Ed Marsmallow – Auch Held sein will gelernt sein - Patrick Samphire - E-Book

Ed Marsmallow – Auch Held sein will gelernt sein E-Book

Patrick Samphire

0,0

Beschreibung

Fantastische Schauplätze auf dem Mars, gefährliche Schurken und ein Held, der kein Fettnäpfchen auslässt: Ed Marsmallow ist da! Auftakt zu einer Fantasy-Abenteuer-Reihe mit einem besonderen Setting: einer britischen Kolonie auf dem Mars! Action, Witz und Spannung werden erfolgreich vereint und die Protagonisten bieten sowohl für Jungen als auch für Mädchen ab 11 Jahren ideale Identifikationsfiguren. Edward hat mit drei anstrengenden Schwestern, einem experimentierfreudigen Wissenschaftler als Vater und einer überkorrekten Mutter alle Hände voll zu tun – und leider nicht so viel Zeit für seinen größten Traum: Spion sein. Als seine Eltern vom machthungrigen Archäologen Sir Titus entführt werden, weil eine von Dads Erfindungen ihn angeblich zu einem bedeutenden Schatz führen kann, ist das für Ed DIE Gelegenheit, ein Held zu sein. Allerdings ist das nicht so einfach, wie er es sich vorgestellt hat!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 364

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Stephanie

Ohne dich hätte es dieses Buch nie gegeben.

Und für Ben

Ich glaube, das Ding hätte dir gefallen.

ERSTER TEILUNGEBETENE GÄSTE

1. EIN TOTALER REINFALL

Mars, 1816

Als ich fünfzehn Meter über dem Boden an der Seite einer gigantischen Säule aus rotem Marsgestein an einem Seil baumelte, meine Arme in einem Vorhang aus triefnassem Schlingermoos vergraben hatte und einige Totengräberkäfer versuchten, auf meinem Kopf einen Erdhügel zu errichten, begriff ich endlich, dass ich den falschen Sommerurlaub ausgesucht hatte.

Mein Freund Matthew, der Sohn des Viscount Harrison, hatte mich eingeladen, den Sommer bei ihm zu verbringen. Aber nein, ich musste mich ja für einen Urlaub in der Heimat entscheiden.

Ich Idiot.

Etwa um diese Uhrzeit würde sich Matthews Familie um die Teetafel versammeln oder einen geruhsamen Spaziergang in lauer Nachmittagsluft unternehmen. Und abends, wenn sich die Glitterschwärme aus den Tiefen der Valles Marineris erhoben und sich wie Goldtuch auf den Himmel legten, würden sie einen Toast auf King George ausbringen, wie es sich für eine anständige Familie auf dem britischen Mars gehörte.

Völlig ausgeschlossen, ja ganz und gar undenkbar war, dass Matthews Familie derzeit in akuter Lebensgefahr an einem riesigen Felsturm hin und her pendelte, auf halber Höhe zwischen Boden und Gipfel, und einen zornigen Buschbären jagte.

Auch ich hatte mir den Tag etwas anders vorgestellt, als ich an jenem Morgen aufgestanden war.

Und zwar ungefähr so: Ich wollte mir die neueste Ausgabe der Phänomenalen Geschichten vom Mars aus der Post holen, mich damit in meinem Zimmer einschließen und möglichst bis zum Mittagessen ungestört bleiben. Meine Hausarbeiten hatte ich erledigt, und ich hatte sogar ein besonders großes »Bitte nicht stören«-Schild für meine Tür angefertigt– vor allem, um meine kleine Schwester Putty fernzuhalten.

Am Ende des letzten Hefts der Phänomenalen Geschichten hatte sich der britisch-marsianische Geheimagent Captain W. A. Masters einhändig an die Mauer eines Bergtempels geklammert, während der Drache des Tyrannen auf ihn herabgerauscht war.

Den ganzen Monat hatte ich kaum still sitzen können, so gespannt war ich auf die Geschehnisse der nächsten Ausgabe. An Captain Masters’ Stelle hätte ich abgewartet, bis der Drache mich beinahe gepackt hätte, um mich dann auf seinen Hals zu schwingen, seinen Rücken zu erklimmen und mit dem Tyrannen zu ringen, der oben auf dem Drachen ritt. Doch Captain Masters hatte stets eine Überraschung in petto.

