Echt ist mein Perfekt - DominoKati - E-Book

Echt ist mein Perfekt E-Book

DominoKati

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Beschreibung

Solange sie sich erinnern kann, steht die erfolgreiche YouTuberin DominoKati mit ihrem Körper auf Kriegsfuß – seit Jahren beobachtet sie, dass ihre Beine immer kräftiger werden, besonders an den Oberschenkeln. Sie fühlt sich zunehmend unwohl in ihrer Haut, probiert erfolglos zahlreiche Diäten. Als sich die Hinweise häufen, dass ein Lipödem die Ursache für ihr Leiden sein könnte, sucht sie eine Spezialistin auf.  2019 geht DominoKati mit ihrer Diagnose an die Öffentlichkeit, um anderen Betroffenen zu helfen. Rund 3,8 Millionen Frauen in Deutschland leiden an einem Lipödem, einer Störung der Fettverteilung, vor allem an Beinen, Hüfte, Gesäß und in einigen Fällen auch an den Armen.  In ihrem Buch teilt DominoKati ihren Leidensweg und spricht ganz offen darüber, wie das Lipödem sie begleitet und welche Folgen es für ihr Selbstbild hat. Sie will der Krankheit ein Gesicht geben und die Leserinnen ermutigen, ihre Symptome ernst zu nehmen und sich frühzeitig Unterstützung zu holen. Sie gibt einen Überblick über Therapiemöglichkeiten, Ernährungstipps und lässt andere Betroffene zu Wort kommen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 311

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Who the hell is Motzi?

Der endlose Kreislauf beginnt

Spieglein, Spieglein an der Wand,

Vom Zurechtschummeln der Realität

Schön, schöner, am schönsten

Zielscheibe Social Media

Kati, get your A** up!

Home Sweet Home?

I feel lonely, lololololonely …

The Elephant in the Room

Auf dem Weg zum Gipfel …

Da gibt’s so was …

Diagnose Lipödem

Zur Kasse bitte! So viel kostet unsere Gesundheit

Liebe Welt, deshalb sind meine Beine dick …

Ich krieg mein Fett weg!

Mit dem Kati-Express durch den Heilungsprozess

Glow Up von innen und außen

Kommt das Lipödem wieder?

Danksagung

Quellenangaben

Vorwort

Dicke Beine? Eine Krankheit namens Lipödem

Oha! Du bringst ganz schön was auf die Waage …

Da stand sie: Die zwölfjährige digitale Kati aus meiner Wii mit ihrem langen blonden Zopf kratzte sich verlegen am Hinterkopf. Das bunte T-Shirt, das meinem Avatar noch wie angegossen gepasst hatte, bevor ich mein Körpergewicht und meine Größe in diverse Felder eingeben musste, spannte nach den Hochrechnungen des Computers plötzlich am dicken Bauch meines erschrocken blickenden Cyber-Abbildes. Automatisch ertastete ich meine Hüfte. Sah ich etwa auch in echt so aus? Mein Blick flog hinüber zu der Skala rechts auf dem Bildschirm. Untergewicht, normal, Übergewicht, fettleibig. Eigentlich war ich fest davon ausgegangen, dass der Pfeil nach dem Errechnen meines BMI im gelben Normalbereich stehen bleiben würde. Aber dann: dingdingding! Rot!

Wtf?

Hatten die blöden Zicken in der Schule etwa doch recht? War ich fett und hässlich?

Wenn ich mich heute als Erwachsene frage, wieso mich die Darstellung in einer Computeranimation so aus dem Konzept gebracht hat, und mir zum Vergleich alte Fotos ansehe, finde ich, dass meine Figur damals eigentlich noch ziemlich normal war. In meiner Kindheit war ich tendenziell sogar eher schlank gewesen – »keine gute Esserin«, wie Eltern das ausdrücken würden. Dafür gab es einen guten Grund: Ich hatte da dieses Zahnbürsten-Trauma! Oops! Kleiner Unfall. Die Zahnbürste landete in meiner Speiseröhre, tatütata, ab ins Krankenhaus …

Nur aus Erzählungen meiner Mutter weiß ich, dass ich als Einjährige irgendwann mit der Zahnbürste im Mund hingefallen bin und sich der Bürstenkopf tief in meiner Kehle verhakte – an den Krankenhausbesuch und die ganze Aufregung drumherum habe ich selbst keine Erinnerung mehr. Was ich aber wohl nie in meinem Leben vergessen werde, sind die endoskopischen Untersuchungen, die ich noch Jahre nach dem Vorfall unter Narkose über mich ergehen lassen musste, damit die Ärzte1 die Narbenbildung kontrollieren konnten. Dieser Teil der Geschichte hatte offensichtlich schon eher Traumapotenzial, denn seither kann ich es nicht mehr leiden, wenn mir jemand an den Mund oder den Hals fasst.

Wahrscheinlich entstand mein zögerliches Essverhalten in meiner Kindheit aus einer Art Schutzmechanismus heraus. Reine Mutmaßung! Allerdings ist es auch nicht weiter relevant, denn mit dem »Größerwerden« überwand ich mein Trauma und aß wieder mehr. Offenbar sogar zu viel, wenn man dieser unverschämten Animation aus meiner Spielekonsole Glauben schenken durfte. Und den Mädchen aus der Schule … Und den Fotos und Figurenratgebern aus der BRAVO GiRL! … Und irgendwann auch meinen eigenen Gedanken, dem Flüstern in meinem Kopf, das mir den ganzen Tag einredete, ich sei zu dick. Diese fiese innere Stimme nenne ich übrigens Motzi, weil sie immer an mir herummeckerte: Zieh den Bauch ein! Versteck deine Beine! Iss weniger! Je älter ich wurde, desto lauter wurde Motzi. Manchmal wusste ich schon gar nicht mehr, ob mir zum Heulen, Schreien oder Kotzen zumute war, wenn ich vorm Spiegel stand und sah, wie jede Hose an meinen Oberschenkeln spannte und sich die Dellen auf meiner Haut kraterartig durch den Stoff drückten. Sommer für Sommer in langer Kleidung schwitzen, bloß kein nacktes Bein zeigen! Wie wir Frauen unsere Problemzonen kaschieren können, lernen wir ja schon früh. Zeitschriften verraten uns, welches Bikini-Modell breite Hüften schmaler erscheinen lässt, Push-up-BHs schummeln an den Brüsten ein Körbchen dazu, Absätze strecken die Beine.

