Düstere Tunnel - Anna-Lena Strauß - E-Book

Düstere Tunnel E-Book

Anna-Lena Strauß

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Beschreibung

Band 2 der humorvollen Fantasy-Krimi-Reihe "Die Wächter von Brient" Als Liv nach einem halben Jahr Abwesenheit zurück nach Brient kommt, hat sich auf den ersten Blick nichts verändert: Evan bringt sich nach wie vor in Schwierigkeiten, Skadi und der Wächter Keldan ermitteln immer noch gemeinsam und gewisse Personen vom Schwarzmarkt sind nicht gut auf sie zu sprechen. Mehrere Kinder werden entführt und Liv findet sich erneut mitten in den Ermittlungen wieder. Die Hinweise führen zu den alten Tunneln unter der Stadt. Ausgerechnet jenen, in denen sich Evan illegal herumtreibt.

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Von der Autorin bisher erschienen:

Der Fluch der Hexen (2019)

Die Wächter von Brient 1 – Dubiose Verbündete (2020)

Edinburghs Hexen 1 – Magiesturm (2022)

Edinburghs Hexen 2 – Magieverderben (2022)

Für Kristin,

die nicht müde wurde zu betonen,

wie sehr sie sich auf dieses Buch freut.

Inhaltsverzeichnis

1. LIV

2. SKADI

3. LIV

4. SKADI

5. LIV

6. SKADI

7. LIV

8. SKADI

9. LIV

10. SKADI

11. LIV

12. SKADI

13. LIV

14. SKADI

15. LIV

16. SKADI

17. LIV

18. SKADI

19. LIV

20. SKADI

21. LIV

22. SKADI

23. LIV

24. SKADI

25. LIV

26. SKADI

27. LIV

28. SKADI

29. LIV

30. SKADI

31. LIV

32. SKADI

1. LIV

Liviana Gray?«, wiederholte die Wächterin.

Ich nickte langsam. Flucht, schoss es mir durch den Kopf.

Ich musste verschwinden, sofort, bevor jemand die Gelegenheit hatte, mich aufzuhalten. Wenn ich schnell genug war, würde ich es an den Wächtern am Tor vorbei schaffen.

Die Wächterin stand auf und ich ging einen Schritt rückwärts. Der Tisch würde mir einen kleinen Vorsprung verschaffen.

»Würdet Ihr mich bitte begleiten?«, fragte sie.

Das Lächeln hatte ihre Lippen keinen Moment verlassen. Ich zögerte einen Wimpernschlag zu lang. Hinter mir ging die Tür auf, ein weiterer Wächter trat ein und stellte sich neben den Kamin, um seine Hände aufzuwärmen. Mitten in meinen Fluchtweg. Meine Gedanken rasten auf der Suche nach einem Ausweg. »Warum?«

»Das weiß ich leider nicht«, antwortete sie freundlich. »Es besteht kein Grund zur Sorge. Euer Name steht auf der Liste von Personen, auf die jemand hier wartet. Meistens weil es Informationen zu Angehörigen gibt.«

Mein Blick huschte von ihr zu dem Wächter am Kamin, dann zur Tür. Mir fiel niemand ein, der bei den Wächtern angeben könnte, auf mich zu warten – nicht nach einem halben Jahr Abwesenheit. Dann die Wächter selbst? Hatten sie herausgefunden, dass ich mich eine Zeit lang auf dem Schwarzmarkt als Hellseherin ausgegeben hatte? Grundsätzlich war das zwar verwerflich, aber nichts, für das man von einem Gericht belangt werden konnte. Außer … irgendetwas war geschehen.

Verdammt, dachte ich. Warum habe ich mich nicht einfach reinge-schmuggelt?

Die Wächterin führte mich schweigend durch die Burg, stoppte vor einer dunklen Holztür und ließ mich mit dem Hinweis davor zurück, dass bald jemand kommen würde, um sich um mich zu kümmern. Ich wertete es als gutes Zeichen, allein gelassen zu werden.

Trotzdem: Es wäre der perfekte Moment, um mich aus dem Staub zu machen.

Ich holte tief Luft, gab mir einen Ruck und stieß die Tür auf. Diesmal würde ich nicht weglaufen. Nicht jetzt schon, wo ich eben erst angekommen war.

Es war kein Vernehmungsraum, obwohl ich das erwartet hatte. Stattdessen handelte es sich um ein hell gestrichenes Zimmer mit drei Fenstern, einer langen Schiefertafel an der Wand und einem runden Tisch, der unbesetzt war. Und … ein Mann, der mit dem Rücken zu mir am mittleren Fenster stand.

Ich erstarrte in der Bewegung, eine Hand auf der Türklinke. Als er sich umdrehte, huschte Verblüffung über sein Gesicht und blieb in seinen unterschiedlich farbigen Augen hängen. Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.

»Liv«, sagte Evan. »Was machst du denn hier?«

Ich zuckte betont gleichgültig mit den Schultern. Meine eigene Überraschung hatte ich hoffentlich besser verbergen können. Ich konnte meine Gefühle wesentlich schlechter verstecken als Evan, aber im Gegensatz zu ihm hatte ich in den vergangenen Tagen genug Zeit damit verbracht, mich auf diese Begegnung vorzubereiten.

»Das konnte mir bisher niemand sagen«, antwortete ich.

Wir sahen uns schweigend an, meine Abwesenheit von sechs Monaten wie ein Abgrund zwischen uns, dessen Brücke erst zur Hälfte fertiggestellt war. Ich hatte mir auf der Reise ein paar Worte der Begrüßung zurechtgelegt und überlegt, was ich tun würde – aber in diesen Überlegungen hatte ich vor Evans Tür gestanden. Nicht mitten in der Wächterburg, ohne zu wissen, warum wir hier waren.

Schließlich gab ich mir einen Ruck und im selben Moment, als ich einen Schritt nach vorn trat, tat Evan es mir gleich. Wir landeten in einer verwirrenden Mischung aus Hände schütteln und Umarmung, verharrten einen Atemzug lang so und lösten uns dann wieder voneinander. Dank der plötzlichen Nähe brach die Erinnerung wie ein Gewitter über mich herein: Evan, wie er bei einem unserer letzten Aufenthalte hier mein Blut getrunken hatte. Wie seine Gedanken und Gefühle so offen vor mir gelegen hatten, als wären es meine eigenen. Wie mir klargeworden war, dass er meine ebenso deutlich wahrgenommen hatte. Ohne die daraus entstandene Intimität wäre die Begrüßung wesentlich angenehmer geworden. Dann hätten wir uns einfach als Bekannte sehen können, anstatt unsicher zu sein, wie tief der Grad unserer Freundschaft ging.

Evan räusperte sich. »Seit wann bist du wieder in der Stadt?«

»Eben erst angekommen«, erwiderte ich. »Diesmal wollte ich mich ordnungsgemäß anmelden und mich nicht illegal in die Stadt schleichen. Aber offensichtlich hat irgendjemand hier auf mich gewartet.«

Ich schob die Hände in meine Manteltaschen und ging zum Fenster. Evan würde gleich fragen, wie der Besuch bei meinen Eltern gewesen war, aber der Bodenfrost draußen auf dem Hof wäre ein zu gezwungener Themenwechsel, um länger als zwei Sätze anzuhalten.

»Weswegen bist du hier?«, fragte ich stattdessen. »Es wäre ein komischer Zufall, dass sie uns beide in denselben Raum bringen, ohne einen Grund dafür zu haben.«

Evan hob eine Augenbraue. »Für mich ist es eher ein komischer Zufall, dass du genau jetzt wieder in der Stadt bist. Ich habe eine freundliche, aber sehr deutliche Aufforderung erhalten, mich hier einzufinden – und keine halbe Stunde nach meiner Ankunft tauchst du auf.«

»Allmählich glaube ich nicht mehr an Zufälle«, antwortete ich. »Was ist mit Keldan und Skadi? Hast du mit ihnen gesprochen? Sie müssten uns sagen können, was hier los ist.«

Bevor ich die Stadt verlassen hatte, hatte ich Evan geraten, ebenso wie Skadi als Berater für die Wächter zu arbeiten, um eine sinnvolle Beschäftigung in seinem Leben zu haben. Als jetzt ein reumütiger Ausdruck über sein Gesicht huschte, wusste ich, dass dieser Rat vergebens gewesen war.

»Nein«, sagte er. »Ich –«

Das Öffnen der Tür unterbrach ihn. Eine junge Frau in schlichter Kleidung trat ein, gefolgt von einem Wächter, der die Tür mit Nachdruck hinter sich zu zog. Sie hielten einen Augenblick inne, als sie mich sahen.

Skadi lächelte. »Hallo, Liv. Schön, dich wiederzusehen.«

Ich nickte, ebenso wie Keldan. Falls einer von beiden ernsthaft überrascht war, mich zu sehen, verbargen sie es gut. Also musste es wirklich Keldan gewesen sein, der meinen Namen auf die Liste gesetzt hatte.

Evan hüstelte. »Ihr habt mich fast eine Stunde warten lassen, ohne mir auch nur ansatzweise zu sagen, was überhaupt los ist. Würde mir jetzt endlich jemand erklären, warum ich hier bin?«

»Der Frage schließe ich mich an«, fügte ich hinzu.

