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Sommer 2019. In der Nähe der norwegischen Kleinstadt Olden wird am Fuße des Briksdal-Gletschers eine weibliche Leiche gefunden. Schnell stellt sich heraus, dass die Frau Opfer eines Verbrechens wurde. In einem der Ohrringe der Toten findet man einen Chip, der sich als Aufnahmegerät des deutschen Bundeskriminalamts herausstellt. Nach anfänglicher Skepsis einigen sich der Leiter der Polizeistation Olden und der Leiter der Auslandsabteilung des BKA auf ein gemeinsames Vorgehen. Im Zuge ihrer Ermittlungen stoßen der vom BKA entsandte Beamte Röhling und der norwegische Polizist Mathisen auf einen promovierten Biochemiker, der im Internationalen Saatgut-Tresor auf Spitzbergen arbeitet. Hat dieser Wissenschaftler etwas mit der in der Nähe der norwegischen Kleinstadt Olden gefundenen Gletscherleiche zu tun? Im Arktischen Ozean betreibt ein norwegisch/schwedisches Forscherteam eine als Ölförderplattform getarnte Anlage zur Rückfuhrung von freigesetztem CO2 und Methan, um die Erwärmung in der Arktis mittelfristig stoppen und langfristig umkehren zu können. Es verwendet dazu ein System, das das Labor eines in Wilhelmshaven ansässigen Unternehmens kreiert hat. Verschiedene Interessengruppen unternehmen alles, um einen Erfolg dieser Forschung zu verhindern und schrecken auch vor Anschlägen nicht zurück. Dabei spielen der Vorstandsvorsitzende dieses Unternehmens und ein ehemaliger Agent des BKA eine undurchsichtige Rolle. Und ein zwielichtiger Agent der CIA scheint eigene Interessen zu verfolgen. Zur gleichen Zeit ist eine Agentin des BKA in dieser Sache im norwegischen Trondheim eingesetzt. Sie, aber auch Röhling und Mathisen, entgehen bei ihren Ermittlungen mehrfach nur knapp dem Tode. Die Berliner Rechtsanwältin Agnes Winter befindet sich auf einer Reise durch Schweden und Norwegen. Bei einem Landausflug in Trondheim glaubt sie, einem Gespenst zu begegnen: Ihrem vermeintlich vor drei Jahren einem Attentat zum Opfer gefallenen Geliebten. Schicksalhaft fügen sich die scheinbar voneinander unabhängigen Wege der Akteure zusammen. Und der Tod ist immer dabei ...
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Seitenzahl: 282
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Manfred G. Valtu
POLARLICHTER
POLARLYS
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
P O L A R L I C H T E R
P R O L O G
K A P I T E L 1
K A P I T E L 2
K A P I T E L 3
K A P I T E L 4
K A P I T E L 5
K A P I T E L 6
K A P I T E L 7
K A P I T E L 8
K A P I T E L 9
K A P I T E L 1 0
K A P I T E L 1 1
K A P I T E L 1 2
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K A P I T E L 1 4
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K A P I T E L 4 3
E P I L O G
VORSCHAU
Bisher erschienen
Impressum neobooks
MANFRED G. VALTU
P O L A R L I C H T E R
- P O L A R L Y S -
Thriller
Hab die Menschen, die du liebst, immer bei dir, wo du auch bist, selbst wenn diese Menschen nicht mehr unter uns weilen.
Alles war schief gegangen. Der Schweiß rann ihm in kleinen Bächen den Rücken hinunter bis zum Hosenbund.
Er sah sich um.
Noch vor einer Woche war die Lage völlig klar gewesen. Der Auftrag war so gut wie erfüllt. Endlich würde er wieder in Ehren aufgenommen werden. Endlich wäre er wieder wer.
Und nun das.
Nicht einmal in eine der drei Alias-Identitäten konnte er flüchten. Die Gegenseite hatte gründliche Arbeit geleistet. Alle seine Papiere waren weg.
Er war 'verbrannt'.
So würde er keine Möglichkeit haben, den Job zu Ende zu führen. Ihm blieb nur, unterzutauchen. Doch wo und wie?
Immerhin hatten sie seine 'stillen Reserven' nicht gefunden. Das Versteck in der Stabkirche von Trondheim war zu gut gewesen.
Hätte er doch nur seine Papiere auch dort aufbewahrt. Nicht immer hatte die Agentenausbildung recht. Es hatte geheißen, alle Identitätshinweise und überlebensnotwendigen Dinge auf verschiedene Orte zu verteilen. War sonst auch immer gut gegangen.
Diesmal aber eben nicht!
Erneut sah er sich um. Die leer stehende Lagerhalle am Ortsrand von Trondheim war nicht geeignet, Quartier zu nehmen. Er musste weg.
Das Licht seines Notfallhandys ließ er über die ausgebreitete Landkarte gleiten. Richtung Süden oder Richtung Norden? Das war die Frage.
„Quatsch“, sagte er sich. „Ist überhaupt keine Frage! Je nördlicher, desto einsamer, desto sicherer vor Entdeckung!“
Er erinnerte sich an ein Gespräch mit dem Chef-Stellvertreter: „Wenn Sie mal in herrlicher Natur entspannen wollen, ohne auf Luxus verzichten zu müssen, empfehle ich Ihnen das kleine norwegische Örtchen Olden. Herrliche Fjordlandschaft, von Frühjahr bis Herbst mildes Klima bei sauberer Luft und wunderschöne Gletscher in Ausflugsnähe wie der Jostedalsbree und der Briksdalsbree“, hatte er geschwärmt.