Heute würde ich erfahren, was er diesmal anstellte.

Jedenfalls hätte ich es erfahren, hätte sich unser defekter Ro-Butler nicht mit der Post vom Acker gemacht.

Ich war dem Ro-Butler hinterhergehetzt und hatte gerade noch gesehen, wie er die Dachbodenleiter wieder heruntergeklettert kam. Er hatte drei Sonnenschirme und einen Perückenhalter dabei, aber keine Post. Also stieß ich einen Seufzer aus und stieg hinauf in das grauenvolle Durcheinander unseres Speichers. Wo hatte der Ro-Butler bloß unsere Post verstaut?

Meine Phänomenalen Geschichten vom Mars fand ich nirgends. Dafür fand ich eine Kolonie von Winkelwanzen. Die winzigen Biester hatten sich über Nacht eingeschlichen und in unserem Dachgebälk ihre kleinen Glaspaläste errichtet. Nun hingen sie schon ihre mikroskopischen Seidenflaggen aus den Fenstern und bald würden sie sich vermehren.

Ich fasste mir an den Kopf und stöhnte.

Matthew besaß jede einzelne Ausgabe der Phänomenalen Geschichten, einschließlich der seltenen Nummer 1 samt Gratisbeilage– dem Uhrwerks-Todeskreisler, mit dem Captain Masters den Flugpalast des Smaragdtyrannen zerstört hatte.

Die Nummer 1 hatte ich nie gelesen. Außerdem wohnten im Haus des Viscount Harrison bestimmt keine Winkelwanzen, und falls doch, hätte ich mich nicht darum kümmern müssen. Der Kammerdiener des Viscount hätte eine Nachricht an Isaacs Xenologiebedarf geschickt und eine Ladung Katzenvögel anliefern lassen, die die Winkelwanzen ruckzuck aus dem Dachboden verscheucht hätten. Und sollte Isaac gerade keine Katzenvögel vorrätig haben, hätte der Kammerdiener wahrscheinlich seine Automatenkollegen mit Staubwedeln und Bohrmaschinen auf den Speicher beordert, wo sie flugs die Paläste der Winkelwanzen ausradiert hätten, woraufhin die Biester hoffentlich verschnupft abgezogen wären.

Aber nein. Ich war hier, im trauten Heim, wo alle meine Familienmitglieder durch ihre eigene kleine Welt zockelten und mir die Schwerstarbeit überließen.

Jede normale Familie hätte zumindest einen ernsthaften Versuch unternommen, sich die Winkelwanzen vom Hals zu schaffen, bevor sie sich vollends durch das Gebälk fraßen und das Dach über uns zusammenbrach.

Aber meine Familie war anders.

Meine Familie hat kein Händchen für derartige Dinge. Meine Familie hätte die Winkelwanzen nicht mal bemerkt, bis das Haus über ihren Köpfen eingestürzt wäre, und dann hätten sie alle inmitten der staubigen Trümmer gehockt und nicht gewusst, wie ihnen geschehen war.

Also war es an mir, meine Familie vor einem gewaltigen Unheil zu bewahren. Wie immer.

Aus ebendiesem Grund fanden Putty und ich uns eine Stunde später auf einer Marsgesteinsäule wieder, wo wir dicke Schlingermoosvorhänge nach der einzigen Waffe durchwühlten, die einer Winkelwanzenkolonie den Garaus machen konnte (mal abgesehen von Katzenvögeln): nach einem Buschbären.

Der Buschbär ist eine Kreatur, die aus nichts als Stacheln und Zungen und feuchtem, muffigem Fell zu bestehen scheint. Eine bösartige Kreatur, die tief in den schleimig-nassen Falten des Schlingermooses haust und nur bei Sonnenuntergang mit winzigen blutunterlaufenen Augen hervorlinst. Gelingt es einem, den Buschbären bei Tag ans Licht zu zerren, rollt er sich zusammen wie ein Igel (oder noch enger) und man kann ihn mit nach Hause nehmen und auf Winkelwanzen loslassen.

Buschbären machen Jagd auf Winkelwanzen, aber das stört die Winkelwanzen gar nicht so sehr. Viel ärgerlicher finden sie das hässliche Äußere des Buschbären und seine stets miese Laune. Setzt man ihnen einen Buschbären vor die Nase, ziehen Winkelwanzen augenblicklich beleidigt aus.

