E.T.H.I.K. - Manfred G. Valtu - E-Book

E.T.H.I.K. E-Book

Manfred G. Valtu

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Beschreibung

Martin Voss verteidigt den von der N'drangheta in die LIGA geschleusten Trasmettitore. Von seinem Freund Rainer erfährt er von einem Goldschatz. Bevor er weitere Informationen erhalten kann, wird Rainer Reusch ermordet. Er hat jedoch schriftliche Hinweise hinterlassen. Diese führen Voss auf eine lebensgefährliche Reise mit Stationen in Schweden, Trier, Luxemburg und Norwegen. Die BKA-Agenten Anna und Singer haben hinsichtlich der Identität des "General" einen bestimmten Verdacht. Sie bringen Voss dazu, den Lockvogel zu spielen. Er erhält eine Legende und taucht in Schweden unter. Wie beabsichtigt, hält die Tarnung nicht. Die Zielperson entdeckt ihn und es kommt zu einer letzten Begegnung. Sie verläuft jedoch anders als geplant ...

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Seitenzahl: 309

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Thriller

© 2020 Manfred G. Valtu Autor: Manfred G. Valtu

Umschlag, Illustration: Holylake-Studio-Berlin (HLSB)

Verlag & Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN Paperback         978-3-347-16788-9

ISBN Hardcover         978-3-347-16789-6

ISBN e-Book                978-3-347-16790-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Die handelnden Personen sowie ihre Namen sind frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Personen sind weder beabsichtigt noch dem Autor bekannt.

Orte und Institutionen sind zum Teil erfunden, zum Teil existieren sie wirklich, sind teilweise aber verändert oder verfremdet.

Handelnde Personen

Martin Voss

Rechtsanwalt (RA) in Berlin

Jessica Voss

Seine Ehefrau

Dr. Maaß-Regnier

Ihr behandelnder Arzt

Rosemarie (Rosy) Jordan

Berliner Verfassungsschutz, Ref IIC, Freundin von Jessica

Dr. Lüdecke

Ihr neuer Chef

Georg Nielsen

Leiter der Abt. SO (schwere und organisierte Kriminalität, auch mit Auslandsbezug) beim BKA

Singer

Agent für Spezialaufgaben in der Abt. SO beim BKA

Anna

Agentin für Spezialaufgaben beim BKA

„Caro“ Sievers

Agentin Abt. OE des BKA

Hans Sievers

Ihr Bruder

OStA Müller

Oberstaatsanwalt, Abteilungsleiter (AL)/Gruppenleiter (GL) der KAP-Abt. der Staatsanwaltschaft Berlin

StA Peter

Staatsanwalt in dessen Abtlg.

KHK Wildenbruch

Kriminalhauptkommissar und Leiter der 3. Mordkommission (MK) des Landeskriminalamtes (LKA) Berlin

KK'inzA Boese

Kommissarsanwärterin 3.MK

Agnes Winter

Rechtsanwältin in Berlin

Falk Schröder

Undercover-Ermittler beim BKA

Rainer Reusch

Freund von Schröder und Voss

Willibald Clemm

Journalist

 

   u.v.a.

für

LISA

PROLOG

Die Lichtspiegelungen im regennassen Asphalt führten einen wilden Tanz auf. Der Trasmettitore duckte sich schwer atmend in eine dunkle Hausecke. Der Regen hatte das Trommeln seiner Schritte geschluckt, aber auch das seiner Verfolger. Er wusste, wenn sie ihn erwischten, wäre er verloren.

Und sie erwischten am Ende Jeden.

Dabei hatte er doch Alles versucht. Aber das zählte bei seiner Cosche nicht. Er hatte zu liefern. Doch die LIGA hatte sich offenbar aufgelöst. Denn seit mehr als einem Jahr hatte er keinen Auftrag mehr erhalten. Nicht nur, dass er keine Gelder mehr nach Hause hatte schicken können. Das war nicht das Entscheidende. Vielmehr war es ihm nicht gelungen, tiefer in die Struktur der LIGA einzudringen, um für die N'drangheta neue Geschäftsfelder zu erschließen.

Einzig zu diesem Zweck war er seinerzeit von seiner „famiglia“ aus der Heimat „beurlaubt“ worden. Der Padre hatte sich vorgestellt, viel Geld bei den an dem illegalen Femegericht Beteiligten abzuschöpfen. Eine sichere Sache: Denn von denen würde sich keiner der Polizei offenbaren.

Er hatte auch schon einen neuen Namen für die Organisation kreiert: TROCI sollte sie heißen, gebildet aus den Anfangsbuchstaben der Begriffe Terrore (Terror), Ricatto (Erpressung), Odiare (Hass), Confusione (Konfusion) und Infiltratione (Infiltration).

Der Padre war jedoch unzufrieden, als er erfuhr, dass der Begriff TROCI aus dem Polnischen stammte und eine trota di mare (Meerforelle) bezeichnete. Die deutschen Begriffe, in eine sinnvolle Reihenfolge gebracht, hatten ihn hingegen überzeugt.

„Das passt,“, hatte er gesagt. „Wir folgen immer unserer 'etica'. So soll unsere Organisation heißen.“

So war der Name E.T.H.I.K. entstanden.

Dass sich in einer brandenburgischen Kleinstadt zwischenzeitlich eine ultrarechte militante Gruppierung mit demselben Namen gebildet hatte, hatte der Padre, nachdem er die Bedeutung erfuhr, die diese Gruppe in das Wort gelegt hatte, beiseite gewischt.

„Sollen sie doch“, hatte er gesagt. „Deren Grundsätze 'Ehre, Treue, Heimatliebe, Identität und Kameradschaft' widersprechen unseren doch nicht.“

Schließlich hatte der Padre mit ihm mehr Geduld gezeigt, als der Trasmettitore erwartet hatte.

