was für ein Kaff. Gföhl. Der Ort genauso nichtssagend wie sein Name. Noch gestern um diese Zeit hätte ihn das gar nicht gestört. Weil er zu dieser Zeit noch überzeugt gewesen war, hier seine Abschiedsvorstellung als niederösterreichischer Polizeidirektor zu geben. Die hätte von ihm aus auch in Alt-Nagelberg oder Großmugl stattfinden können. Alles Orte, die er ohnehin kein zweites Mal in seinem Leben sehen würde.

Heute stand die Eröffnung der neuen Polizeistation auf dem Programm. In Wahrheit nur ein Umbau. Er hatte sich alle Mühe gegeben, aus der Veranstaltung ein großes Fest zu machen. Nicht nur dem Image der Polizei, sondern auch dem Landeshauptmann zuliebe, der schon vor sechs Wochen sein Kommen zugesagt hatte. Ihn würde er ja auch in seiner neuen Funktion gut brauchen.

Wenigstens war das Wetter hervorragend. Blauer Himmel. Die Frühlingssonne spendete ausreichende Wärme. Kein Wind, allenfalls ein Lüftchen, schwer beladen mit dem aufdringlich süßen Duft des Flieders an der Mauer da drüben. Dazu allerlei Blütenpollen, die ihn in der Nase juckten. Im wahrsten Sinne des Wortes reizend war es hier im Freien. Auf dem Hauptplatz. Eine Festveranstaltung mit allem Drum und Dran. Örtliche Blasmusikkapelle. Glanzpolierter Spritzenwagen der Freiwilligen Feuerwehr. Mit Frühlingsblumen bekränzte Weinkönigin im Dirndl. Die Gföhler Gemeinderäte und sonstigen Honoratioren vollständig angetreten. Und gut hundert Personen als Publikum. Begrüßung durch den Bürgermeister, dessen Nase eine innige Beziehung zu alkoholischen Getränken aller Art verriet. Selbstverständlich mit dem Herrn Landeshauptmann als erstem Adressaten der Grußbotschaft. Dann hatte der Gemeindevorsteher aber als zweiten Ehrengast nicht ihn, sondern die neue Sicherheitssprecherin der Volkspartei begrüßt. Landtagsabgeordnete Katharina Krenn. Sie saß neben ihm, zog die Blicke auf sich und stahl ihm, Wolfgang Marbolt, dem obersten Sicherheitsverantwortlichen des Landes, die Show. Das tat weh. Aber lang nicht so weh wie der Telefonanruf eines guten Freundes gestern Abend.

Jetzt saß er in der ersten der vor dem Gemeindeamt aufgestellten sechs Reihen und tat so, als würde er den salbungsvollen Worten des Landeshauptmanns aufmerksam lauschen. Die ölige Stimme schien ihm heute den falschen Zungenschlag, den er bei Reden des Landesfürsten immer zu hören glaubte, besonders deutlich zu unterstreichen. Neben sich die Sicherheitssprecherin. Zugegeben attraktiv, aber in Sicherheitsfragen völlig unbeleckt. Eigentlich hatte er erwartet, vor der Besetzung dieser Position vom Landeshauptmann zumindest konsultiert zu werden. Wozu war er denn der oberste Sicherheitsbeamte des Landes? Aber nichts dergleichen. Als ob er Luft wäre.

Aber der Landeshauptmann und seine Abgeordnete konnten ihm heute so oder so gestohlen bleiben. Seine Gedanken kreisten um ein viel dringenderes Problem. Wie sollte er das Desaster seiner Frau erklären? Warum war er auch so dumm gewesen? Vor drei Wochen hatte er ihr gegenüber geprahlt, dass die öffentliche Ausschreibung eine reine Formsache sei. Weil er den Posten ohnehin schon so gut wie in der Tasche habe. Und dann vor knapp 24 Stunden die niederschmetternde Nachricht. Zwar inoffiziell, aber aus sicherer Quelle. Die sprudelten für ihn ja noch immer. Der Herr Innenminister habe sich für einen anderen Kandidaten entschieden. Dieser Hurensohn. Fand es nicht einmal der Mühe wert, ihn persönlich von seiner Entscheidung zu informieren. Ihn, der fast drei Jahre lang als Büroleiter mit seinem Chef ein Herz und eine Seele gewesen war. Die ganze Drecksarbeit, deren Erledigung der hohe Herr, feige wie Politiker eben waren, wie die Pest hasste, hatte er ihm abgenommen.

Dabei hatte er es geahnt. Aus dem Innenministerium hätte schon viel früher eine positive Nachricht kommen müssen. Schon seit einer guten Woche hatte er ein flaues Gefühl im Magen. Dieses Gefühl hinterließ bereits Spuren außerhalb des Magens. Im Büro war er noch kürzer angebunden gewesen, als es ohnehin seine Art war. Als Vorgesetzter war er nie einer von der Bussi-Bussi-Sorte gewesen. Wollte er auch nie wirklich sein, obwohl ihm in dem Punkt sein Minister ein großes Vorbild hätte sein können. War eben ein typischer Politiker, der den Höhepunkt seiner Karriere noch vor sich zu haben glaubte. Selbstverständlich mit halb Österreich per Du. Er hingegen war auf Distanz bedacht.

