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ECHO – Die Stimme in meinem Kopf Lena Weber hat einen außergewöhnlichen Verstand. Als erfolgreiche Anwältin verlässt sie sich auf ihre Logik und Intuition – bis sie eines Abends allein in ihrem Büro eine flüsternde Stimme hört, die sie vor unsichtbaren Gefahren warnt. „Du kannst ihnen nicht trauen. Sie beobachten dich." Das Flüstern wird lauter, eindringlicher, erschreckend präzise. Während Lena an ihrem Verstand zu zweifeln beginnt, entdeckt sie Ungereimtheiten in den Unterlagen zu einem wichtigen Fall. Die Stimme hatte recht – etwas stimmt nicht. Was als beunruhigende Erfahrung beginnt, verwandelt sich in einen Albtraum, als Lena herausfindet, dass sie selbst Gegenstand eines grausamen Experiments ist. Ein Medikament namens Neuroxetin wurde ihr ohne ihr Wissen verabreicht – von Menschen, denen sie vertraut hat. Sogar ihre beste Freundin Sarah ist Teil der Verschwörung. Die flüsternde Stimme entpuppt sich als „Echo-Kognition" – eine seltene Fähigkeit, die das Unterbewusstsein verstärkt und ihm eine Stimme verleiht. Während die meisten Menschen unter dem Medikament manipulierbar werden, erwacht in Lena eine Gabe, die ihr Leben retten könnte. Auf der Flucht vor ihren Verfolgern stößt Lena auf eine Widerstandsgruppe, die eine globale Verschwörung namens SENTINEL aufdecken will. Ein Netzwerk aus Pharmaunternehmen, Technologiekonzernen und Regierungsbehörden arbeitet daran, die Gedanken der Bevölkerung subtil zu kontrollieren. Doch hinter SENTINEL verbirgt sich ein noch dunkleres Geheimnis. Mit nichts als ihrer mysteriösen neuen Fähigkeit muss Lena nicht nur um ihr Leben kämpfen, sondern auch um die Freiheit des menschlichen Geistes. Dabei stellt sie fest, dass selbst die Wahrheit Schichten hat – und dass die größte Gefahr nicht immer von außen kommt. Wem kann sie trauen, wenn selbst die Stimme in ihrem Kopf manipuliert werden könnte? Und was, wenn die Verschwörung, die sie bekämpft, nur Teil eines noch größeren Plans ist? ECHO ist ein atemloser Psychothriller über die Grenzen des Bewusstseins, die Macht der Intuition und die Frage, ob wir jemals wirklich frei sind in unseren Gedanken – oder ob selbst unser Widerstand Teil des Experiments sein könnte.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Prolog: Die Stimme
Kapitel 1: Die ersten Anzeichen
Kapitel 2: Wachsende Zweifel
Kapitel 3: Verborgene Wahrheiten
Kapitel 4: Fluchtplan
Kapitel 5: Verbündete
Kapitel 6: Wahrheiten und Lügen
Kapitel 7: Echos der Wahrheit
Kapitel 8: Im Kern der Finsternis
Kapitel 9: Die Wahrheit entfesseln
Kapitel 10: Das ECHO-Protokoll
Epilog: Neue Horizonte
Danksagung
Über die Autorin
"Für alle, die den Mut haben, auf die leise Stimme in ihrem Inneren zu hören. Und für meine Familie, die meine lauteste Motivation ist." Vorwort
Die menschliche Psyche ist ein faszinierendes Labyrinth – voller Geheimnisse, verborgener Wahrheiten und manchmal auch Stimmen, die wir nur zu ignorieren gelernt haben.
Seit 2019 bin ich als Hauptschöffin am Strafgericht tätig und durfte in dieser Zeit zahlreiche Fälle miterleben. Diese Erlebnisse waren so vielfältig wie das Leben selbst – mal tragisch, mal humorvoll. Einige davon haben sich so tief in mein Gedächtnis eingeprägt, dass sie mir bis heute nachklingen.
In meiner Rolle als Laienrichterin habe ich gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen, auf meine Intuition zu hören und manchmal eine Wahrheit zu erkennen, die nicht immer offensichtlich ist. Diese Erfahrung hat mich zu der Frage inspiriert: Was wäre, wenn diese Intuition mehr wäre als nur ein Gefühl? Was, wenn sie eine Stimme bekäme, die uns warnt, führt und schützt?
"ECHO – Die Stimme in meinem Kopf" ist meine fiktive Antwort auf diese Frage – ein Thriller, der die Grenzen zwischen Intuition und Manipulation, zwischen Freiheit und Kontrolle erforscht.
Ich lade dich ein, gemeinsam mit Lena dieser Stimme zu folgen, wohin auch immer sie führen mag.
Münevver Can
Zwei Jahre vor den Ereignissen in Kapitel 1
Professor Dieter Hollmann stand allein im Labor, umgeben von Monitoren, die im Halbdunkel bläulich schimmerten. Draußen war die Nacht längst hereingebrochen, der Neurodelli-Forschungskomplex hatte sich geleert, nur eine Handvoll Sicherheitsleute patrouillierten noch in den weitläufigen Gängen. Die Stille war perfekt für das, was er vorhatte.
Auf dem Hauptbildschirm leuchtete ein Gehirnscan – Farbkaskaden, die neuronale Aktivitäten markierten, ein faszinierendes Muster von Verbindungen und Impulsen. Daneben, auf einem zweiten Monitor, lief eine endlose Kolonne von Daten, Zahlen, Formeln. Und auf einem dritten Bildschirm: ein Gesicht. Eine Frau, Mitte dreißig, mit klaren, intelligenten Augen und einem konzentrierten Ausdruck.
"Lena Weber", murmelte Hollmann, während er das Profil studierte. "Anwältin. IQ von 147. Ausgeprägte analytische Fähigkeiten. Starke intuitive Muster in den vorläufigen Tests." Er lächelte leicht. "Perfekt."