„Schau bello“, hatte er bei dem letzten Treffen gesagt und ihm dabei väterlich die Hand auf die Schulter gelegt, „wir brauchen das neue Geschäftsfeld nicht wirklich. Aber“, hatte er sinngemäß in seiner Muttersprache hinzugefügt und dabei seine langen Fingernägel schmerzhaft in das dünne Schulterfleisch gedrückt, „wenn wir einmal ein solches gefunden und begonnen haben, es uns einzuverleiben, dann bekommen wir es auch! Capisce? Allora avanti: Folge der Spur des Esecutore, dann wirst du wissen!“

Und wie er dem Esecutore gefolgt war. Mehr als einmal hätte er beinahe die Spur verloren. Der war ja ewig unterwegs. Und immer in den hohen Norden, nicht einmal in die Richtung seiner geliebten italienischen Heimat, die er so vermisste.

Aber all die Erkenntnisse, die er über den Typen herausgefunden hatte, hatten ihn überhaupt nicht weiter gebracht. Was sollte er auch davon halten, dass der einerseits – offenbar als Deckung – eine Privatdetektei betrieb, andererseits aber mit zwei BKA-Leuten gemeinsame Unternehmungen durchführte. Ganz offensichtlich diente sein Job als Vollstrecker der Entscheidungen der LIGA verdeckt geführten Ermittlungen. Und er, der Trasmettitore und seine Verbindung zu ihr, waren somit der deutschen Bundespolizei bekannt.

Das durften seine Cosche und der Padre auf keinen Fall erfahren. Er würde, da die Behörden von seiner Beteiligung wußten, auffliegen. Wer aber Gefahr lief, entdeckt zu werden, war ein toter Mann.

So hatte er hinhaltende Berichte nach Hause gemeldet. Doch irgendein Vögelchen hatte gesungen. Er hatte keine Ahnung, wer ihn verraten hatte. Die Warnung aber war unmissverständlich gewesen und hatte nur aus einem Satz bestanden:

Denke an deine Bambini.

Die ungeschriebenen Gesetze der Organisation: Nicht er selbst war in unmittelbarer Todesgefahr. Die Strafe war ja viel spürbarer, indem man das Liebste, was der „Verräter“ hatte, bedrohte oder umbrachte. Erst wenn das Leid nicht mehr steigerbar war, wurde man „erlöst“.

Er musste es schaffen, seinen Bruder zu erreichen. Der sollte seine Frau und die beiden Kinder nach Deutschland bringen. Er würde dafür sorgen, dass sie hier in Sicherheit leben könnten.

Sein Atem hatte sich beruhigt. Ob er es wagen könnte, aus seiner Deckung zu kommen? Oder sollte er gleich hier versuchen, seinen Bruder anzurufen? Bestimmt überwachten sie sein Mobilphon und sicherlich auch die Telefonanschlüsse seiner Familie. Das war nicht der richtige Weg.

Er brauchte einen Boten, einen, der unverdächtig war. Da kam nur einer in Frage: Dieser Anwalt, wie hieß der noch gleich? Voss! Es würde nicht unlogisch wirken, wenn er den Anwalt, der ja irgendwie in die Angelegenheiten der LIGA involviert war, aufsuchen würde. Dabei konnten sie ihn ruhig beobachten.

Er besah sich die Hauseingangstür, neben der er im Schatten stand. Sie hatte keine Klinke, war aber alt und schloss nicht bündig ab. Er drückte leicht dagegen. Sie hatte Spiel in der Falle. Der Trasmettitore nahm sein Einhandmesser, ließ die Klinge aufspringen, schob sie gegen den Schnapper und drückte gleichzeitig in Höhe des Schlosses gegen die Tür. Mit einem klackenden Geräusch sprang sie auf.

Er steckte das Messer wieder ein und schob sich lautlos in den Hausflur. Die Tür ließ er langsam zurückgleiten, bis sie wieder einschnappte. Dort verharrte er ein paar Sekunden, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Geradezu befand sich eine Treppe. Rechts davon führte ein Gang zu einer Hintertür, vorbei an diversen, an der rechten Wand hängenden Briefkästen. Er ging zu der Tür. Sie war unverschlossen und führte in einen Hinterhof, der von einer etwa drei Meter hohen Mauer, vor der mehrere Müllcontainer standen, begrenzt war.

Der Trasmettitore bestieg einen der Container und lugte über die Mauer. Wie erwartet war dort ein Fussweg, der an Miethäusern entlang zu einer Nebenstraße führte.

Er schwang sich auf die Mauer, wartete einen Moment und sprang dann auf der anderen Seite hinunter. Ohne sich umzusehen lief er den Fussweg bis zur Straße und wandte sich dann nach rechts. Ständig die Umgebung beobachtend erreichte er schließlich über die Stromstraße den Hintereingang der Botschaft, schlüpfte hinein und lief die Treppe hinauf bis zu der kleinen Kammer, von deren Existenz die Cosche – hoffentlich – nichts wusste.

Morgen würde er die Kanzlei des Rechtsanwalts aufsuchen. Der musste ihm helfen. Dann würde alles gut werden.

§§§§§§§§

ERSTERTEIL

§§

KAPITEL 1

Sorgfältig erkundete er die Umgebung. Auf einer Parkbank in Berlin-Tiergarten sollte er seinen Führungsoffizier treffen. Sie hatten ihn extra nach Berlin beordert. Das kam ihm seltsam vor. Bisher waren die wenigen Treffen in so genannten „sicheren Häusern“ oder in einer Waldgegend in Brandenburg erfolgt. Und nun so etwas? Und so viel Neues hatte er von der rechtsnationalen Gruppe, in die er eingeschleust worden war, nicht zu berichten.

„Ehre, Treue, Heimatliebe, Identität und Kameradschaft“, verbunden mit Ausländerhass im Allgemeinen und Judenhass im Speziellen waren die typischen Grundzüge, die sie mit anderen ähnlichen Gruppierungen teilte.

Wie er mittels entsprechender – meist sehr alkohollastiger – Gespräche mit bis in die Führungsebene reichenden Gesprächspartnern erfahren hatte, gehörten jeweils ein höherer Mitarbeiter des Verfassungsschutzes und des BKA der Gruppierung an und unterstützten deren Ziele. So waren die Erkenntnisse, die die beiden Behörden über die LIGA mit den Namen „L.O.G.I.K.“ und „P.A.N.I.K.“ hatten, als Informationen in die Führungsebene von „E.T.H.I.K.“, wie sie sich nach den Anfangsbuchstaben ihrer Grundsätze nannte, gelangt.