Keldans Miene verfinsterte sich. Dass er sich keine Mühe gab, das mit einem Lächeln zu kaschieren, beunruhigte mich. Als wir ihn ken-nengelernt hatten, hatte er darauf geachtet, nicht zu zeigen, was er von unserem eigenmächtigen Handeln hielt.

Jedenfalls bei den ersten Malen. Irgendwann hatte er es aufgegeben, und das waren Situationen, in denen seine Verärgerung mehr als berechtigt gewesen war. Ich konnte in den letzten sechs Monaten schlecht etwas verbrochen haben – Evan dafür schon. Und von unserem ersten Treffen an hatte er mich zuverlässig in seine Schwierigkeiten mit hineingezogen.

»Setzt euch«, sagte Keldan. Er selbst blieb stehen, während Evan und ich uns in stummem Einvernehmen bei der Tür niederließen und Skadi sich einen Platz gegenüber von uns suchte.

Ich überlegte, ob das schon der Zeitpunkt war, mich von allem Folgenden ausdrücklich zu distanzieren.

Skadi fing meinen Blick auf. »Du bist nur hier, um uns zu sagen, ob Evan ehrlich antwortet oder nicht«, sagte sie. »Es passt perfekt, dass du gerade heute zurückgekommen bist.«

Das steckte also dahinter. Ich seufzte und war nicht sicher, ob ich es vor Erleichterung oder Frustration tat. Als Evan mich bei sich aufgenommen und um meine Hilfe gebeten hatte, war es auch nur gewesen, weil ich Lüge von Wahrheit unterscheiden konnte. Aber etwas hatte sich geändert. Ich hatte mich verändert. Ich war nicht mehr bereit, wahllos für jeden das Orakel zu spielen.

»Wenn das hier ein Verhör werden soll, sage ich gar nichts«, kam mir Evan zuvor. Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und setzte jene Miene auf, die er sich genau für solche Situationen zurechtgelegt zu haben schien: eine Augenbraue erhoben und der Anflug eines spöttischen Lächelns auf den Lippen. Der Ausdruck eines Mannes, der genau wusste, dass seine Ankläger mit ihrem Verdacht richtig lagen, aber nichts beweisen konnten.

»Kein Verhör«, sagte Keldan. »Wir haben nur ein paar Fragen, das ist alles.« Er stellte sich neben Skadi und musterte Evan aufmerksam. »Du erinnerst dich sicher an die Tunnel unter der Stadt, durch die wir gemeinsam vor einem halben Jahr geflohen sind. Irgendjemand treibt sich dort unten herum.«

»Und ich war der Erste, der euch dabei in den Sinn gekommen ist«, entgegnete Evan. »Das sagt eine Menge über eure Meinung über mich aus.«

»Bei dir wissen wir, dass du schon einmal in den Tunneln warst und bereit bist, ohne das Wissen der Wächter allein loszuziehen. Es war naheliegend«, sagte Skadi. Im Gegensatz zu Keldan hatte ihr Tonfall etwas Entschuldigendes. Nicht, dass das bei Evan etwas nutzen würde. Er behielt seine ablehnende Haltung bei und schwieg.

»Was ist so schlimm daran, dass jemand in den Tunneln ist?«, fragte ich.

»Es ist gefährlich«, antwortete Keldan ruhig. Sein Blick lag weiterhin auf Evan, als könnte er ihn allein dadurch zum Sprechen bringen. »Wir haben noch lange nicht alles dort unten erforscht. Viele der Tunnel sind einsturzgefährdet. Im schlimmsten Fall sorgt jemand dafür, dass sie einbrechen und einen Teil der Stadt mit sich reißen. Deshalb muss ich es wissen, Evan: Treibst du dich dort unten herum?«

»Nein.«

Schweigen erfüllte den Raum. Ich starrte fest auf die Tischplatte, weil ich wusste, dass alle Blicke auf mir lagen. Evan musste die Wahrheit sagen oder fest darauf vertrauen, dass ich ihn nicht verraten würde, wenn das Gegenteil der Fall war. Das war einer der Gründe, warum ich es inzwischen vermied, meine Gabe zu nutzen.

Hätte ich darauf geachtet, ob Evan log, müsste ich mich zwischen meiner Freundschaft mit ihm und dem Pflichtgefühl gegenüber Keld-an als Wächter entscheiden. Das war eine Entscheidung, die ich nicht treffen wollte.

»Liv?«, fragte Keldan.

Ich atmete tief durch und sah auf. »Ihr müsst selbst entscheiden, ob er lügt oder nicht. Ich werde es nicht tun.«

Evans Lächeln vertiefte sich.

»Dass du es uns nicht sagen willst, spricht dafür, dass Evan gelogen hat«, wandte Skadi ein. »Genau genommen macht es also keinen Unterschied, ob du es uns sagst oder nicht.«

Ich schüttelte den Kopf. »Doch, weil ich es selbst nicht weiß. Ich habe gelernt, bewusst entscheiden zu können, wann ich spüre, ob jemand die Wahrheit sagt oder nicht. In den meisten Fällen ist es angenehmer, das nicht zu wissen.«

Stille breitete sich aus. Keldan und Skadi tauschten einen Blick, in dem so viel wortlose Kommunikation lag, dass ich mich ausgeschlossen fühlte. Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her und unterdrückte den Drang, etwas hinzuzufügen. Es war allein meine Entscheidung, ob ich meine Gabe einsetzte oder nicht – auch wenn ich immer wieder das Gefühl hatte, das nicht zu dürfen.

»Ich kann verstehen, dass du das nicht immer tun willst«, begann Keldan, »aber es wäre uns wirklich eine große Hilfe. Wir hatten gehofft, an unsere letzte Zusammenarbeit anzuknüpfen.«

Evan gab ein abfälliges Schnauben von sich. Er setzte zu einer Erwiderung an, doch ich trat ihn unter dem Tisch. Als sein Blick zu mir zuckte, schüttelte ich den Kopf. Diese Diskussion ging allein mich etwas an; er hatte sich offensichtlich schon längst dafür entschieden, jene Zusammenarbeit nicht fortzusetzen.

»Dann muss ich euch enttäuschen«, antwortete ich. »Ich bin kein Lügendetektor, den man bei Bedarf aus dem Schrank holen und benutzen kann. Auch nicht für euch. Ihr seid bisher ohne Leute wie mich zurechtgekommen und werdet es auch weiterhin tun.«

Ihnen war anzusehen, dass sie mir widersprechen wollten, aber nicht wussten, wie. Mir wurde klar, dass genau das der Grund war, weshalb mein Name auf der Liste gesuchter Personen gestanden hatte. Nicht etwa, weil einer von ihnen mich gerne wiedersehen oder unsere kurze Freundschaft vertiefen wollte. Es ging nur darum, mit meiner Hilfe auf schnellstem Weg zu klären, ob jemand die Wahrheit sagte oder nicht.

Die Erkenntnis traf mich härter als erwartet.

»Können wir jetzt gehen oder wollt ihr noch ein Angebot machen, das wir ablehnen können?« Evan richtete sich auf und schob den Stuhl zurück. Er wartete nicht auf eine Antwort.

Als er den ersten Schritt gemacht hatte, trat Keldan vor.

»Nein«, erwiderte er. »Ich akzeptiere, dass Liv uns nicht sagen will, ob du lügst. Aber dann müssen wir es eben auf die althergebrachte Art lösen. Es gibt noch ein paar Fragen, die du beantworten solltest.«

Ich verzichtete darauf zu fragen, ob zumindest ich verschwinden konnte – wohin hätte ich auch gehen sollen? Nach der Anmeldung bei den Wächtern hätte mich mein Weg zu Evan geführt. Obwohl ich nicht sicher war, was ich mir davon erhofft hatte.

Evans Augenbraue zuckte nach oben. »Ich dachte, das ist kein Verhör?«

»Noch nicht. Ich kann es zu einem machen, wenn du darauf bestehst.«

Sie starrten sich an, als wären sie fest entschlossen, diese Frage allein dadurch zu beantworten, wer den Blickkontakt zuerst brach. Ich sah zu Skadi, die uns schweigend beobachtete. In ihrem knappen Lächeln las ich den gleichen Gedanken, der mir durch den Kopf ging: Das hatte sich also auch nicht geändert. Evan und Keldan trugen weiterhin ihre winzigen Machtkämpfe aus, weil keiner von beiden nachgeben wollte. Egal, um was es ging.