In den letzten Tagen auch mehr Alkohol als üblich. Sogar Whisky, den er eigentlich gar nicht mochte. Nur für hochrangige Besucher hatte er den in seinem Büro vorrätig. Die gaben ihm für seinen Geschmack allerdings viel zu selten die Ehre. Weil er seine Vorzimmerdamen nicht um ein Glas bitten wollte, hatte er gestern sogar einen kräftigen Schluck aus der Flasche genommen, oder auch zwei. Für ihn ein deutliches Signal, dass er mit sich nicht im Reinen war. Ein weiteres Signal dieser Art: Seine Frau war vorgestern durchaus in Stimmung für Sex gewesen. Kam nicht sehr häufig vor. Aber nicht einmal dazu hatte er Lust gehabt.

Seit gestern Nacht zermarterte er sich sein Gehirn. Wie war es nur möglich gewesen, dass er mit seiner Bewerbung nicht zum Zug gekommen war? Für eine Position wie maßgeschneidert für ihn. Generalsekretär des Innenministeriums. Also die klare Nummer Zwei. De facto eigentlich die Nummer Eins. Weil sich der Minister ja nie um operative Angelegenheiten kümmerte. Mit sieben Sektionschefs als Untergebenen. Selbstverständlich mit einer speziell für ihn entworfenen Uniform. Er sah an sich hinunter. Wie er seine jetzige Arbeitskleidung hasste, mit der er sich von seinen Amtskollegen aus den anderen Bundesländern nicht unterscheiden konnte. Nicht einmal von denen aus Vorarlberg oder dem Burgenland. Dabei waren diese Bundesländer gerade einmal so groß wie ein einziger politischer Bezirk in Niederösterreich.

Der Landeshauptmann salbaderte dahin. Von der Präsenz der Polizei, die dem Volk Sicherheit vermitteln würde. Er galt wohl nur deshalb als guter Redner, weil alle anderen Politiker noch ermüdender redeten. Müde. Das war der Punkt. Diese ganze Sache machte ihn unendlich müde. Wahrscheinlich war er einer läppischen Intrige zum Opfer gefallen. Wenn er nur dahinterkommen würde, wer warum welches Gift in das Ohr des Innenministers geträufelt hatte, würde er gegensteuern können. Information war der Schlüssel zum Erfolg. Früher war er im Zentrum des Informationsflusses gesessen. Aber jetzt, jetzt saß er in Gföhl, in St. Pölten, oder sonst irgendwo im niederen Österreich, abseits der wichtigen Kanäle, abseits der Büros der Macht. Was für ein leichtgläubiger Mensch sein früherer Chef doch war. Immer auf die Person hörend, die sein Büro als letztes betreten hatte. Gerade deshalb hätte der Minister ihn als Generalsekretär so dringend gebraucht: weil er ein untrügliches Gespür für Intrigen hatte. Wie fein gesponnen sie auch immer sein mochten. Dabei half ihm seine überragende Menschenkenntnis. Als Leiter des Ministerbüros war er im ganzen Ministerium für diese Menschenkenntnis berühmt und gefürchtet gewesen. Der Minister mochte ja über eine Reihe von Qualitäten verfügen, aber Menschenkenntnis gehörte sicher nicht dazu.

Applaus. Applaus. Offensichtlich war der Landeshauptmann mit seiner Rede am Ende. Wenigstens etwas. Der Marsch, den die Kapelle jetzt intonierte, kam ihm irgendwie bekannt vor. Diese Amateurmusikanten spielten doch immer dasselbe. Und der Landeshauptmann griff zum Taktstock. Der war sich auch für nichts zu blöd. Naja. Jetzt noch schnell ein bis zwei Gläser Wein, dann Händeschütteln mit den Ehrengästen und ab nach Hause.

Morgen beim Frühstück musste er seiner Britta endlich reinen Wein einschenken. War ohnehin eine schauspielerische Meisterleistung von ihm gewesen, beim gestrigen Abendessen so zu tun, als könnte er den Anruf des Ministers gar nicht mehr erwarten. Mit der Nachricht, die sie wahrscheinlich noch schlimmer treffen würde als ihn selbst, konnte er nicht länger hinterm Berg halten. Sonst würden ihm die Buschtrommeln womöglich zuvorkommen. Britta hasste dieses Niederösterreich noch mehr als er. Und überhaupt St. Pölten. In seiner Bedeutungslosigkeit höchstens von Eisenstadt übertroffen.

Ihre Wiener Arroganz würde er nie verstehen. Schließlich hatte sie die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens in einer Genossenschaftswohnung in Liesing gewohnt. Auch nicht besser als St. Pölten. Aber sie tat immer so, als wäre sie in einer hochnoblen Cottage-Villa in Hietzing oder Grinzing aufgewachsen. Eines aber musste er ihr lassen: Wenn es darauf ankam, hatte sie einen geradezu sagenhaften Instinkt. Vielleicht konnte sie ihm helfen. Vielleicht konnte sie erraten, über welche Intrige er zu stolpern drohte.