Er griff nach einer Tasse längst erkalteten Kaffees, nahm einen Schluck, verzog das Gesicht. Zwanzig Jahre Forschung hatten ihn hierhergeführt. Zwanzig Jahre, in denen er dem Phänomen nachgespürt hatte, das er "Echo-Kognition" nannte – jene tiefe, intuitive Ebene des Bewusstseins, die unter der Oberfläche des rationalen Denkens schlummerte. Ein evolutionäres Erbe, das die moderne Zivilisation zu ersticken drohte. Ein Potenzial, das nur darauf wartete, geweckt zu werden.
Hollmann öffnete eine verschlüsselte Datei auf seinem privaten Laptop. Das ECHO-Protokoll – sein Lebenswerk, seine Vision, sein Weg, die Menschheit auf die nächste Stufe der Evolution zu führen. Jahrelang hatte er im Verborgenen gearbeitet, hatte Ressourcen abgezweigt, hatte ein globales Netzwerk von Verbündeten aufgebaut. SENTONEL war nur die äußere Hülle, die sichtbare Fassade eines viel tieferen, weitreichenderen Plans.
"Phase II beginnt", sprach er leise in ein Diktiergerät. "Die Kandidatin wurde identifiziert. Die Vorbereitungen laufen. Neuroksetin-Exposition wird in den nächsten sechs Monaten eingeleitet, über den Kontakt in der Anwaltskanzlei." Eine kurze Pause. "Prognose für vollständige Echo-Kognition-Aktivierung: 94 Prozent."
Er schaltete das Gerät ab, lehnte sich zurück, ließ seinen Blick über die Bildschirme schweifen. So viele Variablen, so viele potenzielle Wendungen. Selbst mit all seiner Planung, all seiner Vorsicht, blieb ein Element des Unbekannten. Würde Lena Weber reagieren, wie er es vorausberechnet hatte? Würde die Echo-Kognition in ihr erwachen, stark und klar? Würde sie den Weg finden, den er für sie vorgesehen hatte?
Ja, das wird sie, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. Seine eigene Echo-Kognition, entwickelt über Jahre der Selbstexperimente, der Stimulation, der Kultivierung. Sie ist der Katalysator, den wir brauchen.
Hollmann lächelte in die Dunkelheit. Die Menschheit stand an der Schwelle zu einer neuen Ära des Bewusstseins. Und er, Dieter Hollmann, würde sie über diese Schwelle führen – mit Hilfe einer Anwältin, die noch keine Ahnung hatte, welche Rolle sie in der Evolution der Spezies spielen würde.
"Beginnen wir", sagte er und drückte eine Taste auf seiner Tastatur. Ein Befehl wurde gesendet, ein Prozess in Gang gesetzt, ein Zahnrad im komplexen Getriebe seines Plans begann sich zu drehen.
Im Haus einer gewissen Lena Weber, zwanzig Kilometer entfernt, leuchtete ein Smartphone kurz auf. Eine Nachricht war eingegangen – ein Stellenangebot von einer angesehenen Anwaltskanzlei.
Die erste Stimme, das erste Echo, begann zu flüstern.
Lena, eine erfolgreiche Anwältin Mitte dreißig, war für ihre analytische Denkweise und ihre Fähigkeit bekannt, selbst die komplexesten rechtlichen Fragen zu durchdringen. Sie hatte an einer der besten Universitäten des Landes studiert und sich schnell einen Namen als unerschrockene Verteidigerin gemacht. Ihre Kollegen bewunderten sie, ihre Klienten vertrauten ihr blind, und ihre Gegner fürchteten ihre messerscharfe Argumentation.
Aber in den letzten Monaten hatte sich etwas verändert. Zunächst waren es nur kleine Dinge: Sie vergaß gelegentlich Termine, suchte in ihrer Wohnung stundenlang nach Schlüsseln, die sie an ungewöhnlichen Orten wiederfand, und bemerkte immer häufiger, dass sie sich schlecht konzentrieren konnte. Lena schob diese Veränderungen auf den Stress. Die Anforderungen an eine erfolgreiche Anwältin waren hoch, und der Druck, den Erwartungen ihrer Klienten und ihrer Kanzlei gerecht zu werden, lastete schwer auf ihr.
An einem späten Freitagnachmittag, während sie allein in ihrem Büro saß, begann es jedoch. Der Raum war in ein gedämpftes Licht getaucht, das die Schatten der Bücherregale und Aktenstapel auf dem Boden tanzen ließ. Das Summen der Neonlampe an der Decke summte leise, ein ständiger Begleiter der späten Arbeitsstunden. Lenas Finger flogen über die Tastatur, während sie sich durch eine Klageschrift arbeitete, als sie plötzlich ein Flüstern hörte.
Es war nur ein Hauch von Worten, kaum wahrnehmbar, als wäre jemand direkt hinter ihr.
"Was... war das?" murmelte sie und hob den Kopf. Ihre Augen wanderten durch den Raum. Niemand war da.
Sie schüttelte den Kopf, rieb sich die Schläfen und nahm einen Schluck von ihrem mittlerweile kalten Kaffee. Wahrscheinlich Einbildung, dachte sie. Vielleicht war es nur das Echo der Stimmen ihrer Kollegen, die den Flur entlanggingen. Sie zwang sich, weiterzuarbeiten.
Doch das Flüstern kehrte zurück. Diesmal war es deutlicher, ein geflüsterter Satz, den sie jedoch nicht ganz verstehen konnte. Sie hielt inne, lauschte angestrengt. Die Luft in ihrem Büro schien dicker zu werden, als würde sie sich um sie herum verdichten. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.
"Hallo? Ist da jemand?" Ihre eigene Stimme klang unsicher, und das irritierte sie. Sie war nicht der Typ Mensch, der sich von seltsamen Geräuschen verunsichern ließ.