Ich seufzte. Dann streckte ich die Hand aus, ergriff den Ärmel seines Mantels und zog daran. »Komm schon, Evan, beantworte einfach ihre Fragen. Je eher du es tust, desto schneller können wir verschwinden.«

Evan löste den Blick von Keldan. »Schön«, sagte er gedehnt. »Dann will ich aber auch den wahren Grund erfahren, warum euch das interessiert. Diese Tunnel gehören weder euch noch irgendjemandem sonst – jeder einzelne in dieser Stadt hat das Recht, sich dort umzusehen.«

»Es gibt keinen anderen Grund als den, den wir schon genannt haben«, entgegnete Keldan. »Du bestehst also darauf, nicht noch einmal in den Tunneln gewesen zu sein?«

»Ja.«

»Wann warst du zum ersten Mal dort?«

Evan runzelte die Stirn. »Als wir gemeinsam vor diesem Trupp Schläger geflohen sind, wann denn sonst?«

»Hast du jemandem davon erzählt?«

»Nein.«

»Bist du sicher?«, warf Skadi ein. »Auch nicht beiläufig in einem Gespräch mit Freunden oder Bekannten?«

Evans Blick wanderte zu mir. »Ich habe keine Freunde, von Liv einmal abgesehen.«

Es war vorherzusehen, dass Keldan sich nicht mit dieser Antwort zufriedengeben würde. Er kam einen Schritt näher. »Das beantwortet ihre Frage nicht.«

»Ich habe niemandem von den alten Tunneln unter der Stadt erzählt«, sagte Evan mit Nachdruck. »Aber wenn ich so drüber nachdenke, werde ich es jetzt tun. Dann sind eure Anschuldigungen wenigstens berechtigt und nicht mehr aus der Luft gegriffen.«

Er drehte auf dem Absatz um und schritt auf die Tür zu. Ich sah unschlüssig zwischen ihm, Skadi und Keldan hin und her. Beim letzten Mal hatte ich mich bemüht, eine vermittelnde Rolle einzunehmen und Evan davon abzuhalten, uns beiden noch mehr Ärger zu bereiten. Aber dafür war es hier schon lange zu spät.

Ich stand auf und folgte ihm. Unmittelbar vor der Schwelle holte ich ihn ein, sah zu, wie er die Hand auf die Klinke legte und –

»Wartet«, sagte Keldan.

Evan zögerte. In seiner Miene rangen Neugier und ein Gefühl miteinander, das ich nicht auf Anhieb identifizieren konnte. Keldan erreichte uns und der Augenblick war vorbei. Der undurchdringliche Ausdruck kehrte auf Evans Gesicht zurück. »Es gibt dutzende andere Männer und Frauen in dieser Stadt, die die Tunnel schon seit Jahrzehnten kennen. Wendet euch doch zur Abwechslung mal an die.«

»Das werden wir«, antwortete Keldan. »Aber ich muss dich trotzdem darum bitten, das Ganze für dich zu behalten. Das gilt auch für dich, Liv.«

»Warum?«, fragte ich, bevor Evan es tun konnte.

Keldan fuhr sich mit einer Hand in den Nacken. Er schien ernsthaft in Erwägung zu ziehen, uns die Wahrheit zu sagen, und in diesem Augenblick war ich kurz davor, meine Gabe einzusetzen – nur um sicherzugehen. Doch er schüttelte den Kopf. »Das kann ich euch nicht sagen. Nur so viel: Irgendetwas geht da unten vor –«

»Und ihr habt keinen Schimmer, was«, vollendete Evan. »Das ist ja was ganz Neues.«

2. SKADI

Skadi sah Evan und Liv mit gemischten Gefühlen nach. Sie hatte gehofft, auf ihrem bisher guten Verhältnis mit Liv aufbauen zu können – weniger, um mit ihr zusammen zu arbeiten als vielmehr, um Freunde zu werden. Richtige Freunde. Nicht nur solche, die durch die Umstände dazu gezwungen waren, Zeit miteinander zu verbringen und sich dann zufällig gut verstanden.

Sie hätte sich denken können, dass Liv sich stattdessen für Evans Freundschaft entscheiden würde.

»Wir hätten es anders angehen sollen«, bemerkte sie. »Wenn wir ihr Zeit gegeben hätten, richtig anzukommen, anstatt sie so zu überfallen, wäre sie vielleicht eher bereit gewesen, uns zu helfen.«

»Oder sie hätte noch mehr Zeit mit Evan verbracht und endgültig beschlossen, nichts mehr mit uns zu tun haben zu wollen«, sagte Kel-dan trocken. »Nein, ich glaube nicht, dass das etwas genutzt hätte. Sie hat ihre Entscheidung schon lange getroffen, bevor sie das Stadttor durchquert hat.«

Möglich, dachte Skadi. Aber es muss einen Grund für diese Entscheidung geben. Irgendetwas, das sie dazu bewegt hat, ihre Meinung zu ändern.

»Evan klang ehrlich entrüstet, dass wir ihn im Verdacht haben, etwas über die Tunnel ausgeplaudert zu haben«, wechselte sie das Thema.

Evan war ihr einziger Anhaltspunkt gewesen. Sie hatte nicht wirklich erwartet, nützliche Informationen von ihm zu erhalten, doch es wäre ein Anfang gewesen. Schon, um zu erfahren, ob er dort jemanden gesehen hatte.

»Ich glaube dennoch, dass er gelogen hat«, antwortete Keldan. »Er war in den Tunneln und wird spätestens jetzt wieder hineingehen. Und sei es nur, weil wir ihn darauf angesprochen haben.«

»Das Problem ist, dass wir keine Beweise haben. Er ist zu schlau, um sich durch seine Aussagen selbst zu verraten.«

»Dann müssen wir darauf bauen, dass er Liv einweiht und dann sie fragen. Sie wird in den letzten sechs Monaten kaum zu einer besseren Lügnerin geworden sein.«

»Oder wir beobachten sie und folgen ihnen in einem günstigen Moment.«

Keldan schnaubte amüsiert. »Als wir das das letzte Mal gemacht haben, hast du mir noch vorgeworfen, gegen meine eigenen Prinzipien zu verstoßen.«

»Ich weiß«, antwortete sie. Damals war ich aber auch noch davon überzeugt, dass Wächter niemals gegen Regeln geschweige denn gegen Gesetze verstoßen würden. »Solange wir dafür keine Zauber nutzen, verstoßen wir ja nicht gegen die Prinzipien.«

»Stimmt«, sagte Keldan, »aber es wird schwierig, ihnen auf herkömmlichem Weg zu folgen. Sie sind beide zu aufmerksam und werden davon ausgehen, dass wir sie im Auge behalten. Für den Augenblick lassen wir sie in Ruhe; vielleicht kommen sie selbst auf den Gedanken, uns noch etwas zu erzählen.«

»Glaubst du das wirklich?«

»Selbstverständlich nicht. Aber ich hoffe es.«

Skadi zog ihre lange Jacke fester um sich, als sie den Hof betraten. Eisiger Wind fuhr zwischen den Gebäuden hindurch, erfasste die vertrockneten Blätter auf dem Boden und trug sie über die Mauern davon. Es würde nicht lange dauern, bis der erste Schnee kam, und es graute Skadi schon jetzt davor. Das würde ihr erster Winter in dieser Stadt werden und damit auch der erste, den sie in dem heruntergekommenen Turm am Rand des Westviertels erleben würde. Sie ahnte, dass es in den Nächten fürchterlich kalt werden würde. Von dem Lohn, den sie als Beraterin der Wächter erhielt, hätte sie sich ein besseres Zimmer leisten können, doch sie schickte stattdessen alles, was sie nicht zum Leben brauchte, zu ihren Eltern. Sie hatten ihr ganzes Leben gespart, um es Skadi zu ermöglichen, nach Brient zu gehen – es erschien ihr nur richtig, sie im Gegenzug jetzt ebenfalls zu unterstützen.

»Was tun wir, während wir darauf warten?«, fragte sie. »Wenn Evan nicht übertrieben hat und wirklich so viele Leute von den Tunneln wissen, muss es doch eine Möglichkeit geben, sie aufzutreiben und mit ihnen zu sprechen.«

»Jedenfalls keine, die mir einfällt«, sagte Keldan. »Solange wir es vermeiden sollen, noch mehr Leute einzuweihen, können wir uns unmöglich direkt danach umhören. Wir müssen wohl oder übel zurück in die Tunnel und dort nach Hinweisen suchen.«

Skadi verzog das Gesicht. Sie hatte normalerweise kein Problem mit engen Räumen, doch in den Tunneln hatte sie immer das Gefühl, als würden die Wände auf sie zu kommen, und ihr war überdeutlich bewusst, dass sie sich fünfzehn Fuß unter der Erdoberfläche befand. Die Tunnel unmittelbar unter der Burg waren von den Wächtern wieder instandgesetzt und mit Fackeln ausgestattet worden, doch es gab unzählige weitere, von denen sie nicht einmal den genauen Verlauf kannten.

Das Ganze hatte sie nicht weiter gekümmert, bis sie einen anonymen Hinweis erhalten hatten, dass jemand in den Tunneln herumlief und offenbar verschiedene Gegenstände mit nach unten brachte. Es war kein großer Fall, nichts, das unmittelbar gelöst werden musste oder von besonderer Bedeutung gewesen wäre. Aber einer der höher-rangigen Wächter hatte beschlossen, Keldan und Skadi damit zu beauftragen, also würden sich darum kümmern.

Sie entschieden sich, unterhalb der Burg mit der Suche zu beginnen. Dort waren die Tunnel in ihrem besten Zustand und die Wahrscheinlichkeit, dass einer von ihnen einstürzen würde, war gering. Außerdem war dieser Bereich durch verschlossene Tore von den übrigen Tunneln abgeschottet, sodass sie sicher sein konnten, auf diesem ersten Abschnitt keinen Fremden zu begegnen.