Schon als Teenager kaufte ich mir wegen Inputs wie diesem die ersten Sättigungspillen und Cellulitecremes im Drogeriemarkt, um gegen meine Problemzonen vorzugehen. In den folgenden Jahren veränderte sich mein Körper, genau genommen meine Beine, jedoch tatsächlich immer auffälliger – egal wie sehr ich dem entgegenarbeitete. Meine Oberschenkel und Waden legten im Vergleich zu meinem restlichen Körper unproportional an Umfang zu. Erfolglos quälte ich mich von einer Diät durch die nächste und noch viel weiter, ohne zu wissen, dass es für all das eine Erklärung gab: Ich leide an einer chronischen Fettverteilungsstörung namens Lipödem. Shake-Kuren, Stoffwechseldiäten, »Schlank im Schlaf« – egal womit ich meinen Pfunden zu Leibe rückte, meine übermäßig dicken Oberschenkel hielten jedem Angriff stand. Meine Psyche allerdings nicht. Jahrelang fühlte ich mich wie eine Dampfwalze, die alles und jeden überrollte, wann immer sie einen Raum betrat.

Als Social Media unser aller Leben mit der Welt der Filter und Fakes bereicherte, wurde alles noch schlimmer. Plötzlich sah jedes Mädchen, jede Influencerin in meinem Feed wie ein Supermodel aus. Bildbearbeitung, das richtige Licht und Posing machen’s möglich!

Auch ich wählte meine Bildausschnitte vorteilhaft, schnitt auf Fotos meine Beine ab und filmte nur meinen Oberkörper und mein Gesicht, wenn ich Frisurentutorials und Vlogs für YouTube drehte. Im Netz konnte ich mich mit den richtigen Tricks unter all die anderen perfekten Menschen schummeln. Dabei ging es mir prinzipiell nicht mal annähernd darum, perfekt zu sein. Eigentlich wollte ich nur dazugehören. In der Schule nicht diejenige sein, die gemobbt wurde, in der Modeboutique nicht unterschiedliche Konfektionsgrößen für oben und unten kaufen müssen und auf Instagram die gleichen Aufnahmen posten wie andere Mädchen. Ich wollte einfach so sein wie alle.

Sobald ich die Online-Welt verließ, konnte ich meinen Körper jedoch nicht mehr digital zurechtmogeln, sondern musste im echten Leben mit meinen unperfekten Maßen aufmarschieren – dementsprechend begann mit größer werdendem Erfolg in der Influencer-Szene ein Lauf über ein Minenfeld. Auf Events war ich unter all den schönen und sexy gestylten Mädchen immer diejenige mit den dicksten Beinen. Gefühlt tuschelten alle hinter meinem Rücken: Was will die denn hier?

Dass das Ganze an einer Krankheit liegen könnte, daran hätte ich im Traum nicht gedacht. Ich wünschte mir oft eine »Leidensgenossin« an meine Seite. Jemanden, der mich und meine Gedanken verstand und sagte: Du bist nicht allein!

Wer mich auf Social Media begleitet, weiß, dass ich seit meiner Diagnose 2019 offen mit meiner Erkrankung umgehe, um für Aufklärung zu sorgen. Mit diesem Buch möchte ich auch die Betroffenen außerhalb meiner Community erreichen und zu einer früheren Diagnosestellung beitragen, indem ich sage: Schau mal, es gibt da eine Krankheit, die nennt sich Lipödem, und bevor du dich jetzt angegriffen oder verunsichert fühlst, hör mir kurz zu, denn ich habe sie auch! Ebenso wie etwa fünf bis sieben Prozent der weiblichen Bevölkerung in Deutschland. Die Krankheit belastet nicht nur unsere Psyche, sondern auch unseren Körper. Spannungs- und Schweregefühle in den Beinen, Schmerzen beim Gehen, Wassereinlagerungen, unerklärliche blaue Flecke und Schmerzen bei der kleinsten Berührung sind nur einige der Begleiterscheinungen eines Lipödems. Wenn die Krankheit nicht behandelt wird, werden die Symptome immer schlimmer und können im Extremfall zu Gelenkschäden und Fehlstellungen der Beine führen. Genau darum ist eine frühzeitige Diagnose für unsere Gesundheit so wichtig.

Die gute Nachricht: Wissen wir erst mal, was mit uns los ist, können wir auch etwas dagegen tun! Auf den nächsten Seiten möchte ich daher nicht nur über Krankheitszeichen und meinen Krankheitsverlauf sprechen, sondern auch das Thema Ernährung beleuchten. In dem Zusammenhang bringt sich freundlicherweise Frau Dr. Birgit Buxmeyer, behandelnde Lipödem-Ärztin an der Rosenpark Klinik in Darmstadt, ein. Sie teilt auf den nächsten Seiten wertvolle Tipps mit uns, welche Nahrungsmittel das Lipödem wortwörtlich füttern und worauf wir beim Essen achten sollten, damit wir mit einer potenziellen Ernährungsumstellung auch wirklich etwas erreichen. Darüber hinaus informiert die erfahrene Medizinerin rund um das Thema Sport bei der Diagnose Lipödem und klärt über mögliche medizinische Behandlungsmaßnahmen auf, um bei Betroffenen bestmögliche körperliche Flexibilität, Schmerzreduzierung und unter Umständen eine optische Verschlankung zu erreichen.

Da jeder Körper individuell ist und ich so breit wie möglich aufklären möchte, teilen in diesem Buch auch andere betroffene Frauen ihre Erfahrungen. Sie sprechen über ihre Beschwerden, ihren Diagnose- und Behandlungsweg, über Selbstzweifel und Ängste.

