Dürnsteiner Himmelfahrt - Bernhard Görg - E-Book

Dürnsteiner Himmelfahrt E-Book

Bernhard Görg

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  • Herausgeber: edition a
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Eine wurmstichige Heiligen-Plastik, deren Verschwinden die Polizei in Atem hält. Ein Landeshauptmann, dessen Sommernachtsfest auf der Donau mit einem Eklat endet. Eine pensionierte Gemeindesekretärin, die sich einen Kindheitstraum erfüllt. Ein karrieregeiler Polizeidirektor, der seine Liebe zum Fußvolk entdeckt. Und ein geheimnisvoller Mörder, der überzeugt davon ist, die Chefin der Mordkommission zum Narren halten zu können. Doris Lenharts fünfter Fall. Spannend erzählt und vergnüglich zu lesen.

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Bernhard Görg:Dürnsteiner Himmelfahrt

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 edition a, Wienwww.edition-a.at

Cover: Isabella StarowiczSatz: Sophia StemshornLektorat: Andreas Görg

ISBN 978-3-99001-449-3

E-Book-Herstellung und Auslieferung:Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Samstag, 18. Juni 10 Uhr 27

Als er auf dem Pfarrplatz aus seinem Dienstwagen stieg, fiel sein erster Blick auf die breite Front der Pfarrkirche und dann auf den Turm der Piaristenkirche.

Keine zweihundert Meter voneinander entfernt. Aber welch ein Höhenunterschied! Die eine Kirche hoch oben auf dem Berg, die andere fast auf Höhe der Donau. Was für eine tolle Komposition den Kremser Stadtvätern da vor langer Zeit doch eingefallen war. Würde wahrscheinlich sogar seine Frau begeistern, die sich in letzter Zeit immer mehr über St. Pölten und die Aussicht beklagte, dort wegen ihm und seiner Stellung als Landespolizeidirektor versauern zu müssen. Eigentlich schade, dass sie nicht mit ihm mitgekommen war. Aber heute ging es wirklich nicht.

Der Platz war gerammelt voll. Kein Wunder an einem Samstagvormittag. Bei Kaiserwetter noch dazu.

Sein Chauffeur, der keinen freien Parkplatz fand, stellte den Wagen vor die Einfahrt eines der Kirche gegenüberliegenden, ockerfarbenen Hauses, was eine vorbeigehende ältere Dame, so viel konnte Wolfgang Marbolt sofort sehen, nach der Nummerntafel schielen und dann verärgert den Kopf schütteln ließ. Offensichtlich auch jemand, der die Landeshauptstadt nicht mochte.

Keine zwanzig Meter von seinem Auto entfernt sah er eine Reihe von im Freien aufgestellten Tischen, die offensichtlich zu einer Café-Konditorei gehörten. Dort hätte er noch gern einen schnellen Kaffee getrunken und sich dabei die Sonne auf sein Haupt scheinen lassen. Aber alle Tische waren besetzt.

Seinen Chauffeur ließ er beim Auto zurück. Er hätte sich auch direkt über den Stadtgraben auf den Hohen Markt und dann ein paar Meter die Wegscheid hinunter zu seinem Ziel, einer Kunst- und Antiquitätenhandlung, chauffieren lassen können. Aber er wollte den knapp zehnminütigen Fußweg über den Pfarrplatz hinauf zum Hohen Markt an so einem herrlichen Tag ganz bewusst auf sich nehmen. Er nahm sein leichtes, erdfarbenes Sommersakko, das auf einem Kleiderhaken im Fond des Wagens hing, schwang es sich mit einer betont lässigen Bewegung über seine Schulter und schlenderte los über den Platz. Samstag war Markttag. Nicht, dass ihn Obst und Gemüse besonders interessiert hätten, aber die Kombination der Farben sprach selbst ihn an. Er musste aufpassen, nicht mit einer der vielen Frauen zusammenzustoßen, die nur Augen für die an den Marktständen präsentierten Paradeiser, Gurken und Äpfel und nicht für entgegenkommende Passanten zu haben schienen.

Die ganz dunkelroten Kirschen, die eine der Standlerinnen in einer lichtbraunen, geflochtenen Steige präsentierte, erinnerten ihn an die Ferien seiner Kindheit auf dem großelterlichen Bauernhof im Weinviertel und ließen sogar ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Auf seinem Rückweg würde er ein halbes Kilo davon für seine Frau kaufen.

Kurz nach dem Pfarrplatz warf er einen Blick auf seine Armbanduhr, merkte sich die Uhrzeit und beschleunigte seinen Schritt. Schon eine tolle Atmosphäre, die das Zentrum der Kremser Altstadt ausstrahlte. An den Gebäuden gab es überall Details zu entdecken, die vom Stolz der Bauherren aus vergangenen Tagen zeugten. Warum musste ausgerechnet St. Pölten die niederösterreichische Hauptstadt und damit sein Dienstort sein?

Krems spielte sogar in Sachen Wasser in einer anderen Liga. Großer Strom gegen mickriges Flüsschen. Er war überzeugt, dass seine Wien-närrische Britta, deren Laune von Tag zu Tag schlimmer wurde, ein Exil in der Stadt an der Donau eher ertragen hätte als in der Stadt an der Traisen.

Umso mehr wollte er ihr zu ihrem morgigen Geburtstag eine Überraschung bereiten.

In den letzten Monaten hatte er an ihr ein zunehmendes Interesse für Malerei bemerkt. Er war nicht ganz sicher, ob dieses Interesse nur ein vorübergehender Spleen oder nachhaltiger Begeisterung geschuldet war. Ihre Schwärmerei für Theaterstücke, in denen die Schauspieler entweder in erster Linie stumm vor sich hin starren oder sich gegenseitig anschreien oder gar handgreiflich werden mussten, war jedenfalls nur eine zeitweilige gewesen. Unlängst war er auf ihr Drängen hin mit ihr in einem neuen Museum gewesen, nicht weit vom Bauernhof seiner Großeltern entfernt. In dem gab es nur riesige abstrakte Bilder, viele ganz in blutigem Rot oder glänzendem Schwarz gehalten, mit unförmigen Farbbatzen auf den Leinwänden. Diese Bilder hatten Britta eines wie das andere zu Schreien des Entzückens veranlasst, während er nur kopfschüttelnd und verständnislos neben ihr her trotten konnte. Solche Bilder zu malen, würde er sich selbst auch zutrauen. Das konnte er natürlich nicht laut sagen, weil er sonst als Kunst-Banause dagestanden wäre, was er sich in seiner Position nicht leisten konnte. Später hatte er im Internet recherchiert, dass der Erwerb eines solchen Bildes die finanziellen Möglichkeiten eines Landespolizeidirektors bei Weitem überstieg, was selbst seiner Frau klar sein musste. Gott sei Dank. Er selbst hätte so ein Bild gar nicht in seiner Wohnung haben wollen.

Wieder blickte er auf seine Armbanduhr. Gut trainiert wie er war, hatte es kaum mehr als sechs Minuten gedauert, bis er auf dem Hohen Markt stand. Nun musste er Richtung Untere Landstraße nur noch ein paar Schritte auf dem altehrwürdigen Kopfsteinpflaster die steile Wegscheid hinunter.

Anfang der Woche hatte er begonnen, sich nach Namen von Kunsthändlern zu erkundigen. Mehrfach war ihm ein Dr. Haberl aus Krems empfohlen worden. Sogar mit dem Herrn Landeshauptmann als Kunden. Nicht, dass das der Hauptgrund gewesen wäre, dieser Empfehlung Folge zu leisten. Aber schaden konnte es auf keinen Fall, bei einem Gespräch mit dem Landeskaiser ganz beiläufig einfließen zu lassen, dass sich die Marbolts bei einem Dr. Haberl in Krems mit Kunst und Antiquitäten eindecken würden.

Das Geschäft fand er auf Anhieb. Auch, weil vor dem Antiquitätenladen gerade ein Mann damit beschäftigt war, einen alten Schrank von einem Lieferwagen abzuladen.