Vollkommen allein zu gehen, war dennoch nicht die klügste Idee. Die Gefahr, sich dort unten zu verirren und nicht mehr zurückzufin-den, war laut Keldan zu groß. Sie brauchten einen Führer und damit lernte Skadi einen weiteren Berater der Wächter kennen: Morgan war ein Elbe, gut dreimal so alt wie sie selbst und nach eigenen Angaben besonders talentiert darin, sich reale Wege und Straßen im Kopf zu einer Karte zusammen zu stellen. Er verbrachte den größten Teil seiner Zeit in den Tunneln, seine Haut war noch blasser als Skadis, und in seinen langen Haaren hingen einige Erdkrümel. Er begrüßte sie mit einem Nicken am Eingang der Tunnel.

»Es ist lange her, dass die Wächter ihr Augenmerk auf das unterirdische Labyrinth gerichtet haben«, sagte er und warf Skadi einen bedeutsamen Blick zu. »Beim letzten Mal hat es ihnen gereicht, einen Teil davon für sich zu beanspruchen, und als das geschehen war, haben sie ihn schlichtweg vergessen.«

»Ich bin hinter euch«, warf Keldan ein. »Ich kann euch problemlos verstehen und bin zufällig auch ein Wächter.«

Morgan drehte sich im Laufen um. »Bist du dir da sicher? Du hast zwar schon deine Flügel, aber du scheinst mir immer noch zu jung für einen echten Wächter zu sein.«

Skadi unterdrückte ein Grinsen, als Keldan murmelte, bereits die Stein-Morde aufgeklärt zu haben. Er musste ungefähr in ihrem Alter sein, doch sie hatte sich nie damit beschäftigt, ab wann ein Wächter ein echter Wächter war – wie auch immer Morgan das definierte.

»Ich glaube nicht, dass sie die Tunnel einfach vergessen haben«, sagte sie. »Wahrscheinlich gab es wichtigere Dinge zu tun.«

»Wichtiger«, wiederholte Morgan abfällig. »Warum seid ihr dann jetzt hier? Es gibt sicher immer noch wichtigere Dinge zu erledigen.«

»Wir haben einen Hinweis bekommen, dass jemand regelmäßig mit verschiedenen Gegenständen hier runterkommt«, sagte Skadi. Mor-gans skeptische Miene drängte sie dazu, noch etwas hinzuzufügen, aber sie blieb stumm.

»Es kommen seit Jahren täglich Leute hierher«, erwiderte Morgan. »Daran ist nichts Besonderes.«

Skadi zögerte. Als sie nicht antwortete, schaltete sich Keldan ein. »Dann sind wir eben die ersten, die das Ganze ernst nehmen. Das ist ohnehin schon lange überfällig, wenn man bedenkt, dass sich hier größtenteils Verbrecher und Flüchtlinge aufhalten.«

Darauf erwiderte Morgan nichts. Skadi warf dem alten Mann aus dem Augenwinkel einen Blick zu und beschloss, dass es besser war, das Thema zu wechseln, bevor sie ihn endgültig verärgerten. »Keldan hat erwähnt, dass du dir die Wege hier unten wie eine eigene Landkarte merken kannst. Heißt das, du kennst alle Tunnel?«

»Ich kenne alle Tunnel, die ich kenne. Solange ich sie nicht kenne, kann ich dir auch nicht sagen, dass ich sie nicht kenne.«

Skadi blinzelte verwirrt. »Was?«

»Niemand weiß genau, wie viele Tunnel es gibt und wo sie verlaufen«, erwiderte Morgan. »Dementsprechend kann ich nicht sagen, ob ich alle kenne, Mädchen. Hast du mir überhaupt zugehört?«

»Ja«, murmelte sie und spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. »Ich hatte nur angenommen, du wärest inzwischen schon so lange hier, dass du jede mögliche Abzweigung und jede Sackgasse kennst.«

Er brummte etwas Unverständliches und bog an einer Kreuzung nach links ab. Als Skadi auf ihre Schritte lauschte, stellte sie fest, dass sie nur ihre eigenen und Keldans hinter sich hören konnte. Morgan bewegte sich dagegen derart geschickt, dass seine Schritte nicht wahrnehmbar waren.

Die Wände rückten enger zusammen und da Morgan offenbar keinen Wert auf ihre Gesellschaft legte, ließ Skadi sich ein Stück zurückfallen. Sie ging ebenso wie Keldan langsamer, bis sie mehrere Schritte hinter Morgan waren und er nur noch am Rand des Lichtscheins von Keldans Fackel lief.

»Ich hatte gehofft, er würde uns mehr sagen können«, raunte Keld-an ihr zu. »Jemandem, der so oft hier unten ist, muss doch etwas aufgefallen sein. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass er bereit ist, uns zu helfen.«

»Mir gehen seine Worte nicht aus dem Kopf«, erwiderte Skadi. »Er hat nicht unrecht. Warum sind wir plötzlich hier, obwohl sich hier schon seit Jahren andere Leute herumtreiben? Das ergibt für mich nicht viel Sinn.«

»Es war das erste Mal, dass jemand gemeldet hat, jemanden hier herumschleichen zu sehen. Kommt dir das nicht verdächtig vor? Wenn es ein normaler Vorfall wäre, etwas, an das die Leute hier unten gewöhnt sind, hätte uns niemand informiert.«

Skadi dachte einen Moment darüber nach und nickte dann. »Es ist ungewöhnlich, ja. Aber ungewöhnlich genug, um jemanden loszu-schicken, der sich das ansehen soll? Es besteht schließlich keine unmittelbare Gefahr für andere.«

»Keine, von der wir wissen«, erinnerte Keldan sie. »Es schadet nie, vorsichtig zu sein. Mir ist es lieber, einmal zu oft nachzusehen als einmal zu wenig.«

»Ich habe das Gefühl, dass mehr dahintersteckt«, sagte Skadi. »Irgendetwas passt da nicht zusammen.«

Keldan hob die Fackel ein Stück höher, als Morgan vor ihnen beinahe aus ihrem Lichtkreis verschwand. »Verstehe.«

»Hier endet der Abschnitt der Wächter«, rief Morgan. »Wollt ihr euch noch hier umsehen oder nicht? Wenn ihr so trödelt, werden wir nicht weit kommen.«

Sie tauschten einen raschen Blick. Es war von Anfang an klar gewesen, dass sie sich tiefer in das Labyrinth vorwagen mussten, um auch nur die Chance zu haben, etwas zu erfahren.

»Wir kommen!«, antwortete Keldan, blieb jedoch stehen und hielt Skadi am Arm zurück. Er sah in Morgans Richtung und erwiderte dann ihren Blick. »Es gibt einen Grund, warum dir das komisch vorkommt, Skadi. Tu dieses Gefühl nicht einfach ab, in Ordnung?«

»Auch dann nicht, wenn du es nicht hast?«

»Besonders dann nicht.« Er lächelte. »Dafür sind wir schließlich ein Team, oder nicht?«

Skadi zuckte mit den Schultern. Morgan rief erneut nach ihnen und verkündete, dass er gleich verschwinden würde, wenn sie nicht bald kamen. »Es wäre mir lieber, wenn ich genau wüsste, woher dieses Gefühl kommt«, gab sie zu. »So fühlt es sich an, als würde ich es mir einbilden oder paranoid werden.«

3. LIV

Also«, sagte Evan. »Hast du schon eine Unterkunft oder wolltest du dich später darum kümmern?«

Wir hatten die Wächterburg verlassen, ohne von Keldan oder Skadi zurückgerufen worden zu sein. Ich war nicht sicher, ob meine Anmeldung vollständig abgeschlossen war, wollte aber auch nicht zurück, um nachzufragen. Am Ende hatte ich alles getan, was meiner Meinung nach dafür nötig war – wenn das nicht reichte, würde sich schon jemand an mich wenden.

Ich sah zu Evan auf und zuckte mit den Schultern. »Eigentlich wollte ich unangemeldet vor deiner Tür auftauchen und dich überraschen. So spät, dass dir nichts anderes übrigbleibt, als mir anzubieten, bei dir zu übernachten.«

»Du kannst dein altes Zimmer wieder haben, solange du willst«, antwortete er. »Das Haus ist sowieso zu groß für mich allein.«

»Ich weiß.« Damit erübrigte sich die Frage, ob er inzwischen jemand anderen in sein Leben gelassen hatte. Ich überlegte, wann der richtige Zeitpunkt war, um ihn auf Emma anzusprechen. Als ich die Stadt verlassen hatte, hatte ich ihn dazu gebracht, mit ihrem Tod abzuschließen oder es zumindest zu versuchen. Doch ich hatte meine Zweifel, dass dieser Vorsatz in die Tat umgesetzt worden war. Evan war besessen davon gewesen, zu beweisen, dass der Tod seiner Frau kein Unfall, sondern Mord war, und hatte seine gesamte Energie mo-nate-, wenn nicht jahrelang darauf ausgerichtet. Mit so etwas schloss man nicht von einem Tag zum nächsten ab.

Wir ließen das Zentrum der Stadt hinter uns und betraten das Nordviertel. Im Vergleich zum letzten Mal war ich diesmal wesentlich besser gekleidet, doch ich fühlte mich immer noch fremd zwischen jenen Männern und Frauen, deren Hüte so viel wert waren wie mein gesamter Besitz. Die kühlen Temperaturen hielten die meisten nicht davon ab, mit aufwendig gestalteten Kleidern durch die Straßen zu flanieren und jedem einen abfälligen Blick zuzuwerfen, der nicht diesen Standard erfüllte – was im Wesentlichen ich war.