Denn eins ist klar: Eine chronische Krankheit diagnostiziert zu bekommen, macht Angst, und man muss erst mal lernen, dieses lebenslange Urteil zu akzeptieren. Über Ernährungsumstellung, Sport sowie konservative und/oder operative Therapiemöglichkeiten einen Umgang mit der Krankheit zu finden, ist nicht nur für unsere körperliche Gesundheit wichtig, sondern auch für unser psychisches Wohlbefinden. Wenn wir im Lauf unseres Lebens lernen, uns so zu lieben, wie wir sind, dann ist das wunderbar! Wenn wir aber niemals dieses ambitioniert hohe Level der Selbstliebe erreichen, dann ist das auch in Ordnung. Zufriedenheit klingt doch auch gut, oder? Annahme? Akzeptanz? Ich spreche mich klar für realistische Selbstliebe aus. Wir müssen uns nicht den ganzen Tag einreden, dass wir uns feiern für unsere Macken (und Dellen …). Sicher werden wir nicht alle unsere individuellen Markenzeichen als einen neuen Schönheitstrend etablieren wie einst Kim Kardashian ihren Hintern. Aber das ist auch gar nicht nötig. Wir brauchen nämlich gar keine Schönheitsideale. Wir sollten sowieso damit aufhören, immer irgendeinem Ideal entsprechen zu wollen, und stattdessen unsere Gesundheit in den Fokus rücken. Früher hungerten sich alle runter, um bei Schönheitstrends wie dem Thigh Gap mitzumachen und den ganz dünnen Models gleichzusehen, einige Jahre später trainierten sich sämtliche Girls einen Booty an. In jeder Generation ist etwas anderes angesagt. Wann sind eigentlich mal wir selbst angesagt?

Die 2020er stehen für Diversity, für Toleranz und Gleichberechtigung. Schönheit bekommen wir auf den Laufstegen und den Bildschirmen mittlerweile in all Shapes and Sizes präsentiert. Denn es ist doch so: Am schönsten sind wir, wenn wir uns so annehmen und mögen, wie wir sind, und diese Zufriedenheit auch ausstrahlen. Doch wann kommt das endlich auch in unseren Köpfen an? In meinem und in deinem?

Frau Dr. Buxmeyer

»Ein Lipödem ist eine lebenslange Erkrankung, dennoch kann man eine ganze Menge für den Körper tun, um diese Veranlagung gut in den Griff zu bekommen. Mit der richtigen Lebensweise, bestehend aus gesunder, ausgewogener Ernährung und Sport, lässt sich das Gewicht gut managen. Wir Ärzte können den Patientinnen beispielsweise mittels einer Fettabsaugung Erleichterung von den Beschwerden bringen, für optische Verschlankung sorgen und eine durch die Krankheit eingeschränkte Beweglichkeit wiederherstellen. Wichtig ist jedoch auch, dass jede Frau darüber hinaus dauerhaft und diszipliniert etwas für sich selbst tut, um potenzielle medizinisch erzielte Ergebnisse so lang wie möglich zu halten und einer Verschlechterung der Symptomatik entgegenzuwirken.«

Dr. Birgit Buxmeyer, Lipödem-Spezialistin in der Rosenpark Klinik Darmstadt

1 Für die Vereinfachung des Leseflusses verwende ich in diesem Buch das generische Maskulinum und habe vom Gendern abgesehen. Fühlt euch trotzdem gern so angesprochen, wie es euch am liebsten ist!

Who the hell is Motzi?

Und wieso will sie ständig, dass ich meinen Bauch einziehe?

2008

»Erde an Kati! Wieso glotzt’n du so?«, fragte mich die Oberzicke aus unserer Klasse so laut, dass es alle hören konnten. Das schallende Gelächter meiner Mitschüler riss mich aus meinen Gedanken. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich ihr zwei Minuten lang Löcher in den Rücken gestarrt hatte – oder besser gesagt in den Hintern und die Oberschenkel, während sie an der Tafel die Matheaufgabe löste. OB, wie ich die Oberbitch heimlich nannte, war eines dieser frühreifen Mädchen. Wiederholerin der sechsten Klasse, zwei Köpfe größer als ich, superschlank und rotzfrech.

»Ich hab dich was gefragt, Engelchen!«, blaffte sie, während sie zu ihrem Platz zurückging und im Vorbeilaufen mit ihrem Zeigefinger mein Heft vom Tisch fegte. Dabei grinste sie giftig und rutschte dann im Zeitlupentempo in die Bank hinter mir. Ich konnte sie aus dem Augenwinkel sehen, während ich mich hinunterbeugte, um mein Heft aufzuheben.

»Pass auf, dass du nicht vom Stuhl plumpst!«, zischte sie mir noch in den Nacken, und ich spürte regelrecht, wie ich reflexartig den Kopf einzog und mein Körper starr wie Stein wurde. Sogar ihre Blicke auf meinem Hinterkopf fühlten sich wie Giftpfeile an. Ständig kicherten sie und ihre Banknachbarin vor sich hin. Das Getuschel lenkte mich vom Unterricht ab, denn ich wusste, dass die beiden garantiert über mich lästerten. Oh, wie ich es hasste, dass OB genau hinter mir saß und vollen Ausblick auf meine Rückseite hatte! Jeden Tag. Sechs Stunden lang. Ich selbst war alles andere als ein großer Fan dieser Ansicht. Na ja, sagen wir es mal so: Ich konnte meinen Po und meine Oberschenkel eigentlich aus keiner Perspektive leiden. Aber im Sitzen fand ich meine Schenkel besonders unvorteilhaft. Wie sie da auf dem Stuhl lagen, breit und platt gedrückt auf der Sitzfläche … (Hätte bloß mal jemand meinem vorpubertären Ich erklärt, dass das ganz normal ist …) Mein bereits überaus kritisches Selbst interpretierte damals ganz schön was hinein in dieses Gekicher. Waren meine Beine kräftiger geworden vom Reiten? Bekam ich etwa langsam Reiterhosen an den Außenseiten? Bestimmt analysierte OB gerade ganz genau, wie weit meine Schenkel rechts und links über die Sitzfläche meines Stuhles hinausragten und wie sehr meine Jeans über ihnen spannte. Verhohlen blickte ich an mir hinab. Sah mein Bauch wenigstens dünn aus in dieser Sitzposition? Schnell zog ich ihn noch etwas fester ein – nicht nur der OB wegen. Das war schon zu einer Art Automatismus geworden. Mich ständig daran zu erinnern, wie ich aussah. Mich ständig zu vergleichen. Da war diese Stimme in mir, die den ganzen Tag auf mich einredete: Streck dich! Bauch rein! Nimm lieber die Hose, die etwas lockerer sitzt!