Es blieb still. Nur das Summen der Neonlampe.
Lena atmete tief durch, schüttelte erneut den Kopf und zwang sich zu einem Lächeln. Sie stand auf, ging zum Fenster und schaute hinunter auf die nächtliche Stadt. Die Straßenlampen tauchten den Asphalt in ein warmes Orange, während vereinzelt Autos vorbeizogen. Alles schien normal. Doch in ihrem Kopf hallte das Flüstern nach.
In den folgenden Tagen häuften sich die seltsamen Vorkommnisse. Die Stimmen wurden häufiger, und manchmal hatte sie das Gefühl, sie würde beobachtet. Ihr Büro fühlte sich nicht mehr wie ein sicherer Ort an, sondern wie ein Raum voller unsichtbarer Augen. Nachts, wenn sie allein zu Hause war, hörte sie die Stimmen noch intensiver. Sie waren nicht mehr nur ein Flüstern. Manchmal waren es Bruchstücke von Sätzen, manchmal undeutliche Laute. Einmal glaubte sie sogar, ihren eigenen Namen zu hören.
Eines Abends, als sie erschöpft auf ihrem Sofa saß und ihr Handy nach einer Nachricht von ihrer besten Freundin durchscrollte, erklang plötzlich eine klare, kalte Stimme:
"Du kannst ihnen nicht trauen."
Lena erstarrte. Sie drehte sich ruckartig um, ihr Blick huschte durch das dunkle Wohnzimmer. Nichts. Ihre Hände zitterten leicht, als sie ihr Glas Wasser abstellte.
"Wer ist da?" Ihre Stimme war heiser.
Keine Antwort. Nur Stille. Und dann, nach einer endlosen Sekunde, wieder das Flüstern, diesmal sanfter, fast beschwörend:
"Sie beobachten dich."
Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken. Ihr Herz raste, als sie sich zwang, tief durchzuatmen. War sie überarbeitet? War das alles nur Einbildung? Sie musste schlafen, einfach schlafen, und morgen würde alles wieder normal sein.
Aber tief in ihr regte sich ein beklemmendes Gefühl. Etwas war nicht in Ordnung. Und sie konnte es nicht mehr ignorieren.
Am nächsten Morgen wachte Lena schweißgebadet auf. Die Bettlaken waren feucht und verknotet, ein stummes Zeugnis ihrer unruhigen Nacht. Die Albträume waren so real gewesen, dass sie noch immer den metallischen Geschmack von Angst auf ihrer Zunge spürte. Albträume von dunklen Korridoren, flüsternden Schatten und dem Gefühl, gejagt zu werden.
Sie schlug die Decke zurück und rieb sich die brennenden Augen. Die Digitaluhr neben ihrem Bett zeigte 5:47 Uhr. Es war noch dunkel draußen, aber an Schlaf war nicht mehr zu denken. Mit einem tiefen Seufzer stand sie auf und schlurfte ins Bad.
Das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, war nicht das einer erfolgreichen Anwältin. Dunkle Ringe unter den Augen, die Haut fahl, die sonst so sorgfältig frisierten Haare ein wirres Durcheinander. Sie drehte den Wasserhahn auf und ließ kaltes Wasser über ihre Handgelenke laufen. Ein alter Trick, den ihr Vater ihr beigebracht hatte, um einen klaren Kopf zu bekommen.
"Es ist nur Stress", murmelte sie ihrem Spiegelbild zu. "Nur der verdammte Stress."
Aber die Worte von gestern Abend hallten noch immer in ihrem Kopf wider. Du kannst ihnen nicht trauen. Sie beobachten dich.
Wem konnte sie nicht trauen? Wer beobachtete sie? Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie die Gedanken einfach abschütteln wie Wassertropfen.
Zwei Stunden und drei Tassen starken Kaffees später saß Lena an ihrem Schreibtisch in der Kanzlei. Es war Samstag, aber der Berg an Akten für den Hollowey-Fall erlaubte keine Wochenendpause. Ein komplizierter Fall von Wirtschaftsbetrug, bei dem es um Millionen ging. Die Art von Fall, die ihre Karriere entweder auf die nächste Stufe heben oder in Trümmern zurücklassen würde.
Sie versuchte, sich zu konzentrieren, die Zahlen zu analysieren, Muster zu erkennen. Aber die Buchstaben auf dem Bildschirm verschwammen vor ihren Augen, und immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie über die Schulter blickte, als erwartete sie, jemanden dort zu sehen.
Ein sanftes Klopfen an der Tür ließ sie zusammenzucken.
"Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken." Martin Berger, einer der Juniorpartner, stand in der Tür. Seine hohe Gestalt füllte fast den gesamten Türrahmen aus. "Ich dachte, ich wäre der Einzige, der am Wochenende hier ist."
Lena zwang sich zu einem Lächeln. "Hollowey. Der Fall lässt mir keine Ruhe."
Martin nickte verständnisvoll und trat näher. Er war attraktiv auf diese unauffällige Art, die man erst bemerkte, wenn man genauer hinsah. Dunkle Haare, gepflegter Dreitagebart, kluge Augen hinter einer randlosen Brille. In den drei Jahren, seit er zur Kanzlei gestoßen war, hatten sie gut zusammengearbeitet. Kollegial, professionell. Nichts weiter.
"Du siehst erschöpft aus", sagte er und lehnte sich gegen ihren Schreibtisch. "Vielleicht solltest du eine Pause machen. Ein Wochenende frei nehmen."
"Kann ich nicht." Lena rieb sich die Schläfen. "Die Verhandlung beginnt in zwei Wochen, und ich bin noch nicht..."
Du kannst ihm nicht trauen.
Die Stimme war so deutlich, dass Lena mitten im Satz stockte. Sie musste unwillkürlich zu Martin hochsehen, um zu prüfen, ob er es auch gehört hatte. Aber sein Gesichtsausdruck blieb unverändert, leicht besorgt, aufmerksam.