»Du hast also beschlossen, nicht weiter mit Keldan und Skadi zusammen zu arbeiten«, sagte ich. »Warum? Ich dachte, der Gedanke hätte dir gefallen.«

Evan vergrub die Hände tiefer in den Taschen seines langen schwarzen Mantels. Er überlegte und wich meinem Blick aus. »Hat er auch, bis ich länger darüber nachgedacht habe. Mit den Wächtern gemeinsame Sache zu machen, würde mich dazu verpflichten, mich an ihre Anweisungen zu halten. Das war es mir nicht wert. Ich lasse mir nicht gern vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe.«

Den letzten Satz hätte er nicht hinzufügen müssen. Ein Tag in seiner Gesellschaft reichte, um das zu vermitteln.

Als ich nicht antwortete, stieß Evan mich mit dem Ellenbogen an. »Hast du mir nicht zugehört?«

»Doch, natürlich«, sagte ich. »Warum sollte ich es nicht getan haben?«

»Weil ich gelogen habe«, sagte er rundheraus. »Teilweise jedenfalls. Es hat mich interessiert, ob du wirklich nicht mehr darauf achtest, ob ich die Wahrheit sage oder nicht.«

Ich runzelte die Stirn. Beim letzten Mal hatte ich auch nicht ununterbrochen meine Gabe genutzt. Damals konnte ich sie zwar nicht so gut kontrollieren wie jetzt, aber wenn ich mich anstrengte, konnte ich sicher hören, ob jemand log. Nach dem anfänglichen Misstrauen hatte ich auf keines von Evans Worten derart genau geachtet. Es überraschte mich, dass er annahm, ich hätte es getan. Hieß das, er hatte mich nie angelogen, weil er dachte, ich würde es ohnehin merken?

»Das habe ich früher auch nicht getan. Wenn das eben nicht die reine Wahrheit war, was fehlt denn dann?«

»Es hätte mich nicht gestört, mich etwas mehr nach den Wächtern zu richten, wenn wir das zusammen getan hätten«, sagte er. »Aber allein macht es keinen Spaß. Ich wäre auch dann nicht bereit gewesen, ein Berater wie Skadi zu sein, die offenbar den ganzen Tag mit Keldan unterwegs ist. Aber ich hätte sie unterstützt, wenn sie um meine Hilfe gebeten hätten.«

Ich räusperte mich, um meine Verlegenheit zu überspielen. Das kam unerwartet. »Als richtigen Berater hätten sie dich sowieso nicht eingestellt, und mich erst recht nicht.«

Evan grinste. »Warum nicht? Beim letzten Mal waren wir eine große Hilfe. Wir haben einiges herausgefunden, worauf Keldan und Ska-di nicht gekommen sind.«

»Mit Methoden, die sie nicht gutheißen.«

»Eben, das war ja das Gute daran. Wir könnten auch jetzt noch –«

Er brach unvermittelt ab, erstarrte mitten auf der Straße und zog mich einen Augenblick später hastig hinter die nächste Ecke. Dann spähte er zurück auf die Straße, von der wir gekommen waren, und zuckte zurück. Ich sah verständnislos zu, wie er sich mit dem Rücken gegen die Mauer presste und mir bedeutete, leise zu sein. Wären wir im Ostviertel, hätte ich dieses Verhalten nachvollziehen können. Aber hier, in der wohlhabendsten Gegend der ganzen Stadt?

»Vor wem verstecken wir uns?«, flüsterte ich.

»Ein paar Leuten, die ich verärgert habe«, erwiderte er mit gesenkter Stimme. Er sah erneut um die Ecke und fluchte unterdrückt. Dann schob er mich tiefer in die Gasse hinein.

Ich stolperte voran und versuchte zu erkennen, ob uns jemand folgte. »Geht es etwas genauer? So könntest du die halbe Stadt meinen, meiner Einschätzung nach.«

»Möglicherweise habe ich vor einer Weile eine Gruppe von Kartenspielern entdeckt«, antwortete Evan. »Es könnte sein, dass man in dieser Gruppe um hohe Beträge spielt. Und dass ich dabei betrogen habe.«

»Wie hoch?«

»Sehr hoch«, murmelte er. »Die Hälfte von der Villa, an der wir uns gerade entlang schleichen, hoch.«

Schritte erklangen hinter uns. Ich erhaschte einen Blick auf vier oder fünf Männer, die im Eilschritt die Gasse entlangliefen. Sie war breit genug, um nebeneinander zu laufen, doch der Boden war voller nassem Laub. Ich rutschte, strauchelte und hielt mich im letzten Moment an Evan fest. »Du hast dich erwischen lassen? Verdammt, Evan, jeder betrügt beim Kartenspielen. Man darf nur nicht dabei auffliegen.«

»Vielen Dank für den Hinweis«, knurrte er. »Darauf wäre ich nicht gekommen.«

Wir verließen die Gasse und kamen in einem kleinen Park heraus. Im Frühling hatten hier Kinder zwischen den Bäumen gespielt. Jetzt hatten sich die Blätter gelb, braun und rot gefärbt, lagen auf dem Boden und boten keine Versteckmöglichkeit mehr. Evan rannte zielstrebig weiter, warf sich abrupt hinter einen stillgelegten Springbrunnen ins Laub und zerrte mich mit sich.

Ich stieß mir das Knie an dem Marmor und unterdrückte ein Stöhnen. Keine drei Stunden zurück in dieser Stadt und schon war ich in ein halbes Verhör der Wächter verwickelt gewesen, vor einer Gruppe Männer geflüchtet und würde die nächste Woche mit einem schmerzenden Knie herumlaufen. Großartig.

»Warum laufen wir überhaupt vor denen weg?«, zischte ich. »Die wissen doch sowieso, wo dein Haus ist.«

»Weil ich immer den Hintereingang benutze und sie es bisher nicht gewagt haben, sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen.« Er richtete sich ein Stück auf und warf einen Blick über den Brunnenrand. »Ich gehe ihnen seit zwei Wochen erfolgreich aus dem Weg. Das würde ich gerne fortsetzen.«

»Warum gibst du ihnen nicht einfach das Geld?«

Evan seufzte. Er rutschte zurück in eine sitzende Position und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Brunnen. »Sie wollen kein Geld. Davon haben sie genug.«

Ich hörte die Gruppe, bevor ich sie sah. Ihr Keuchen eilte ihnen voraus, verkündete, dass sie derartige Anstrengungen nur selten unternahmen. Evan war etwas besser in Form und ich war es gewohnt, abzuhauen. Falls sie uns entdeckten, konnten wir ihnen vermutlich immer noch entkommen. Ich schob mich näher an den Brunnen und beobachtete, wie sie an uns vorbeiliefen und rechts von mir im Park verschwanden. Ihre Gestalten blitzten zwischen den Bäumen auf. Als sie nicht mehr zu erkennen waren, stand ich auf. »Was wollen sie dann?«

»Ein weiteres Spiel«, gab er widerstrebend zu. Einen Moment lang starrte er in die Richtung, in der die Männer verschwunden waren, stand dann auf und klopfte das Laub von seinem Mantel ab. »Aber diesmal ist der Einsatz höher.«

»Ah«, sagte ich. »Sollst du um dein Leben spielen?«

Es war als Scherz gemeint gewesen. Doch als Evan mich stumm und ernst ansah, verging mir mein Grinsen. Wenn das stimmte, konnte ich verstehen, warum er diesen Leuten tunlichst aus dem Weg ging. Im nächsten Augenblick wünschte ich mir, nichts davon erfahren zu haben. Jetzt wo ich davon wusste, fühlte ich mich dafür verantwortlich, Evan aus dieser Situation herauszuhelfen. Noch eine Sache, die unsere Freundschaft mit sich gebracht hatte. Früher hätte ich ihn bedauert, mich dann aber umgedreht und wäre gegangen. Mich selbst in Gefahr zu bringen, um jemand anderem zu helfen, gehörte nicht zu meinen Grundsätzen.

Ich rieb abwesend meine klammen Finger aneinander. »Hast du dich an die Wächter gewandt?«

»Hast du es getan, als du Schulden bei Raphael hattest?«, entgegnete er. »Bei solchen Leuten bringt es einem nichts, die Wächter um Hilfe zu bitten. Das weißt du besser als ich, Liv.«

Da war etwas dran. Wenn er diese Typen bei den Wächtern ver-pfiff, musste er damit rechnen, dass sie sich dafür rächen würden. Davor konnten ihn auf Dauer nicht einmal die Wächter schützen. Dennoch wäre Evan besser beraten gewesen, wenigstens Keldan und Skadi um Rat zu bitten. »Was hast du dann vor? Du kannst dich nicht ewig verstecken, das ist dir hoffentlich klar.«

Evan zuckte mit den Schultern und schwieg.

Ausgerechnet Evan, der nie um ein Wort verlegen war, sich aus jeder Situation herausreden konnte, und im Hinterkopf stets den Plan für die nächste waghalsige Aktion austüftelte, wusste nicht, was er dazu sagen sollte.