Da er über seine Sekretärin seinen Besuch hatte ankündigen lassen, begrüßte ihn der Kunsthändler sofort mit Namen, ohne dass er sich erst hätte vorstellen müssen.

Zunächst plauderte er mit dem Geschäftsinhaber über die Unterschiede zwischen Krems und St. Pölten, ohne seine wahre Meinung über die Landeshauptstadt zu verraten. Selbstverständlich vergaß er nicht darauf hinzuweisen, dass er seinen heutigen Besuch einem Tipp des Herrn Landeshauptmanns verdanken würde. Schien bei Dr. Haberl, dessen Aufmerksamkeit mit einem Schlag spürbar zunahm, die erwünschte Wirkung nicht zu verfehlen. Das war der richtige Moment, um zu seinem Anliegen zu kommen: Dem Erwerb eines kleinen Geburtstagsgeschenks für seine Frau, die seit ihrer Kindheit an Malerei ernsthaft interessiert war. Von der Renaissance bis zur Moderne. Er nahm dabei einen Katalog in die Hand, der auf dem Verkaufspult lag, im Glauben, dort all die Bilder abgebildet zu finden, die der Händler im Angebot hatte. Aber noch bevor er den Katalog aufschlug, merkte er, dass er sich getäuscht haben musste. Wegen des Titelblatts in italienischer Sprache.

»Das ist ein Mitbringsel von meiner jüngsten Reise nach Florenz. Laufende Ausstellung in den Uffizien. Renaissance-Kunst vom Feinsten, kann ich Ihnen sagen.«

Wolfgang Marbolt tat so, als müsse er kurz überlegen. »Richtig, davon hat mir meine Frau erst gestern erzählt. Will unbedingt, dass ich mit ihr hinfliege.«

Er schlug den Katalog auf und blätterte ein bisschen, bis sein Blick an einer Seite hängenblieb.

Der Händler folgte seinem Blick. »Sie scheinen ja einen sehr exquisiten Geschmack zu haben. Eine wunderbare Zeichnung von Raffael, von der man bis vor acht Jahren gar nicht gewusst hat, dass sie überhaupt existiert.«

Wolfgang Marbolt war geschmeichelt. »Und was kostet so eine Zeichnung?«

»Ist vor drei Jahren bei Sotheby’s in London von einem anonymen Privatsammler um circa acht Millionen Euro ersteigert worden. Trotz des recht großen Brandflecks da am linken oberen Bildrand.« Der Händler zeigte mit einer recht beiläufigen Geste auf den Fleck. »Heute sicher noch einmal um einiges mehr wert. Aber unverkäuflich.«

»Donnerwetter!« Der Polizeidirektor legte den Katalog schnell wieder auf das Verkaufspult. »Schade, dass ich nicht über die Mittel des anonymen Privatsammlers verfüge. Für mich müsste es schon etwas Preiswerteres sein.«

Samstag, 18. Juni 16 Uhr 58

Den Teller mit den frischen Blätterteigbrezeln, die ihre Haushälterin vor ihrem Abgang ins Wochenende noch ins Rohr geschoben hatte, stellte Franziska Schremser auf den Terrassentisch neben den Wasserkrug, in dem sich die großen Limettenstücke zwischen den Eiswürfeln drängten. Mit dieser Mischung aus Askese und Luxus würde sie ihre Gäste passend bewirten. Zufrieden ließ sie den Blick schweifen. Teuer war es gewesen, den Gärtner aus Holland zu engagieren. In den letzten Jahren hatte dessen Eingriff noch nicht die volle Wirkung erzielt. Aber in diesem Jahr konnte sie endlich zufrieden mit ihrer Investition sein. Die Kletterrosen, die mittlerweile die gesamten zwei Meter Höhe der alten Gartenmauer überwucherten, waren jeden Cent wert. Der vom Gärtner geplante farbliche Verlauf der Blüten von Dunkelrot rechts der Terrasse über Hellrot beim Swimmingpool, Orange und Gelb rund um den Pavillon bis zu Weiß als Umrahmung des alten Nussbaumes links der Terrasse versetzte Gäste regelmäßig ins Staunen.

Sie nahm das leichte blassgrüne Sommerkleid, das über dem Sessel vor ihr hing, und streifte es sich über ihren trockenen Badeanzug. »Julia!«, rief sie zum Pool hinüber. »Komm endlich aus dem Wasser und zieh dir was an.«

Ihre Vierzehnjährige maulte. »Warum? Es ist doch noch urwarm in der Sonne. Und das Wasser hat sechsundzwanzig Grad. Habe ich gerade kontrolliert.«

Sie war nicht in der Stimmung, sich mit ihrer Tochter auf eine lange Diskussion einzulassen. »Darum geht es nicht. Wir bekommen hohen Besuch. Deshalb.«

»Den Besuch kriegst sicher nur du, nicht wir.« Julias vergnügt lachendes Gesicht, das von dichtem und, obwohl es klatschnass war, erkennbar hellblondem Haar eingerahmt wurde, tauchte über dem Beckenrand auf.

Was für eine schon jetzt zum Anbeißen süße Tochter sie doch hatte, der die Männer bald zu Füßen liegen würden. Der Apfel fiel halt auch in ihrem Fall nicht weit vom Stamm. Sie bemühte sich um einen strengen Ton in ihrer Stimme. »Natürlich kommen die Herren zu mir. Aber ich will nicht, dass sie dich im Bikini herumlaufen sehen. Es sind nämlich zwei geistliche Herren. Den Dürnsteiner Pfarrer kennst du ja. Der zweite ist sein Chef, der Propst von Herzogenburg.«

Mit einem Satz war ihre Tochter aus dem Wasser, streifte sich den Bikini ab, nahm ein neben dem Beckenrand liegendes Handtuch und begann, sich damit zügig abzutrocknen. »Geht es um das Theaterstück? Ehrlich gesagt würde es mich gar nicht mehr stören, wenn sie die Aufführung im Stift doch nicht erlauben. Diese Frau Machherndl ist sowas von lähmend, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Verdirbt einem völlig die Freude.«

»Das Stück wird nicht abgesetzt, Liebling. Spätestens bei der Premiere wird deine Freude umso größer sein. Weil du frenetischen Applaus bekommen wirst. Was heißt Applaus. Standing Ovations.«

»Wenn die Herren nicht wegen des Stückes kommen, warum kommen sie dann?« Julia stibitzte sich zwei Blätterteigbrezeln und huschte an ihr vorbei ins Haus. »Priester geben sich bei uns ja nicht gerade die Klinke in die Hand. War überhaupt schon einmal einer von denen da?«

»Natürlich!«, rief sie der jungen Dame in gespielter Entrüstung nach. »Und überhaupt: Für ein Mädchen, das in sieben Wochen, wenn auch nur auf der Bühne, in den Himmel auffährt, könntest du für die Vertreter dieses Himmels auf Erden schon etwas mehr Respekt aufbringen.« Sie fuhr lauter fort, weil ihre Tochter im Inneren des Hauses verschwunden war. »Und wenn es dich beruhigt. Die Herren sind nicht wegen meines Seelenheils hier, sondern wegen des schnöden Mammons.«

Die Antwort ihrer Tochter kam aus einem der Zimmer neben der Terrasse. »Sollst du etwas spenden?« Julia streckte ihren Kopf samt ihren nackten Schultern beim Fenster heraus und biss genüsslich in eine Blätterteigbrezel.