Das alles war nicht neu. Auch die Idee, die Struktur und Logistik der LIGA für ihre Zwecke zu übernehmen, war bekannt.

Gut, die Nervosität innerhalb der Gruppierung war gestiegen. Ihr Ziel, die demokratische Bundesrepublik Deutschland abzuschaffen und – ohne konkrete Vorstellungen wie – durch ein totalitäres Regime zu ersetzen, war ins Wanken geraten. Denn der Zerfall der LIGA und damit der Verlust der Strukturen und der Personen, die deren tragende Säulen waren, ließ eine „feindliche Übernahme“ als wenig aussichtsreich erscheinen.

Und dass – wie gerüchteweise bekannt geworden war – eine Mafia-Organisation möglicherweise dasselbe Ziel hatte, ließ einige doch sonst scheinbar so mutige Mitglieder sehr zurückhaltend werden.

Sein letzter Bericht über die verstärkte Aktivität der „Maulwürfe“ hatte verständlicherweise bei der Abteilung des BfV, für die er eingesetzt war, neue Aufregung verursacht. Ihm selbst war schon lange klar, dass diese auch unmittelbar für ihn eine Gefahr darstellten. Denn sollte versehentlich einer der Verräter die Liste der V-Leute zu Gesicht bekommen, wäre er enttarnt.

Die Abteilung seines Führungsoffiziers musste also dafür sorgen, dass dies auf keinen Fall geschehen könnte, andererseits aber verhindern, dass der in ihren Reihen arbeitende Verräter misstrauisch würde.

„Und was, wenn der längst bescheid weiß und mich in Sicherheit wiegen will?“, fragte er sich halblaut.

Nun, er würde das mit „Herrn Lehmann“ erörtern.

Wenn es nicht eine Falle war.

Nachdem er zuvor vom Spreeweg aus einen „Spaziergang“ bis in die Straße des 17. Juni unternommen hatte, war er zu der Position an der Ecke Großer Stern zurückgekehrt. Von dort sah er, dass Lehmann bereits auf der Bank saß.

Das war nun noch ungewöhnlicher als sonst. Bei den wenigen Treffen war Lehmann immer erst nach einiger Zeit dazu gekommen, nie als erster da gewesen.

Falls das eine Falle war, würden er oder mindestens der Treffpunkt beobachtet werden.

Er beschloss, zunächst wie ein Spaziergänger an der Bank vorbei zu gehen. Um einen schlendernden Gang bemüht, betrachtete er dabei scheinbar das sich langsam verfärbende Laub der Bäume und Sträucher. Dabei sondierte er die Umgebung unter dem Aspekt des günstigsten Verstecks für die Beobachtung der Bank. Gleichzeitig erkundete er, ob von dem dort Sitzenden irgendeine Reaktion erfolgte.

Lehmann blieb jedoch bewegungslos sitzen und blickte stoisch geradeaus.

Wenn er den Beobachtungspunkt hätte auswählen müssen, hätte er sich für die rechts von der Bank in etwa zwanzig Meter Entfernung befindliche Hecke entschieden.

Der V-Mann ließ aus seiner rechten Jackentasche wie versehentlich eine Packung Papiertaschentücher fallen. Das war eine der verabredeten Aktionen, für die es eine bestimmte „Antwort“ geben sollte (Hier naheliegend: Hallo, Sie haben da etwas verloren).

Doch nichts erfolgte.

Nach ein paar Schritten hatte er scheinbar den Verlust bemerkt, drehte sich um und ging das kleine Stück zurück. Er bückte sich, hob die Packung auf und musterte dabei den Mann auf der Bank.

Der saß unverändert da.

Er verspürte ein Kribbeln, das von Höhe Steißbein langsam den Rücken hochzog und in eine Gänsehaut im Nacken mündete.

„Hallo“, rief er, „Geht es Ihnen gut? Haben Sie ein Problem?“

Keine Reaktion. Die Augen blickten starr geradeaus, Kein Wimpernschlag.

Ihm wurde klar: Sein Führungsoffizier war tot.

„He, Mann, was ist mit dir?“, rief er und ging zu der Bank. Jetzt, aus der Nähe, sah er die unnatürlich steif-gerade Haltung des Sitzenden. Er berührte ihn leicht an der Schulter – es war, als wäre der an der Banklehne festgeschnallt.

Er warf einen Blick auf die Rückseite: Zwei schwarze Messergriffe ragten in Höhe der Schulterblätter aus dem Rücken des Toten und waren mit zwei Doppelwinkeln in die obere Querstrebe der Banklehne eingehakt.

An einem der Messergriffe hing ein Zettel. Er las:

Du bist der Erste.

Wenn wir euch übernehmen, geht es den anderen genauso.

Das ist unsere ETHIK!

Sie waren aufgeflogen!

Der V-Mann duckte sich hinter die Bank, nahm sein Prepaid-Handy, wählte eine für solche Fälle vorgesehene Nummer und gab durch: „Die Ente ist bratfertig. Der Jäger wartet im Hochsitz.“

Er ließ das Smartphone etwa zwei Minuten aktiv. Die Zentrale würde seinen Standort scannen und alles Weitere veranlassen.

Sofort danach schaltete er das Gerät aus, öffnete es, entnahm die SIM-Card, zerbrach sie, steckte die Teile ein, installierte eine neue, aktivierte das Handy und ließ es in die rechte Jackentasche gleiten. Aus seiner geduckten Haltung beobachtete er die Buschlinie. Etwas blitzte metallisch. „Könnte ein Waffenlauf sein“, dachte er.

Sollte er auf Verdacht einen Schuss abgeben? Und wenn es nur ein Dealer war, der dort seine Drogen bunkerte?

Er zog aus seinem Gürtelhalfter die Beretta und schraubte eilig den Schalldämpfer an.

Sodann griff er zu einem uralten Trick: Er zog seine Jacke aus und schob sie am Boden seitlich von der Bank weg. Er hoffte, dass es aus der Entfernung so aussah, als robbe er vom Tatort weg.