»Das ist schlecht«, sagte ich. »Irgendwann wird es ihnen zu blöd werden und sie bringen dich einfach so um. Ohne dir vorher die Chance zu geben, dein Leben zu retten.«

»Ich weiß«, murmelte Evan. »Wahrscheinlich werde ich spielen müssen und hoffen, dass sie fair genug sind, mich bei einem Gewinn gehen zu lassen.«

Er sah an mir vorbei und seine Miene verdüsterte sich. »Aber noch nicht jetzt. Lass uns verschwinden.«

Hinter mir rief jemand etwas. Ich sprintete los, ohne eine Ahnung zu haben, wohin ich überhaupt wollte. Im Ostviertel hätte ich sie abhängen können, sogar dann, wenn sie besser in Form wären. Aber hier kannte ich mich nicht aus, wusste nicht, wo mögliche Verstecke waren oder wann ich in eine Sackgasse laufen würde.

Evan tauchte einen Atemzug später neben mir. »Du hast doch Erfahrung im Weglaufen«, keuchte er. »Wie werden wir die Kerle dauerhaft los?«

»Gar nicht«, antwortete ich. »Wenn überhaupt werden wir sie nur kurz los. Wir könnten uns aufteilen. Hinter mir sind sie schließlich nicht her.«

»Jetzt schon.«

Ich schüttelte den Kopf und widerstand dem Drang, an der nächsten Kreuzung so scharf abzubiegen, dass Evan es nicht rechtzeitig bemerkte. Lange würden sie die Verfolgungsjagd meiner Einschätzung nach nicht mehr durchhalten.

Evan aber auch nicht.

»Ich habe eine Idee«, rief Evan zwei Straßen weiter. »Aber ich glaube, die wird dir nicht gefallen.«

Mir gefällt so einiges hier nicht, dachte ich. Was auch immer er im Sinn hatte – schlimmer als unsere Verfolger konnte es nicht werden. Die waren inzwischen dazu übergegangen, uns hinterher zu brüllen, dass wir stehen bleiben sollten, und ich bezweifelte, dass es ihre Laune verbesserte, noch länger wegzulaufen.

Ich hatte alles versucht. Es gab einige Tricks, um Verfolger abzuschütteln, doch keiner hatte hier geholfen. Das Nordviertel war nicht dafür gemacht, jemanden auf kurzer Distanz loszuwerden. Die Villen thronten mitten in ihren großzügigen, eingezäunten Grundstücken, jeweils mit so viel Abstand zueinander, dass selbst die schmalsten Gassen zu breit waren, um damit einen Vorteil zu erringen. Es waren kaum Leute unterwegs, unter die man sich mischen konnte, und die wenigen, die es doch waren, wichen hastig aus, wenn sie uns kommen sahen. Zu allem Überfluss gab es nicht einmal Geschäfte oder Tavernen, in die man sich flüchten und durch den Hinterausgang entkommen konnte. Wenn wir von Anfang an zurück nach Süden und dann weiter ins Ostviertel gelaufen wären, hätten wir eine Chance gehabt. Aber die hatten wir auf dem ersten Stück verspielt.

Zugegeben, eine letzte Möglichkeit hatte ich nicht in Betracht gezogen.

»Ich habe auch eine Idee«, gab ich zurück. »Die wird dir aber auch nicht gefallen. Wir könnten einen Wächter suchen.«

Evan wurde langsamer und warf mir einen gehetzten Blick zu. »Auf keinen Fall! Dann kann ich gleich auswandern.«

»Und was ist dann dein Plan?«, fragte ich. Es widerstrebte mir, mich seiner Geschwindigkeit anzupassen. Unsere Verfolger waren ein gutes Stück zurückgefallen, doch dieser Vorsprung würde nicht von langer Dauer sein. Schon deshalb nicht, weil Evan schließlich stehen blieb.

Ich stützte meine Hände auf den Oberschenkeln ab und versuchte, trotz meiner schmerzenden Lunge tief ein- und auszuatmen. Meine Beine brannten und fühlten sich an, als würden sie jeden Augenblick unter mir nachgeben. Evan sah aus, als müsste er sich gleich übergeben. Er lehnte sich mit der Stirn gegen die Grundstücksmauer neben uns und hatte die Augen geschlossen. Als er nicht antwortete, drehte ich mich um. »Sie haben uns bald eingeholt, Evan.«

»Ich … weiß«, brachte er zwischen zwei abgehackten Atemzügen hervor. »Gib mir … einen Moment.«

»Wir haben keinen Moment!« Ich zog an seinem Arm, um ihn wenigstens um die nächste Ecke zu schleppen, und überlegte fieberhaft, welche Möglichkeiten uns blieben. Weiterlaufen? Unwahrscheinlich, dass wir das schaffen würden. Uns auf gut Glück auf eines der Grundstücke schleichen und hoffen, dass es dort keine Wachen oder Schutzzauber gab? Auch nicht die beste Idee. Hier warten und uns den Männern stellen? Wenn wir riskieren wollten, den nächsten Tag nicht mehr zu erleben, durchaus möglich.

»Was ist jetzt mit deiner Idee?«, fragte ich. »Ist mir egal, ob sie mir nicht gefallen wird, wir haben keine Alternativen.«

Evan stolperte neben mir her. Dann schien er sich zusammenzurei-ßen, löste sich aus meinem Griff und lief die Straße hinunter. Unmittelbar vor dem mannshohen Tor des Friedhofs blieb er stehen, rüttelte daran und stieß ein frustriertes Stöhnen aus.

»Verschlossen«, presste er hervor, als ich ihn erreichte. »Ausgerechnet heute. Wie gut kannst du klettern?«

»Schlecht. Aber das müssen wir auch nicht.« Ich schob ihn zur Seite, legte beide Hände auf das Tor und schloss die Augen, um mich besser konzentrieren zu können. Es gehörte nicht viel dazu, ein Schloss mit einem Zauber zu öffnen, doch für mich war es eine Herausforderung. Die Magie wirbelte um mich herum wie ein Schneesturm. Langsam, widerstrebend ließ sie sich zu dem Schloss lenken, darum verteilen und in es hineindrücken. Der Bolzen rutschte mit einem Klicken zurück und gab den Weg frei. Das Tor schwang auf und ich schlüpfte hindurch.

Evan folgte mir, zog das Tor leise hinter uns zu und sah mich verblüfft an. »Seit wann zauberst du?«

»Ich bin zur Hälfte Magierin«, antwortete ich. »Ein paar Zauber bekomme ich hin.«

»Das meinte ich nicht. Vor einem halben Jahr hast du nie gezaubert – außer ein einziges Mal.« Er ging voraus und hielt sich dabei in der Nähe der Mauer, als wollte er vermeiden, dass uns jemand von der Straße aus durch das Tor sehen konnte.

»Ich hatte dir auch erzählt, warum ich nicht mehr gezaubert habe«, murmelte ich leise. »Meine Mutter hat mir geholfen, die Angst davor zu überwinden. Aber das heißt nicht, dass ich es jetzt gerne und oft tue.«

Ich war schon einmal hier gewesen. Bevor ich gegangen war, hatte ich Evan zu Emmas Grab begleitet, den Gräbern um mich herum aber kaum Beachtung geschenkt. In den anderen Stadtvierteln gab es ebenfalls Friedhöfe, doch keiner reichte an diesen hier heran. Die Bewohner des Nordviertels wollten auch im Tod nicht auf ihren Reichtum verzichten: Anstatt sich mit einem einfachen Grabstein zu begnügen, bestanden die meisten Gräber aus Mausoleen, größer als ich und mit derartig vielen Verzierungen ausgestattet, dass sie eher an Schatzkammern als an letzte Ruhestätten erinnerten. Ohne das Laub an den Bäumen und den Blumen zwischen den Gräbern wirkte der Ort vielmehr seiner Bestimmung entsprechend. Ein Schauer kroch über meinen Rücken, als ein Vogel von uns aufgeschreckt wurde und mit einem heiseren Krächzen wegflog. Im Winter waren Geister am stärksten.

Evan nickte verstehend. Es überraschte mich nicht, dass er geradewegs auf Emmas Grab zusteuerte, doch ich hatte mit einer anderen Idee gerechnet. Der Friedhof war nicht das schlechteste Versteck. Aber auch nicht das beste.

Emmas Grab war nicht auf Anhieb als solches zu erkennen. Es war ein runder Pavillon aus eng zusammenstehenden Säulen und einem kuppelförmigen Dach, der im Sommer von Efeu überwuchert gewesen war. Ich blieb unschlüssig draußen stehen, als Evan darin verschwand. Es gab wahrhaft bessere Zeitpunkte, um seine tote Frau zu besuchen.

Weit hinter mir schlug das Friedhofstor scheppernd zu. Ich fuhr zusammen, flüchtete in den Pavillon und sah verständnislos zu, wie Evan auf dem Boden herumtastete. »Was wird das?«

»Siehst du gleich.« Er schob ein Messer in die Kante zwischen zwei Steinplatten, fuhr darin herum und setzte es dann als Hebel ein.

Ich wich hastig zurück. Er wollte doch nicht wirklich Emmas Grab als Versteck nutzen, oder? Das war zu viel des Guten. Man durfte die Ruhe der Toten nicht stören, nicht einmal, um das eigene Leben zu retten.

Die Steinplatte hob sich so weit an, dass Evan sie wegziehen konnte. Darunter offenbarte sich ein düsterer Hohlraum, aus dem mir eisige Luft entgegenschlug.