Er fand Olden auf der Karte. Zu seiner Überraschung war es südwestlich gelegen. „Liegt trotzdem schön einsam“, sagte er sich. An Hand des am unteren Rand der Karte eingezeichneten Maßstabs schätzte er die Entfernung auf etwa 450 Km. Das wäre auf den großen Straßen eine Tagesreise von etwa sieben Stunden. Doch über die sichereren Nebenstrecken könnte es leicht die doppelte Zeit werden.
Er brauchte ein geländegängiges Fahrzeug. Eines zu mieten war mit seinem Klarnamen ein großes Risiko. Aber ohne Papiere würde er keines bekommen. Es gab aber auch die Möglichkeit, eines zu 'akquirieren' und dann am Zielort im Fjord zu versenken.
Das nächste Problem: Er hatte kein Internet. Es war notwendig gewesen, auf ein zu ortendes Smartphone zu verzichten. Jetzt aber zeigten sich die Nachteile des vorsintflutlichen Handys.
So konnte er die sicherlich vorhandenen Informationsseiten von Olden nicht aufrufen. Er musste sich darauf verlassen, vor Ort eine unauffällige Bleibe zu finden. Hatte der damals nicht von einem direkt am Fjord gelegenen Campingplatz erzählt?
Genau! Das war es.
Damit waren die nächsten Schritte vorgegeben: Es waren eine Wander- und Campingausrüstung und das Auto zu besorgen. Er würde auf Schleichwegen so nahe wie möglich an Olden heranfahren und dann als 'Wandersmann' sein Zelt auf dem Campingplatz aufschlagen. Auf diese Weise könnte er so lange in Deckung bleiben, bis sich eine Möglichkeit zum endgültigen Untertauchen fände.
Heute war Freitag. Soweit er wusste, schloss das am südlichen Industriegebiet Trondheims gelegene Autohaus am Sonnabend um 18.00 Uhr. Es musste ihm gelingen, dort eine Probefahrt für das gesamte Wochenende bis zum Montag zu vereinbaren. Vor Montag Mittag würden die das Auto nicht als vermisst melden.
Und was, wenn sie ihm das nicht gewähren würden?
Dann würde er es sich 'borgen'. Ein kleiner Einbruch, die Autoschlüssel und in Autohäusern immer vorrätige Kennzeichen finden, einsteigen und losfahren.
Eine der leichtesten Übungen aus dem Einmaleins des Agentendaseins.
§§§§§§§§
ERSTER
Der Autohändler Lasse Wahlström saß in seinem Glaskasten und blickte mißmutig auf die eng aneinander geparkten Autos. Seit die Regierung ihre ambitionierten Ziele zur Senkung der klimaschädlichen Abgase bekannt gegeben hatte und der Anteil der E-Autos stramm auf die fünfzig Prozent zuschritt, war der Absatz um gefühlte neunzig Prozent zurück gegangen. Nur Abenteurer und Landwirte, die auf die allradgetriebenen geländegängigen Fahrzeuge nicht verzichten konnten oder wollten, kauften noch ab und zu einen der Ladenhüter.
Um wenigstens einen Teil der meist dieselbetriebenen Fahrzeuge loszuschlagen, hatte er Rabattaktionen bis über die Schmerzgrenze ins Leben gerufen. In zähen Verhandlungen mit den Herstellern hatte er immerhin erreicht, dass die Verluste ausgeglichen und ihm eine Verkaufsmarge von sage und schreibe drei Prozent gewährt wurden.
Das deckte gerade die Ladenmiete.
Er spielte schon geraume Zeit mit dem Gedanken, das Geschäft abzustoßen. Er würde in seinen erlernten Beruf des Fotografen zurück kehren. Weniger als hier würde er nicht verdienen, in keinem Falle würde es ein Zuschussgeschäft sein.
Ein besonderer Dorn im Auge war ihm dieser unverkäufliche Toyota PickUp. Der stand schon über anderthalb Jahre auf seinem Hof. Den Bauern war er zu schmal und die Ladefläche zu kurz, den Abenteurern war er für das Durchqueren von Flussbetten und was die sich sonst so vorstellten zu breit und nicht wendig genug.
Und genau um dieses vermaledeite Gefährt, von dem er sich schon geschworen hatte, es zu verschenken, schlich – er traute seinen Augen kaum – ein Mann in der typischen Kleidung eines Outdoorers herum.
Wahlström schwang sich aus seinem Bürosessel. Er zwang sich, nicht zu eilig auf den potentiellen Interessenten zu zu gehen und stellte sich kommentarlos neben ihn.
„Der Preis da ist wohl nicht ernst gemeint, oder?“, sprach ihn der Typ in englischer Sprache an.
„Ich finde ihn auch zu niedrig“, witzelte Wahlström.
„Ich bin nicht zu Scherzen aufgelegt. Außerdem müsste ich die Karre erst auf Herz und Nieren testen. Ich will ein Stück nach Norden hoch und am Montag zurück sein. Ginge das?“
Wahlström wog das Risiko ab. Er fasste einen Entschluss.