Es klappte. Ein gedämpfter Schuss fiel und seine Jacke hatte ein unschönes Loch.

Er sprang hoch und schoss viermal in die vermutete Richtung. Ein unterdrückter Schmerzenslaut gab ihm die Gewissheit, getroffen zu haben.

Er wartete, nichts rührte sich.

Er musste weg. Es war nicht auszuschließen, dass irgendjemand das Geschehen beobachtet und die Polizei gerufen hatte.

Gerade als er seine Jacke nehmen wollte, hörte er von seitlich hinten ein Knacken. Er fuhr herum, warf sich auf die Seite und sah einen Mann auf sich zutaumeln, den er aus der „Soldatenebene“ der Gruppe kannte. Bevor dieser das Kleinkalibergewehr auf ihn anlegen konnte, schoss er zweimal. Die Schüsse trafen den Mann tödlich ins Herz.

Er schnappte sich seine Jacke, wickelte sie um die Pistole – der Lauf war zu heiß, um den Schalldämpfer abzuschrauben und Waffe und Dämpfer einzustecken – und entfernte sich in Richtung Park. Aus der Ferne hörte er Polizeisirenen.

Es war höchste Zeit, das geheime Refugium aufzusuchen.

§

Bevor die Streife, die als erste am Tatort eingetroffen war, die zuständige Mordkommission hatte einschalten können, waren Agent Singer vom BKA und Dr. Lüdecke vom Referat IIC des Berliner Verfassungsschutzes vor Ort. Singer erklärte den Polizeibeamten, dass sie die weiteren Ermittlungen und die Tatortarbeit übernehmen und die Kollegen vom LKA informieren würden. Ihren Einsatzbericht erwarte er bis zum nächsten Morgen.

Anschließend verständigte Singer das sogenannte „Abräumkommando“. Weder seine Dienststelle noch Dr. Lüdecke hatten ein Interesse daran, dass das LKA in dieser die Arbeit des BKA und des Verfassungsschutzes sensibel berührenden Angelegenheit ermittelnd tätig würde.

Ihr V-Mann sollte unbekannt bleiben. Ihn würden sie sicherlich noch anderweitig einzusetzen haben.

§§§§§§§§

KAPITEL 2

Es war exakt 8.00 Uhr. Die Sekretärin von Rechtsanwalt Voss hatte gerade ihren Arbeitsplatz erreicht, als jemand an der Kanzleitür klopfte. Soweit sie es in Erinnerung hatte, lag für heute Vormittag keine Anmeldung vor.

Sie hängte ihre Handtasche über die Stuhllehne, holte ihr Smartphone heraus und öffnete die Tagesanzeige. Erst für 16.00 Uhr war eine Mandantenbesprechung eingetragen.

Erneut pochte es, diesmal etwas stärker. Martin Voss kam aus seinem Zimmer.

„Oh, Sie sind schon da?“

„Ich muss gleich zu einem Termin und wollte mir vorher noch die Unterlagen anschauen. Die waren noch nicht eingescannt.“ Der leicht tadelnde Unterton war nicht zu überhören.

„Das wollte ich auch heute gleich als Erstes machen. Der Termin ist doch erst um 10.30 Uhr.“

„Sie wissen doch, ich mag keinen Zeitdruck. Aber ist ja auch kein Problem. Die Akte war noch sehr dünn. Die Staatsanwaltschaft wird die Sache sowieso noch einmal an die Polizei zu weiteren Ermittlungen zurück geben. Und vorher werde ich keinen Richter finden, der den Kerl rauslässt.“

Wieder pochte es, diesmal sehr laut.

„Ich gehe schon, Frau Weber. Mal sehen, wer da so ungeduldig ist.“ Martin Voss verließ das Vorzimmer, lief den Gang entlang und fragte durch die noch geschlossene Tür „Wer ist da?“

Mit einem Akzent, den Martin als italienischer Herkunft erkannte, hörte er einen Mann sagen: „Ich habe eine dringende Nachricht für Sie.“

„Dann stecken Sie sie durch den Briefschlitz. Die Praxis ist noch geschlossen.“

„Ich brauche eine Bestätigung, dass ich die Nachricht abgegeben habe.“

Martin zögerte. Seit den letzten Geschehnissen war er misstrauisch und sehr vorsichtig geworden. Er kam sich manchmal schon paranoid vor, aber ohne seine Walther bewegte er sich nicht mehr außer Haus. So nahm er die Pistole in die linke Hand, stellte sich seitlich von der Tür auf, und betätigte den elektronischen Türöffner.

Vor der Tür stand ein etwa 1.60 Meter kleiner Mann, der, als er die Pistole in Martins Hand sah, einen Schritt zurück wich. „No, no, scusi, lasca mi, sono para …“ Weiter kam er nicht, denn Martin packte ihn am Hemdkragen und zog ihn in den Flur. Er warf die Tür zu, drückte den Mann gegen die Wand und trat dann einen Schritt, die Waffe immer noch auf ihn gerichtet, zurück.

„Also“, sagte er, „was für eine Nachricht?“

§§§§§§§§

KAPITEL 3

Der „General“ lehnte sich zurück. „Wir sind fast am Ziel“, sagte er.

In dem abgedunkelten und fensterlosen Raum stand die Luft. Agent Singer hätte einiges dafür gegeben, wenn er ein Fenster zum Lüften hätte öffnen können.

Als könne er Gedanken lesen, meinte sein Gegenüber: „Unsere Zeit hier drin ist begrenzt. Aber der Raum ist absolut abhörsicher. Darauf kommt es an!“

Zum wiederholten Male versuchte Singer, die technisch verstellte Stimme zuzuordnen. Bei allen Treffen und Telefonaten kam ihn eine Ahnung an. Die Grundstruktur der Stimme kam ihm bekannt vor. Aber es gelang ihm einfach nicht, sie beziehungsweise ihren Urheber zu erkennen. Das Gerät, mit dem man Stimmen, auch wenn sie verstellt waren, entschlüsseln konnte, war zu auffällig. Der „General“ hätte es ihm sofort abgenommen. Das Gesicht hatte der Gesprächspartner maskiert und er vermied jegliche charakteristische Bewegung, die ihn hätte verraten können. Aus dem von Zeit zu Zeit erfolgenden Vor- und Zurücklehnen war nichts zu entnehmen. Und schließlich hatte seine Drohung, die Zusammenarbeit sofort zu beenden, wenn man etwa versuchen wollte, seine Identität zu erforschen, Wirkung gezeitigt.