»An der Wand sind Sprossen«, sagte er. »Geh runter, schnell.«

Ich rührte mich nicht von der Stelle. »Bist du wahnsinnig? Ich werde sicher nicht zu deiner Frau und eurem ungeborenen Kind ins Grab steigen!«

Evan verdrehte die Augen. »Das ist nicht ihr Grab, Liv – das ist weiter links, ungefähr da, wo du stehst. Vertrau mir bitte einfach und geh!«

Als ich ihm das letzte Mal einfach vertraut hatte, hatten wir einen Mörder belauscht und wären danach fast von dessen Komplizen getötet worden. Ich sah zwischen ihm und dem Loch hin und her. »Ich hoffe wirklich, dass ich das nicht bereuen werde.«

Die Sprossen waren aus Eisen und so kalt, dass ich zurückzuckte. Es ging tief hinunter. Als ich weit genug gekommen war, folgte Evan mir und zog die Platte über uns zu. Sie rastete klackend ein, umhüllte uns mit vollkommener Schwärze und ließ einige Erdklumpen herun-terrieseln. Ich schnappte nach Luft und klammerte mich fester an die Sprossen. Finsternis, so durchdringend, dass ich nicht unterscheiden konnte, wo die Schachtwände vor und hinter mir begannen. Wenn es etwas gab, vor dem ich mich aufrichtig fürchtete, war es das. In diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher als meine verzauberte Glaskugel, mit der ich Licht erzeugen konnte.

»Liv?«, fragte Evan. »Ich will dich nicht treten. Wo bist du?«

Ich atmete zitternd aus. »Immer noch da, wo ich vorhin war. Wie … wie weit ist es noch?«

»Nicht mehr weit. Du solltest fast da sein.«

Sprosse für Sprosse kämpfte ich mich weiter nach unten, fort von der letzten Lichtquelle. Zu der Angst vor der Finsternis gesellte sich die Furcht, eine Sprosse zu verfehlen und ins bodenlose Nichts zu stürzen.

Dann traf mein Fuß endlich auf festen Grund. Ich wich zurück, um Evan Platz zu machen und stellte fest, dass der Schacht nicht länger ein Schacht war. Die Wand hinter mir war verschwunden.

Ein dumpfer Aufprall verkündete Evans Ankunft. Er musste die Sprossen gezählt haben und das letzte Stück gesprungen sein.

Ich streckte die Hand aus, ertastete seinen Arm und krallte mich in seinem Ärmel fest. »Bitte sag mir, dass es hier unten irgendwo Licht gibt.«

»Erinnerst du dich an deine Glaskugel? Ich habe auf dem Schwarzmarkt einen Magier gefunden, der mir eine Handvoll davon verkauft hat.«

Das Klirren von Glas hallte durch die Dunkelheit, dicht gefolgt von einem schwachen Lichtschein. Evan drückte mir eine von den Kugeln in die Hand und nahm eine weitere, die sein Gesicht in gespenstisches Licht tauchte. Diese Kugeln waren anders als meine letzte; sie reagierten auf Berührungen. Ich strich mit dem Daumen über sie und sah zu, wie sich der Lichtradius vergrößerte. Er offenbarte einen schmalen Gang, der mitten in den Felsen gehauen worden war. Ein Gang, in dem ich schon einmal gewesen war – oder zumindest in einem sehr ähnlichen.

»Du hast gelogen«, sagte ich mit rauer Stimme. »Du treibst dich doch in den Tunneln herum.«

Evan zuckte mit den Schultern. »Du klingst überrascht. Willst du mir wirklich weismachen, dass du nicht darauf geachtet hast, ob ich Keldan und Skadi die Wahrheit gesagt habe?«

»Ja. Ich sagte doch schon, dass ich meine Gabe nicht mehr ständig einsetzen will. In dieser Situation wollte ich nicht dazu gezwungen sein zu überlegen, ob ich für dich lügen werde oder nicht. Ich habe nie versucht, herauszufinden, ob du die Wahrheit sagst«, fügte ich leiser hinzu. »Abgesehen vom ersten Tag, an dem wir uns begegnet sind.«

Evan sah mich schweigend an. Eine Mischung aus Überraschung und Unsicherheit huschte über seine Miene. »Mir war nicht klar, dass du mir so sehr vertraust … und es damals schon getan hast.«

So, wie du mir vertraut hast, dass ich dich nicht verraten würde, dachte ich. Aber es hatte keinen Sinn, das auszusprechen – er konnte mir den Gedanken ohnehin vom Gesicht ablesen.

»Es ist weniger eine Sache des Vertrauens als des Respekts. Es ist deine Entscheidung, in welchen Dingen du mir die Wahrheit sagst und in welchen nicht.« Ich wandte mich ab und sah wieder den Tunnel hinunter. Die Glaskugeln erhellten einen Bereich von vier bis fünf Schritt. Dahinter wartete schweigende Dunkelheit. »Wohin führt der?«

»Zu dem eigentlichen Tunnelsystem. Ich habe ihn durch Zufall entdeckt, als ich den Pavillon aufgeräumt habe.« Evan schien zu überlegen, ob er unseren vorigen Gesprächsgegenstand wieder aufnehmen sollte, ließ es aber bleiben und winkte mich stattdessen zu sich. In der Steinwand befand sich ein Hohlraum der Größe von drei dicken Büchern. Neben einigen weiteren Glaskugeln verbarg sich darin ein Per-gament, das Evan vorsichtig entfaltete.

Vom unteren Rand aus führte eine schwarze Linie nach oben, verzweigte sich dann und breitete sich langsam aus, etwa über den mittleren Teil des unteren Drittels. Ich zog scharf die Luft ein, als ich begriff, was ich da vor mir hatte. »Du erstellst eine Karte der Tunnel.«

»Ich versuche es«, schränkte Evan ein. »Die Wächter haben mit Sicherheit eine, aber an die komme ich nicht ran. Also muss ich eben meine eigene machen.«

»Aber warum?«, fragte ich. »Wofür brauchst du die? Warum bist du überhaupt wieder hier runtergekommen?«

Evan faltete das Pergament zusammen und schob es in seine Manteltasche. »Die Tunnel faszinieren mich. Ich will wissen, wer sie erschaffen hat, zu welchem Zweck, was sich in ihnen verbirgt. Um deine nächste Frage vorwegzunehmen: Wenn ich mich damit an die Wächter wenden würde, wäre es nicht das Gleiche. Ich weiß, dass ich mich an ihren Untersuchungen beteiligten könnte, wenn ich Keldan erst mal dazu überredet hätte. Aber dann würden sie mir wieder vorschreiben, wohin ich gehen darf – und wohin nicht. Das will ich nicht.«

4. SKADI

Skadi zweifelte, ob ihre Intuition auch nur halb so verlässlich war wie Keldans. Wenn er nichts an dieser Situation merkwürdig fand, warum ging es ihr dann anders? Das war für sie kein Anzeichen dafür, dass sie ausnahmsweise etwas vor ihm bemerkte, sondern dass sie noch nicht genug Zeit bei den Wächtern verbracht hatte, um all ihre Entscheidungen nachvollziehen zu können. Es gab mit Sicherheit einen berechtigten Grund, warum jahrzehntelang niemand etwas mit den Tunneln zu tun haben wollte und man Keldan und sie nun von einem Tag zum nächsten damit beauftragte, sich dort umzusehen.

Vermutlich hatten sich die Verantwortlichen früher nicht dafür interessiert und jetzt waren die Zuständigkeiten zu jemandem gewechselt, der das anders sah. Ja, das ergab deutlich mehr Sinn.

»Ungefähr hier soll jemand gesehen worden sein«, erklärte Morgan mit unbewegter Stimme. Er deutete auf die Verbreiterung des Tunnels vor ihnen, die etwa hundert Schritte im Durchmesser messen musste. Es war die größte, die sie bis jetzt betreten hatten, und sie erinnerte Skadi unangenehm stark an einen ganz ähnlichen Platz, auf dem sie gemeinsam mit Liv und Evan gegen die Helfer des Stein-Mörders gekämpft hatten. Sie waren knapp entkommen, doch dieses Erlebnis hatte Skadi deutlich gezeigt, dass sie lernen musste, sich zu verteidigen – so schnell wie möglich. Keldan hatte ihr inzwischen einige grundlegende Dinge beigebracht, aber ihr fehlte noch immer die Übung. Sie nahmen sich zu selten Zeit, um das Ganze zu trainieren.

Keldan drückte Morgan die Fackel in die Hand und begann, den äußeren Rand des Platzes abzuschreiten. Skadi schloss sich ihm nach kurzem Zögern an. Irgendetwas an den Wänden war anders als in den bisherigen Tunnelabschnitten, doch sie konnte nicht sagen, was genau. Der Boden war mit jenem alten Staub bedeckt, der nicht einmal dann Fußabdrücke zeigte, wenn man sie eben erst hinterlassen hatte.

»Glaubst du, diese Plätze hatten früher eine Bedeutung?«, fragte sie. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Erbauer der Tunnel nur ein bisschen Abwechslung in die schmalen Gänge bringen wollten.«

»Einen Zweck hatten sie mit Sicherheit«, antwortete Keldan. »Die Frage ist, welchen. Möglicherweise haben sie hier kleine Versammlungen abgehalten, geschlafen oder etwas gelagert.«

Skadi nickte. Daran hatte sie auch gedacht. »Aber müssten wir dann nicht Spur–«

Der Boden sackte so plötzlich unter ihr weg, dass ihr keine Zeit zum Schreien blieb. Sie riss die Hände hoch, griff nur in ein paar lose Erdklumpen, die mit ihr fielen, spürte die Leere unter sich und realisierte mit wachsender Panik, dass der Fall zu lange andauerte. Die Erde verschluckte sie, riss sie mit sich, würde sie am Boden zerschellen lassen wie ein rohes Ei. Jetzt drang doch ein Schrei in ihrer Kehle nach oben, viel zu spät, wie ihr schien. Er hallte hoch und schrill durch die Tunnel.