Als er von seinem Sessel aufstand, fiel sein Blick auf das von der Sonne angestrahlte blonde Haar seiner Sitznachbarin. Die Frau Landtagsabgeordnete hätte ein gutes Model für eine Shampoo-Werbung abgegeben. Ihr Haar war beinahe so perfekt wie das von… Es durchfuhr ihn wie ein Blitz. Um Himmels willen! Das Model! Der Polizeiball vor zwei Monaten. Konnte der schuld an der Katastrophe sein? Britta war damals jedenfalls richtig wütend auf ihn gewesen.

Er hatte damals den Auftrag gegeben, den Polizeiball wieder zum Höhepunkt der Saison zu machen. Über die letzten Jahre war diese einst leuchtende Rose im St.Pöltner Ballkalender zu einem mickrigen Mauerblümchen verkümmert. Da galt es, keine Kosten und Mühen zu scheuen. Einem Mitglied des Organisationskomitees war die Idee gekommen, ein in Deutschland sehr bekanntes Erotik-Model für die Mitternachtseinlage zu engagieren. Das hatte ihm gefallen. Sozusagen als Kampfansage gegen den St. Pöltner Mief. Und gegen den niederösterreichischen gleich dazu. Die Lady war auch ein voller Erfolg gewesen. Bei den Medien schon im Vorfeld. Vor Ort bei den Herren aller Altersgruppen. Und auch bei den Damen, zumindest bei den jungen. Sowohl der Landeshauptmann als auch der Minister, die stark akklamierten Ehrengäste des Balls, hatten während der Vorstellung Stielaugen. Daher war er sehr zufrieden gewesen. Anders als seine Britta hatte er allerdings die Ehefrauen der beiden Politiker nicht beobachtet. Auf der Heimfahrt vom Ball war sie dann fuchsteufelswild gewesen. Warum hatte er nicht dafür gesorgt, dass die Damen der beiden hohen Herren während der Mitternachtseinlage weggelotst wurden? Ins Spielcasino im ersten Stock oder sonst wohin, wo sie die gierigen Blicke der Ehemänner nicht aus nächster Nähe mit ansehen mussten. Diese Dummheit würde ihm noch auf den Kopf fallen, hatte ihm seine Britta prophezeit. Denn der Landeshauptmann und der Minister würden ihn dafür verantwortlich machen, wenn bei ihnen der Haussegen wegen des tanzenden Models schief hing.

Er spürte Schweiß auf seiner Stirn. Zwar konnte er nicht hundertprozentig sicher sein, ob er die Verhinderung seiner Beförderung wirklich zwei spießigen Ehefrauen zu verdanken hatte. Aber er wusste aus vielen Erlebnissen, dass der Minister unter dem Pantoffel seiner Frau nicht nur stand, sondern geradezu darunter verschwand. Britta würde in diesem Faktum ganz sicher die Ursache der Misere sehen. Und er musste zugeben, dass ihr Instinkt sie wirklich selten trog.

Er blickte auf sein Handy, das er zu Beginn der Zeremonie auf lautlos gestellt hatte. Eine neue Nachricht: »Der Minister möchte Sie sehen. Bitte um Anruf Montag Früh.« Sein Herz machte einen Sprung. Sein ehemaliger Chef würde ihn nie zu sich bestellen, um ihm eine negative Nachricht zu geben. Dazu war er viel zu feig. Hatte er es sich doch anders überlegt?

Freitag, 16. April 17 Uhr 20

Zwar war es noch hell, aber die Sonne war bereits hinter den Hügeln verschwunden. Wegen den dunkel getönten Scheiben seines Wagens war von außen wohl höchstens schemenhaft zu erkennen, dass er mit dem Fernglas das Wasser absuchte. Kein anderes Auto stand auf diesem kleinen Parkplatz am Ufer. Hier war er schon oft allein gewesen. Meistens, um keine hundert Meter weiter stromaufwärts in die Donau zu steigen und sich bis Krems treiben zu lassen. Unter der Mauterner Brücke durch, wobei er dabei immer darauf versessen war, ganz nah an einen Brückenpfeiler heranzuschwimmen. Um sich seinen Mut zu beweisen. Schon als Zwölfjähriger hatte er begonnen, hart zu trainieren. Gern wäre er ein sehr schneller Schwimmer geworden. Aber andere waren noch schneller. Auch, weil er erst spät gewachsen war. Bis zum Ende der Schulzeit war er kleiner gewesen als seine Altersgenossen. Wenigstens hatte die Ausbildung zum Rettungsschwimmer geklappt.

Jetzt saß er nicht an diesem Platz, um in die Donau zu springen und sich neuerlich seinen Mut zu beweisen. Dazu hätte er heute einen Neoprenanzug gebraucht. Die Temperatur des Wassers schätzte er wegen des langen Winters auf maximal neun Grad.