„Mit dem Kappen der Verbindung zwischen Innenministerium und der BKA-Leitungsstruktur haben wir wie beabsichtigt die Regeneration der L.O.G.I.K. verhindert und P.A.N.I.K. als leere Hülle belassen können“, fuhr der „General“ fort. „Leider ist mit dem Eindringen der N'drangheta eine schwer zu beherrschende Komplikation eingetreten.“

„Der Abgesandte der Mafia-Organisation hat sich an Voss gewandt. Zwar ist der an seine Schweigepflicht gebunden, wird aber durch die zusätzlichen Informationen, die er von diesem Mandanten erhält, noch mehr die Zusammenhänge, auch die Rolle seines Kumpels Schröder, erkennen. Ich habe immer schützend die Hand über ihn gehalten, sehe ihn aber immer mehr als Gefahr für unseren Plan an.“

„Ihre Sorgen sind unbegründet. Voss ist nicht das Problem. Er ist in der Sache in vielerlei Hinsicht derart eingebunden, dass er keine Zeit und Gelegenheit haben wird, uns in die Quere zu kommen. Dennoch haben wir keine Wahl: Um eine Übernahme durch die N'drangheta in jedem Fall zu verhindern, muss Alles sofort auf den Tisch! Sämtliche Mitglieder des Führungszirkels bis zu den Leitern und Außendienstlern der Außenstellen müssen entweder offen gelegt oder neutralisiert werden.“

Er machte eine Pause.

„Das ist zu bedauern. Ich hätte die Struktur gern erhalten, sie schlafen lassen und – sofern nötig – für spätere Aufgaben reaktiviert. Ihr Laden ist zu unflexibel, um auf staatszersetzende Umtriebe zu reagieren. Aber das Risiko wäre zu groß.“

Er atmete tief ein und stieß die Luft kräftig aus. Singer nutzte die erneute Pause und stellte endlich die Frage, die ihm schon lange unter den Nägeln brannte: „Was ist mit dem Minister? Soll er verschont bleiben? Immerhin hat er damals die Sache mit seinem persönlichen Referenten mitbekommen. Er könnte sich verquatschen und die Regierungskrise verschärfen.“

„Darum kümmere ich mich persönlich. Er wird, wenn mein Plan funktioniert, dazu keine Gelegenheit mehr haben.“

Entgegen seiner Gewohnheit beugte sich der „General“ weit vor, so dass Singer hinter der Maske einen Haaransatz sehen konnte.

„Sie haben eine herausragende Rolle bei der komplexen Angelegenheit gespielt. Sie sind ein guter Mann!“ Er senkte die Stimme. „Ich habe eine persönliche Bitte: Sie erwähnten bereits diesen Anwalt. Ich habe ihn beobachtet. Er verdient es, gut behandelt zu werden. Kümmern Sie sich weiter um ihn. Selbst wenn er mit noch so außergewöhnlichen Ansinnen kommen sollte, helfen Sie ihm nach Möglichkeit bei der Lösung.“

Singer nickte. Seine Synapsen klickten in rasender Geschwindigkeit. Nur einer konnte ein persönliches Interesse an Voss' Wohlergehen haben. Wenn seine Vermutung, dass Agent Schröder selbst der „General“ war, zutreffen sollte, dann hatte die Person, die ihm gegenüber saß, in Nichts eine auch nur entfernte Ähnlichkeit mit diesem. Aber wer sonst sollte es sein?

„Sie sind auf dem Holzweg“, hörte er seinen Gesprächspartner sagen. „Vergessen Sie es einfach. Wofür wäre es wichtig, mich zu kennen? Wichtig ist nur, dass ich alles erkenne. Und bisher sind Sie doch mit allen meinen Vorschlägen gut gefahren, oder?“

Singer musste unwillkürlich lächeln. „Vorschläge ist gut“, dachte er. „Es waren wohl doch mehr Anordnungen.“

„Sie haben recht“, sagte er laut. „Aber wenn alles vorbei ist, werde ich versuchen, Sie zu kriegen!“

„Sie irren. Es wird nie vorbei sein. Genauso wie es immer Straftaten aller Art geben wird, wird es auch immer organisierte Kriminalität geben. Der Kampf hört niemals auf! Aber …“, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu, „…ich werde mich zurückziehen. Ich bin des Kämpfens müde. Man wird in diesen Abgrund hinein gezogen und weiß irgendwann nicht mehr, ob man noch auf der richtigen oder falschen Seite steht.“ Er lehnte sich wieder zurück. „Doch Schluss jetzt. Ich denke, wir haben alles besprochen.“

„Wie erfahre ich, was mit dem Minister geschehen soll?“

„Aus der Presse. Machen Sie's gut.“

Mit diesen Worten rollte der „General“ zurück ins Dunkel. Singer stand auf und verließ durch die Vordertür den Raum. Die sonst abgestanden wirkende Luft auf dem Flur kam ihm derart frisch vor, dass er einen tiefen Atemzug nahm.

§§§§§§§§

KAPITEL 4

Martin Voss öffnete das Gartentor. Der starke Wind, der an diesem nasskalten Oktobertag kräftig wehte, schlug es ihm fast aus der Hand.

Es hatte lange gedauert, bis sich ernsthafte Kaufinteressenten gefunden und für das Haus entschieden hatten. Es war zwar top gelegen, luxuriös ausgestattet und der Garten mit knapp 1500 Quadratmeter ideal für Leute mit Kindern. Aber es war eben auch schon mehr als zwanzig Jahre alt, war teilweise renovierungsbedürftig und entsprach energetisch nicht den neuesten Vorgaben.

Aber letztlich hatte es – wie immer über den Preis – dann doch geklappt.