»An der Außenfassade der Stiftskirche muss dringend ein völlig verwitterter Heiliger Nikolaus restauriert werden. Und da die Kirche dafür kein Geld hat, kommen sie halt zu mir. Offensichtlich hat sich herumgesprochen, dass ich ab und zu für Restaurierungen spende.«

»Mein Okay hast du«, meinte Julia mit vollem Mund. »Auch wenn es mein Erbe mindert. Vielleicht werde ich auch einmal Kunstgeschichte studieren.«

Franziska Schremser strahlte ihre Tochter mit der ganzen Liebe, die sie aufbringen konnte, an: »Keine Sorge. Es sollte so viel für dich und deine Schwester übrigbleiben, dass du dich einer brotlosen Kunst widmen kannst. Vorsichtshalber werde ich mich allerdings nach einem seriöseren Verwalter meiner Finanzen umschauen.« Sie merkte, dass ihrer Tochter eine Frage auf der Zunge lag. Die konnte sie allerdings nicht mehr stellen, weil es an der Eingangstür läutete. Vor drei Jahren hatte sie sich eine Vorrichtung einbauen lassen, die den Klingelton auch in den Garten übertrug. Sie blickte auf ihre Uhr. »Pünktlich ist die Kirche immer.« Mit raschem Schritt ging sie ins Haus in Richtung Eingangstür und rief laut: »Ich komme!«

Im Flur huschte ihr Julia, immer noch in das Handtuch gehüllt, entgegen. »Ich verzieh mich jetzt besser. Legst du Wert darauf, dass ich mich später zeige? Angezogen natürlich.«

»Für dein Alter bist du schon ganz schön frech.« Im Vorbeigehen gab sie ihr einen Klaps auf den Popo. »Ja, ich bestehe darauf, dass du den Herren zumindest ›Guten Tag‹ sagst. Nein, sag lieber ›Grüß Gott‹. Das gefällt ihnen sicher besser.«

Samstag, 18. Juni 19 Uhr 10

Der Polizeidirektor hatte sich den Empfang des Landeshauptmanns viel exklusiver vorgestellt. Und exquisiter. Ein kurzer Rundblick zeigte ihm, dass sich auf dem Schiff mindestens fünfhundert Personen befinden mussten. Der Missmut im Gesicht seiner Britta war ihm schon beim Boarding in Krems aufgefallen. Weil sie sich wie die anderen Gäste auch der Prozedur der Abgleichung ihrer Namen mit der elendslangen Liste der Eingeladenen durch zwei überfordert wirkende Securitys unterziehen mussten. Ihr Unmut steigerte sich noch deutlich, als ihr die Gattin des Landeshauptmanns, die nebst Ehemann an der Reling stand, zur Begrüßung nur höchst beiläufig und ohne Blickkontakt die Hand gab, weil ihre Aufmerksamkeit bereits dem dahinter anrauschenden Paar galt. Offensichtlich wichtigere Leute als die Marbolts. Wenigstens war er froh, dass Britta noch keinen Tropfen Alkohol getrunken hatte. So konnte er sicher sein, dass sie keine Szene machen würde.

Das Schiff legte ab und steuerte stromaufwärts. Es war ein wunderbar lauer Abend an einem der längsten Tage des Jahres. Noch stand die Sonne über den Weinbergen der Wachau. Untergehen würde sie erst in rund zwei Stunden.

Den Nachmittag hatte er gemeinsam mit Britta dazu verwendet, sich über die Abendgarderobe klar zu werden. Ursprünglich wollte er seine Uniform anziehen. Nicht, weil er sich darin besonders gut gefiel, sondern weil er wusste, dass der Innenminister, der als Niederösterreicher sicher auch an der Sonnwendfeier seines Parteifreunds teilnahm, ein Faible für Uniformen hatte. Außerdem würde der Minister zumindest mittelfristig für die Karriere des Landespolizeidirektors wichtiger sein als der Landeshauptmann. Letztendlich hatte er sich aber doch für den Niederösterreich-Anzug samt Krawatte in den Landesfarben entschieden. Weil seine Frau darauf bestand, sich an Bord in ihrem neuen Dirndl zu zeigen, das sie sich zu ihrem morgigen Geburtstag gekauft hatte. Und das würde nach ihrer Meinung, deren Deutlichkeit er wohlweislich nicht zu überhören wagte, nicht zu einer Uniform passen. Obwohl sie schon öfter ohne das geringste Problem ein Dirndl zu seiner Uniform getragen hatte. Einen Krieg mit der Ehefrau – noch dazu am Vorabend ihres Geburtstags – war die Sache jedenfalls nicht wert. Ihm war gleich klar gewesen, dass ihr ›Nein‹ zur Uniform keine modisch-ästhetischen Gründe hatte. Sondern den, dem Minister auch durch die Wahl der Kleidung den Unmut darüber zu zeigen, dass er ihn bei der Besetzung des Postens des Generalsekretärs des Innenministeriums übergangen hatte.

Nachdem sich seine Frau und er je ein Glas Weißwein von einem Tablett, das ihnen ein freundlicher junger Kellner entgegenhielt, genommen hatten, versuchte er sich mit ihr im Schlepptau, einen Weg durch die Massen zu bahnen, um den ihm zugewiesenen Tisch zu finden. Höchstwahrscheinlich nicht der Ehrentisch, wie er argwöhnte. Da spürte er den Griff einer kräftigen Hand auf seiner Schulter. Gleich darauf vernahm er eine laute, etwas raue Stimme, die er auf Anhieb erkannte.

»Was für ein schöner Anblick für meine an Schönheit gar nicht mehr gewohnten Augen! Mein Lieblings-Polizeidirektor und seine wie immer strahlende Britta, die, wenn es nach mir geht, zur Königin des Abends gekrönt werden müsste.«

Noch bevor sich Wolfgang Marbolt umdrehte, antwortete er. »So charmant kann nur mein Lieblingsminister sein!« Sodann machte er auf dem Absatz kehrt, während sich seine Frau, die die Stimme des Ministers bestimmt auch erkannt hatte, sichtlich mehr Zeit mit dem Umdrehen ließ.

Was der jedoch nicht zu registrieren schien. Jedenfalls umarmte er sie und küsste sie auf beide Wangen, bevor er ihm mit einem strahlenden Lächeln beide Hände drückte. »Der Abend ist ja noch lang und von Bord könnt ihr nicht so schnell, außer ihr schwimmt an Land. Wenn der erste Trubel vorbei ist, finden wir sicher Gelegenheit, auf gemeinsame alte Zeiten anzustoßen.

Und hoffentlich auch auf gemeinsame neue.« Der Minister gab ihm einen Klaps auf den Oberarm. »Aber jetzt müsst ihr mich entschuldigen. Ich muss ja noch Hunderte von Händen schütteln. Politiker-Schicksal. Dass ihr mir aber ja nicht in die Donau springt!« Sein ehemaliger Chef drohte noch spielerisch mit seinem Zeigefinger und weg war er.

»So ein Arschloch!«, grummelte Britta und leerte ihr Glas in einem Zug. Wenigstens hatte sie so viel Taktgefühl, mit ihrem Kommentar so lange zu warten, bis der Minister außer Hörweite war. »Hast du bemerkt, wie kalt sein Lächeln gewesen ist?«

»Jetzt siehst du aber Gespenster, meine Liebe!« Er sagte es nur halblaut, damit ihn die Leute nicht hörten, die ihnen – offensichtlich wesentlich besser gelaunt als seine Frau – auf dem engen Gang entgegenkamen. »Außerdem bleibt uns nicht viel anderes übrig, als auf sein Pferd zu setzen. Nur durch ihn kommen wir aus dieser scheußlichen Provinz weg und wieder nach Wien zurück. Also möchte ich dich bitten, wenigstens gute Miene zum bösen Spiel zu machen, wenn wir uns mit ihm nachher auf ein Glas Wein treffen.«

»Ja, wenn.« Seine Frau stellte ihr leeres Glas auf den Buffettisch, an dem sie gerade vorbeikamen, und schnappte sich ein volles von dem Tablett, das ein Ober zwei Meter von ihr entfernt kunstvoll durch das Gedränge schaukelte. Dass sie dafür eine ältere Dame ziemlich unsanft zur Seite schieben musste, schien sie gar nicht zu merken.