Doch natürlich musste man erst mal einen Buschbären aufstöbern, und das erwies sich als unerwartet schwierig.

Hoch oben auf der Felssäule hatte ich einen guten Überblick über Papas Anwesen. Das Wohnhaus selbst war ein riesiges, verzweigtes Gebäude direkt am Ufer der Valles Marineris. Links und rechts davon wuchsen dichte Farnwälder, die untereinander flüsterten und wisperten, wann immer der Wind auffrischte. Vor dem Haus erstreckten sich Rasenflächen bis zum Wasser und der Fahrweg wurde von guten alten Eichen gesäumt.

Auf den Rasenflächen wurden derzeit Buden und aufgebockte Tische errichtet, denn morgen Nachmittag sollte Mamas von langer Hand geplantes Gartenfest stattfinden. Am Rand der Farnwälder wurden lächerliche Hütten gezimmert, die rustikale Behausungen der marsianischen Ureinwohner darstellen sollten, und einige Handwerker hatten sich über die halb fertige, schon jetzt hoch aufragende Drachengruft in die Haare bekommen, die Mama eigens für das Fest am Ufer erbauen ließ. Gleich daneben stand ein regloser Dampfschlepper, die massigen Arme weit ausgebreitet, und blies den Dampf aus seinem Mund in den klaren Himmel.

Und hinter dem Haus erhoben sich eben ein paar Dutzend Säulen aus Marsgestein, ein richtiger Irrgarten aus Schluchten und Sackgassen. Mama wollte die Säulen ursprünglich planieren lassen und stattdessen eine anständige, kunstvoll gestaltete Wildnis wie auf dem Anwesen ihres Vaters anlegen, doch davon wollte Papa nichts wissen.

Ein Glück! Denn ohne Steinsäulen hätten hier keine dicken Matten aus Schlingermoos gewuchert, ohne Schlingermoos keine Buschbären, und ohne Buschbären wären wir den Winkelwanzen hilflos ausgeliefert gewesen und uns wäre schon bald das Haus um die Ohren geflogen.

Putty und ich hingen also hoch oben an einer Steinsäule. Das heißt, nur Putty war wirklich ganz oben; sie sicherte das Seil, während ich mit dem Seil um die Hüfte auf halber Höhe baumelte und das dichte Moos durchharkte.

Ich versuchte, mir einzubilden, ich wäre Captain W. A. Masters, der sich auf dem altertümlichen Mars zu einem Tyrannenschlupfwinkel vorkämpfte. Nur dass Captain W. A. Masters zweifellos einen Hubschirm oder Greifhandschuhe dabeigehabt und sich mit Leichtigkeit über die schroffe Felswand geschwungen hätte. Der Captain hätte sich bestimmt nicht darauf verlassen müssen, dass Putty für seine Sicherheit sorgte.

Zu meiner Schwester Putty sollte ich euch noch ein paar Worte sagen. Erstens ist Putty neun Jahre alt und damit drei Jahre jünger als ich und zweitens heißt sie streng genommen gar nicht Putty, sondern Parthenia. Doch Putty passt einfach viel besser zu ihrem Charakter, denn »Putty« bedeutet (unter anderem) »Knete«– und Putty lässt sich tatsächlich formen wie ein Klumpen Knete. Sie lässt sich viel zu leicht beeindrucken und kann sich für wirklich alles begeistern. Erzählt man ihr von irgendeiner neuen Idee, stürzt sie sich sofort Hals über Kopf hinein wie eine Turmspringerin von einer Felskante.

Ein Beispiel: Nachdem Putty vor einem Monat einen Photonenmechaniker kennengelernt hatte, verbrachte sie die nächsten paar Wochen damit, Fachbücher über Apparate zum Fang und zur Abgabe von Photonen zu wälzen. Davor hatte sie einen Artikel des viel gerühmten Xenologen Frank Herbert Keynes gelesen und daraufhin beschlossen, ihr Leben dem Studium der Sandfische zu widmen. In einer Ecke ihres Zimmers hatte sie sogar ein Sandfisch-Sicherheitsaquarium gebastelt, das schon zur Hälfte fertig war, als sie dann dem Photonenmechaniker begegnet war. Und davor… aber ich denke, ihr habt schon verstanden. Im Moment hatte Putty beschlossen, dass sie wie unser Papa sein wollte. Das war eine Laune, die sie häufiger überkam. Mindestens einmal im Jahr verwandelte Putty sich in einen kleinen Papa-Doppelgänger mitsamt Tweedjackett, zerzauster Frisur und einer Brille, die sie überhaupt nicht nötig hatte, und trieb Mama damit zur absoluten Verzweiflung.