„Klar geht das. Wenn du eine Sicherheit hinterlegst von – sagen wir – 15.000 Kronen, kannst du das Teil zwei Tage fahren. Für Schäden musst du natürlich aufkommen. Er ist übrigens vollgetankt! Und über den Preis sprechen wir, wenn du zurück bist. Komm' ins Büro.“
Der Interessent hatte sich entschlossen, das Risiko einzugehen, den PickUp unter seinem richtigen Namen zu mieten. Er händigte dem Verkäufer seinen Ausweis und Führerschein aus.
„Falk Schröder“, las Wahlström laut. „Kommst aus Deutschland? War ich mal vor langer Zeit. Bin über Hamburg nicht hinaus gekommen. Ist aber eine schöne Stadt. Und du, wo kommst du her? Ach, hier steht's ja: Wiesbaden. Sagt mir nix. Aber ist ja auch egal.“
Falk, dem der Verkäufer langsam auf die Nerven ging, trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch.
Wahlström bemerkte die Ungeduld. „Bloß nicht verärgern“, dachte er und beeilte sich, den Leihvertrag auszufüllen.
Falk unterschrieb das Papier und blätterte 15.000 norwegische Kronen in bar auf den Tisch. Er erhielt seine Dokumente und den Autoschlüssel ausgehändigt und erhob sich.
„Nimm dir einen Kaffee. Ich muss noch die Kennzeichen anbringen und zwei Autos wegfahren, sonst kommst du nicht raus.“
Falk setzte sich wieder und wartete. Endlich kam der Verkäufer zurück.
„Alles klar, du kannst jetzt direkt zur Ausfahrt, der Weg ist frei. Gute Fahrt und bis Montag.“ Falk nickte, schüttelte dem Mann die Hand und verließ den Laden. Am PickUp angelangt tat er so, als vergewissere er sich, dass die Kennzeichen richtig befestigt wären. Dann bestieg er den Fahrersitz, ruckelte ihn zurecht, startete und fuhr vom Gelände.
Wahlström rieb sich die Hände. Entweder es würde mit dem Verkauf klappen – das wäre ein Fest. Oder der Typ würde mit dem Ladenhüter auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Das wäre fast noch besser. Denn er wäre diese Karre los und immerhin um 15.000 Kronen und die Versicherungsleistung für ein gestohlenes Fahrzeug reicher.
„Win-Win“, murmelte er und beschloss, das Haus zu schließen und ins Wochenende zu gehen.
§§§§§§§§
Auch der Jimny kam nicht mehr weiter. Zwar war das alte Gletscher-Flussbett seit vielen Jahren ausgetrocknet. Doch sowohl das lose Geröll als auch die selbst für dieses schmale Geländefahrzeug an einigen Stellen zu engen Passagen verhinderten eine Weiterfahrt.
So blieb Politibetjent3 Magnus Lunde keine Wahl. Fluchend machte er sich zu Fuss auf den beschwerlichen Weg. Nicht nur, dass er auf dem Geröll kaum Halt fand. Es ging auch noch recht steil bergauf.
„Das vertreibt wenigstens den Kater“ murmelte er schnaufend vor sich hin.
Völlig außer Atem und verschwitzt erreichte er schließlich den Fuß des Briksdal-Gletschers. Um sich kurz zu erholen blieb er an dem Schild, das wegen Steinschlaggefahr vor dem Weitergehen warnte, stehen und genoß dabei den Anblick, den der Gletscher im beginnenden Sonnenlicht bot. Er hatte, nachdem er befördert und in den Bezirk Olden versetzt worden war, erst ein Mal kurz Gelegenheit gehabt, den Gletscher zu besuchen. Jahr für Jahr schmolz er und der Fuß zog sich Meter um Meter zurück.
„Aber es gibt ja keinen Klimawandel, sagen diese Idioten von der rechten Partei“, dachte er bitter. Und dabei war es, wie er gehört hatte, nicht das erste Mal, dass das zurückgehende „ewige Eis“ (von wegen ewig) eine Leiche frei gegeben hatte.
Politibetjent1 Mathisen kam ihm entgegen. „Du siehst ja fürchterlich aus. War wohl doch etwas zu feucht gestern, oder?“
Wenn Lunde etwas auf die Palme brachte, war es diese jugendliche Schnöseligkeit von Mitarbeitern, die den Alkohol und das lange Aufbleiben besser vertrugen als er. Aber er schluckte die seiner Meinung nach passende Antwort hinunter und beschloss, den Kollegen einfach zu ignorieren. Deshalb ging er, ohne Mathisen anzusehen und ohne ein Wort zu sagen, an diesem vorbei und stapfte auf den Ort zu, an dem drei in weiße Schutzanzüge gezwängte Frauen standen.
„Nun, was haben wir?“, fragte er in die Runde.
Alena Myhre, die Leiterin der Gerichtsmedizin, wandte sich ihm zu und erklärte, dass es sich um eine etwa fünfzig Jahre alte Frau handele, deren gut erhaltener äußerer Zustand vielleicht langer Lagerung unter Eis geschuldet sei. Es sei aber wahrscheinlicher, dass sie erst vor sehr kurzer Zeit hier abgelegt wurde und man nur den Eindruck einer Gletschertoten hervorrufen wollte. Die punktuellen Einblutungen in den Augen und die Druckstellen am Hals sprächen dafür, dass sie keines natürlichen Todes gestorben, sondern erstickt worden sei. Die Verletzung des Schädels im hinteren Bereich sei wahrscheinlich beim Transport in die Gletscherspalte postmortal entstanden. Sie trat zur Seite und Lunde konnte einen Blick auf die Tote werfen.