Ich weiß nicht mal mehr, wann das mit dem kritischen Blick mir gegenüber überhaupt anfing. Wann war ich so besessen von meiner Figur geworden? Jedenfalls motzte diese innere Stimme jetzt ständig an mir herum und redete mir Komplexe ein, die ich bis dahin gar nicht gekannt hatte. Wenn ich mich im Spiegel sah, fand Motzi, dass meine Hosen zu eng saßen, mein Po zu groß war und so weiter. Nur an meiner Taille hatte sie nichts zu meckern, denn die war ganz offensichtlich lang und schlank. Wenn ich dann noch Mädchen wie OB sah, mit ihren superdünnen, langen Beinen, kam ich mir einfach nur wuchtig vor.

Überhaupt waren wir Mädchen in dieser Jahrgangsstufe alle so unterschiedlich. Einige schon total vorpubertär, mit Pickeln, Schminke und Brüsten, die sich unter den T-Shirts und Pullovern wölbten. Andere wiederum noch eher unreif und kindlich, so wie ich. Ich trug weder Mascara noch einen BH und war keines dieser vorlauten Girls aus OBs Clique. Keine Ahnung, was bei diesen Mädchen nicht ganz rundlief oder warum alle Problemfälle ausgerechnet in meiner Klasse gelandet waren, aber das war in der Unterstufe nun mal meine Realität, und ich konnte nicht viel dagegen tun. OB und ihre Mitläufer waren in der Überzahl.

Wie wehrt man sich gegen Menschen, die nicht über die Gefühle anderer nachdenken? Da läuft doch jedes Wort gegen die Wand. Diese Mädchen setzten sich über alle Regeln hinweg, und es interessierte sie auch nicht, wenn meine Mutter mit ihren Müttern über ihr Verhalten sprach. Anweisungen der Lehrer ignorierten sie, und Verwarnungen vom Direx gingen ebenfalls an ihnen vorbei. Und ich? Ich war das brave, regelkonforme Mädchen vom Dorf, mit blondem Pferdeschwanz und Pausbäckchen. Weshalb mich die Bullys in der Klasse offenbar als »Opfer« eingestuft hatten. Dabei hätte ich OB locker mit meiner Beinschere zerquetscht! So wie ich das jedes Mal mit meinem nächstälteren Bruder machte, wenn wir zum Spaß rauften. Wenigstens dafür waren meine Schenkel zu gebrauchen, denn vom Reiten hatte ich sogar auch echte Beinmuskulatur – nicht nur diese dämlichen Reiterhosen. Aber sorry, ich sah mich einfach nicht kloppend mit einem anderen Mädchen auf dem Boden liegen. Gewalt ist nie meine Antwort. Meine Art, mit den Bullys umzugehen, war, sie bestmöglich zu ignorieren und zu hoffen, dass sie irgendwann die Lust an mir verlieren würden. Ich gab mir also alle Mühe, ja nicht aufzufallen. Genau wie meine Banknachbarin Sofie. Sie war einer der wenigen Freunde, die ich in meiner Jahrgangsstufe hatte. Eher vom ruhigen Schlag, aber dafür nicht so verbrannt in der Birne wie die meisten anderen.

»Hör nicht auf die blöde Kuh!«, schrieb Sofie jetzt auf eine freie Seite in ihrem Hausaufgabenheft und schob mir die Nachricht zu.

Ich schenkte ihr ein dankbares Lächeln und kritzelte eine Antwort auf den Zettel: »Bibliothek in der Pause?«

Heute war die neue Ausgabe der BRAVO GiRL! rausgekommen, und wer diese erwischen wollte, musste noch vor allen anderen in der Schulbibliothek sein. Bei der Bibliothekarin auf dem Auslagentisch gab es nämlich immer nur jeweils genau ein Exemplar der BRAVO, der BRAVO GiRL!, der POPCORN und der hey!. Das bedeutete: keine Zeit für Pipipause und auch keine Zeit für ein Pausenbrot – was mir sowieso ganz recht war. Denn ich hasste es, vor anderen zu essen. Meistens biss ich nur geschwind von meinem Brot ab und ließ dann die Box wieder in der Büchertasche verschwinden. Nicht dass noch jemand auf den Gedanken kam, mein Hintern wäre so dick, weil ich nur am Futtern wäre!

Mit dem Gongschlag waren Sofie und ich zur Tür raus. Die Unterstufe hatte ihren eigenen Pausenhof, auf dem wir sonst immer ziellos unsere Schlaufen liefen, damit wir nicht zur leichten Beute für die Mobber-Clique wurden. Heute steuerten wir jedoch ein anderes Ziel an und sicherten uns eins der begehrten Lesesofas in der Bibliothek – und yes, baby, auch die brandaktuelle BRAVO GiRL!.

»Models immer dünner!«, sprang mir sofort eine fett gedruckte Headline vom Cover ins Gesicht. In Großbuchstaben stand da auf dem Titelblatt: »Magerwahn! Hungern sie sich krank?«