Aber was ich noch zu Putty sagen wollte, ist im Augenblick sehr viel wichtiger: Putty lässt sich extrem leicht ablenken. Deshalb könnte man sich durchaus fragen, wieso ich nun fünfzehn Meter über dem Boden an einem Seil baumelte, das allein von Putty gesichert wurde. Eine sehr berechtigte Frage! Doch die Chancen, eine meiner älteren Schwestern, also Olivia oder Jane, zu einer so unanständigen und undamenhaften Unternehmung zu überreden, hätten bei leicht unter null gelegen.

Deshalb blieb nur Putty übrig. Putty hatte zumindest den Vorteil, dass sie wirklich jeden Unsinn mitmachte.

»Sieh mal, Edward«, sagte sie.

Ich wischte einen Schlingermooslappen beiseite und schüttelte mir die Feuchtigkeit vom Gesicht. Putty blickte auf mich herab.

»Hältst du auch das Seil fest?«, rief ich hinauf.

Putty zog ein schuldbewusstes Gesicht. Für einen Augenblick verschwand ihr Kopf, um sogleich wieder aufzutauchen. »Ja doch!«

»Was ist denn?« Sicherheitshalber grub ich meine Hand tiefer ins Schlingermoos.

»Glaubst du, das ist ein Pterodaktylus?«

Ich verrenkte den Kopf nach hinten und spähte in die Richtung, in die Putty deutete. Hoch über dem Anwesen, vor dem Hintergrund der glitzernden Valles Marineris, schwebte ein kleiner schwarzer Fleck, der jedoch immer größer wurde.

Dieser Tage bekommt man kaum noch wilde Flugsaurier zu Gesicht, doch hin und wieder kann man einen Blick auf ein Exemplar erhaschen, das weit draußen über das Wasser flattert. Wie ich gehört hatte, existierten auf der chinesischen Seite der Valles Marineris noch mehrere Brutkolonien, und an unserer Küste, gut hundertfünfzig Kilometer entfernt von unserem Anwesen und fernab der Zivilisation, gab es ein Pterodaktylus-Reservat. Dennoch kam es nur selten vor, dass sich ein Flugsaurier so nah an eine menschliche Ansiedlung heranwagte.

Wegen der blendenden Sonne und der grell spiegelnden Wasseroberfläche konnte ich den Fleck nur undeutlich erkennen, doch er kam mir irgendwie seltsam vor. Er wackelte und rutschte hin und her, ein unberechenbares, ruckartiges Zuckeln, das dem sanften Dahingleiten eines Flugsauriers so gar nicht ähnlich sah. Und das von einem sonderbaren, stetig anschwellenden Surren begleitet wurde.

Für einen Moment sank der Fleck abrupt nach unten und fast wäre er an einem unserer Schornsteine hängen geblieben.

»Oh nein«, stieß ich hervor, als mir dämmerte, worum es sich handelte. »Oh nein.«

Es war ein Helirad– doch dessen Ballon war weitgehend erschlafft und schlenkerte nur noch hinterdrein, und soweit ich es erkennen konnte, hatten sich die Federn bereits vollständig abgespult. Der Fahrer trat in die Pedale, so schnell es einem Menschen möglich war, aber er konnte das Vehikel kaum noch in der Luft halten. Über seinem Kopf wirbelten die Propellerblätter wie verrückt.

Das Helirad touchierte die Farnwipfel, kippte kurz zur Seite weg und gondelte dann langsam wieder in die Höhe, geradewegs zwischen die roten Steinsäulen.

Als der Fahrer an einem Steuerhebel riss, schlingerte das Helirad um die erste Steinsäule herum und sackte dabei seitlich in die Tiefe. Mit einem Schreckensschrei zerrte der Fahrer am anderen Steuerhebel. Das Helirad richtete sich wieder horizontal aus und hielt direkt auf mich zu.