Heute hatte seine Anwesenheit hier einen anderen Grund. Er zitterte. Obwohl es in seinem Auto sehr warm war. Er zitterte, weil er Angst hatte, sein Plan würde schon im ersten Anlauf scheitern. Dieses Zittern kannte er von früher. Fühlte sich ganz anders an als ein Frösteln, das ihm selbstverständlich ebenfalls vertraut war. Er fröstelte, wenn ihm kalt war. Er zitterte, wenn er Angst vor Misserfolg hatte.

Durch sein Fernglas blickte er über die Donau, hinüber zur Terrasse des Schlosshotels Dürnstein. Recht voll für Mitte April. Den Menschen schien die Kühle, die vom Fluss aufstieg, nichts auszumachen. Ein Paar an der Brüstung machte immer wieder schwungvolle Bewegungen mit den Armen. Offenbar warfen die beiden ein paar frechen Spatzen Krümel von ihrer Mehlspeise zu. Weiter oben erblickte er eine Gruppe von Leuten, die den steilen Weg von der Ruine herabstiegen. Durch das Fernglas alles gut zu erkennen. Aber auf der Donau selbst regte sich nichts.

Er war froh, im Auto sitzen zu können. Seit seiner Kindheit reagierte er äußerst empfindlich auf Kälte. Sehr robust war man in seiner Familie ja seit Generationen nicht gewesen. Sein Vater war schon im Alter von achtundfünfzig Jahren gestorben. Und seine Mutter mit vierundsechzig. Und sein Bruder sogar schon mit vierzehn.

In letzter Zeit hatte er sich öfter bei der Frage ertappt, wie lange er wohl selbst noch leben würde. Nicht, dass ihn ein frühes Ende übermäßig gestört hätte. So toll war sein bisheriges Leben ja nicht gewesen. Viel stärker als die mögliche Dauer seines Lebens hatte ihn seit vielen Jahren die Frage beschäftigt, warum ihm von seinen Eltern nicht die Gene, die er für ein erfolgreiches Leben hätte brauchen können, in die Wiege gelegt worden waren. Er hatte Erfolgsmenschen in seinem Umfeld über Jahre studiert. Fast alle waren intelligent, zum Teil sogar hochintelligent. Es war ein Lügenmärchen, dass Erfolg im Beruf auch ohne Intelligenz zu haben war. Aber daran allein konnte es nicht liegen. Er selbst hatte ja schon als Schüler als begabt gegolten. Nicht ganz so talentiert wie sein verstorbener Bruder, aber immerhin. Seinen Beobachtungen zufolge hatten Erfolgsmenschen ihm bestimmte Eigenschaften voraus: Sie hatten wesentlich kräftigere Ellbogen, die sie nicht nur benutzten, um sich vorzudrängen. Sie rammten damit auch ohne Hemmungen alle beiseite, die ihnen im Weg standen. Sie waren berechnender und ohne Mitgefühl. Schlossen nur Freundschaft mit Menschen, von denen sie sich etwas versprachen. Und logen, ohne rot zu werden, wenn die Lüge ihren Interessen diente. Manchmal fragte er sich, ob er diese Fähigkeiten insgeheim auch alle gern gehabt hätte. Kleinere Anläufe in diese Richtung hatte er zweifellos unternommen. Aber letztlich fehlte ihm dann doch die Härte. Im letzten Moment hatte er immer zurückgezuckt. Ob er diesmal auch zurückzucken würde? Nein. Diesmal nicht. Er war fest entschlossen. Er musste es tun.

Ungeduldig ließ er sein Fernglas über die Donau schweifen. Das Motorboot, auf das er wartete, würde er schon von Weitem sehen können. Ein ganz bestimmtes Motorboot. Wahrscheinlich würde es von Krems heraufkommen. Von dort, wo die vollbesetzte MS Wachau auf ihrer Fahrt zu ihrer Endstation schon vor einiger Zeit verschwunden war. Auf die MS Wachau hatte er die größten Hoffnungen gesetzt. Sein ganzes Timing war darauf ausgerichtet, dass ein Passagier oder sonst wer auf dem Schiff Alarm schlug.

Seine zweite Hoffnung waren die Paddler. Immer wieder kamen ein paar kleine Boote in gemächlichem Tempo an ihm vorbei. Es war ein schöner Tag gewesen. Da gab es auch unter der Woche immer ein paar Paddler, die sich mehr oder weniger treiben ließen. Am Wochenende würde sich deren Zahl sicher verzehnfachen. Vielleicht hätte er zur Sicherheit bis zum Wochenende warten sollen. Die Leute schauten ja eher in die Gegend oder in die Luft, als dass sie einen Blick auf die Wasseroberfläche warfen.

Das Motorboot kam einfach nicht daher. Vor mittlerweile drei Stunden hatte er sie der Donau übergeben. Enttäuschend war das. Aber er war noch nicht deprimiert. Spätestens bei der Staustufe in Altenwörth würde irgendjemand auf sie aufmerksam werden. Das war sein Plan B. Allerdings konnte es immer noch sein, dass sie doch am Ufer hängengeblieben war. Obwohl sie sich zunächst wie geplant Richtung Strommitte bewegt hatte.