Ihm war klar, dass er das Haus das letzte Mal betreten würde. So stieg er die vier Stufen zum Hauseingang hinauf wie er es über zwei Jahrzehnte fast täglich getan hatte. Wie immer drehte der Schlüssel im Schloss der Eingangstür mehrmals durch, bis er fasste und der Schlossmechanismus das Öffnen der Tür ermöglichte.

Das einfallende diffuse Licht gab den Blick auf eine helle Stelle der gegenüber liegenden Wand des Windfangs frei, an der der Garderobenschrank gestanden hatte. Er öffnete zügig die nur eineinhalb Schritte entfernte Tür und betrat die Diele. Sein Blick erfasste das Wohnzimmer, das sich in Blickrichtung zu dem ringsum verglasten Wintergarten öffnete. Obwohl er alle Details kannte, betrachtete er jede Einzelheit des von den Möbeln, die früher hier gestanden hatten, leer geräumten Raumes, als müsste er sich diese neu einprägen.

„Ich hätte nicht noch einmal herkommen sollen“ murmelte er. „So ein Abschied ist deprimierend.“ Dennoch verließ er das Haus nicht sofort. Vielmehr wandte er sich nach rechts, vorbei an dem früheren Arbeitszimmer seiner Frau und durchschritt den Übergang zum hinteren Flur. Von hier ging er, ohne einen Blick hinein zu werfen, weiter an den beiden links liegenden Zimmern vorbei, ließ auch die beiden rechts liegenden Badezimmer unbeachtet und fand sich, dessen erst jetzt bewusst werdend, im am Ende des Hauses liegenden ehemaligen Schlafzimmer wieder.

„Was zum Teufel will ich hier?“, murmelte er vor sich hin. Er wandte sich abrupt um und richtete seine Schritte zu der aus dem Gästezimmer führenden Terrassentür, öffnete sie und trat hinaus. Der Swimming-Pool hatte sich mit Regenwasser gefüllt. Da die Umwälzpumpe längst nicht mehr in Betrieb war, war es undurchsichtig und die Wasseroberfläche schimmerte grünlich.

Wieviel Zeit war seit dem Anschlag vergangen, der sein und Jessicas Leben komplett aus der Bahn geworfen hatte? Es schien eine Ewigkeit zu sein, ein anderes Leben, eine andere Welt. Er dachte daran, wie er mehrere Tage und Nächte auf der Intensivstation des Klinikums verbracht hatte, wie sie im Koma gelegen hatte und die Ärzte ihm zunächst keine Hoffnung machen konnten, dass sie jemals wieder aufwachen würde.

Der von der Staatsanwaltschaft beauftragte und Martin Voss aus diversen Strafverfahren bekannte Leiter der Gerichtsmedizin hatte auf seine Frage nach den Untersuchungsergebnissen nur mit den Schultern gezuckt. „Verdacht auf Herzversagen infolge elektrischen Schocks mit anschließendem multiplen Organversagen, Unterversorgung des Gehirns, irreversibler Schädigung des zentralen Nervensystems.“ Der vorübergehende Todeseintritt sei komplexem Versagen der lebenserhaltenden Körperfunktionen, letztlich einem Herzstillstand, geschuldet.

Dem Professor war sichtlich unwohl, diese Auskünfte zu geben, da Martin zu diesem Zeitpunkt zum Kreis der Verdächtigen des gegen Unbekannt eingeleiteten Ermittlungsverfahrens gehört hatte. „Sie hat nicht gelitten“, hatte der Rechtsmediziner noch hastig hinzugefügt und sich wegen dringender Termine entschuldigt.

Nun stand Martin Voss hier, schaute auf das trübe Wasser und sah vor seinem geistigen Auge seine Frau am Poolrand liegen, behandelt von Notarzt und Rettungskräften. Er sah, wie sie, die Hand nach ihm ausstreckend, den Mund öffnete und Worte formte, die das Rätsel der gewaltsam versuchten Tötung lösen könnten – aber sie drangen nicht zu ihm durch.

Er wischte sich mit der Hand über das Gesicht und vertrieb so den Spuk. Kopfschüttelnd drehte er sich um, schloss die Terrassentür und wollte das Haus verlassen, als er ein Geräusch hörte. Es war ein Klirren, leise, aber hörbar.

Martin Voss verharrte still und wartete. Da war es wieder, undefinierbar. Wo kam es her? Er bewegte sich lautlos zum Gang. Hier war das Geräusch ein wenig deutlicher zu hören. Als es das nächste Mal klirrte, konnte er es orten: Es kam aus dem Keller.

„Was zum Teufel ist das?“ Er konnte sich nicht vorstellen, dass irgend jemand im Keller wäre. Sämtliche Türen und Fenster im Erdgeschoss waren geschlossen und die Kellerfenster waren alle mit Eisenstreben gesichert. Und außerdem war, als er das Haus betreten hatte, die Alarmanlage scharf gestellt.

Dennoch schlich er vorsichtig zur Kellertür. Bevor er sie öffnete, nahm er seine Walther, lud sie durch, entsicherte sie und nahm sie in die rechte Hand. Mit der linken drehte er so leise wie möglich den Schlüssel im Schloss. Tatsächlich war auch die Kellertür abgeschlossen. Er öffnete sie, woraufhin dank des Bewegungssensors die Treppenbeleuchtung an ging.

Martin Voss wartete am oberen Treppenabsatz. Nichts geschah. Dann wieder das klirrende Geräusch, diesmal aber gepaart mit einem leichten Kratzen oder Schaben.

„Das muss ein Tier sein“, dachte er sich. Vorsichtig ging er die Treppe hinab und schaltete das Vorraumlicht ein. Nichts.

Ein paar Schritte weiter erreichte er die Schalterleiste, die das Licht für die beiden entgegengesetzt abgehenden Flure bediente.

Er horchte. Das Klirren und Schaben kam eindeutig von rechts. Entschlossen betätigte er den entsprechenden Lichtschalter und sprang mit vorgehaltener Waffe in den Flureingang.

Was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.

Obwohl die Kellerdecke nur 2.20 Meter hoch war, berührten ihre Füße nicht den Boden. Sie baumelte an einem fachmännisch gebundenen Strick, der an demselben Haken wie die Lampe hing, dabei ab und zu gegen sie schlug und so das klirrende Geräusch verursachte.