„Ein Jammer“, ließ sich Mathisen ungefragt vernehmen. „So eine schöne Frau, und jetzt ist sie tot.“
Lunde wollte scharf erwidern. Aber tatsächlich ertappte auch er sich dabei, im Hinblick auf die außergewöhnliche Schönheit der Frau ein erhöhtes Bedauern zu empfinden. „Was ist das bloß, das uns Menschen – und wohl insbesondere uns Männer – den Tod einer schönen Frau mehr bedauern lässt, als wenn es eine unscheinbare oder gar hässliche wäre?“, fragte er sich. So ließ er die Äußerung seines Kollegen unkommentiert.
„Irgendwelche Papiere?“
„Nein, aber der oder die Täter haben die Frau offenbar nicht gründlich genug gefilzt. Der linke Ohrstecker ist wie ein Medaillon zu öffnen. Und darin befindet sich eine winzige Knopfzelle. Sieht aus wie eine Uhrenbatterie, ist aber wohl eher eine Wanze. So etwas ist mir schon einmal begegnet. Die deutsche Bundespolizei arbeitet mit solchen Geräten.“
„Wo ist dieses Winzding jetzt?“
„Hier in meinem Spurenbeutel. Ich denke, unsere IT-Abteilung wird etwas damit anfangen können.“
„In Ordnung, ihr untersucht noch die weitere Umgebung. Ich nehme die Spurenträger mit und bringe sie unseren IT-Jungs.“
„... und -Mädchen!“, ließ sich Alena Myhre vernehmen. „Ihr seid alle Chauvis!“ Dabei grinste sie über das ganze Gesicht.
„Na warte, eines Tages führt dich der Chauvi groß zum Konzert und zum Essen aus! Dann wirst du deine Meinung ändern!“
Sie klatschten sich ab und Lunde machte sich an den „Abstieg“.
„So eine schöne Gegend, so nette Mitarbeiterinnen – und dann so eine unschöne Geschichte“, dachte er.
§§§§§§§§
Magnus Lunde schlürfte mit Genuss und sehr geräuschvoll seinen Tee. Niemand konnte ihn so punktgenau aufbrühen wie Alena.
Seit sie sich nicht nur beruflich, sondern auch privat näher gekommen waren, empfand er diesen Außenposten, auf den sie ihn versetzt hatten, wesentlich erträglicher. Sie hatte zwar darauf bestanden, ihre Wohnung in Utvik zu behalten, verbrachte aber immer mehr gemeinsame Zeit bei ihm.
Er setzte das Teeglas ab und zwang sich, über den neuen Fall nachzudenken. Da er als Politibetjent3 auch die staatsanwaltliche Zuständigkeit hatte, konnte er sich nicht wie früher Zeit lassen.
Wann hatte er zuletzt eine Leiche gehabt? Das war noch in Trondheim gewesen, so ungefähr vor vier Jahren. Der erste Anschein eines Fremdverschuldens hatte sich nicht bestätigt: Es war Selbstmord gewesen. Sein damaliger Vorgesetzter, der sich in einen 'Mordfall' verrannt hatte, wurde strafversetzt und er hatte als Stellvertreter an Hand einfacher Fälle üben können, wie man einen Fall vor Gericht bringt und vertritt.
„Was gibt es für neue Erkenntnisse?“, fragte er Alena, als sie sich zu ihm gesetzt hatte.
„Es wird dich nicht überraschen, dass der Fundort nicht der Tatort ist.“
Sie drehte sich in eine bequemere Position.
„Die Obduktion hat meinen ersten Eindruck, dass es sich nicht um eine aufgetaute Gletscherleiche handelt, bestätigt. Die Frau ist höchstens zwei Tage tot. Genaueres zum Todeszeitpunkt nach Auswertung der Wetterdaten. Ich habe sie angefordert.“
„Todesursache?“
„Es hat sich bei der Obduktion bestätigt, dass die Kopfverletzung postmortal entstanden ist. Einige Schürfspuren am Körper – ebenfalls postmortal entstanden – sprechen dafür, dass sie nicht sehr sanft transportiert und in die Spalte verbracht wurde. Ich habe aber auch Druckspuren an beiden Handgelenken und Kontusion dreier Rippen festgestellt, die zu Lebzeiten zugefügt wurden. Das lässt darauf schließen, dass sie sich in einer Auseinandersetzung gewehrt hat, und zwar ziemlich heftig.“
„Und nun?“
„Sei doch nicht so ungeduldig! Ich bin ja noch nicht fertig.“
Magnus hätte sie sofort in die Arme nehmen und ins Bett zerren können. Wenn sie mit belustigter Miene so tat, als wäre sie wütend, konnte er sich kaum zurückhalten.
Was sie natürlich wusste und weidlich auskostete.