Er wollte sie schon ganz dezent bitten, ihren Trink-Rhythmus wenigstens etwas zu verlangsamen, als sein Blick auf jemanden fiel, der ihn große Lust verspüren ließ, auch gleich mindestens zwei Gläser auf einmal hinunterzuspülen. Doris Lenhart. Was für ein Affront des feinen Herrn Landeshauptmanns ihm gegenüber, eine Subaltern-Charge aus den Kreisen der Polizei ebenfalls zu diesem Fest einzuladen. Die Aufklärungsquote der Leiterin der niederösterreichischen Mordkommission in allen Ehren. Aber bei einer Veranstaltung, zu der angeblich die Crème de la Crème des Landes geladen war, hatte sie wirklich nichts zu suchen. Er blickte seine Frau an, deren Empfindlichkeit, wenn es ums Prestige ging, er nur allzu gut kannte. Gott sei Dank blickte sie nicht in Richtung Chefinspektorin und schien sie deshalb noch nicht bemerkt zu haben. Wenigstens etwas. Er musste dringend dafür sorgen, dass das auch den ganzen Abend so blieb. Deshalb umschlang er sie mit seiner Rechten und riss sie herum; unglücklicherweise derart unvermittelt, dass ein guter Schluck des Weins aus ihrem Glas auf ihren Dirndlrock schwappte.

Sie erstarrte. Offenbar kurz vor dem Explodieren.

Da erklang – für ihn buchstäblich wie eine Rettung – die Stimme des Landeshauptmanns über Bord-Lautsprecher. Wie immer in der ölig-pathetischen Tonlage, die er so hasste, die aber die meisten Leute offensichtlich mochten. »Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf Sie hier an Bord der MS Austria auf das Herzlichste begrüßen. Ich werde mich etwas später noch ausführlicher an Sie wenden, möchte aber schon jetzt Ihre Aufmerksamkeit für eine Minute in Anspruch nehmen. Auf spezielles Ersuchen meines guten Freundes, des Herrn Innenministers, der schon in Dürnstein wegen einer dringenden dienstlichen Verpflichtung wieder von Bord gehen muss. Wir haben nämlich ein Geburtstagskind unter uns, dem sowohl der Herr Minister als auch ich als Landeshauptmann zu großem Dank verpflichtet sind.«

Wolfgang Marbolt sah seine Frau an, die schlagartig errötete, hektisch die kaum sichtbaren Spuren des Weißweins auf ihrem Dirndlrock prüfte und sich rasch ihre Haare mit beiden Händen zurechtmachte.

»Ich will es noch ein bisschen spannend machen und zunächst einmal nur sagen, dass das Geburtstagskind eine Frau ist. Und zwar eine besonders attraktive Frau. Herr Kapellmeister, ich bitte um einen Tusch!«

Als die Musik einsetzte, spürte Wolfgang Marbolt den Druck der Hand seiner Frau auf seinem Oberarm. Gleichzeitig sah er ein seliges Lächeln auf ihrem Gesicht. Er flüsterte zärtlich in ihr Ohr: »Ich hoffe, spätestens jetzt begreifst auch du, dass der Minister unser Freund ist.«

Während der Polizeidirektor ganz leise sprach, setzte der Landeshauptmann, nachdem die Musik verklungen war, seine Rede mit lautem Tonfall fort. »Ich möchte Doris Lenhart, die Chefin der niederösterreichischen Mordkommission, bitten, zu uns auf die Bühne zu kommen. Es ist nämlich sie, die heute Geburtstag feiert. Ich darf Sie alle um einen Applaus bitten, wie er diesem Stern am Polizei-Himmel unseres Landes gebührt.«

In diesem Moment wusste der Polizeidirektor, dass die 380 Euro, die er heute Vormittag bei dem Kremser Kunsthändler für die Hundertwasser-Lithografie bezahlt hatte, hinausgeschmissenes Geld waren. Trotz Originalsignatur.

Sonntag, 19. Juni 11 Uhr 03

Die pensionierte Dürnsteiner Gemeindesekretärin hatte die Theaterprobe zeitlich so angesetzt, dass ihre jungen Schauspieler die Sonntagmesse in der Stiftskirche locker hätten besuchen können. Deshalb war sie heute in der Kirche auch nicht an ihrem Stammplatz in der zweiten, sondern in der letzten Bank gesessen. Um zu überprüfen, ob wenigstens eines ihrer Schäfchen die Freundlichkeit aufbringen würde, zur Messe zu erscheinen und damit ihren Wunsch zu erfüllen, den sie seit Beginn der Probenzeit mehrmals deutlich deponiert hatte. Wenn schon nicht um des eigenen Seelenheils willen, so doch wenigstens ihr, der Regisseurin, zuliebe. Aber weder das eine noch das andere.

Die goldenen Heiligenfiguren lächelten sanftmütig auf sie herunter und mahnten sie zur Güte. Anstatt sich über die Jugend von heute zu ärgern, sollte sie an einem so erhebenden Ort lieber voller Inbrunst beten. Sie richtete ihren Blick auf den prachtvollen goldenen Altar, konnte sich jedoch nicht konzentrieren. Sie war nicht mehr sicher, ob es eine so glänzende Idee von ihr gewesen war, in nicht einmal mehr zwei Monaten zu Maria Himmelfahrt im Innenhof des Stifts ›Hanneles Himmelfahrt‹ aufführen zu wollen. Ihr Lieblingsstück seit Jugendtagen. Geschrieben von einem Dichter, von dem sie sonst nur scheußliche Stücke kannte. In denen wimmelte es nur so von armen Leuten und Trunkenbolden. Natürlich keiner selbst schuld an seinem Elend. Ja, selbst in ihrem Lieblingsstück war der Vater der jungen Hannele ein gewalttätiger Taugenichts, aber dafür war die Figur des jungen Mädchens einmalig gezeichnet. Ein Geniestreich. Eindeutig ihre Lieblingsfigur in der weiten Welt des Theaters, seit sie selbst die große Ehre und Freude gehabt hatte, bei einer Schulaufführung der vierten Klasse der Hauptschule Stein diese Rolle zu spielen. Vor fünfzig Jahren. Das Publikum war damals hingerissen von ihrer keuschen Schwärmerei für den jungen Lehrer – einen keuschen Ausdruck hatte der Autor ausdrücklich vorgeschrieben. Begeistert war das Publikum auch von der wunderbaren Darstellung ihrer Bereitschaft, das Kreuz des Herrn in Gestalt ihres brutalen Vaters geduldigst auf sich zu nehmen; und von ihrer Fähigkeit, die Sehnsucht nach den ewigen Freuden des Himmelreichs glaubhaft zu machen. Die Himmelfahrt selbst war dann zu einem Triumphzug für sie geworden. Wie in Trance war sie damals gewesen. Toll, wie sie ihren Klassenkameraden aus der letzten Reihe, der schon im Stimmbruch war und den jungen Lehrer spielte, dazu animieren konnte, ganz zärtlich über die beiden Warzen unter ihrem Kinn zu streichen. Große Schauspielkunst. Die Warzen zeichneten sich damals schon als Erhebungen auf ihrer sonst so makellosen Haut ab, waren aber viel kleiner als heute. Außerdem wuchsen aus ihnen damals noch keine Haare.

Jedenfalls hatte sie seit vielen Jahren davon geträumt, dieses Stück in Dürnstein auf die Bühne zu bringen. Als Gegenentwurf zu dem seichten oder gar ordinären Sommertheater, das man landauf, landab zum Besten gab. Man musste einfach etwas tun. Das Himmelreich kam ja nicht von allein.

Daher war sie seit ihrer Pensionierung dem Pfarrer in den Ohren gelegen, bei seinen Ordensoberen in Herzogenburg oder noch höheren Orts Geld für eine solche Aufführung lockerzumachen. Ohnehin nur ein paar lumpige Tausend Euro für Beleuchtung, Plakate und dergleichen. Die Schauspieler sollten natürlich alle junge Amateure sein, die nichts kosteten; und sie als Regisseurin würde selbstverständlich auch um Gottes Lohn arbeiten. Aber da hätte sie gleich gegen eine Wand reden können. Sie musste froh sein, dass ihr überhaupt gestattet wurde, im Hof des Stifts zu spielen. Also hatte sie sich an die Kulturabteilung des Landes gewandt, einer Sekretärin ihr Anliegen erklärt und um Rückruf des Chefs gebeten. Der hatte sich aber bis heute nicht gemeldet. Sicher ein Schwarzer, der Herr Hofrat, weil es ja im Amt der Landesregierung nur Schwarze gab, wie sie wusste. Aber wohl einer von der sogenannten liberalen Sorte oder gar schon ein Türkiser, der Gott den Herrn einfach einen guten Mann sein ließ.