Martin stand um Fassung ringend wie angewurzelt. Mit einer mechanischen Bewegung sicherte er die Waffe und steckte sie in den Gürtelholster. Dann wendete er sich ab, schaltete das Licht aus, rannte nach oben, durchquerte den Flur, die Diele, den Windfang, warf die Eingangstür krachend zu, sprang in sein Auto und fuhr davon.

Erst als er schon am Zeltinger Platz war, fuhr er rechts ran. Er nahm sein Smartphone und wählte die Nummer von Wildenbruch. Frau Boese war am Apparat. Martin schilderte, was er vorgefunden hatte und legte, ohne eine Antwort abzuwarten, auf. Er schaltete das Handy aus und machte sich auf den Weg in sein Büro.

§§§§§§§§

KAPITEL 5

” Wer wusste von Ihrem gestrigen Vorhaben, ihr altes Haus noch einmal aufzusuchen?“

Martin Voss blickte an Wildenbruch vorbei aus dem Fenster. Genau wie gestern peitschte ein starker Wind den Regen diagonal vorbei.

Es lag nahe, dass der Tod der Sekretärin seines ehemaligen Kollegen Schultz eine Warnung der N'drangheta darstellte. Entgegen der nach außen gezeigten betonten Gelassenheit griff innerlich langsam Panik Raum: Nicht nur, dass er genau taktieren musste, wieviel er von seinem Wissen preisgab. Er musste seinen Wissensstand über die innere Struktur der LIGA – egal wie sie sich gerade nannte – im Interesse seines Mandanten zum einen gegenüber Singer, zum anderen gegenüber Wildenbruch und der Leitung des BKA in unterschiedlichem Umfang vernebeln.

Hinzu kam, dass ihm Rosy und mit ihr der Verfassungsschutz im Nacken saßen.

Er drohte erstmals in seinem Leben die Übersicht zu verlieren.

Wildenbruch, der geduldig gewartet hatte, fasste nun nach. „Woran denken Sie gerade? Ich habe doch eine wirklich nicht zu komplizierte Frage gestellt, oder?“

Martin Voss riß sich zusammen. „Es tut mir leid. Mir geht die Sache von gestern wirklich nahe. Und ich habe im Moment derart viel am Hut, dass ich Schwierigkeiten habe, mich auf einen Fall zu konzentrieren.“

Er machte eine Pause. „Ihre Frage verstehe ich nicht ganz. Was hat die seltsame Art und Weise, wie die Sekretärin meines ehemaligen Kollegen umgebracht wurde, mit meinem Besuch zu tun? Das kann doch reiner Zufall gewesen sein.“

„Wohl kaum,“ knurrte Wildenbruch. „Der Todeszeitpunkt war so angelegt, dass er in etwa zeitgleich mit Ihrem Besuch eintreten sollte. Es liegt nahe, anzunehmen, dass Sie belastet werden sollten. Dass Sie selbst die Leiche fanden, war wahrscheinlich nicht beabsichtigt.“

„Das sind mir ein paar zu viel Annahmen und Wahrscheinlichkeiten.“

„Nun, dann beantworten Sie mir bitte zunächst meine Frage. Und dann werden wir uns gemeinsam ein Video ansehen.“

Martin Voss stutzte. Er erinnerte sich, dass er nach dem Anschlag auf Jessica die Alarmanlage um ein paar Aufzeichnungsgeräte hatte erweitern lassen. Er konnte aber partout nicht mehr sagen, wo überall eine Kamera installiert worden war. Eventuell auch im Keller?

„Also, am Vorabend hatte ich mit Rosy, äh …, Frau Jordan telefoniert und mein Vorhaben beiläufig erwähnt. Aber die scheidet doch wohl als Initiatorin eines Tötungsdeliktes aus, oder?“

Wildenbruch ließ sich durch den provokativen Ton nicht beirren. „Sonst niemand?“

Martin Voss dachte nicht daran, die Inhalte seiner Gespräche mit Singer auszubreiten. „Nein, sonst niemand“, sagte er knapp.

„Nun gut, dann schauen wir uns mal die Aufzeichnung der Kellerkamera an.“

Wildenbruch drehte seinen LapTop, stand auf und kam um den Schreibtisch herum. Er drückte die Enter-Taste und der Film startete. Martin Voss sah mit zunehmendem Entsetzen auf die ruckelnde Aufzeichnung. Zwei ganz in schwarz gekleidete Gestalten – offenbar Männer – trugen die eher klein gewachsene ohnmächtige Frau in den Gang. Sie setzten sie an die linke Kellerwand. Einer der beiden nahm aus einer schwarzen Plastiktüte einen etwa fünfzig Zentimeter breiten, in der Höhe und Tiefe etwa dreißig Zentimeter messenden Eisblock und legte ihn in Höhe der Deckenlampe quer auf den Boden. Sodann knüpfte er an den Haken, der die Deckenlampe hielt, eine Schlinge. Der andere Mann beugte sich zu der Frau hinunter und injizierte ihr in deren linke Ellenbeuge eine gelbliche Flüssigkeit. Nachdem sie die Augen aufgeschlagen und sich bewegt hatte, hob er sie auf, bis sie auf wackligen Beinen zum Stehen kam. Schließlich stellten beide die Frau auf den Eisblock und legten die Schlinge um ihren Hals. Voss sah, dass ihre Hände auf den Rücken gefesselt waren.

„Wie perfide ist das denn“, quälte sich ein Kommentar aus ihm heraus.

„Es wird noch perfider, sehen Sie!“

Tatsächlich trug der, der die Frau aufgerichtet hatte, nun einen Heizlüfter heran, steckte den Stecker in die an der Wand befindliche Steckdose und positionierte ihn unmittelbar hinter den Eisblock, so dass er aus Kamerasicht nicht zu sehen war. Offenbar betätigte er einen auf der Oberfläche befindlichen Schalter, trat einen Schritt zurück, besah sich kurz sein Werk und verließ zusammen mit seinem Mittäter den Gang. Das Licht erlosch, die Frau war nur noch schemenhaft zu sehen.

Das Ganze hatte gemäß der eingeblendeten Uhr keine zwei Minuten gedauert.