Er schaute mit dem Fernglas Richtung Mauterner Brücke. Da sah er es. Das Boot. Endlich. Größer als die meisten Motorboote, die die Donau befuhren. Unverkennbar nicht nur an der silbergrau-blauen Lackierung, sondern auch an der rot-weiß-roten Fahne, die am Heck flatterte. Noch konnte er sich aber nicht sicher sein. Hätte ja auch eine Routinefahrt der Polizei sein können.

Keine zwei Minuten später war er sicher. Das Boot fuhr nicht in direkter Linie stromaufwärts, sondern in einem Zickzack-Kurs. Als würden die Personen an Bord nach etwas Ausschau halten. Er wollte gar nicht weiter warten. Was er sah, reichte ihm.

Das Zittern hörte mit einem Schlag auf. Die ersten beiden Schritte seines Plans hatten funktioniert. Er ermahnte sich, deswegen nicht übermütig zu werden. Diese Schritte waren eine vergleichsweise leichte Übung. Der nächste würde ihm viel schwerer fallen. Mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust startete er sein Auto.

Freitag, 16. April 17 Uhr 30

Die Größe des Kunststücks, gleichzeitig das Boot zu steuern und die Wasseroberfläche mit dem Fernglas abzusuchen, hatte er zugegebenermaßen etwas unterschätzt. Das war sogar für einen Felix Frisch eine Herausforderung. Noch dazu im Zwielicht des späten Nachmittags. Es herrschte ja beinahe schon Dämmerung. Vielleicht hätte er seinen jungen Kollegen doch nicht wegschicken sollen. Aber er hatte eben ein weiches Herz und wollte für die jungen Kollegen ein leuchtendes Vorbild in Sachen Kameradschaft sein. Gerade als sie beide das schnittige Polizeiboot besteigen wollten, hatte der Kollege den Anruf von seiner Frau bekommen. Der kleine Sohn hätte hohes Fieber und würde ständig nach seinem Vater rufen. Da musste er den Kollegen doch drängen, sich schleunigst auf den Weg nach Hause zu machen. Die Donau abzusuchen würde er auch allein schaffen.

Schaffte er ja auch. Ein gestandenes Mannsbild wie er war sogar diesem schwierigen Auftrag gewachsen. Spezialauftrag von der Mordkommission. Die Donau zwischen Krems und Dürnstein sollten sie nach einer angeblichen Leiche absuchen. Oder einem Gegenstand, der wie eine Leiche aussah.

Irgendetwas musste da wohl im Wasser sein. Das sollte er finden. Also fuhr er im Zickzack stromaufwärts. Die Donau kannte er in diesem Abschnitt mittlerweile wie seine Westentasche. Vielleicht war es gut, dass er diesen Auftrag alleine erledigte. In letzter Zeit fehlten ihm sowohl die Herausforderungen als auch die Erfolgserlebnisse. Wenn da irgendwo doch eine Leiche schwamm, dann war er jedenfalls der Richtige, um sie zu bergen. Dazu brauchte es schon einen Mann mit seiner Erfahrung.

Vor einem knappen Jahr war er endlich vom Revierinspektor zum Gruppeninspektor befördert worden. Ohne dass ihm die Beförderung Freude bereitet hätte. Es hatte schon mit der Beförderungszeremonie begonnen. Die war gar nicht nach seinem Geschmack verlaufen. Er musste ja zugeben, dass es bei der Kremser Polizei nicht üblich war, dass bei solchen Anlässen der niederösterreichische Polizeidirektor oder zumindest ein Kremser Vizebürgermeister persönlich anwesend waren. Aber in seinem speziellen Fall wäre das schon gerechtfertigt gewesen. Welcher zukünftige Gruppeninspektor konnte schon von sich behaupten, einen so großen Beitrag nicht nur zur Aufklärung eines Mordes, sondern einer ganzen Mordserie geleistet zu haben. Gott sei Dank hatte wenigstens seine Elfriede für die Feier eine Torte gebacken. Die ließen sich natürlich alle gut munden. Sogar eine Kaffeemaschine hatte seine Frau mitgebracht, weil der Kaffee aus dem Automaten wie Abwaschwasser schmeckte. Im Torte-Essen waren alle ganz groß. Aber keiner der Kollegen erwähnte seine großartigen Ermittlungsleistungen auch nur mit einem Wort. Bei diesem einen Wort hätte er ihnen sogar einen mit Torte vollgestopften Mund nachgesehen.