„Wie gesagt hat sie bei dem Kampf einen dreifachen Rippenbruch erlitten. Ich stelle mir das Geschehen ungefähr so vor: Sie kämpft anfangs frontal, irgendwie gelingt es dem Gegner, sie zu Boden zu bringen. Er kniet auf ihr, wobei die Rippen eingedrückt werden. Anschließend oder gleichzeitig drückt er mit einer oder beiden Händen Mund und Nase zu. Der entstehende Sauerstoffmangel bewirkt einen Kreislaufzusammenbruch mit anschließendem Herzstillstand.“
„Es kann also sein, dass der Täter sie gar nicht töten wollte?“
„Das ist durchaus möglich. Wir wissen ja nicht, was der Auseinandersetzung voraus gegangen war. Der Täter oder die Täterin hat sich selbst vielleicht nur gewehrt.“
„Wozu dann die mühsame Entsorgung der Leiche? Das spricht doch eher für ein Verschulden. Und meinst du nicht, dass das Tatbild eher für einen männlichen Täter spricht?“
„Liegt zwar näher. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass auch eine gut trainierte Frau so handeln und beim Knien auf dem Brustbereich Rippenbrüche verursachen könnte. Allerdings lassen die Spuren am Handgelenk auf recht große Hände schließen, die für eine Frau sehr ungewöhnlich wären.“
Magnus' Smartphone vibrierte. Mathisen war am Apparat. Er hörte eine Weile schweigend zu, bedankte sich dann mit einem „Bis morgen“ und beendete das einseitige Gespräch.
„Mathisen hat eine erstaunliche Eigeninitiative entwickelt. Er hat ein schönes Foto von der Verblichenen gemacht und den Ort abgeklappert. Soweit er die Bewohner angetroffen hat, haben sie verneint, die Tote zu kennen.“
„Und hat er auch im Fjord-Hotel und auf den Camping-Plätzen angefragt?“
„Er hat an alle in Frage kommenden Unterkünfte das Foto gemailt. Antworten stehen noch aus.“
„Mathisen macht sich“, murmelte sie. „Hätte ich ihm gar nicht zugetraut.“
„Ich glaube, man muss seine vorlauten Eigenarten einfach ignorieren und ihn an der langen Leine lassen. Dann entwickelt er sich.“ Er beugte sich vor.
„Und was machen wir jetzt? Bevor wir die Identität der Frau nicht geklärt haben ...“ Das erneute Vibrieren seines Smartphones unterbrach ihn. Krister Hamsun von der IT-Abteilung meldete sich. Wieder hörte Magnus zunächst schweigend zu. „Und da gibt es keinen Zweifel? … Ja, danke … Und wenn es neue Erkenntnisse gibt … Klar, war unnötig.“
Alena sah ihn fragend an.
„Diese Wanze ist ein Aufzeichnungsgerät. Der Inhalt ist dreifach verschlüsselt. Die beiden ersten Walls konnten Krister und seine Leute knacken. Sie kamen bis zu einem Logo. Es ist das Logo des Bundeskriminalamts Deutschland. Darunter befanden sich die Worte 'Streng geheim' und eine Nummer. Krister witzelte: 'Sowas wie 007'.“
„Das wird kein Witz sein. Möglicherweise ist … war sie eine Agentin des BKA.“
„Kann sein. Er hat schon an Hand dieser Nummer eine Anfrage beim BKA in Deutschland gestellt.“
„Das gibt bestimmt Ärger mit unserer Regierung. Von wegen internationale Anfrage nur auf diplomatischer Ebene und so“, meinte Alena verschmitzt.
„Den Ärger nehme ich gern auf mich, wenn es der Beschleunigung der Sache dient. Und jetzt? Was machen wir jetzt?“
„Konzert ist zwar heute nirgends, aber ich habe Hunger! Und du wolltest mich ja zum Essen ausführen. Ich mache mich ein wenig frisch und du“ … sie sah ihn kritisch an … „ziehst dir was Anständiges an und führst mich ins Olden-Fjord-Hotel aus!“
„Sehr wohl, Gnädigste. Reicht der Blazer oder soll ich mich in den Smoking werfen?“
„Es wäre mir neu, dass du so etwas hast“, rief sie und verschwand im Bad.
Magnus wusste, dass sie von dem einmal getroffenen Entschluss nicht abweichen würde. Deshalb widerstand er der Versuchung, ihr ins Bad zu folgen.
Seufzend ging er zum Kleiderschrank und zog sich um.
§§§§§§§§
Erst seit zwei Wochen war KKzA Röhling autorisiert, Auslandsanfragen zu Personalangelegenheiten des BKA entgegen zu nehmen und die damit verbundenen Entscheidungen vorzubereiten. Jede Anfrage, die nicht auf dem vorgesehenen diplomatischen Weg, nämlich über das Innen- oder Außenministerium erfolgte, war unverzüglich dem Leiter der Auslandsabteilung vorzulegen.
Dementsprechend hatte Röhling die direkte Onlineanfrage der Polizei aus dem norwegischen Olden mit einem Vermerk versehen, beide Schriftstücke ausgedruckt und in einen Ordner mit dem Aufdruck „informelle Anfragen“ eingelegt. Anschließend hatte er das Vorzimmer des Leiters SO angerufen, kurz die Dringlichkeit geschildert und um einen nahen Termin gebeten. Zu seinem Erstaunen sollte er in fünfzehn Minuten erscheinen.
Röhlings Puls ging etwas schneller als üblich. Zwar war er bei der Aufnahme in die Dienststelle auch dem Leiter SO vorgestellt worden. Dieser hatte ihn beim Handschlag kurz fixiert und sich gleich anschließend entfernt. Seither hatte er nur mit seinem Ausbilder und den Kollegen dieser Ebene Kontakt gehabt. Er nahm den Ordner und ging den Flur entlang zum Waschraum. Nachdem er sich erleichtert und Hände und Gesicht mit kaltem Wasser gewaschen beziehungsweise gekühlt hatte, atmete er tief durch und begab sich anschließend zum Fahrstuhl.