"Alles in Ordnung?", fragte er.
"Ja, ich... ich habe nur gerade einen Gedanken verloren." Sie lächelte entschuldigend.
Martin betrachtete sie einen Moment zu lang, bevor er nickte. "Hör zu, ich gehe kurz einen Kaffee holen. Soll ich dir auch einen mitbringen?"
"Nein, danke. Ich hatte schon zu viel."
Als er gegangen war, ließ Lena den Kopf in ihre Hände sinken. Was geschah mit ihr? War sie dabei, den Verstand zu verlieren? Die Stimmen waren eine Sache, aber jetzt begannen sie, ihr zu sagen, dass sie misstrauisch sein sollte. Gegenüber Martin? Warum ausgerechnet er?
Sie griff nach ihrem Handy und tippte eine Nachricht an ihre beste Freundin Sarah.
Bist du heute Abend zu Hause? Ich muss reden.
Die Antwort kam fast sofort: Klar. Alles ok bei dir?
Erzähle ich dir später. 19 Uhr bei dir?
Passt. Ich besorge Wein.
Lena legte das Handy beiseite und versuchte erneut, sich auf den Fall zu konzentrieren. Doch immer wieder schweiften ihre Gedanken ab. Zu den Stimmen. Zu dem seltsamen Gefühl des Beobachtet werden. Und zu Martins zu langem Blick.
Nach einer Stunde gab sie auf. Sie würde nach Hause fahren, sich ausruhen und dann zu Sarah gehen. Sarah würde wissen, was zu tun war. Sie hatte immer gewusst, was zu tun war, seit sie Kinder waren.
Als sie ihre Aktentasche packte, fiel ihr Blick auf einen Post-it-Zettel auf ihrem Schreibtisch. Sie erstarrte. Die Notiz war mit ihrer eigenen Handschrift geschrieben, aber sie konnte sich nicht erinnern, sie verfasst zu haben.
Sieh dir die Akte 317-B an.
Die Wahrheit liegt in den Zahlen.
Mit zitternden Fingern nahm sie den Zettel und starrte ihn an. Akte 317-B? Sie wusste nicht einmal, welcher Fall das war. Und welche Zahlen? Welche Wahrheit?
Langsam öffnete sie ihre Schreibtischschublade und legte den Zettel hinein. Sie musste einen klaren Kopf bekommen. Sie musste verstehen, was mit ihr geschah.
Als sie die Kanzlei verließ, bemerkte sie nicht den schwarzen Sedan, der ihr langsam durch die Straßen folgte.
Sarahs Wohnung war wie immer ein Zufluchtsort der Normalität. Gemütliche Möbel, warmes Licht, der Duft von frisch gebackenem Brot. Sarah selbst, mit ihren wilden roten Locken und dem ansteckenden Lachen, war ein wandelndes Gegenmittel gegen die Dunkelheit, die sich in Lenas Gedanken eingenistet hatte.
"Du siehst furchtbar aus", begrüßte Sarah sie mit unverblümter Ehrlichkeit und drückte ihr ein Glas Rotwein in die Hand. "Was ist los?"
Lena zögerte. Wie sollte sie anfangen? Ich höre Stimmen klang selbst in ihren Gedanken wie der Beginn einer Geschichte, die in einer psychiatrischen Klinik endete.
"Ich glaube, ich leide unter Erschöpfung", begann sie vorsichtig, während sie sich auf Sarahs weiche Couch sinken ließ. "Ich schlafe schlecht, kann mich nicht konzentrieren, und... manchmal habe ich das Gefühl, dass jemand mich beobachtet."
Sarah setzte sich neben sie und musterte sie aufmerksam. "Wann hat das angefangen?"
"Vor ein paar Wochen. Erst waren es nur Kleinigkeiten. Vergesslichkeit, Konzentrationsprobleme. Aber jetzt..."
"Jetzt was?"
Lena nahm einen großen Schluck Wein. "Jetzt höre ich Dinge. Stimmen."
Sarah schwieg einen Moment. Keine Panik, keine sofortige Diagnose. Das war es, was Lena an ihr schätzte. Sarah dachte nach, bevor sie sprach.
"Was sagen diese Stimmen?"
"Sie warnen mich. Sagen, dass ich niemandem trauen kann. Dass 'sie' mich beobachten." Lena lachte kurz, ein nervöses, hohles Geräusch. "Klassische Paranoia, oder?"
Sarah lehnte sich zurück und betrachtete ihre Freundin nachdenklich. "Wann hast du zuletzt Urlaub gemacht? Richtig Urlaub, nicht nur ein verlängertes Wochenende zwischen zwei Fällen?"
"Ich kann mir keinen Urlaub leisten, nicht jetzt. Der Hollowey-Fall..."
"Scheiß auf den Hollowey-Fall", unterbrach Sarah sie. "Deine Gesundheit ist wichtiger."
Lena schüttelte den Kopf. "Du verstehst das nicht. Dieser Fall könnte alles verändern. Wenn ich gewinne, bin ich auf dem Weg zur Partnerschaft. Wenn ich verliere..."
"Wenn du zusammenbrichst, nützt dir keine Partnerschaft der Welt etwas", sagte Sarah sanft. Sie griff nach Lenas Hand. "Hör zu, ich kenne dich seit zwanzig Jahren. Du warst immer die Starke, die Vernünftige. Aber selbst die Stärksten brauchen manchmal Hilfe."
Lena spürte, wie ihre Kehle eng wurde. "Ich weiß nicht, was mit mir passiert", flüsterte sie. "Ich habe Angst, dass ich den Verstand verliere."
"Das tust du nicht", sagte Sarah mit fester Stimme. "Aber du brauchst Hilfe. Professionelle Hilfe."