So war ihr nichts anderes übriggeblieben, als in der ganzen Wachau um Geld zu betteln. Bei den Hotels und Gasthäusern, denen sie für eine kleine Spende große Werbung auf Plakaten und in Broschüren versprach. Aber nur ausgelacht hatte man sie. Sie, die ehemalige Dürnsteiner Gemeindesekretärin und heimliche Bürgermeisterin, der sich die Leute früher nur unter Bezeugungen von Respekt und Hochachtung näherten.

Selbst sie hatte da schon ans Aufgeben gedacht. Aber dann war ihr ausgerechnet vor ihrem Haus in Oberloiben eine Frau über den Weg gelaufen, die auch im Ort wohnte. Eine an sich unsympathische und nichtsnutzige Person, die schon zweimal verheiratet und wieder geschieden war. Diese Frau hatte sich spontan bereit erklärt, ihr Projekt mit dreitausend Euro zu unterstützen. Allerdings mit einem Haken an der Sache. Das Geld würde nur fließen, wenn die Tochter der edlen Spenderin die Hauptrolle spielte. Josefa Machherndl kannte das junge Ding. Wie man sich eben unter Nachbarn kennt. Schon mit vierzehn genau so hinter den Männern her wie ihre Mutter. Der Dürnsteiner Pfarrer bestätigte zu allem Überfluss auch noch, was die pensionierte Gemeindesekretärin ohnehin geahnt hatte. Julia Schremser war zwar in der Stiftskirche getauft worden, hatte aber danach die Kirche nie mehr von innen gesehen.

Aber was hätte sie machen sollen? Ohne das in Aussicht gestellte Geld hätte sie ihr Projekt aufgeben müssen. So akzeptierte sie den Tauschhandel, nicht ohne ihren Pakt mit dem Teufel bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit zu beichten.

Wenigstens stellte sich die junge Dame als schauspielerisch durchaus talentiert dar, wie Josefa Machherndl fast widerwillig zugeben musste. Natürlich hatte sie selbst seinerzeit der Figur der kleinen Hannele deutlich mehr psychologischen Tiefgang verliehen, aber Julia war auch nicht schlecht. Sagten zumindest die Eltern der anderen jungen Schauspieler, von denen viele bei den Proben anwesend waren.

Aber den keuschen Blick, der ihr selbst schon als Vierzehnjährige zur zweiten Natur geworden war, den brachte die junge Schremser halt nicht zusammen.

Der Pfarrer hatte der Truppe einen kleinen Raum im Stift als Probebühne zur Verfügung gestellt. Mit zwei Sitzreihen und knapp zwanzig Sitzplätzen, die fast alle mit Eltern, Großeltern, Tanten und Onkeln besetzt waren.

Letzthin bei der Probe wollte sie der jungen Schauspielerin den gewünschten Gesichtsausdruck vorzeigen. Dazu war sie vor all den Angehörigen auf die behelfsmäßige Bühne gestiegen. »Pass auf, Julia. Wenn du zu Clemens aufschaust, musst du genau so schauen. Da muss dein Gesicht einen ganz reinen Ausdruck haben. So wie meines. Schau her.«

Da hatte sie es gehört. Sie irrte sich bestimmt nicht. Es war nicht nur ein vereinzeltes Kichern aus den Zuschauerreihen gewesen. Gleich mehrere Leute hatten gekichert. Was für eine Frechheit. Die Leute sahen offensichtlich alle nur mehr Pornos. Wenn das so weiterging, würde sie die Proben für Zuschauer sperren müssen. An ein seriöses Arbeiten wäre ja sonst gar nicht mehr zu denken.

Sonntag, 19. Juni 16 Uhr 11

Felix Frisch saß am Beifahrersitz und fuhr mit seiner jungen Kollegin Kathi am Steuer ganz gemächlich über die Mauterner Brücke. Dabei warf er einen sehnsüchtigen Blick hinunter auf den Strom. Am meisten liebte er dienstliche Einsätze im Polizeiboot. Vor allem stromaufwärts. Einfach herrlich, den Druck der Strömung auf das Boot zu spüren und mit Vollgas von Welle zu Welle zu springen. Einsätze per Funkstreife rangierten auf seiner Beliebtheitsskala deutlich dahinter, sofern sie ohne Blaulicht und Folgetonhorn erfolgen mussten. Er war jetzt schon weit mehr als zwanzig Jahre bei der Polizei, aber diese beiden Insignien seiner Amtsgewalt bedeuteten ihm noch immer viel. Fast so viel wie seine drei Sterne. Er konnte sich daran weder satthören noch sattsehen. Wenn dann auch noch das faszinierende Geräusch von quietschenden Reifen kombiniert mit einem sichtbar ausbrechenden Heck dazu kam, dann war sein Glück perfekt.

Hingegen hasste er alle Einsätze, die einen längeren Fußmarsch erforderten. Nicht so sehr, weil ihm da seine zwanzig Kilo Übergewicht etwas im Weg waren. Das behauptete nur seine Frau mit der ihr eigenen Hartnäckigkeit, an die er sich in 22 Ehejahren noch immer nicht gewöhnt hatte. Sondern, weil ein zu Fuß auf der Bildfläche auftauchender Polizist halt keine besondere Autorität ausstrahlte und nicht den Respekt einflößte, der einer Amtsperson in Uniform und in offizieller Mission zustand. Da halfen ihm auch die drei Sterne am Kragen nicht, wie er immer wieder betrübt zur Kenntnis nehmen musste. Er hatte noch nie erlebt, dass ihn ein an einem Unfall Beteiligter, ein Passant oder ein Zeuge mit ›Herr Gruppeninspektor‹ angesprochen hätte. Wie es ihm zugestanden wäre. Sondern immer nur mit ›Herr Inspektor‹. Auch schon in seiner Zeit als Polizeischüler. Ein Polizist war offensichtlich für die Masse der Leute immer ein ›Herr Inspektor‹. Ungebildetes Pack.

Ein Piepen riss ihn aus seinen Gedanken.

Karl von der Leitstelle meldete sich via Funk. »Felix, ein Weinbauer aus Weißenkirchen hat eben den Fund einer schwer verletzten oder gar toten männlichen Person gemeldet. Im Weinbaugebiet zwischen Dürnstein und Weißenkirchen. Oberhalb der Bahntrasse. Dürfte über eine Mauer gestürzt sein. Notarzt und Rettung sind bereits verständigt. Bitte bestätigen.«

»Verstanden. Fahren gerade von der Brücke Richtung Wachau ab. Sind in spätestens zehn Minuten vor Ort. Ende.«

»Übernimm dich nicht, Felix«, schallte Karls Stimme höhnisch aus dem Gerät. »Ich kenne die Gegend. Ganz schön steil. Schafft vielleicht die Kathi in zehn Minuten. Du schleppst dafür zwanzig Kilo zu viel herum. Ende.«

Der Gruppeninspektor bildete sich ein, noch ein wieherndes Gelächter seines Kollegen am Funk gehört zu haben. Arschloch. Während er das Blaulicht einschaltete, spürte er die tätschelnde Hand seiner Kollegin auf seinem Oberschenkel.

»Kränk dich nicht. Der Karl ist dir ja nur deine Erfahrung neidig.«

Felix Frisch wusste nicht recht, ob er sich über den Trost freuen oder sich über das Mitleid ärgern sollte. Auch, weil sein Gehirn gerade ganz von der Vorstellung in Anspruch genommen wurde, keuchend und schwitzend einen Weinberg hinaufklettern zu müssen. Oberhalb der Bahntrasse. Da wusste er schon, was ihn erwartete. Und das alles, weil wahrscheinlich irgendein dahergelaufener Blödel über seine Füße gestolpert war. Ein für einen Polizisten seines Kalibers völlig uninteressanter Fall.