Dann riss etwas an ihrem Arm. Schmerz schoss durch Skadis Schulter, erstickte ihren Schrei und verwandelte ihn in ein Stöhnen. Der Fall war vorbei, doch sie lag nicht mit gebrochenen Knochen am Boden. Skadi öffnete zögernd die Augen. Was sie sah, hätte ihr beinahe einen weiteren Schrei entlockt. Sie hing irgendwo in der Luft, das Plateau, auf dem sie eben noch gestanden hatte, gute vier Pferdelängen über und seine gerade abfallende Kante unmittelbar vor ihr. Unter ihr war alles schwarz; unmöglich zu sagen, wo der Boden war.

Eine Stimme drang durch das Rauschen in ihren Ohren. Skadi hob den Blick weiter nach oben, zu der Ursache ihres schmerzenden Arms. Knapp über ihr flog Keldan. Seine dunklen Schwingen schlugen in einem schnellen Rhythmus auf und ab, um sie beide in der Luft zu halten. Er musste ihr hinterher gesprungen sein, um sie festzuhalten – das, was ein Wächter nun einmal tat, wenn er jemanden vor sich in einen Abgrund stürzen sah.

»Skadi«, sagte Keldan erneut. »Geht es dir gut?«

»Ja«, flüsterte sie, doch ihre Stimme brach und statt einer verständlichen Antwort brachte sie nur einen einzelnen zittrigen Ton hervor. Ihr Verstand hatte begriffen, dass sie nicht sterben würde, aber in ihrem Körper steckte noch immer Todesangst.

Als sie zum zweiten Mal zu einer Antwort ansetzte, ging erneut ein Ruck durch ihren Körper. Sie spürte, wie ihr Arm ein Stück durch Keldans Griff rutschte, ehe er seine Finger so fest schloss, dass sie glaubte, er würde ihr damit den Arm brechen. Ihr wurde mit Schrecken klar, dass das nicht lange halten würde. Ihre Jacke verhinderte, dass Keldan sie richtig festhalten konnte. Egal wie sehr er sich bemühte, sie würde weiter rutschen, Stück für Stück.

»Wir müssen … runter«, brachte sie mühsam hervor. »Schnell.«

Bevor es zu spät ist. Sie sprach es nicht aus, doch Keldan schien den gleichen Gedanken zu haben. Er warf einen abschätzenden Blick nach oben, als würde er überlegen, sie zurück auf das Plateau zu bringen. Skadi spürte, wie er versuchte, weiter nach oben zu fliegen. Der Zug an ihrem Arm wurde stärker, doch anstatt ihm nachzugeben, rutschte sie wieder ein Stück in die entgegengesetzte Richtung.

Keldan fluchte. Allein das war mehr als genug Grund zur Beunruhigung. Sie flogen gemeinsam zum Boden – oder zumindest dorthin, wo sie ihn vermuteten. Nach unten in die Finsternis zu sehen bereitete Skadi Unbehagen, doch der Blick nach oben, zu dem stetig kleiner werdenden Plateau über ihnen weckte Panik in ihr. Schließlich schloss sie wieder die Augen, atmete tief ein und aus und versuchte sich selbst einzureden, dass alles gut werden würde. Keldan würde sie nicht fallen lassen und dort unten würden sie einen Weg finden, der zurück nach oben führte. Der restliche Tunnel würde nicht über ihnen zusammenbrechen.

Ihre Füße erreichten festen Grund. Einen Augenblick stand sie aus eigener Kraft. Dann gaben ihre Beine nach und sie wäre zu Boden gesunken, wenn Keldan nicht plötzlich neben ihr gestanden und sie fest an sich gezogen hätte.

Skadi spürte seinen Herzschlag ebenso rasend wie ihren eigenen unter ihrer Wange und seinen raschen Atem in ihrem Nacken. Die Erinnerung, wie sie auf dem Fensterbrett ihres Turmzimmers balanciert und überlegt hatte, wie es wohl wäre, zu fallen und von einem der Wächter in der Nähe aufgefangen zu werden, schob sich in ihre Gedanken. Skadi drängte sie energisch zur Seite. Das war kein wünschenswertes Erlebnis. Für keine von beiden Seiten.

Tief in ihr sprudelte ein Lachen an die Oberfläche. Sie versuchte es zu unterdrücken, erreichte damit aber nur, dass ihre Schultern stumm bebten und sich das Lachen in Schluchzen verwandelte. Die Anspannung löste sich und floss aus ihr heraus, während Keldan sie festhielt. Sie hätte sterben können. Von einem Wimpernschlag zum nächsten. Nicht durch Unachtsamkeit oder das Verschulden von jemand anderem, sondern schlichtweg, weil der Boden beschlossen hatte, genau dann nachzugeben, wenn sie darüber lief.

Skadi wusste nicht, ob sie sich deshalb als Pechvogel bezeichnen oder doch glücklich schätzen sollte, weil sie das überlebt hatte.

»Danke«, murmelte sie schließlich.

Keldan lockerte seine Umarmung, ließ sie aber nicht vollständig los, als würde er befürchten, dass sie dann umkippte. »Keine Ursache«, erwiderte er mit rauer Stimme. »Dafür bin ich da.«

Irgendwo über ihnen lösten sich einige Steine und rollten begleitet von weiterer Erde nach unten. Staub rieselte auf Skadis Kopf. Sie trat hastig einen Schritt zurück, als ein größerer Schwall folgte. Weit über ihnen tauchten die Fackel und eine kleine Gestalt am Rand des Plateaus auf.

»Alles in Ordnung da unten?«, rief Morgan.

»Wir sind unverletzt«, antwortete Keldan mit einem Blick auf Ska-di. »Aber ich würde mich hier gerne etwas umsehen, bevor wir zurückkommen. Kannst du eine zweite Fackel hinunterwerfen?«

»Werfen?«, wiederholte Skadi. »Warum holst du sie nicht einfach?« Sie war froh, dass Morgan so lange mit der Nachfrage gewartet und Keldan darauf verzichtet hatte, ihren kurzen Zusammenbruch zu erwähnen, und sie zweifelte nicht daran, dass ihr Ablenkung im Moment am meisten helfen würde. Es wäre ihr dennoch lieber, erst einmal zurück an die Oberfläche zu gehen. Doch sie schwieg. Wenn Kel-dan sich nur kurz umsehen wollte, würde sie schon damit fertig werden. Falls nicht, konnte sie es ihm dann immer noch sagen.

Keldan sah konzentriert nach oben. Obwohl Morgan von der Kante verschwunden war – wohl um die Fackel zu holen – löste er den Blick keinen Augenblick davon. »Werfen geht schneller.«

Und es war wesentlich riskanter. Skadi konnte sich nicht vorstellen, dass die Fackel tatsächlich den Sturz überstehen konnte. Dafür schlich sich ein anderer Verdacht in ihre Gedanken und krallte sich darin fest. »Das war gelogen. Vielleicht geht es wirklich schneller, aber das ist nicht dein eigentlicher Grund.«

»Ja«, gab Keldan zu. Eine Erklärung, was dann dahintersteckte, gab er ihr nicht. Skadi versenkte unschlüssig die Hände in ihren Taschen und überlegte, ob sie noch einmal nachfragen sollte. Es gab nicht viele Gründe, warum Keldan nicht selbst nach oben fliegen und die Fackeln holen wollte, und sie noch dazu deshalb anlog.

Möglich, dass Keldan sie nicht allein lassen wollte, doch das hätte er ihr sagen können. Möglichkeit zwei beinhaltete, dass er es sich nicht zutraute, zurück zu dem Plateau zu fliegen, was Skadi unwahrscheinlich erschien. Blieb noch die Befürchtung, damit ihre bisherige Situation zu verschlimmern.

Skadi sah wieder die Wand entlang nach oben. Die anderen Tunnelwände hatten alle gewirkt, als wären sie direkt in den Felsen hin-eingeschlagen worden. Aber wenn das der Wahrheit entsprechen würde, müsste auch diese hier aus Stein bestehen. Der Boden hätte nicht unter ihr einbrechen und es hätte keine Erde auf sie hinabrieseln dürfen.

Morgan erschien wieder an der Kante, diesmal eine zweite Fackel in der Hand. Sie segelte in ihre Richtung und landete unmittelbar vor Keldan, der sie mit einem Feuerstein entzündete. Das Licht bestätigte Skadis Vermutung; die Wand vor ihnen bestand nicht aus Stein, sondern Erde. Sie fuhr mit dem Fuß über den unebenen Steinboden und spürte, wie eine Gänsehaut über ihren Körper wanderte. »Hier stimmt etwas nicht, Keldan.«

Er hatte ihr den Rücken zugedreht und sich einige Schritte entfernt. »Ich weiß. Sieh dir das hier mal an.«