Neugierig steckten meine Freundin und ich die Köpfe über der Zeitschrift zusammen. Mein Blick scannte die beiden Mädchen, die in bauchfreien Tops und Hotpants das Cover zierten. Wieso konnte ich nicht so aussehen? Da war sie wieder, meine innere Stimme, die alte Nörglerin, die mich ständig daran erinnerte, dass ich keines dieser Barbie Girls war, sondern das Mädchen aus dem Stall, das mit anpackte, sich mit ihren großen Brüdern raufte und zusammen mit ihren Eltern im Odenwald klettern ging und Lagerfeuer machte. Das Girlyhafteste an mir waren meine langen blonden Haare und die drei Millionen Vanessa-Hudgens-Poster, die in meinem Zimmer die Wände zierten. Die Schauspielerin aus High School Musical war so übertrieben schön! Hätte ich mir mein Aussehen aussuchen können, dann hätte ich, ohne zu zögern, sofort mit ihr getauscht. Mädchen wie sie verdrehen den coolsten Jungs die Köpfe und sind bei allen beliebt. Mädchen wie sie gehören dazu. Und genau das wollte ich auch – dazugehören, in der Masse untergehen, so sein wie alle. Was war nur falsch an mir, dass ich mich seit dem Wechsel in die Unterstufe nicht richtig in die Klassengemeinschaft einfinden konnte? In der Grundschule in meinem Ort war alles so nett und ausgeglichen gewesen, jeder spielte mit jedem, keiner blieb außen vor. Aber seit ich auf die Gesamtschule ging, fühlte ich mich ausgegrenzt und wurde von OB und ihrer Clique gemobbt. Dass deren Schikane nichts mit mir persönlich, sondern mit hormongesteuertem, dämlichem Teenagerverhalten zu tun hatte, konnte mein zwölfjähriger Verstand nicht begreifen. Ebenso wenig durchschaute mein unreifes Wesen, wie viel Brainwashing unsere kindlichen Gehirne durch BRAVO und Co. erfuhren. Mit Fotostrecken wie »Zur Bikinifigur in 10 Tagen« oder Ratgeberspalten wie »So wirkt deine Haarfarbe auf andere – mit welcher Tönung du deine Ausstrahlung verbessern kannst!« werden wir geplant auf die Fehlersuche an uns selbst geschickt. Marketingsprache lässt Gedanken in uns aufkeimen wie: Kann ich meine Figur, so wie sie ist, überhaupt im Schwimmbad zeigen? Stimmt etwas an meiner Haarfarbe nicht? Vermeintlich wollen diese Zeitschriften bei der »Problembehandlung« helfen und dabei alle ansprechen: die Dünnen, die – oh je! – dem Magerwahn verfallen sind. Die Kräftigen, die doch bitte mal das vorgeschlagene Blitz-Work-out in ihre Alltagsroutine aufnehmen sollen. Alle Menschen, die Haare haben und sich unbedingt eine Tönung zulegen müssen, um ihre Ausstrahlung zu verbessern. Und gleich daneben steht dann noch, welcher kalorienarme Shake unsere Diät optimal unterstützt, selbstverständlich auf derselben Seite. Influencing oldschool eben! Die Industrie will Geld machen und scheißt dabei drauf, dass dafür das Selbstbewusstsein junger Mädchen der Wirtschaft zum Opfer fällt. Immer das gleiche Spiel. Aber welcher Teenager checkt dieses System schon, vernebelt von Hormonen, zerfressen von Tausenden von Unsicherheiten und bereit, das hart ersparte Taschengeld sofort für alles zu opfern, was einen Weg aus dieser entwicklungsbedingten Misere verspricht? Bei uns in der Klasse damals raffte niemand, was eigentlich abging – inklusive mir.

Daher schmachteten Sofie und ich an jenem Tag auch in der Bib die abgedruckten (und bildbearbeiteten) Schönen und Berühmten an und saugten sämtliche Ernährungstipps und Beautytrends von den Seiten auf, als plötzlich eine Stimme hinter uns erklang: »Ja, mach dir mal ’ne Tönung drauf! Dann wäschst du wenigstens mal wieder deine Haare!«, krakeelte sie. Scheiße – hatte OB mich an meinem Rückzugsort also doch noch aufgespürt! Sie klatschte der Reihe nach ihre vier Freundinnen ab, die plötzlich allesamt hinter uns standen und sich über unsere BRAVO beugten. Eine von ihnen griff sich die Zeitschrift aus meinem Schoß.

»Uh, da ist ein Poster von Zac Efron drin!«, kreischte sie. Noch während sie sprach, löste sie das A3-Porträt aus der Mitte des Magazins heraus. Dann klemmte sie sich die Zeitschrift unter den Arm, und die fünf Mädchen verzogen sich damit in einer Selbstverständlichkeit, als gehöre ihnen die ganze Welt. Sofie und ich hinderten sie nicht daran. Wie so oft. Stattdessen saßen wir da und warfen uns genervte Blicke zu. OBs bescheuerter Satz schwirrte durch meine Gedanken, und ich fragte meine Freundin: »Ist irgendetwas mit meinen Haaren nicht in Ordnung?«

Ein wenig zerknirscht bestätigte sie mir: »Na ja, das stimmt schon, die sind in letzter Zeit öfter mal ziemlich strähnig.«

Okay, das hörte ich jetzt aber wirklich zum ersten Mal! Immerhin wusch ich meine Haare regelmäßig einmal in der Woche, so wie ich es von klein auf gemacht hatte. Dass das in der Pubertät plötzlich nicht mehr reichte, weil durch den hormonellen Umbruch meine Kopfhaut auf einmal schneller fettete, war mir bisher völlig entgangen, und auch zu Hause hatte mich keiner darauf hingewiesen. Aber wer hätte dafür auch ein Auge gehabt? Meine beiden älteren Brüder interessierten sich für Fußball und Computerspiele und ganz sicher nicht für meine Haare, mit meiner Mutter verbrachte ich eher Quality Time in der Natur als Zeit vorm Spiegel, und mein Vater? Der war komplett verblendet. Denn Papas kleine Prinzessin war ja wohl das tollste Mädchen auf der Welt, und wer etwas anderes behauptete, hatte eine Meise! Vielleicht hätte ich ihn mal den doofen Mädchen aus der Schule auf den Hals hetzen sollen. Oder zumindest Motzi, dieser nervigen Stimme in meinem Kopf, damit er ihr die Klappe stopfte …

Silvi Carlsson (@silvicarlsson), 29 Jahre, Betroffene:

»Bereits zu Beginn der Pubertät, ungefähr mit zwölf Jahren, nahm ich wahr, dass meine Figur sich von der der anderen Mädchen unterschied. Ich ging auf eine reine Mädchenschule und hatte somit genügend Vergleiche. Im Sportunterricht beim Umziehen fiel mir jedes Mal wieder auf, dass meine Hüften und meine Beine viel üppiger waren. Ich suchte mir dann Identifikationstypen, zum Beispiel in Zeitschriften. Da gab es früher ja immer diese Einstufungen: Apfelpo, Birnenform und so weiter. Mir half es damals tatsächlich total, dass Christina Aguilera auch ›Typ Birne‹ war. Heute denke ich mir: Wie unverschämt ist das eigentlich, Menschen (Promi oder nicht) ungefragt, unsensibel und rücksichtslos öffentlich zu bewerten?!