Wenn er es genau überlegte, so war die Beschreibung »in den Weinbergen zwischen Dürnstein und Weißenkirchen oberhalb der Bahntrasse« eine Frechheit. Das war ein großes Gebiet und er hätte ja auch ortsunkundig sein können. Typisch Karl. Wenn es nach ihm, Felix, ging, würde der nie Gruppeninspektor werden. Kathi hatte schon recht. Der Kerl gönnte ihm einfach seinen Rang nicht.

Vor dem Dürnsteiner Tunnel entschloss er sich, auch das Folgetonhorn aufzudrehen. Machte sich gerade im Tunnel durch den Widerhall fantastisch. Insgeheim hoffte er, dass der Notarztwagen schon vor dem Streifenwagen vor Ort war. Das würde ihm die Mühe ersparen, die richtige Einstiegsstelle in den Weinberg zu finden.

Kaum hatte der Polizeiwagen den Tunnel und die West-Auffahrt nach Dürnstein passiert, drosselte seine Kollegin das Tempo, ohne dass er sie dazu aufgefordert hätte. Keine zwanzig Sekunden später neigte sie den Kopf nach vorne und deutete mit ihrer Rechten unter dem Rückspiegel durch.

»Schau, da oben. Da schwenkt jemand ein Hemd oder so etwas Ähnliches.«

Felix starrte durch die Windschutzscheibe. Es dauerte einige Zeit, bis auch er das Schwenken eines Stücks weißen oder gelben Stoffs wahrnahm. War ja auch im dichten Grün der Blätter der Weinreben schwierig zu erkennen.

»Dann bleib da vorne stehen. Du wartest hier, bis der Notarzt kommt. Vielleicht findet er den Unfallort nicht. Nicht jeder hat solche Adleraugen wie wir beide.«

Felix Frisch hoffte, seine junge Kollegin würde nicht merken, dass er unbedingt als Erster am Ort des Geschehens sein wollte.

»Aber er sieht doch unser Auto.«

»Glaub mir, Kathi. Ich weiß, wovon ich rede.« Er stieg aus dem Wagen und schätzte die Höhenmeter von der Straße bis zu der Person ab, die noch immer ihr Hemd oder etwas Ähnliches schwenkte. Fünfzig bis sechzig Meter, steil bergauf. Mit einem Seufzer machte er sich auf den Weg. Zunächst kämpfte er sich die Böschung zur Bahntrasse hinauf. Wie ein Eiskletterer hieb er bei jedem Schritt seinen Schuh in die Grasbüschel, um festen Halt zu finden. Eigentlich eine Frechheit. Die Bundesbahnen hätten hier aus Sicherheitsgründen längst Stufen in die Böschung bauen sollen. Was, wenn ein Zug ausgerechnet auf diesem Streckenabschnitt steckenblieb und die Menschen hier aussteigen mussten. Nirgends konnte man sich anhalten. Diese Böschung war die reinste Todesfalle. Als er endlich auf der Bahntrasse ankam, ging er ein paar Schritte, sodass Kathi ihn nicht mehr sehen konnte, und legte erst einmal eine Verschnaufpause ein. Immerhin ein Fünftel des Weges war geschafft. Nun ging es darum, einen Durchgang zu finden, um weiter hinaufzugelangen. Der Weinberg war in Geländestufen angelegt, jede mit einer Mauer aus unbehauenen Steinen befestigt. Da es hier sehr steil war, waren die Mauern mannshoch. Vier Geländestufen waren es von der Bahntrasse bis zu dem Mann da oben, der mit dem Schwenken des Hemds aufgehört hatte und stattdessen mit gestrecktem Arm deutete. Messerscharfe Schlussfolgerung: Da vorne musste irgendwo ein Durchgang sein. Tatsächlich. Da war eine Lücke in der Mauer und dahinter ein sandiger Pfad mit ein paar Stufen an den steilsten Stellen. Weinbauern waren eben vernünftige Leute. Auf der zweiten Geländestufe hörte er und sah dann auch schon den Rettungswagen, der keine zehn Sekunden später hinter dem Polizeiauto einparkte. Der Notarzt, den er mit seinen Adleraugen sofort erkannte, und die beiden Sanitäter stiegen mit einem Tempo den Bahndamm hinauf, dass er sich würde sputen müssen, wenn er wirklich vor ihnen an der Unfallstelle sein wollte. Er hörte sich keuchen. Elende Schinderei. Dabei lud der Ausblick an dieser Stelle zum Aufstellen eines Liegestuhls ein. Am anderen Donauufer lag eine der größeren bewaldeten Inseln, die kaum jemand betrat, obwohl der schmale Kanal hinter ihr leicht zu überqueren war. Von Rossatz und Weißenkirchen sah man von hier oben auch ein gutes Stück. Warum hatte er dieses Motiv noch nie auf einer Postkarte gesehen? Wahrscheinlich, weil sich kein Fotograf die Mühe machte, hier heraufzuklettern. Unten schlängelte sich gerade ein Zug der Wachaubahn vorbei. Wirklich malerisch hier zwischen den saftig-grünen Weinreben. Nur die Trauben fehlten noch. Die waren erst Ende August so weit.

Er hörte den Notarzt und die Sanitäter hinter sich, ebenfalls schnaufend, schaffte es jedoch noch vor ihnen. Sehr ausgepumpt zwar, aber immerhin.

»Da sind Sie ja endlich. Wir warten hier schon geschlagene zwanzig Minuten.« Der ältere Mann, der gewunken hatte, deutete auf einen verschwitzten jüngeren, der neben einer ungefähr zwei Meter von der oberen Stützmauer entfernt liegenden Person kniete und mit Herzdruckmassage beschäftigt war. »Seitdem hat sich der Mann da nicht bewegt«, fuhr der ältere fort. »Wenn Sie mich fragen, ist er tot.«

Mit dem geschulten Augenmaß eines Gruppeninspektors schätzte er zunächst die Höhe der Stützmauer ab – gute drei Meter – und beugte sich dann über den leblosen Körper. Er erschrak. Das Gesicht kannte er. Es gehörte einem Kremser Antiquitätenhändler. Vor ein paar Wochen hatte er einen Einbruch in sein Haus angezeigt. Wie war doch gleich sein Name?

Sonntag, 19. Juni 16 Uhr 52

Eigentlich wäre das sein letzter Einsatz für heute gewesen. Er hatte sich schon aufs Heimkommen und auf sein hoch verdientes Bier gefreut. Serviert von seiner Elfriede, der er nach dem ersten Schluck davon erzählen wollte, wie schnell er den Weinberg hinaufgesprintet war und wie er dabei sowohl seine junge Kollegin als auch den kaum älteren Notarzt hinter sich gelassen hatte.

Aber als Gruppeninspektor wusste er, was er seinem Rang schuldig war. Er hätte es sich nie verziehen, Kathi zur Witwe des Kunsthändlers zu schicken, um die Todesnachricht zu überbringen. Das würde er übernehmen müssen, hoch verdientes Bier hin oder her. Seinerzeit als noch junger Polizist hatte er sich um solche undankbaren Aufgaben immer gedrückt. Weil er zugeben musste, für solche Einsätze noch nicht das nötige Fingerspitzengefühl aufzubringen. Obwohl er sich schon damals auch in dieser Hinsicht seinen Kollegen turmhoch überlegen fühlte. Dazu kam noch, dass es natürlich nie angenehm war, Angehörige mit schlimmen Nachrichten konfrontieren zu müssen. Was er da schon alles erlebt hatte. Schon vor längerer Zeit hatte er sich vorgenommen, nach seiner Pensionierung einmal alle seine Erfahrungen zu Papier zu bringen. Er war sich selbst gegenüber ja der strengste Kritiker. Daher versagte er sich die Illusion, damit einen Bestseller zu schreiben. Aber als Trainingsunterlage für Polizei-Schulungen würden seine Memoiren sicher Gold wert sein.