Die Stimmung ihm gegenüber war auch in den folgenden Wochen und Monaten nicht besser geworden. Deshalb hatte er im Herbst den Antrag gestellt, zur Dienststelle Mautern, die im Abschnitt Wachau auch für die Strompolizei zuständig war, versetzt zu werden. Der Antrag war innerhalb von zwei Wochen bewilligt worden. Offensichtlich deshalb so schnell, weil die Kollegen in Mautern einen Mann mit seiner Erfahrung dringend brauchten. Zum Unterschied von Krems hatte der Postenkommandant von Mautern wohl keine Angst vor einem neuen Star in der Mannschaft. Natürlich war ihm die Prüfung für den Bootsführerschein nicht erspart geblieben. Für einen Mann seiner Klasse nur eine kleine Hürde, die er schon im zweiten Anlauf bewältigte.

So ein Polizeiboot war schon ein beachtliches Gerät. Ein Motor, bei dem jedes Motorrad vor Neid erblassen konnte. Pferdestärken ohne Ende. Diese Pferdestärken mit der linken Hand zu bändigen, während er mit der rechten das Fernglas hielt und den Adlerblick über den Strom gleiten ließ, das machte ihm so schnell keiner nach. Geschmeidig um die Kurve. Nur nicht zu nahe ans Ufer. Bei der ersten Boots-Prüfung war er knapper an die Ufersteine herangefahren. Der Prüfer hatte einfach die Nerven verloren.

Aber Moment einmal. Das war doch… Schlagartig bekam er eine Gänsehaut. Das musste es sein. Motor drosseln. Beidrehen. Geschmeidig beidrehen. Motor abstellen. Verdammt! Wo war das Biest jetzt? Ah, da tauchte es wieder auf. An der Längsseite des Boots war der lange Stock mit dem Enterhaken an der Spitze befestigt. Den nahm er zur Hand. Nur nicht zu weit vorbeugen. Nur nicht ins Wasser fallen. Er musste noch etwas näher heran. Zum Glück trieb dieses Ding in seine Richtung. Der Kopf sah tatsächlich eingeschlagen aus. Noch ein kleines Stück. Nein. Leiche war das keine. Es war eine ordinäre Schaufensterpuppe. Aus Holz. Mit eingerissenem Kopf und bekleidet mit einem dunkelblauen Trainingsanzug. Schöner Anzug. Er lächelte. Diese Suchaktion würde für ihn noch einen sehr befriedigenden Abschluss bringen. Sein eigener Trainingsanzug war ja doch schon sehr alt. An den Knien und an der Sitzfläche bereits mehr als fadenscheinig. Ein kurzer Blick auf die Puppe genügte, um zu erfassen, dass der Trainingsanzug so gut wie neu war. Konnte er feststellen, obwohl der Anzug klitschnass war. Da bewährte es sich wieder einmal, dass er immer gut darin gewesen war, zwei und zwei zusammenzuzählen und auch aus komplizierten Sachverhalten einfache Schlüsse zu ziehen.

Nach zwei vergeblichen Anläufen hatte er die Puppe endlich an Bord. Das Ding war sauschwer und das Wasser saukalt. Er musste darauf achten, mit dem Enterhaken nicht den Anzug aufzureißen. Aber es war die Mühe wert. Sowohl Oberteil als auch Hose waren wie neu. Noch am Boot rief er bei der Mordkommission an und berichtete, dass es sich bei dem Fund nur um eine alte Schaufensterpuppe handelte.

Ebenfalls noch am Boot entkleidete er die Puppe. Den Trainingsanzug drückte er aus, so gut es ging, und rollte ihn zu einem Bündel zusammen.

Den Hafen verließ er mit dem Bündel in der einen Hand. Mit dem anderen Arm umfasste er die Puppe und schleifte sie mehr oder weniger neben sich her. Schließlich konnte er das Ding nicht einfach am Boot oder im Polizeihafen herumliegen lassen. Leider war niemand da, der ihm zur Hand gehen konnte.

Verschwitzt kam er bei seinem roten Skoda Octavia an und verfrachtete das Ding in den Kofferraum. Später würde er die Puppe in einen Müllcontainer werfen, der in der Nähe seiner Wohnung aufgestellt war. Aber vorher würde er dem nassen Trainingsanzug noch eine schnelle Handwäsche im Waschbecken besorgen und ihn zum Trocknen aufhängen. Er konnte es kaum erwarten, seine Beute anzuprobieren. Seine Elfriede würde Augen machen.

Freitag, 16. April 19 Uhr 30

In Gföhl war sie so lange wie möglich an der Seite des Landeshauptmanns gestanden und hatte mit den Leuten geredet. Sie fand, dass sie ihn gut ergänzt hatte. Und umgekehrt. Von ihm konnte sie viel lernen. Ganz besonders mochte sie es, wenn er seine große Hand väterlich auf ihre Schulter legte und sie vorstellte: Katharina Krenn, unsere Sicherheitssprecherin. Das kam bei den Leuten gut an.