Die Tür zum Vorzimmer des Leiters SO stand offen. Frau Peters musterte den Besucher nur kurz. Dennoch fühlte sich Röhling unter ihrem Blick, als könnte sie in sein Innerstes sehen.
„Gehen Sie gleich rein“, sagte sie mit einer weichen Stimme, aber betont energisch. Röhling klopfte kurz an und öffnete die Tür, ohne eine Reaktion abzuwarten.
EKHK Wolfgang Singer erhob sich von seinem Chefsessel und begrüßte Röhling mit einem leichten Kopfnicken.
„Nehmen Sie Platz. Was haben wir?“
Röhling reichte den Ordner rüber, wartete, bis Singer, der dem Ordner zunächst keine Beachtung schenkte, Platz genommen hatte und setzte sich sodann auf den vor dem Schreibtisch stehenden Stuhl.
„Eine informelle Anfrage eines Kollegen aus dem norwegischen Olden zur Identität einer dort aufgefundenen weiblichen Leiche.“
„Informell, so so. Und was haben wir damit zu tun?“
„Wenn die Übersetzung stimmt, so hatte die Frau in einem Ohrstecker einen unserer Aufzeichnungschips. Die IT-Abteilung der Kollegen dort ist bis zur letzten Barriere vorgedrungen und hat das Logo unseres Hauses und eine Nummer gefunden. Weiter kamen sie nicht.“
„Haben uns also gehackt. Aber immerhin sind sie ehrlich. Haben Sie schon geprüft, was es mit der Nummer auf sich hat?“
„Dazu habe ich noch nicht die Befugnis.“
„Ach so, ja, Sie sind ja erst etwa zwei Wochen bei uns, nicht wahr? Dann lassen Sie mal sehen.“
Singer schlug den Ordner auf und las den Wortlaut der Anfrage. Die vierstellige Nummer las er zweimal. „Verdammt“, entfuhr es ihm. „Stimmt die Nummer, kein Übertragungsfehler möglich, Zahlendreher oder so?“
„Nein“, antwortete Röhling. „Wenn Sie das Blatt wenden, sehen Sie einen Ausdruck der Onlineseite des Aufzeichnungsgeräts. Die 7301 ist deutlich zu erkennen.“
Singer stand auf und ging hinüber zu der kleinen Sitzgruppe. Er nahm sich von dem daneben stehenden Tablett ein Glas und goss sich aus einer Glaskaraffe eine gelbliche Flüssigkeit ein.
„Möchten Sie auch einen kleinen Whisky?“, fragte er. Röhling verneinte, bat jedoch um ein Glas Wasser. Singer gab es ihm und ging zum Fenster. Gedankenverloren sah er hinaus.
„Wieso berührt es uns viel mehr, wenn e i n Mensch stirbt, den man kannte, als das Sterben Hunderttausender in Kriegen, Hungersnöten oder Pandemien? Immer ist der Tod dasselbe finale Ereignis, und doch wird der Tod e i n e s Menschen als schlimmer empfunden.“
Röhling hatte nicht den Eindruck, dass sein Chef von ihm darauf eine Antwort erwartete. Es war wohl mehr ein Selbstgespräch. So nahm er schweigend einen Schluck. Singer trank ebenfalls aus seinem Glas, drehte sich um und stellte es mit einem Ruck auf seinen Schreibtisch. Nachdem er Platz genommen hatte, fixierte er sein Gegenüber, atmete tief ein und begann zu sprechen:
„Sie sind sicherlich verwundert über meine unprofessionell emotionale Reaktion.“
Röhling setzte zu einer Erwiderung an, aber ein Handzeichen stoppte ihn. „Als ich noch im Außendienst war, habe ich oft mit Agentin 7301 zusammen gearbeitet. In unseren gemeinsamen Einsätzen habe ich sie und ihre hundertprozentige Zuverlässigkeit und Professionalität zu schätzen gelernt.“
Er machte ein Pause und leerte das Glas.
„Sollte es sich bei der aufgefundenen Frauenleiche tatsächlich um unsere Kollegin handeln, so ist eine Sache, in der sie im Norden eingesetzt war, offenbar größer als wir angenommen haben. Haben die norwegischen Kollegen denn ein Foto mitgeschickt?“
„Nein, Sir. Ich hätte es selbstverständlich mit in die Akte gelegt. Wir haben nur die Beschreibung 'Etwa 50 Jahre alt gewordene weibliche Leiche, etwa 163 cm groß und 65 Kilo schwer' und die Beschreibung ihrer Kleidung.“
Singer, der sich etwas erstaunt über die von Röhling gebrauchte Anrede zeigte, meinte: „Wenn die sich hinsichtlich ihrer Größe nicht verschätzt oder vermessen haben, ist es nicht Agentin 7301. Sie ist fast einen Meter fünfundsiebzig groß.“
„Aber wieso sollte die Frau die Wanze der Agentin haben?“
„Es hat keinen Zweck zu spekulieren. Wir werden auf die Anfrage zunächst dahingehend reagieren, dass wir um ein Foto der Frau bitten und uns weitere Auskünfte vorbehalten.“
„Soll das Ministerium unterrichtet werden?“, fragte Röhling.