Aber ich habe diese Bewertung tatsächlich auch schon von zu Hause mitbekommen. Einige Frauen in meiner Familie leiden vermutlich am Lipödem, ihre Beine sind meinen ähnlich, und daher hieß es schon immer: ›Wir haben halt Stampfer.‹ Das war der Standardsatz in meiner Familie. ›Von uns wird nie eine schöne Beine haben.‹«

Der endlose Kreislauf beginnt

Bikini-Dramen und böse Kohlenhydrate …

2009

Mein Blick glitt über die Bademode an den schwarz gestrichenen Wänden bei New Yorker. Bikinis, Tankinis, Badeanzüge mit Polstern in den Körbchen, ohne Push-up – die Auswahl war riesig. Nur eben nicht für mich. Meine Augen suchten nach einer langen Hose – länger als Hotpants –, und schließlich griff ich zielstrebig nach der einzigen Kombination, die mit einer Shorts statt einem knappen Höschen daherkam. Gleich daneben hing die Kollektion für Jungs. Ich überlegte eine Sekunde. Nein, die Mädchenvariante musste reichen!

Ich betrachtete den Stoff in meiner Hand. Hawaiiprint! Na ja, machte ich eben einen auf Surfer Girl. Irgendwie musste ich meine Oberschenkel ja kaschieren. Denn ich war heute mit meinen Freunden im Freibad verabredet. Seit ich vor einem Jahr wegen OBs Schikane die Klasse gewechselt hatte, lief es besser an der Schule. In der neuen Klassengemeinschaft fühlte ich mich wohler, und ich hatte sogar Freunde, die ich schon von vorher gekannt hatte. Sicherlich würde ich später einige bekannte Gesichter im Schwimmbad antreffen – darunter auch mein Schwarm Timo! Wenn ich nur daran dachte, dass er volle Sicht auf meine Beine bekommen sollte, wurde mir schon ganz flau im Magen. Die anderen Mädchen würden dort in hübschen, stinknormalen Bikinis antanzen, nur ich brauchte mal wieder eine Extrawurst. Und noch dazu eine so hässliche! Wieso gab es eigentlich keine schöne Bademode für Leute, die sich nicht so leicht bekleidet zeigen wollten? Sehnsüchtig betrachtete ich die anderen Modelle an der Wand und nahm schließlich noch zwei davon mit in die Kabine. Vielleicht sahen sie ja doch nicht so schlimm an mir aus …

Zuerst zog ich mir mein T-Shirt über den Kopf. Oben anzufangen war immer eine gute Idee! Denn meine Taille war lang und schlank und definitiv meine Lieblingskörperzone. So weit, so gut. Dann war die Hose dran, und meine Stimmung fiel schneller in den Keller als die Jeans zu Boden. Alles, was ich im Spiegel wahrnahm, waren meine käsigen Oberschenkel, die mich derart entblößt an zwei überdimensionale, unförmige Hefeklöße erinnerten, die zu lange in kochendem Wasser aufgequollen waren. Die Marmorierung meiner blassen Haut machte den Anblick nicht gerade attraktiver, und das kalte Licht in der Kabine, das senkrecht von oben auf mich herabschien, verwandelte das (objektiv betrachtet) noch erträgliche Maß an Orangenhaut in eine Kraterlandschaft. In meinen Gedanken notierte ich Cellulitecreme auf meinem Einkaufszettel. So kannst du nicht im Schwimmbad aufkreuzen!, ranzte Motzi mich an. Damit war klar: Die normalen Bikinihöschen würden zurück auf die Stange wandern! Oh Mann! Mein Abtörn stand mir ins Gesicht geschrieben. Jegliche Fröhlichkeit, die sonst grundsätzlich in mir steckte, war aus meiner Mimik verschwunden. Ich schaute in zwei traurige grün-blaue Augen. Warum musste ich auch so dicke Beine haben? Mein Blick wanderte tiefer an mir hinab. Neben meinen Kniekehlen taten sich zwei speckige Wölbungen auf. Ich griff sie mit Daumen und Zeigefinger und quetschte sie zusammen. Diesen Part würden nicht mal die Shorts verdecken. Aber was hatte ich bitte für eine Alternative? Ich schlüpfte in die lange Badehose, die wie erwartet noch über meinen Knien endete. Jeder würde also meine Speckknubbel zu sehen bekommen, genauso wie meine kräftigen Waden. Bis hinunter zu den Fesseln hatte ich an jedem Abschnitt meiner Beine etwas auszusetzen. Vielleicht sollte ich mir einfach einen Neoprenanzug überstreifen. Das wäre meine Rettung …

Natürlich lief ich letzten Endes nicht im Ganzkörpergummioutfit im Freibad ein. Hell no, ich war 14 Jahre alt, das hätte mein pubertäres Selbstbewusstsein noch weniger verkraftet. Und so, wie es aussah, ging es den jugendlichen Gemütern meiner Freundinnen nicht viel anders … Ich staunte nicht schlecht, als zwei von dreien ebenfalls Badeshorts trugen. Unauffällig warf ich immer wieder einen vergleichenden Blick zu den anderen Mädels. Die Beine meiner einen Freundin ähnelten meinen schon sehr. Hm, vielleicht war mein Körperbau ja doch nicht so abnormal? Wenn ich mir die beiden anderen Mädchen so ansah (eine davon gehörte zu den Glücklichen mit dem trendigen Thigh Gap und musste sich dafür schon ihr Leben lang anhören, dass sie zu dünn sei), fühlte ich mich dann allerdings doch wieder wie eine Dampfwalze, die über die Liegewiese rollte. Bei jedem Schritt hatte ich das Gefühl, meine Schenkel schwabbelten sekundenlang hin und her, nachdem ich den Boden berührt hatte. Da hätte ich doch lieber diese doofen Dehnungsstreifen gehabt, über die sich viele Mädchen oft beschwerten. Verzweifelt versuchte ich, mich hinter meiner Badetasche und dem großen Badehandtuch zu verstecken, das ich unter dem Arm trug und fest an mich presste. Aber weder war die Tasche groß genug, um auch nur den kleinsten Teil meiner Oberschenkel zu überdecken, noch brachte mir das zusammengerollte Handtuch etwas.