Wildenbruch stoppte die Aufzeichnung, betätigte den Vorspul-Icon und ließ nach kurzer Zeit die Aufzeichnung weiterlaufen. Plötzlich ging das Licht an und Voss sah sich mit vorgehaltener Pistole in den Gang springen. Es war laut Aufzeichnung exakt eine halbe Stunde vergangen. Was er damals gar nicht registriert hatte, sah er jetzt: Unter der Toten war auf dem Boden eine große Wasserlache.

„Das heißt …“, er wischte sich ein paar Schweißperlen von der Stirn, „…dass die Frau gerade erst gestorben war, als ich sie entdeckte?!“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

„Ich habe ja die Aufzeichnung vorgespult. Man kann den Todeskampf sehen. Der Tod ist ziemlich exakt fünf Minuten, bevor Sie die Kellertür öffneten, eingetreten.“

„Also wäre ich, wenn nicht die Aufzeichnung erfolgt wäre, wieder einmal verdächtig gewesen.“

„Exakt! Und deshalb noch einmal meine Frage: Wer wusste von Ihrer Besuchsabsicht?“

„Ich kann nicht mehr sagen, als ich Ihnen schon gesagt habe. Rosy wusste davon, sonst niemand.“

Dass Martin Voss einen der beiden Täter erkannt hatte, verschwieg er. Wildenbruch hatte ihn jedenfalls offenbar nicht erkannt.

Um den würde er sich selbst kümmern.

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Kriminalgericht Berlin

Foto: HLSB

KAPITEL 6

Willibald Clemm lief durch die Altbau-Flure des Kriminalgerichts. Er war stinksauer. Der Redakteur hatte ihn zu Gerichtsreportagen abgestellt. Und das ausgerechnet heute, da Jonas Kaufmann die Stadt besuchte. Es war ihm gelungen, einen halbstündigen Interview-Termin im Adlon zu vereinbaren. Sowohl das Ambiente dieses trotz Neubau traditionellen Hauses wie auch das Interview mit diesem Ausnahmekünstler hätten ihn seinem Wunsch, die Redaktion des Kulturteils zu übernehmen, sicherlich näher gebracht. Nun durfte die Kollegin vom Feuilleton, der Liebling des Redakteurs, das von ihm in die Wege geleitete Interview machen und die Meriten ernten.

Im Feuilletonbereich und in Sachen Kultur unterwegs zu sein lag ihm. Für Investigativ-Journalismus hatte er weder Talent noch Interesse.

Er hatte nicht die geringste Ahnung, ob in einem der vielen Säle etwas Interessantes verhandelt würde. Das Einzige, was er „recherchiert“ hatte, war die Information, dass in den Sälen 500 und 700 in aller Regel Mordprozesse liefen. Die Logik der Zimmer- und Saalnummern – im „Hochparterre“ gab es 100er- und 200er-, im ersten Stock 300er- und 400er-Zimmer – erschloss sich ihm nicht. Also fragte er sich bei Justizwachtmeistern, die ihm über den Weg liefen, zum Saal 500 durch.

Vor dem Saal traf er eine Kollegin vom Konkurrenzblatt. Von ihr erfuhr er, dass drinnen gerade kurze Verhandlungspause war.

„Worum geht es?“, fragte er.

„Interessante Sache“, antwortete die Reporterin. „Es tagt der Staatsschutzsenat des Kammergerichts. Offenbar sind Beamte des BKA und auch Politiker in einen Skandal verwickelt. Es ist vorher wenig nach außen gedrungen. Die Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft gibt auch nichts her. Näheres wird man wohl erst erfahren, wenn die Anklage verlesen wird.“

„Und wieso ist dann jetzt schon Pause? Soviel ich weiß, ist das doch das Erste, was in einem Prozeß passiert.“

Die alteingesessene Gerichtsreporterin sah den Kollegen mit einer Mischung aus Erstaunen und Mitleid an. „Hast wohl nicht viel Erfahrung mit Gerichtsverfahren, oder?“

„Nee, bin eigentlich in der Kulturredaktion. Befinde mich auf einer Art Strafexpedition.“

„Also: Nach der Feststellung der Person des Angeklagten ist es heutzutage das fast übliche Spielchen, dass die Verteidigung entweder die Gerichtsbesetzung als fehlerhaft rügt oder aber das Gericht oder einzelne Richter wegen Besorgnis der Befangenheit ablehnt. Darüber wird dann fast ausnahmslos noch vor der Anklageverlesung entschieden. Heute hat der Hauptverteidiger des Angeklagten den Vorsitzenden des Senats abgelehnt.“

„Und mit welcher Begründung?“

„Kurz zusammengefasst: Der Vorsitzende habe durch eine Äußerung in einem Interview eine Haltung gezeigt, die begründete Zweifel an seiner Unvoreingenommenheit begründeten.“

„Was hat er denn gesagt?“

„Sinngemäß so etwas wie 'im Prozeß werden sich Art und Umfang des Sumpfes öffentlicher Behörden und der Verwicklung politischer Beamten herausstellen'. Das ist natürlich starker Tobak und klingt so, als ob die Verwicklung als solche schon feststünde. Ich halte das Befangenheitsgesuch für aussichtsreich.“

„Und was würde dann passieren?“

„Der abgelehnte Richter scheidet aus und der Prozeß ist erstmal geplatzt. Denn die haben ihn ohne Ergänzungsrichter begonnen. Sonst würde der einrücken und der Vorsitzenden-Stellvertreter würde den Vorsitz übernehmen.“

„Wer ist denn eigentlich angeklagt? Und wer ist sein Anwalt?“

„Rechtsanwalt Voss verteidigt zusammen mit Rechtsanwältin Winter. Der Angeklagte ist ein Italiener. Hinter vorgehaltener Hand wird gemunkelt, dass er ein Abgesandter der N'drangheta sein soll. Daran glaube ich allerdings nicht … oh es geht weiter.“

Die Tür zum Saal hatte sich geöffnet und der Wachtmeister rief die Sache zum zweiten Mal an diesem Tage auf.

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Saal 500 Kriminalgericht Berlin

Foto: Dexheimer

KAPITEL 7

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