Von Gföhl war sie direkt nach Weißenkirchen gefahren. Als sie den Bahnübergang kurz vor der Ortseinfahrt überquerte, warf sie einen Blick auf die Uhr über dem Tachometer. Sie war zu früh dran. Der Beginn der Veranstaltung war für 19 Uhr 30 angesetzt. Jetzt war es 19 Uhr 30. So etwas war ihr zu Beginn ihrer politischen Karriere fast immer passiert. In letzter Zeit immer seltener. Bei der richtigen Inszenierung eines Auftritts war die Zeit ein entscheidender Faktor. Sie hatte vom Landeshauptmann gelernt, dass ein Politiker nie pünktlich sein durfte. Erstens würden die Leute sonst glauben, dass Politiker nichts zu tun hätten. Zweitens müsse unter den Wartenden eine gewisse Ungeduld oder sogar Unruhe geschürt werden, um schon das Erscheinen der Hauptperson zu einem wesentlichen Teil des nachfolgenden Erlösungsrituals zu machen. Sie wusste allerdings auch, dass es für ihn als Spitzenpolitiker eine deutlich höhere Verspätungstoleranz gab als für sie als einfache Landtagsabgeordnete. Sie beschloss daher, nur fünfzehn Minuten an der Ortseinfahrt zu parken.

Heute Abend hatte die Weißenkirchener ÖVP zu einer Veranstaltung geladen. Die Schwarzen waren in der traditionsreichen Weinbaugemeinde immer die Platzhirsche gewesen. Sie waren die einzige Partei, die es sich leisten konnte, außerhalb von Wahlzeiten Parteiveranstaltungen abzuhalten. Ursprünglich hatte der Ortsparteiobmann den Landeshauptmann höchstpersönlich wegen des politischen Referats angefragt. War aber von dessen Büro abschlägig beschieden worden. Terminkollision. Daher war sie zum Zug gekommen.

Pünktlich, mit der ihr angemessenen Verspätung, startete sie ihren Wagen und fuhr zum »Holzer«. Dieses Gasthaus war in Weißenkirchen eine Institution. Seit neun Generationen im Besitz der Familie. Sie war seit drei Jahren im Landtag und kannte daher fast alle Ortsparteiobmänner und -obfrauen ihres Wahlkreises. Auch den vor dem Lokal wartenden Weißenkirchener Obmann Hans Wiesner.

Mit einem deutlichen Handzeichen signalisierte er ihr, ihren Wagen in die geöffnete Hofeinfahrt zu lenken. Ein kleines Schild aus Stuck, ursprünglich weiß, aber nie gereinigt, prangte über der Hofeinfahrt. Mit einer in abgeblättertem Gold eingravierten Jahreszahl: 1738. Die Holzers waren nicht nur Wirtsleute, sondern auch Weinbauern. Im zweiten Beruf nicht ganz so bekannt wie im ersten. Ihre Veltliner und Rieslinge waren durchaus gut zu trinken, aber in den großen nationalen oder gar internationalen Wein-Führern waren sie nicht zu finden.

Nach einer kurzen Begrüßung mit einem zaghaften Kuss auf beide Wangen führte der Obmann sie hinein. Das Gasthaus hatte neben der Schankstube einen großen Saal. Dessen Decke war gemessen an der Größe zu niedrig, sodass der Raum etwas Bedrückendes ausstrahlte. Bis zu 120 Leute fanden hier Platz. Normalerweise wurde so viel Platz in Weißenkirchen nur in der Faschingszeit gebraucht. Beim Feuerwehrball etwa, oder beim Pfarrball. Da musste allerdings ein großer Teil der Ballbesucher in der Schankstube Platz nehmen, weil der Saal für die Kapelle und die Tanzfläche reserviert war. Den Pfarrball gab es schon lang nicht mehr. Ebenso wenig wie das Kindergschnas. Früher ein Fixpunkt im Weißenkirchener Veranstaltungskalender. Jetzt wurde der Saal in erster Linie für Hochzeiten verwendet. Bei geschickter Anordnung der Tische sah der Saal auch mit deutlich weniger Gästen ziemlich voll aus. So auch an diesem Abend.

Katharina hatte sich schon früh angewöhnt, bei ihren Auftritten die Zahl der Besucher zu schätzen. Weil sie daraus auf die organisatorische Schlagkraft der örtlichen Parteileitung schließen konnte. Aber natürlich auch, weil die Besucherzahl ein höchst brauchbares Indiz für ihre eigene Zugkraft darstellte. Zirka sechzig Personen. Gar nicht schlecht.

Dass der Publikumsandrang auch ihr zu verdanken war, bemerkte sie am deutlichen Überhang der männlichen Besucher, die auch einen stärkeren Beitrag zum insgesamt sehr freundlichen Begrüßungsapplaus leisteten als die anwesenden Damen. Das kannte sie schon von anderen Veranstaltungen. Bei der Wahl ihrer Garderobe legte sie stets Wert darauf, Frauen, die von der Natur nicht mit denselben Vorzügen ausgestattet worden waren wie sie selbst, nicht vor den Kopf zu stoßen. Deshalb schminkte sie sich bei solchen Gelegenheiten auch ausgesucht dezent. Trotzdem wusste sie, dass viele ihrer Geschlechtsgenossinnen mit ihr bei der ersten Begegnung ein Problem hatten. Sie hatte aber auch die Erfahrung gemacht, dass sie solche Vorbehalte mit ihrer Rede nach wenigen Minuten zum Schwinden bringen konnte.