»Hey!«, rief uns eine vertraute Jungenstimme von einem der Handtuchlager zu, an denen wir vorbeikamen. Die drei Jungs, die dort lagen, gingen in unsere Klasse und fragten, ob wir uns zu ihnen legen wollten. Es kam mir vor, als starrten alle drei wie gebannt meine Beine an. Wenn mein geringes Selbstbewusstsein in diesem Moment eines nicht wollte, dann war es, mich zu meinen männlichen Mitschülern zu setzen und den ganzen Tag ihren Blicken ausgesetzt zu sein. Dann gab es da aber auch noch einen anderen Teil, die Kumpel-Kati. Und die wollte sich unbedingt der Gruppe anschließen. Denn mit den Jungs war es immer witzig. Zu den meisten von ihnen hatte ich einen guten Draht. Genau wie sie hatte ich immer einen schlagfertigen Spruch parat und konnte bei vielen Themen, die sie interessierten, mitreden, wahrscheinlich weil ich zwei Brüder hatte. Für die Jungs war ich ein Kumpeltyp mit langen blonden Haaren und einem süßen Gesicht, weshalb auch ich ab und zu nach meiner ICQ-Nummer oder Dates gefragt wurde, so wie andere Mädchen eben auch. Von den Jungs in meinem Freundes- und Bekanntenkreis reduzierte mich niemand auf meine Beine, zumindest nie offen. Das tat nur Motzi in meinem Kopf – und doch reichte diese eine Stimme aus, um mich den ganzen Nachmittag im Schwimmbad penibel darauf achten zu lassen, wie ich mich hinsetzte, damit meine Oberschenkel nur ja nie platt auf der Decke lägen und dadurch noch dicker aussähen. Ich langte auch kein einziges Mal in die Tüten mit Chips und Gummibärchen, die überall verstreut lagen. Jeder hatte etwas mitgebracht und zum Reingreifen für alle in der Mitte platziert. Lecker! Ich liebte Chips! Aber ich hasste es, vor anderen zu essen. Wenn ich mir mit meiner Figur einfach so vor allen diese ganzen ungesunden Kalorien reinzog, dachten die sich bestimmt: Kein Wunder, dass Kati so dick ist!

Coladosen, Energydrinks – überall rechts und links von mir zischten kohlensäurehaltige Süßgetränke beim Öffnen der Deckel, während ich mich an meiner Wasserflasche festhielt. Es ist noch vor achtzehn Uhr, raunte es in meinem Kopf. Hmmm. Aber Kohlenhydrate sind zu jeder Zeit böse!, zischte Motzi fast gleichzeitig. Da war sie – die Erinnerung, dass die anderen so was zwar trinken durften, ich aber nicht. Unter gar keinen Umständen! Mein Ernährungsplan erlaubte das nicht. Zwischen kurzkettigen und langkettigen Kohlenhydraten unterschied ich damals übrigens noch nicht mal. All die »Ernährungsregeln«, an denen ich mich als Jugendliche orientierte, waren aufgeschnappte Halbwahrheiten, die ich irgendwo gehört oder gelesen und nie tiefer recherchiert hatte. Trotzdem berücksichtigte ich sie in meinem Alltag und dachte, irgendetwas würde es mir schon bringen. Und wenn es nur die permanente Erinnerung an den Verzicht war.

»Sagt mal, hat irgendjemand von euch heute Mathe gecheckt?«, fragte meine Freundin Marie. Während die anderen wild durcheinanderquasselten, wie »scheiße« oder im Gegenteil »total easy« die Aufgaben doch gewesen seien, konnte ich nur daran denken, was sich am Vormittag in der Mathestunde abgespielt hatte.

Wir hatten mit Gewichten gerechnet, und unser Lehrer hatte mich zufällig für ein Rechenbeispiel ausgewählt, wahrscheinlich weil ich direkt vor seiner Nase saß.

»Kati, wie viel wiegst du?«, hatte er mich laut vor allen gefragt. Natürlich waren sofort alle Blicke auf mich gerichtet gewesen. Doch statt zu antworten, saß ich einfach nur mit hochrotem Kopf da und stammelte so lang herum, bis er grob schätzte: »Sechzig Kilo oder so?«

Oh Gott! Seh ich etwa so aus? Meine Gedanken überschlugen sich, und Motzi veranstaltete ein Kreischkonzert in meinem Kopf. Bestimmt dachten sich auch meine Klassenkameraden nur: Was? So schwer ist die?!

»Kati? Hallo! Wo bist du denn unterwegs?« Maries Stimme riss mich aus meinen Gedanken. »Ich hab dich gefragt, ob du mit ins Wasser kommst!« Ein Teil der Gruppe war aufgestanden und sah mich erwartungsvoll von oben an.

»Ähm«, überlegte ich laut. Allein die Vorstellung, einen weiteren Spießrutenlauf quer über die Liegewiese unternehmen zu müssen, strengte mich höllisch an. Doch ich wollte auch nicht den ganzen Spaß verpassen. Also stand ich auf und wickelte mir mein Badehandtuch um die Hüfte – doppelter Sichtschutz hält besser, dachte ich mir. Mein Badetuch war zwar nicht viel länger als meine Bikinishorts, aber zumindest sah man das hässliche Hawaii-Teil jetzt nicht mehr, und ich hätte rein hypothetisch auch eine ganz normale Bikinihose unter meinem Handtuch tragen können. Hätte, hätte … Uff! All diese Gedanken! Konnte die nicht mal jemand abstellen? Nur für fünf Minuten?