Er setzte seine Kollegin an der Dienststelle ab und fuhr zum Haus auf dem Wachtberg, um die traurige Polizisten-Pflicht zu erfüllen. An die Villa mit dem prachtvollen Blick über Krems erinnerte er sich gut. Nicht, dass er sich aus Kirchen viel machte. Aber gleich auf vier oder fünf alte Kirchtürme hinabschauen zu können, hatte doch etwas Erhebendes. Als er vor vier Wochen zum ersten Mal vor dem Haus gestanden war, war er tatsächlich ein bisschen unglücklich darüber gewesen, kein Geschäftsmann, sondern Polizist zu sein. Damals, als er einen von dem Kunsthändler gemeldeten Einbruch aufnehmen musste. Es waren zwar eindeutige Spuren von einem gewaltsamen Eindringen zu sehen gewesen, aber keine Hinweise darauf, dass mit Ausnahme einer angeblich mehr als fünfhundert Jahre alten, kleinen Heiligenfigur etwas gestohlen worden war. Dabei wäre das Wohnzimmer ein Paradies für einen Dieb gewesen. Er würde zwar nie verstehen, was Leute an alten, wurmstichigen Holzstatuen und riesigen Ölschinken fanden. Aber er wusste, dass es für solche Sachen Sammler gab, die viel mehr für ein einziges Bild auszugeben bereit waren als er für hundert seltene Bierdeckel, denen seine ganze Sammelleidenschaft galt; wahrscheinlich sogar mehr, als er für seinen Škoda Octavia hatte hinblättern müssen. Verrückte Welt.

Jedenfalls hatte er damals festgestellt, dass keine Kinder mehr im Haus lebten. Was auch gar nicht verwunderlich war, weil er den Händler auf Anfang sechzig schätzte. Dessen Frau, die bei der Untersuchung des Tatorts auch dabei war, schätzte er auf vielleicht sechs oder sieben Jahre jünger. Dass keine Kinder da waren, würde seine Aufgabe ungemein erleichtern.

Auf dem fein ziselierten Namensschild unterhalb der Klingel, an das er sich ebenfalls gut erinnerte, las er den Namen, der ihm entfallen war: Haberl. Die Witwe mit ihrem Namen ansprechen zu können, war gerade in dieser heiklen Situation sehr wichtig. Er klingelte.

Es brauchte keine fünf Sekunden, bis sich mit einem geradezu zarten Summton, den er auch schon kannte, das gusseiserne Tor öffnete, das in einen kleinen und gepflegten Vorgarten führte.

Kurz darauf öffnete sich die Haustür, in der auch schon die Dame des Hauses stand. »Herr Inspektor! Das ist aber eine Überraschung. Dass Sie sogar an einem Sonntag kommen, kann nur bedeuten, dass Sie die Heiligenfigur wiedergefunden haben. Da wird sich mein Mann aber freuen. Leider ist er noch nicht zu Hause. Ich erwarte ihn aber jede Minute. Wenn Sie solange auf ihn warten wollen, biete ich Ihnen gern einen Kaffee an.«

Der Gruppeninspektor unterdrückte seinen Impuls, sich über die Anrede zu ärgern. Die gute Frau hätte sich doch erinnern müssen, dass sie es mit einem Gruppeninspektor zu tun hatte. Gleichzeitig war er durch ihre Eröffnung etwas aus dem Konzept gebracht. »Vielen Dank, Frau Haberl! Aber ich möchte gar nicht mit Ihrem Mann, sondern mit Ihnen sprechen. Aber ein Kaffee könnte auf keinen Fall schaden. Da redet es sich leichter.« So einen tollen Einstieg in ein derart heikles Gespräch würde ihm nicht so bald jemand nachmachen. Einerseits ganz locker und andererseits schon einen sehr ernsten Hintergrund für sein Kommen signalisierend.

»Sie machen mich ja richtig neugierig. Aber kommen Sie doch bitte herein. Wenn Sie bitte für einen Augenblick im Wohnzimmer, das Sie ja kennen, Platz nehmen wollen. Ich mache schnell Kaffee.«

Jetzt war guter Rat teuer. Frau Haberl zunächst nichtsahnend Kaffee machen zu lassen und ihr dann erst zu sagen, dass der Ehemann bei Weißenkirchen durch einen fatalen Sturz zu Tode gekommen war, schien ihm irgendwie unpassend. Aber was sollte er tun? Nach kurzem Zögern, aber noch bevor er Platz in einem der höchst bequem wirkenden Fauteuils nahm, entschied er sich, den Stier bei den Hörnern zu packen, ohne gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Nebenbei eine geradezu geniale Kombination von Sprichwörtern, wie er fand. »Ich glaube, es ist besser, mit dem Kaffee noch eine Minute zu warten. Ich muss Ihnen vorher noch etwas sagen, von dem ich hoffe, dass es Sie nicht zu schwer treffen wird.«

Jetzt sah er so etwas wie Überraschung in den Augen seiner Gesprächspartnerin. Gemischt mit einer Spur von Entsetzen, wie seinem geschulten Blick nicht verborgen blieb.

»Aber vielleicht setzen wir uns erst einmal«, fuhr er fort. Er wusste, dass er sich nicht einfach in den Sessel plumpsen lassen durfte, wie er es bei sich zu Hause gern tat. Aber setzen wollte er sich, um die Witwe dazu zu animieren, es ihm gleichzutun. So nahm er vorsichtig am Rand des Fauteuils Platz.

Auch Frau Haberl setzte sich; und zwar so beunruhigt, dass es sicher auch einer so unroutinierten Kollegin wie Kathi aufgefallen wäre.

Jetzt kam für ihn natürlich der schwerste Teil des Gesprächs. Aber da musste er durch. »Zunächst habe ich eine durchaus erfreuliche Nachricht für Sie. Ich weiß natürlich, dass alles relativ ist, aber immerhin.« Wie er schnell sehen konnte, erzielte seine Eröffnung nicht die gewünschte Wirkung.

Der Gesichtsausdruck von Frau Haberl wechselte von Beunruhigung zu Verärgerung. »Herr Frisch, würden Sie jetzt endlich die Güte haben, mir zu sagen, was los ist.«

Aha, jetzt war er nicht einmal mehr der Herr Inspektor, sondern nur ein ganz gewöhnlicher Herr Frisch. »Dazu komme ich ja gerade. Die positive Nachricht ist, dass Ihr Mann überhaupt nicht hat leiden müssen.«

Im Gesicht der Witwe machte sich blankes Entsetzen breit. »Wollen Sie mir sagen, dass mein Mann tot ist?«

Es war endlich ausgestanden. »Ja, leider. Ich wollte es Ihnen nur so schonend wie möglich beibringen.«

»Das ist Ihnen ja toll gelungen!« Frau Haberl schwieg für eine Weile, um dann ganz ungläubig den Kopf zu schütteln, ohne den Gruppeninspektor anzusehen. »Ich habe immer gewusst, dass ihn seine Raserei noch einmal ins Grab bringen wird. Ist es auf der Wachaustraße passiert?« Ohne eine Antwort abzuwarten, begann sie zu weinen.

Felix Frisch nahm ganz sacht ihre Hand. »Es war kein Autounfall. Ihr Mann ist in einem Weingarten zwischen Weißenkirchen und Dürnstein über eine Mauer gestürzt und hat sich dabei das Genick gebrochen. Der Arzt ist sicher, dass er sofort tot gewesen ist.«

Felix Frisch sah, dass sich im Gesicht der Frau trotz ihres Schmerzes ein ganz leichtes Lächeln zeigte. »Es platzen ja im Laufe eines Lebens viele Träume. Aber sicher wenige so tragisch. Mein Mann hat nämlich seit einiger Zeit vom Kauf eines Weingartens geträumt. Für die Pension.« Das Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war, um einem Strom von Tränen Platz zu machen.

Er wusste, dass er jetzt nichts sagen durfte.