"Einen Psychiater? Wenn das in der Kanzlei bekannt wird..."
"Es muss niemand erfahren. Ich kenne jemanden. Dr. Klein. Er ist diskret, kompetent, und er schuldet mir einen Gefallen."
Lena wollte protestieren, aber die Erschöpfung der letzten Wochen holte sie ein. Vielleicht hatte Sarah Recht. Vielleicht brauchte sie wirklich Hilfe.
"Okay", sagte sie schließlich. "Aber niemand darf davon erfahren. Besonders nicht in der Kanzlei."
Sarah nickte und reichte ihr das Telefon. "Ruf ihn an. Jetzt gleich. Er wird dich sehen, auch am Sonntag."
Als Lena die Nummer wählte, bemerkte sie nicht, wie Sarah diskret ihr eigenes Handy aus der Tasche zog und eine kurze Nachricht tippte.
Sie hat Verdacht. Plan B aktivieren.
Sarahs Gesicht verriet nichts, als sie ihre Freundin beobachtete, die mit zitternden Händen telefonierte. Ihre Augen jedoch, normalerweise warm und lachend, waren plötzlich kalt und berechnend.
Die Wahrheit liegt in den Zahlen.
Aber welche Zahlen? Und welche Wahrheit?
Dr. Kleins Praxis befand sich in einem unauffälligen Altbau am Rande der Innenstadt. Keine goldenen Buchstaben an der Tür, kein auffälliges Schild, nur ein dezenter Hinweis neben der Klingel: "Dr. K. Klein, Termin nach Vereinbarung". Lena zögerte, bevor sie den Knopf drückte. Es war Sonntag, und die Straße lag verlassen da. Zweimal hatte sie sich auf dem Weg hierher umgedreht, um zu prüfen, ob ihr jemand folgte. Einbildung oder Vorsicht? Sie wusste es selbst nicht mehr.
Ein Summen ertönte, die Tür sprang auf. Im Treppenhaus roch es nach Bohnerwachs und altem Holz. Lena stieg langsam die drei Stockwerke hinauf, ihre Schritte hallten von den Wänden wider. Im dritten Stock erwartete sie bereits ein schmaler, hochgewachsener Mann mit silbergrauem Haar und einer randlosen Brille. Er trug keinen weißen Kittel, sondern eine dunkle Hose und einen hellgrauen Rollkragenpullover.
"Frau Weber? Dr. Klein." Er streckte ihr die Hand entgegen. Sein Händedruck war fest, aber nicht unangenehm. "Kommen Sie herein."
Die Praxis war anders, als Lena erwartet hatte. Keine stereotypische Couch, keine Bilder von Rorschach-Tests an den Wänden. Stattdessen ein heller, freundlicher Raum mit bequemen Sesseln, Bücherregalen aus dunklem Holz und einem großen Fenster, das auf einen begrünten Innenhof hinausging.
"Nehmen Sie Platz", sagte Dr. Klein und deutete auf einen der Sessel. "Möchten Sie einen Tee?"
Lena schüttelte den Kopf. "Nein, danke."
Sie beobachtete, wie der Psychiater sich ihr gegenüber niederließ. Seine Bewegungen waren ruhig und präzise. Auf dem kleinen Tisch zwischen ihnen lag ein Notizbuch, aber er machte keine Anstalten, es zu öffnen.
"Sarah hat mir bereits einiges erzählt", begann er, "aber ich würde gerne von Ihnen selbst hören, was Sie zu mir führt."
Lena atmete tief durch. "Ich... höre Stimmen."
Dr. Klein nickte, ohne eine Miene zu verziehen.
"Seit wann?"
"Seit ein paar Wochen. Anfangs nur gelegentlich, ein Flüstern hier und da. Aber jetzt werden sie... konkreter."
"Was sagen diese Stimmen?"
"Sie warnen mich. Sagen, dass ich niemandem trauen kann. Dass ich beobachtet werde." Lena lachte kurz, ein nervöses Geräusch. "Klassische Paranoia, richtig?"
Dr. Klein lehnte sich zurück und betrachtete sie aufmerksam. "Nicht unbedingt. Auditive Halluzinationen können verschiedene Ursachen haben. Stress, Schlafmangel, bestimmte Medikamente... Nehmen Sie irgendwelche Medikamente, Frau Weber?"
"Nein, nur gelegentlich eine Schlaftablette."
"Welche?"
"Solbidem. Aber selten."
Dr. Klein notierte etwas. "Wie sieht es mit Ihrem Schlaf aus?"
"Unruhig. Ich träume viel, meistens Albträume." Sie zögerte. "Und manchmal... manchmal bin ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt geschlafen habe."
Der Psychiater nickte erneut. "Erzählen Sie mir von Ihrer Arbeit."
Lena begann zu berichten. Von dem Druck in der Kanzlei, von dem Hollowey-Fall, von den endlosen Akten und Terminen. Je mehr sie sprach, desto leichter fiel es ihr. Dr. Klein stellte ab und zu eine Frage, nickte verständnisvoll, aber größtenteils ließ er sie einfach reden.
"Dieser Hollowey-Fall", sagte er schließlich, "scheint eine große Belastung für Sie zu sein."
"Er ist wichtig", erwiderte Lena. "Karrieredefinierend."
"Worum geht es in diesem Fall?"
Lena zögerte. Eigentlich durfte sie nicht über Details sprechen, schon gar nicht mit Außenstehenden. Aber Dr. Klein war Arzt, unterlag der Schweigepflicht, und vielleicht war es wichtig für ihre Behandlung.
"Robert Hollowey ist der CEO von Nexudell Pharma", begann sie. "Das Unternehmen steht unter Verdacht, Testergebnisse für ein neues Medikament gefälscht zu haben. Ein Antidepressivum namens Neuroksetin. Es wurde vor zwei Jahren zugelassen, aber jetzt gibt es Berichte über schwere Nebenwirkungen. Paranoia, Halluzinationen, Schlaflosigkeit."