Singer war einerseits leicht amüsiert über das Engagement und den Ehrgeiz des jungen Kollegen, andererseits musste ihm natürlich sein noch untergeordneter Bereich innerhalb der Aufgabenverteilung klargemacht werden. Mit strengem Blick sagte er daher: „Das werde ich mit Ihrem direkten Dienstvorgesetzten erörtern. Derartige Fragen und Entscheidungen liegen nicht in ihrem Aufgabenbereich. Und im Übrigen glaube ich nicht, dass wir hier anglistische Anreden einführen sollten, schon gar nicht in Anbetracht des Ausstiegs der Briten aus der Europäischen Gemeinschaft.“
Das war deutlich. Röhling schluckte kurz, murmelte etwas von „Das sei wohl seinen Auslandssemestern in Cambridge geschuldet“ und wusste nicht so recht, was er jetzt machen sollte.
„Das wäre im Augenblick alles“, beendete Singer die Unterredung, woraufhin Röhling aufstand, sich kurz verneigte und das Zimmer verließ.
„Na, Sie sind ja noch im ganzen Stück rausgekommen“, hörte er die Vorzimmerdame sagen. „Offenbar kann er Sie gut leiden. Dann werden wir uns sicher bald wiedersehen.“
Röhling schaute sie erst ungläubig an, sah dann aber ein offenes warmherziges Lächeln, lächelte etwas steif zurück und verließ den Raum.
Im Flur angelangt atmete er tief durch und begab sich zurück in 'den mir zustehenden Bereich', wie er bitter dachte.
§§§§§§§§
Lunde schüttelte den Kopf. „Die wollen ein Foto von der Toten.“ Er war es nicht gewohnt, dass auf eine einfache Frage gewissermaßen mit einer Gegenfrage reagiert wurde.
„Und? Wo ist das Problem?“, ließ sich Mathisen vernehmen. „Welches meiner Starfotos wollen wir schicken?“
„Wie kriege ich den Kollegen bloß in den Griff“, dachte Lunde. Das nach außen gezeigte übertriebene Selbstbewusstsein seines Mitarbeiters sollte – das wusste er von der Kriminalpsychologin aus Oslo – verdecken, welche unsichere Persönlichkeit unter der äußeren Schale steckte. Jeder und jede Anwärter/in auf den höheren Polizeidienst durchlief den „Psycho-Check“ in Oslo. Stellte man dabei sogenannte „besondere“ Persönlichkeitsmerkmale fest, gelangten diese in einen „Zusatz nur für die Personalstelle“. Und in diesen Zusatz hatte der jeweilige Leiter der Aus- oder Fortbildungsstelle Einsicht.
Dass aus Mathisen kein Drogenjunkie oder Schlimmeres geworden war, zeigte beispielhaft, dass eine verkorkste Kindheit und Jugend mit einem gewalttätigen Vater und einer schwachen alkoholsüchtigen Mutter nicht zwangsläufig zu einem weiteren verkorksten Leben führen musste.
„Man muss viel Geduld mit ihm aufbringen und seine Extratouren so weit wie möglich tolerieren und sie langsam in die richtigen Bahnen lenken“, hatte die Psychologin resümiert.
„Leicht gesagt, schwer getan“, dachte Lunde. Er war weder ein sehr geduldiger Mann noch legte er besonderen Wert auf pädagogische Übungen. Doch langsam gewöhnte er sich daran, nicht jede nervige Handlung oder Äußerung des Kollegen zu kommentieren.
„Wir werden nichts dergleichen tun. Geben Sie mir mal bitte das Tablet, liegt dort auf dem Tisch vor dem Fenster. Und geben Sie mir noch ein ausgedrucktes Foto, egal welches. Hauptsache, sie ist darauf gut zu erkennen. Danke.“
Lunde öffnete seinen account rief sein Skype-Programm auf und murmelte „Die sind ja hoffentlich nicht auf dem Stand von Fax und Festnetztelefon stehen geblieben.“
§
„Ja, Frau Peters?“ Singer schaute auf. Nach anfänglichem Fremdeln hatte er sich daran gewöhnt, dass seine 'Vorzimmerdame' sich jederzeit auch unangekündigt Eintritt verschaffte. Sie war schon persönliche Assistentin seines Vor-Vorgängers gewesen und besaß daher 'ältere Rechte'.
„Ein Kriminalhauptkommissar Lunde aus Olden hat telefonisch angekündigt, in einer halben Stunde per Skype oder Zoom mit Ihnen konferieren zu wollen. Es ginge um eine weibliche Leiche.“
„Warum haben Sie ihn nicht durchgestellt? Was bildet sich der Kollege denn ein? Dass wir hier sofort springen?“
„Genau wegen dieser erwarteten Reaktion habe ich ihn nicht zu Ihnen durchgestellt.“
Singer war einen Augenblick sprachlos. Frau Peters nutzte dies, um gleich fortzufahren. „Es ist nach meiner Erfahrung nie gut, in diesem sensiblen Bereich einem Gesprächspartner spontan seine Meinung zu sagen. Dies könnte die vielleicht erforderliche Zusammenarbeit von vornherein belasten. In meiner langen Zeit ...“
Singer stoppte seine (wie er sie heimlich nannte) Lehrmeisterin, indem er aufsprang und „Ist ja gut, Frau Peters, Sie haben ja recht!“ ausrief. „Rufen Sie bitte zurück und sagen Sie dem Kollegen, dass ich über Skype in etwa zwei Stunden zur Verfügung stehe. Bis dahin habe ich noch Einiges zu recherchieren.“
Frau Peters nickte stumm, machte auf dem Absatz kehrt und eilte an ihr Telefon.