Ortsparteiobmann Wiesner, der die Anwesenden offensichtlich alle persönlich kannte, gab in seiner kurzen Begrüßungsansprache seiner Freude über das zahlreiche Erscheinen Ausdruck. Auf eine recht sympathische Art. Schwerer tat er sich mit der Vorstellung ihrer Person. Etwas linkisch, wie sie fand. Sie hatte sich vorgenommen, in ihrer Rede, die sie völlig frei halten wollte, auf die Bedeutung des Weinbaus nicht nur für die Region sondern für das gesamte Bundesland einzugehen. In Weißenkirchen natürlich ein Selbstläufer.

Etwas schwieriger war es für sie schon, beim Thema Tourismus die richtige Balance zu finden. Die Wachau lebte zwar vom Tourismus, aber es gab viele Bewohner, für die der Fremdenverkehr mehr Fluch als Segen bedeutete. Weil sie seit drei Monaten Sicherheitssprecherin ihrer Partei im Landtag war, wollte sie sich im bundespolitischen Teil ihrer Rede auf die neue Parteilinie in Sachen Sexualstrafrecht konzentrieren. Aber auch deswegen, weil sie wusste, dass sie damit den meisten Frauen im Saal aus der Seele sprechen würde. Dem Beifall am Ende ihrer Rede nach zu schließen hatte sie ihr Ziel voll erreicht. Einige Damen hatten sich dabei sogar von ihren Sesseln erhoben.

Nachdem der Applaus endlich verklungen war, lud der Ortsparteiobmann die Zuhörer ein, Fragen an die Referentin zu stellen. Ein übliches Ritual bei Parteiveranstaltungen. Ebenso wie es üblich war, dass sich alle Anwesenden zunächst gegenseitig ansahen, und niemand den Mut hatte, die erste Frage zu stellen. Bis der Parteiobmann die schön langsam peinlich werdende Stille mit einer eigenen Frage durchbrach. Kannte sie auch zur Genüge.

»Liebe Frau Abgeordnete! Man munkelt ja schon seit einiger Zeit, dass du der nächsten Landesregierung angehören wirst. Ich bin sicher, dass alle hier im Raum wissen wollen, welches Ressort du denn gern hättest?« Ziemlich die blödeste Frage, die er ihr stellen konnte. Abwiegeln, rundweg bestreiten oder gar bejahen? Jede Antwort war möglich, aber keine wirklich befriedigend. Als Frage zum Aufwärmen absolut nicht zu gebrauchen. Dem Gesichtsausdruck des Obmanns konnte sie aber die Überzeugung ansehen, ihr eine besonders intelligente Frage gestellt zu haben. Vollkoffer.

Samstag, 17. April 8 Uhr 20

Die Luft war an diesem sonnigen Morgen noch frisch. Sie fröstelte, als sie auf die Veranda hinaustrat. Von der Donau stiegen zarte Dunstschleier auf. Morgenmantel allein war zu wenig. Gestern in Weißenkirchen war es ziemlich spät geworden. Lange Abende war sie gewohnt. Vielleicht war es dennoch auch Restmüdigkeit, die sie frösteln ließ. Mit ihren einundvierzig Jahren war sie eben nicht mehr die Jüngste. Immerhin eine der jüngeren Landtagsabgeordneten.

Jedenfalls musste sie sich vor einer Verkühlung hüten. Angesichts ihres Terminkalenders war eine Erkrankung so ziemlich das Letzte, was sie brauchen konnte. Also zurück ins Haus. Ein Paar dicke Socken und unter dem Morgenmantel noch eine warme Trainingshose, das würde reichen. Jedenfalls wollte sie es sich nicht nehmen lassen, mit Martin auf der Veranda zu frühstücken. Sie hörte ihn schon in der Küche. Für das samstägliche Frühstück gab es im Hause Krenn seit Jahren und zu allen Jahreszeiten eine fixe Arbeitsteilung. Sie deckte nur den Tisch. Alles andere war allein seine Sache. Es war sein Ritual, um sich auf das Wochenende einzustimmen. Er holte beim Bäcker, den es in Rossatz noch gab, frisches Gebäck. Früher war er um Wurst und Käse auch noch in die örtliche Gemischtwarenhandlung gepilgert. Die hatte jedoch vor zwei Jahren zugesperrt. Einen Feinkostladen hatte es in dem kleinen Dorf nie gegeben. Also kaufte er die übrigen Zutaten je nach Zeit schon am Donnerstag oder Freitag in einem Supermarkt in Mautern. Den Kaffee hingegen bezog er via Internet aus Vietnam. Kein anderer Kaffee hatte diese cremige Schokoladennote.

Sie wollte ihn in der Küche nicht stören. Also nahm sie alles aus der Anrichte neben der Verandatür. Zunächst ein frisches, blassgrünes Tischtuch. Darauf drapierte sie das Gmundner Porzellan und das alte Silberbesteck.