Dr. Kleins Gesicht blieb ausdruckslos, aber seine Finger, die mit einem Stift spielten, hielten kurz inne. "Und Sie verteidigen Herrn Hollowey?"
"Die Kanzlei vertritt Nexudell Pharma seit Jahren. Ich leite das Team, das die finanziellen Aspekte des Falls untersucht. Wir müssen beweisen, dass das Unternehmen keine Kenntnis von den Problemen hatte, als das Medikament auf den Markt kam."
"Glauben Sie das? Dass sie keine Kenntnis hatten?"
Die Frage überraschte Lena. "Das ist nicht meine Aufgabe. Ich verteidige meinen Mandanten."
Dr. Klein lehnte sich vor. "Frau Weber, als Ihr Arzt muss ich Ihnen einige direkte Fragen stellen. Haben Sie jemals Neuroksetin eingenommen?"
"Nein, natürlich nicht."
"Sind Sie sicher? Keine Versuchsreihe, keine Proben von Kollegen oder Bekannten?"
"Ich sagte bereits nein." Lena spürte, wie Irritation in ihr aufstieg. Was versuchte er zu implizieren?
Der Psychiater nickte langsam. "In Ordnung. Aber Sie arbeiten seit Monaten mit den Akten zu diesem Fall. Sie kennen die Testprotokolle, die Nebenwirkungen. Ist es möglich, dass das, was Sie erleben, durch diese intensive Beschäftigung ausgelöst wurde? Eine Art... Suggestion?"
Lena öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber dann hielt sie inne. War das möglich? Hatte sie sich selbst so tief in den Fall hineingegraben, dass sie die Symptome zu erleben begann?
"Ich... weiß es nicht", gab sie schließlich zu.
Dr. Klein lächelte leicht. "Das ist ein guter Anfang. Ehrlichkeit gegenüber sich selbst."
Er stand auf und ging zu einem der Bücherregale. "Ich möchte Ihnen etwas verschreiben, das Ihnen helfen wird, besser zu schlafen. Keine klassischen Schlafmittel, sondern etwas Sanfteres. Und ich würde gerne einige weitere Tests durchführen, um organische Ursachen auszuschließen."
Lena beobachtete, wie er in einer Schublade kramte und schließlich mit einer kleinen weißen Schachtel zurückkehrte. Er reichte sie ihr.
"Eine Kapsel vor dem Schlafengehen. Nicht mehr."
Lena nahm die Schachtel entgegen und las das Etikett: "Somnalux". Der Name sagte ihr nichts.
"Ist das neu auf dem Markt?" fragte sie.
"Ein neueres Präparat, ja. Sehr effektiv bei stressbedingten Schlafstörungen."
Als Lena die Praxis verließ, hatte sie ein seltsam zwiespältiges Gefühl. Einerseits war es erleichternd gewesen, mit jemandem zu sprechen, der sie ernst nahm und nicht sofort für verrückt erklärte. Andererseits... etwas an Dr. Klein hatte sie verunsichert. Die Art, wie er reagiert hatte, als sie Neuroksetin erwähnte. Fast unmerklich, aber für jemanden, der beruflich auf kleinste Anzeichen von Nervosität oder Unwahrhaftigkeit achtete, durchaus wahrnehmbar.
Auf dem Heimweg kaufte sie einen Kaffee und setzte sich in einen kleinen Park. Die herbstliche Sonne tauchte die Bäume in goldenes Licht, und für einen Moment konnte Lena fast vergessen, was mit ihr geschah. Sie zog ihr Handy heraus und suchte nach "Somnalux". Seltsamerweise fand sie kaum Informationen. Eine kurze Erwähnung auf einer medizinischen Website, aber keine Patientenbewertungen, keine detaillierten Beschreibungen. Als hätte das Medikament kaum digitale Spuren hinterlassen.
Ein Hauch von Unbehagen überkam sie. Sie öffnete die Schachtel und betrachtete die kleinen weißen Kapseln. Sollte sie sie wirklich nehmen?
Vertrau ihm nicht.
Die Stimme war leise, aber deutlich. Lena schloss die Augen und atmete tief durch. Nicht wieder. Nicht hier.
Sieh dir die Akte an. 317-B.
Die Wahrheit liegt in den Zahlen.
Sie öffnete die Augen und starrte auf die Pillenschachtel in ihrer Hand. Vielleicht würden diese Pillen helfen. Vielleicht würden die Stimmen verschwinden.
Oder vielleicht versuchten die Stimmen, ihr etwas mitzuteilen, das sie nicht ignorieren sollte.
Am nächsten Morgen betrat Lena früh die Kanzlei. Sie hatte die Nacht damit verbracht, über Dr. Kleins Worte nachzudenken. War es möglich, dass ihre Symptome rein psychosomatisch waren? Eine Reaktion auf den Stress und die intensive Beschäftigung mit dem Hollowey-Fall?
Sie hatte die Pille nicht genommen. Etwas hielt sie zurück. Eine Vorsicht, die ihr selbst irrational erschien. Stattdessen hatte sie bis tief in die Nacht recherchiert. Über Neuroksetin, über dessen Nebenwirkungen, über die Klagen, die gegen Nexudell Pharma eingereicht worden waren. Die Vorwürfe waren schwerwiegend: Gefälschte Testdaten, verschwiegene Nebenwirkungen, Bestechung von Zulassungsbehörden. Und mittendrin ihre Kanzlei, die das Unternehmen seit Jahren vertrat.
Zwei Dinge waren ihr aufgefallen. Erstens: Der medizinische Direktor von Nexudell Pharma, Dr. Victor Sternberg, hatte die Kanzlei plötzlich verlassen, kurz bevor die ersten Klagen eingereicht wurden. Zweitens: Die Testprotokolle für Neuroksetin trugen die interne Kennnummer 317.