Nach einer Weile zog Frau Haberl aus einer Tasche ihrer Hose ein Taschentuch und wischte sich damit die Tränen ab. Dann gab sie sich einen Ruck und hob den Blick. »Halten Sie es für möglich, dass der Tod mit dem Einbruch vor vier Wochen zu tun hat?«

Der Gruppeninspektor war über die Frage verblüfft, fing sich aber schnell. »Völlig ausgeschlossen. Ist ein stinknormaler Unfall gewesen.« Ihm war sofort klar, dass er den Begriff »stinknormal« besser nicht verwendet hätte. Um seinen Fehler zu überspielen, fügte er gleich hinzu: »Der Arzt will zwar noch mit dem Staatsanwalt reden. Vielleicht möchte der, um auf der ganz sicheren Seite zu sein, eine Obduktion veranlassen. Aber den Aufwand können sich die Herren meiner Meinung nach sparen. Hinausgeschmissenes Geld des Steuerzahlers. Das ist ein reiner Unfall gewesen, so wahr ich Gruppeninspektor bin. Ein höchst bedauerlicher zwar«, – er gratulierte sich, dass er nicht ein zweites Mal von einem ›stinknormalen‹ Unfall gesprochen hatte – »aber eben ein Unfall. Da fährt die Eisenbahn drüber.«

Montag, 20. Juni 08 Uhr 31

Erich hatte ihr einen mehr als üppigen Geburtstagsstrauß geschenkt. Lilien und zart duftende rot-orange-gelbe Tulpen. ›Feuertulpen‹ hatte Erich sie genannt. Eine traumhafte Kombination. Umso leichter war es ihr gefallen, die lachsfarbenen und gelben Rosen, die ihr der Landeshauptmann am Schiff überreicht hatte, übers Wochenende im Kühlschrank zu lagern, um sie halbwegs frisch zu halten. Heute schmückte sie mit den Rosen den Schreibtisch in ihrem Büro. Allerdings war es im Kühlschrank möglicherweise zu kalt gewesen. Die Rosen neigten bereits sanft die Köpfe. Spätestens am Mittwoch würde es mit ihrer Pracht und Herrlichkeit vorbei sein. Aber sich noch zwei Tage an schönen Rosen erfreuen zu können, war ja auch nicht zu verachten.

Vor ihr lag die Montag-Ausgabe des Niederösterreichischen Tagblatts, das natürlich eine ausführliche Reportage über die Sonnwendfeier des Herrn Landeshauptmanns brachte. Zwei Seiten. Garniert mit vielen Fotos. Davon eines besonders groß, das den Innenminister und den Landeshauptmann zeigte, die gerade dabei waren, ihr zum Geburtstag zu gratulieren. Doris Lenhart hielt sich nicht für besonders fotogen, auch wenn ihr Mann, seitdem sie ihn kannte, sich immer bemühte, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Aber selbst sie hielt dieses Foto für sehr gelungen. Und dann noch der Text! Stern am niederösterreichischen Polizeihimmel. Das hatte ganz sicher nicht ihr Chef dem Landeshauptmann souffliert. Sie stellte sich vor, dass auch Wolfgang Marbolt jetzt an seinem Schreibtisch saß und das Tagblatt las. Ganz sicher deutlich weniger entspannt als sie. Kurz überflog sie die in der Reportage angeführten Namen der Gäste. Fast alle Mitglieder der Landesregierung, mehrere Schauspieler, zwei Opernstars und ein weltbekannter Pianist. Den Namen ›Marbolt‹ fand sie nicht. Obwohl sie das Ehepaar, da war sie sicher, kurz vor dem Ablegen der MS Austria in Krems an Bord gesehen hatte. Diese Nicht-Erwähnung würde der Herr Landespolizeidirektor nur schwer verkraften.

Die Art, wie ihr Stellvertreter die Türklinke drückte, hätte sie unter hundert anderen Klinkendrückern erkannt. Nicht deswegen, weil er niemals anklopfte. Obwohl ihn das auch auszeichnete. Sondern weil er die Klinke nach dem Drücken einfach aus seiner Hand rutschen ließ, was stets ein unverwechselbares metallisches Schnalzen zur Folge hatte. Heute war es nicht anders. Allerdings kam er ihr, als er mit seinem im ganzen Büro berühmten Grinser im Gesicht hereinkam, irgendwie verändert vor.

Er winkte mit dem Niederösterreichischen Tagblatt.

Das entlockte auch ihrem Gesicht ein Grinsen und hinderte sie daran, weiter darüber nachzudenken, was heute an Gerhard Malzacher anders war.

»Ich war fast versucht anzuklopfen. Einem Stern am Himmel der niederösterreichischen Polizei würde das zustehen. Dann habe ich es aber doch bleiben lassen.«

»Und warum, wenn ich fragen darf?« Die Frage sollte streng klingen, aber sie wusste, dass sie ihr Gesicht Lügen strafen würde.

»Weil du dich sonst daran gewöhnen würdest.« Er kam drei Schritte näher – mehr hätte ihr kleines und enges Büro auch gar nicht zugelassen – und fläzte seine 120 Kilo in den vor ihrem Schreibtisch stehenden Sessel, ohne ihre Einladung dazu abzuwarten.

Sie fixierte seinen Bauch, was sie in ähnlichen Situationen schon Hunderte Male getan hatte. Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. »Wie lange bin ich jetzt deine Chefin?«

»Mindestens fünf Jahre.«

»Und in diesen fünf Jahren habe ich noch nie erlebt, dass dein unterster Hemdknopf über dem Bauch zugeknöpft gewesen wäre. Ist heute eine echte Premiere.«

Gerhard Malzacher, den im Büro alle wegen seiner Ähnlichkeit mit der Filmfigur Bud Spencer nur ›Spencer‹ nannten, beugte sich vor, um sein über dem Bauch straff gespanntes Hemd inspizieren zu können.

»Tatsächlich. Wahrscheinlich doch eine Verbeugung vor dem Stern am Polizeihimmel.«

»Wer’s glaubt, wird selig. Aber die Hauptsache ist, dass ich nicht deinen Bauchnabel anstarren muss.«

»Dem ich aber nur wegen dir regelmäßige Pflege angedeihen lasse.«

»Jetzt reicht’s aber, mein Freund. Hat es über das Wochenende etwas gegeben, das ich wissen müsste?«

»Abgesehen von einem Haufen Schlägereien, wie es bei Sonnwendfeiern leider üblich ist, mit insgesamt drei Schwerverletzten, nur einen Mordversuch in der Nähe von Gänserndorf. Messerattacke aus Eifersucht. Der Täter hat bereits gestanden. Und bei Weißenkirchen hat sich ein Kremser Kunsthändler bei einem Sturz über eine Weingarten-Mauer das Genick gebrochen. Steht auch im Tagblatt.« Er blätterte in seiner Ausgabe zur entsprechenden Seite und zeigte ihr die kurze Notiz. »Der Staatsanwalt hat vorsichtshalber eine Obduktion angeordnet, wie ich höre. Wird aber nichts herauskommen.«

Doris streckte sich in ihrem Sessel. »So ruhig wie jetzt ist es schon lang nicht gewesen.«

»Unsere potenziellen Mörder lesen eben alle das Niederösterreichische Tagblatt. Wollen sich nicht mit dem neuen Stern am Polizeihimmel anlegen.«

»Aber du, wie mir scheint. Du gehst mir jetzt besser aus den Augen.«

Spencer stand auf. Ziemlich schwerfällig, wie ihr vorkam. War aber bei seinem Gewicht nichts Neues. »Ich gehe schon. Und ich entsorge auch gleich die Rosen da auf deinem Schreibtisch. Sind ja nicht mehr zum Anschauen.« Er griff mit seiner Rechten nach den Blumen.

Bevor er sie an sich nehmen konnte, gab sie ihm einen Klaps auf die Finger. »Das wirst du schön bleiben lassen. Die halten noch mindestens zwei Tage. Seit wann interessierst du dich überhaupt für meine Blumen?«

Mittwoch, 22. Juni 09 Uhr 14