Immerhin lenkte mich die Musik, die uns von sämtlichen Decken, die wir passierten, entgegenschallte, einen Moment lang von meinem inneren Kampf ab. Wenn ich Musik hörte, machte sich mein Körper schon fast selbstständig, und alles in mir drängte mich zum Tanzen. Ich musste mich richtig beherrschen, da mitten auf der Liegewiese nicht die Dance Moves auszupacken, die wir gerade im Tanzverein einstudierten. Denn es wäre wohl eher kontraproduktiv für mein Vorhaben, bloß nicht aufzufallen, wenn ich hier durchlief und dabei den Running Man hinlegte. Mittlerweile würde ich das ohne Probleme bringen, aber 2010 wäre mir das megapeinlich gewesen. Vor allem, weil wir auf dem Weg zum Pool am Liegeplatz meines Schwarmes vorbeikamen. Und damit ging mein innerer Zwiespalt von vorn los: Mein Herz hüpfte bei Timos Anblick fast aus meiner Brust, und mein Kopf suchte das nächste Versteck. Doch Ausweichen war nicht drin! Unser Weg führte schnurstracks an ihm und seiner Clique vorbei. Da wir uns alle aus der Schule kannten, blieb meine Gruppe natürlich auch noch kurz bei seiner stehen. Die Jungs gaben sich einen Handschlag, und manche Jungs und Mädels umarmten sich kurz zur Begrüßung. Jeder schnackte kurz mit jedem, und plötzlich fragte mich Timo tatsächlich: »Hast du Lust auf ein Eis?«

Wie, Eis? Der verarscht dich doch!, krakeelte Motzi sofort. Der will ein Eis essen? Mit dir?! Das kann doch nicht sein! Mein Blick schien zu verraten, was in meinem Kopf vorging, denn Timo fragte noch mal: »Hast du Lust, mit mir zum Kiosk zu kommen?«

Alle anderen aus der Gruppe hatten mittlerweile gecheckt, dass einer der heißesten Jungs der Schule mich auf ein Eis einladen wollte, nur ich hing dank Motzi in meinem Gedankenkarussell fest und wurde von meinem Hirn mit den absurdesten Theorien bombardiert: Er sieht dich und denkt an Essen! Eis bedeutet Zucker, bedeutet Fett. Wie sieht das denn aus, wenn Fräulein Dampfwalze auch noch fröhlich ein Eis mit Timo schleckt? Und wieso genau sollte dieser süße Typ denn ausgerechnet an dir interessiert sein?

Oh, Motzi! Thank you for the drama!

Magdalena, 27 Jahre, Betroffene:

»Ausgebrochen ist mein Lipödem in der Pubertät, vermutlich als ich 2008 mit der Pille anfing. Schon damals, im frühen Jugendalter, kamen mir meine Beine viel zu kräftig vor. 2016 setzte ich die Pille dann für ein Dreivierteljahr ab und löste dann (rückblickend betrachtet), als ich nach der Pillenpause wieder mit den Hormonen anfing, wohl den ersten heftigen Lipödem-Schub aus.

2017 traute ich mich zum ersten Mal, bei meiner damaligen Hausärztin meine Beine anzusprechen, weil ich das Gefühl hatte, dass diese nicht einfach nur ›dick‹ waren. Irgendwas stimmte nicht. Ich hatte ständig Schmerzen, meine Knie und Knöchel waren unverhältnismäßig kräftig, und bei Hitze schwollen sie extrem an. Ohne mich genauer zu untersuchen, schloss die Ärztin auf Wassereinlagerungen, bedingt durch die Pille und die darin enthaltenen Hormone. Sie sagte mir, ich solle viel trinken und meine Beine regelmäßig eincremen. Mit dieser Info entließ sie mich. Enttäuscht über so wenig Hilfe ignorierte ich das Thema die nächsten zwei Jahre erst mal.«

Spieglein, Spieglein an der Wand,

wieso hab ich die kräftigsten Beine im Land?

2010/2011

»Wer möchte noch einen Nachschlag?« Meine Mutter verteilte beim Abendessen die zweite Runde Soße auf die Teller, während sich kreuz und quer über den Tisch jeder selbst zu irgendeiner Beilage verhalf. Meine Brüder schnappten sich jeweils ein weiteres Kotelett, und ich bohrte meine Gabel in einen der Klöße, die in einer separaten Schale in unserer Mitte standen. Ja, ich weiß, ich hatte schon zwei! Innerlich rechtfertigte ich mich schon wieder vor Motzi dafür, dass ich halt noch Hunger hatte. Ich hatte schon immer einen guten Appetit gehabt. Bei uns daheim wurde ordentlich gegessen – die klassische (deftige) deutsche Dreierkombi aus: Fleisch, Kohlenhydratbeilage (Nudeln, Klöße, Reis, Kartoffelprodukte) und Gemüse beziehungsweise Salat.

Es ist aber schon spät!, plärrte Motzi zurück und erinnerte mich an meine Keine-Kohlenhydrate-nach-18-Uhr-Regel. Die brach ich leider oft, denn es war keine Seltenheit, dass wir zu Hause erst um einundzwanzig Uhr zu Abend aßen. Weil jeder in unserer fünfköpfigen Familie tagsüber entweder mit der Arbeit oder Schule und diversen Hobbys wie Handballtraining, Tanzen und Co. beschäftigt war, wurde es eben meistens spät, bis wir abends alle zusammenkamen.

»Hat jeder Gemüse auf dem Teller?« Mama erinnerte uns an die zwei Löffel Pflichtgemüse, ohne die keiner ihren Tisch verlassen durfte. Hätte sie darauf nicht so konsequent bestanden, hätten meine Brüder und ich in unserer Jugend freiwillig wahrscheinlich nicht eine einzige Erbse verspeist.

»Wieso kannst du eigentlich so viel essen, ohne zuzunehmen?«, fragte ich meinen nächstälteren Bruder nur halb im Spaß. An manchen Tagen haute er sich zwei Tiefkühlpizzen hintereinander rein und hatte trotzdem nicht auch nur annähernd irgendwo ein Gramm Speck sitzen.