317. Wie in Akte 317-B.
Lena schaltete ihren Computer ein und wartete ungeduldig auf den Startvorgang. Die Kanzlei war noch fast leer. Nur Herr Krause, der Sicherheitsmann, der immer die Frühschicht übernahm, nickte ihr grüßend zu.
"Schon so früh hier, Frau Weber? Wird ein langer Tag?"
"Ja, viel zu tun", antwortete sie mit einem gezwungenen Lächeln.
Sobald sie an ihrem Schreibtisch saß, öffnete sie das Aktenverzeichnis und suchte nach 317-B. Nichts. Keine Akte mit dieser Nummer. Sie versuchte verschiedene Variationen: 317b, 317/B, B-317. Immer das gleiche Ergebnis: keine Treffer.
Frustriert lehnte sie sich zurück. Was bedeutete das? War die Notiz, die sie geschrieben hatte, ohne sich daran zu erinnern, einfach Unsinn? Das Produkt eines übermüdeten Gehirns?
Ihr Blick fiel auf den Aktenschrank in der Ecke ihres Büros. Die physischen Kopien einiger besonders sensibler Dokumente wurden dort aufbewahrt, nicht digital. Mit plötzlicher Entschlossenheit stand sie auf und ging hinüber. Die oberste Schublade enthielt aktuelle Fälle, die mittlere ältere Fälle... und die unterste? Die unterste Schublade hatte sie seit Monaten nicht geöffnet.
Sie zog sie auf. Staub tanzte im Morgenlicht. Alte, vergilbte Aktenordner, beschriftet mit Zahlen und Buchstaben. 301-A. 305-C. 312-B. Und ganz hinten, fast verborgen hinter den anderen: 317-B.
Lenas Herzschlag beschleunigte sich, als sie den Ordner herauszog. Er war dünn, enthielt nur wenige Seiten. Auf dem Etikett stand in verblasster Schrift: "NEXUDELL - Vorläufige Ergebnisse - VERTRAULICH".
Mit zitternden Händen öffnete sie den Ordner. Die erste Seite war ein Deckblatt, datiert auf den 15. März 2022, zwei Monate vor der offiziellen Zulassung von Neuroksetin. Darunter befanden sich Tabellen voller Zahlen und medizinischer Fachbegriffe. Testresultate, Patientendaten, statistische Analysen.
Lena war keine Medizinerin, aber sie hatte in den letzten Monaten genug über klinische Studien gelernt, um zu verstehen, was sie vor sich hatte. Dies waren die ursprünglichen Testergebnisse für Neuroksetin – und sie unterschieden sich erheblich von denen, die später bei der Zulassungsbehörde eingereicht wurden.
Hier, in der Spalte "schwere Nebenwirkungen", standen Zahlen, die in den offiziellen Dokumenten deutlich niedriger waren. Und ganz unten auf der letzten Seite, handschriftlich hinzugefügt: "Ergebnisse inakzeptabel für Zulassung. Neue Tests mit angepassten Parametern angeordnet."
Unterzeichnet von Dr. Victor Sternberg – und Martin Berger.
Martin. Ihr Kollege. Der Juniorpartner, der erst nach der Neuroksetin-Zulassung zur Kanzlei gestoßen war. Oder besser gesagt: Der erst nach der Neuroksetin-Zulassung offiziell zur Kanzlei gestoßen war.
Die Erkenntnis traf Lena wie ein Schlag. Martin musste schon vorher für die Kanzlei gearbeitet haben, vermutlich als externer Berater. Hatte er bei der Fälschung der Testdaten geholfen? War er deswegen so schnell aufgestiegen?
Du kannst ihm nicht trauen.
Die Stimme in ihrem Kopf klang nicht mehr bedrohlich. Sie klang wie eine Warnung. Eine Warnung, die sie hätte hören sollen.
Mit plötzlicher Klarheit erkannte Lena, dass die Stimmen sie nicht in den Wahnsinn trieben. Sie versuchten, sie zu beschützen.
Ein Geräusch an der Tür ließ sie zusammenzucken. Martin stand dort, sein Gesicht eine Maske aus Überraschung und etwas, das sie nicht sofort einordnen konnte. Besorgnis? Oder Angst?
"Lena? Was machst du da?"
Sie versuchte, den Ordner unauffällig zu schließen, aber es war zu spät. Martin hatte ihn bereits gesehen.
"Recherche für den Hollowey-Fall“, sagte sie, bemüht, ruhig zu klingen.
Martin trat näher, sein Blick auf den Ordner gerichtet. "Um diese Uhrzeit? Mit alten Akten?"
"Manchmal muss man zurückgehen, um vorwärts zu kommen." Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht überzeugend.
Martin schwieg einen Moment zu lang. Dann nickte er langsam. "Verstehe. Hast du mit Dr. Klein gesprochen? Sarah meinte, du wolltest ihn aufsuchen."
Ein kalter Schauer lief Lena über den Rücken. Woher wusste Martin von Dr. Klein? Sie hatte niemanden in der Kanzlei davon erzählt. Nur Sarah wusste Bescheid.
"Ja, gestern", antwortete sie vorsichtig. "Kennst du ihn?"
"Nur vom Hörensagen. Ein guter Mann, wenn man... Probleme hat."
Die Art, wie er "Probleme" betonte, ließ keinen Zweifel daran, was er meinte. Psychische Probleme. Wahnvorstellungen. Die Art von Problemen, die einen vor Gericht unglaubwürdig machen würden.
"Hat er dir etwas verschrieben?" fragte Martin beiläufig. Zu beiläufig.
Lena dachte an die Pillen in ihrer Handtasche. Somnalux. Das Medikament, zu dem sie kaum Informationen gefunden hatte.
"Ja", sagte sie. "Etwas zum Schlafen."