Als sie draußen war, rief Singer auf seinem Rechner den dreifach gesicherten, nur ihm und der Präsidialabteilung zugänglichen Operations-Account der Abteilung SO auf. Die Suchfunktion gliederte sich nach Operationsgebieten, Auftragsdefinition und nach mit der Sache befassten Mitarbeitern und -innen.
Singer gab die Nummer 7301 ein. Es erschien das Ausweisfoto seiner Außendienstmitarbeiterin Anna Leutlov. Er scrollte weiter und fand unter „Aktuelles“ den Auftrag „NW Methyl“, in dem sie zur Zeit in Norwegen eingesetzt war.
Er erinnerte sich undeutlich an eine länger zurückliegende Abteilungsbesprechung, in der unter anderem von „Industriespionage“, „norwegischen Forschern“, „Methan“ und „CO2-Reduktion“ die Rede gewesen war. Offenbar diente das Stichwort „NW Methyl“ gleichzeitig der Assoziation wie auch der Verschleierung des eigentlichen Operationsziels.
Wenn Anna in Schwierigkeiten geraten und nicht (wovon er ausging) die Leiche sein sollte, dann gäbe es für die Wanze im Ohrstecker der Toten zwei Erklärungen: Entweder konnte Anna sich nicht melden und es war eine Botschaft an seine Abteilung, letztlich an ihn. Oder Anna wollte als tot erscheinen, um freie Bahn für weitere Nachforschungen beziehungsweise Aktionen zu haben. Ein nicht unübliches Vorgehen in der „Höhle des Löwen“.
Am Wahrscheinlichsten war eine Kombination aus beiden Alternativen.
Es ergaben sich zwei Schlussfolgerungen: Erstens musste die Identität der Toten geklärt, gegenüber den norwegischen Kollegen aber verschleiert werden. „Zweitens brauche ich die Wanze“, sagte er sich selbst.
Es würde nicht einfach sein, den Kollegen auf der einen Seite hinzuhalten, andererseits aber Wanze und Leiche zu bekommen.
Nachdem er sich eine Gesprächstaktik zurechtgelegt hatte, rief er mehrere Seiten mit Informationen über das System der norwegischen Polizei sowie des Rechtssystems auf.
Nach einer Stunde intensiven Studiums sah er dem Gespräch mit Optimismus entgegen.
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Immer, wenn er den endlos scheinenden Gang betrat, ergriff ihn dieses Schaudern und Frösteln. Daran würde er sich wohl nie gewöhnen.
Seit mehr als einem Jahr trat er zweimal wöchentlich seinen Kontrollgang im „Globalt Sikkerhetshvelv for frø på Svalbard“ (Weltweiter Saatgut-Tresor auf Svalbard) an. Und es war trotz der auf Spitzbergen herrschenden niedrigen Temperaturen immer wieder ein kleiner Schock, in das auf minus achtzehn Grad heruntergekühlte Gebäude zu kommen.
Doch sein Frösteln rührte nicht etwa von dem Kälteschock her. Seine Dienstkleidung hielt die Kälte komplett ab. Es war wie immer die indifferente Angst, in dieser von Menschenhand geschaffenen unterirdischen Anlage gefangen zu sein.
Und natürlich auch die Angst vor Entdeckung.
Worauf hatte er sich da nur eingelassen? Er, honoriger promovierter Master Of Science mit den Fachgebieten 'Advanced Materials', 'Biological Recognition', Molecular Sciences' und 'Medicinal and Industrial Pharmaceutical Sciences' hatte nie etwas anderes gewollt, als wissenschaftlich zum Nutzen der Menschheit zu forschen. Er wollte mithelfen, die trotz Nahrungsüberfluss vorhandene ungleiche Verteilung und die damit verbundenen Hungerkatastrophen zu beseitigen.
Ein hehrer Ansatz.
Master Sc. Sven Johansson schüttelte den Kopf, nahm kurz die Fellmütze ab und fuhr sich mit der behandschuhten Hand durch sein schütteres Haar. Was war hingegen aus ihm geworden? Ein Verräter an der Sache, ein Krimineller! Und an allem war sie schuld! Sie!
Schon immer war er ein Außenseiter gewesen. Zu seiner von Mitschülern und Mitschülerinnen und später auch von Kommilitonen und -innen verspotteten intensiven Neigung zu den Naturwissenschaften der Biologie und Chemie kam noch sein völlig nichtssagendes Äußeres hinzu. Er war immer Jahrgangskleinster gewesen, auch heute maß er nicht mehr als ein Meter fünfundsechzig. Seine fahle Hautfarbe war immer noch mit Sommersprossen übersäht und das linke Bein war etwa eineinhalb Zentimeter kürzer als das rechte.
„Haltande spöke“ hatten sie ihm wegen seines leichten Hinkens und seiner gespensterartigen Blässe hinterher gerufen. Sogar seine Eltern hatten diese Worte ab und zu gewählt, wenn sie sich über ihn geärgert hatten.
Vor diesem Hintergrund ohne Freunde, ja ohne jegliche soziale Kontakte, zog er sich ganz auf sich und seine Studien der Natur zurück. Nach dem Abitur studierte er mit hundertprozentigem Einsatz und wurde auf seinem Gebiet zu einem international angesehenen Spezialisten. So versuchten die unterschiedlichsten Organisationen, sich seiner Mitarbeit zu versichern. Doch er wollte eigentlich in Schweden, in seinem geliebten Uppsala bleiben.