"Gut." Martin nickte langsam. "Sehr gut. Du solltest es nehmen. Du wirkst... angespannt." Er deutete auf den Ordner in ihrer Hand. "Und vielleicht solltest du dich auf die aktuellen Dokumente konzentrieren. Diese alten Akten sind nicht mehr relevant."
Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ ihr Büro. Lena starrte ihm nach, ihr Herz hämmerte in ihrer Brust.
Sie öffnete ihre Handtasche und holte die Pillenschachtel heraus. Mit zitternden Fingern drückte sie eine der kleinen weißen Kapseln heraus und untersuchte sie genauer. Sie sah aus wie eine gewöhnliche Kapsel. Aber warum hatte Dr. Klein so seltsam reagiert, als sie Neuroksetin erwähnte? Warum bestand Martin darauf, dass sie die Pillen nahm?
Lena öffnete vorsichtig die Kapsel. Feines weißes Pulver rieselte auf ihren Schreibtisch. Sie berührte es leicht mit der Fingerspitze und roch daran. Kein auffälliger Geruch. Aber was hatte sie erwartet? Ein Gift würde kaum nach Gift riechen.
Sie schaute wieder auf den Aktenordner. Die Zahlen in den Testprotokollen. Die Unterschrift von Martin Berger neben der von Dr. Sternberg. Die Warnung der Stimmen.
Du kannst ihnen nicht trauen. Sie beobachten dich.
Mit plötzlicher Entschlossenheit wischte Lena das Pulver in ein Taschentuch, faltete es sorgfältig und steckte es in ihre Tasche. Dann nahm sie den Ordner und machte ein Foto jeder Seite mit ihrem Handy. Sie würde Beweise brauchen, handfeste Beweise, nicht nur ihre eigenen Aufzeichnungen, die man als Produkt eines verwirrten Geistes abtun könnte.
Als sie den Ordner zurück in die Schublade legte, fiel ihr Blick auf ein weiteres Dokument, das sie zuvor übersehen hatte. Eine Liste von Testteilnehmern für die Neuroksetin-Studie. Namen, Adressen, Kontaktdaten. Menschen, die möglicherweise die gleichen Symptome erlebten wie sie.
Und ganz unten auf der Liste, fast wie ein Nachgedanke hinzugefügt, ein Name, der ihren Atem stocken ließ:
Lena Weber. Versuchsgruppe 3.
Dosis: 25mg/täglich.
Ihr eigener Name. Auf einer Liste von Testpersonen für ein Medikament, das sie nie wissentlich eingenommen hatte.
Oder doch?
Die Erinnerung traf sie wie ein Blitz. Der Kaffee. Der bittere Nachgeschmack, den sie manchmal bemerkte. Die Tasse, die Martin ihr regelmäßig brachte, wenn sie spät arbeitete. "Du brauchst deine Energie", hatte er gesagt. "Ein spezieller Blend. Hilft gegen die Müdigkeit."
Sie hatte es getrunken. Monatelang. Ohne zu wissen, was es enthielt.
Lena griff nach ihrem Handy und tippte hastig eine Nachricht an Sarah:
Treffe mich in einer Stunde beim Café am Park. DRINGEND. Sag niemandem etwas.
Dann zögerte sie. Konnte sie Sarah vertrauen? Sie war es, die ihr Dr. Klein empfohlen hatte. Sie war es, die mit Martin über ihren Zustand gesprochen hatte.
Aber wenn sie niemandem vertrauen konnte, war sie völlig allein.
Mit einem Gefühl der Verzweiflung löschte sie die Nachricht und öffnete stattdessen die Kamera ihres Handys. Sie würde alle Beweise sammeln, die sie finden konnte. Und dann würde sie verschwinden. Irgendwohin, wo sie nicht gefunden werden konnte. Zumindest so lange, bis sie herausgefunden hatte, was wirklich geschah.
Als sie ihr Büro verließ, bemerkte sie nicht die kleine Kamera in der Ecke des Raumes, die jede ihrer Bewegungen aufgezeichnet hatte. Und sie hörte nicht, wie Martin in sein Telefon sprach, die Stimme leise und dringend:
"Sie weiß es. Sie hat die Akte gefunden. Ich wiederhole: Sie hat die Akte gefunden. Wir müssen handeln. Sofort."
Lena verließ die Kanzlei mit schnellen, kontrollierten Schritten. Nicht zu hastig, nicht zu auffällig. Ein kurzes Nicken zum Sicherheitsmann an der Rezeption, ein flüchtiges Lächeln für die Reinigungskraft im Aufzug. Alles wie immer. Als wäre dies ein ganz gewöhnlicher Montag.
Ihr Handy vibrierte in ihrer Tasche. Sarah. Ihr Daumen zögerte über dem grünen Symbol. Annehmen oder ignorieren? Wem konnte sie noch trauen?
Niemandem.
Sie lehnte den Anruf ab und schaltete das Handy aus. Dann zögerte sie und schaltete es wieder ein. Sie brauchte es – für die Fotos, für Recherchen, für... einen Notfall. Stattdessen aktivierte sie den Flugmodus. Keine Anrufe, keine Nachrichten, aber die Kamera und andere Funktionen würden noch verfügbar sein.
Auf der Straße blieb sie kurz stehen, unsicher, wohin sie gehen sollte. Ihre Wohnung? Zu riskant. Wenn sie wirklich Teil eines Experiments war, wenn sie wirklich beobachtet wurde, dann würden sie dort zuerst nach ihr suchen. Ein Hotel? Möglich, aber sie würde ihren Ausweis vorlegen müssen. Eine Spur hinterlassen.
Ihr Blick fiel auf eine Frau, die gerade in ein Taxi stieg. Die Frau trug einen dunklen Mantel, ähnlich wie Lena, und hatte die gleiche Haarfarbe. Eine Idee formte sich in ihrem Kopf.
"Entschuldigen Sie!