»Runter, Sie Idiot!«, rief ich. »Runter!«

Der Fahrer strampelte noch eifriger. Das Helirad machte einen Satz nach oben.

Aber nicht weit genug nach oben. Die Säulen ragten über dreißig Meter hoch empor. Da konnte man strampeln, wie man wollte– ein lädiertes Helirad mit Fahrer an Bord könnte man niemals derart hoch in die Luft hieven.

»Nein!«, brüllte ich und wedelte verzweifelt mit meinem freien Arm.

Das Gesicht des Fahrers verzerrte sich zu einer Grimasse, und er tat, was man in einer solchen Situation auf gar keinen Fall tun sollte: Er ließ beide Steuerhebel los und schlug sich die Hände vor die Augen. Das Helirad drehte sich um die eigene Achse, völlig außer Kontrolle, und krachte knapp zwei Meter über meinem Kopf gegen die Steinsäule.

Das Seil, das mich sicherte, riss entzwei, säuberlich durchtrennt von den Propellerblättern. Um mich herum schepperten Heliradtrümmer herab, mit einem Schnalzen sprang eine Feder davon. Während ich mich am Schlingermoos festklammerte, um nicht zusammen mit dem abgetrennten Seil in die Tiefe zu stürzen, ging ein Schauer aus kreiselnden Messingzahnrädern nieder und prallte von meinen Schultern und meinem Rücken ab.

»Edward!«, schrie Putty.

Ich wollte ihr zurufen, dass ich unverletzt sei. Doch bevor ich den Mund öffnen konnte, hörte ich ein lautes Geräusch von oben. Es klang, als würde etwas zerreißen.

Da löste sich die ganze Schlingermoosmatte vom Gestein und ich stürzte ab.

2. EINE NASSE LANDUNG

Wenn man schon fünfzehn Meter tief stürzt und gleichzeitig von den Überresten eines Helirads gejagt wird, ist es ratsam, dabei an einer Schlingermoosmatte zu hängen. Schlingermoos ist weicher als jedes Kissen– allerdings auch deutlich feuchter– und häufig fast einen Meter dick.

Mit einem lauten Schmatzen landete ich auf dem Boden und trotz der Polsterung blieb mir durch den Aufprall erst mal die Puste weg. Um mich herum schlugen Metallteile ein und bohrten sich tief ins Moos, wenige Meter entfernt rammte sich ein schweres Propellerblatt in den Untergrund und der jaulende Fahrer plumpste gleich neben mir auf die Matte.

Was zum Mars hatte der Kerl sich dabei gedacht? Er hätte mich umbringen können! Nur ein paar Meter weiter, und der Propeller hätte mich erdolcht!

Der Fahrer ächzte. Schmutziges Schlingermooswasser benetzte seine Messingschutzbrille. Er musterte mich durch die verschleierten Linsen.

»Grundgütiger«, sagte er. »Sind wir tot?«

Die Stimme kannte ich doch.

»Ja«, antwortete ich nicht gerade freundlich.

»Ehrlich?«

Ich beugte mich vor und schob ihm die Schutzbrille auf die Stirn. Er blinzelte mich an.

»Cousin Freddie«, sagte ich. Und ich hatte schon gedacht, es könnte heute nicht mehr schlimmer kommen…

»Ah«, antwortete er, »Cousin Edward. Was sagt man dazu.«

Freddie war kein richtiger Cousin von mir. Er war der Sohn von Henry Winchester, dem ältesten Freund meines Vaters, doch in jüngeren Jahren hatte er so viel Zeit bei uns verbracht, dass wir ihn irgendwann »Cousin« genannt hatten. Das bereute ich jetzt sehr. Klar, ich hatte schon lange gewusst, dass Freddie ein Schwachkopf war, aber diesmal hatte er sich wirklich selbst übertroffen.

Ich rappelte mich auf und starrte ihn wütend an. »War das dein erster Ritt auf einem Helirad, oder was?«

Cousin Freddie rieb sich die Augen und verteilte dadurch den Dreck an seinem Ärmel auf der einzigen Stelle seines Gesichts, die bisher sauber geblieben war. »Äh… das nicht. Nicht mein allererster. Aber so schwierig kann das doch nicht sein, nicht wahr?«

Ich betrachtete die umherliegenden Wrackteile und hob eine Augenbraue.

»Verstehe, verstehe«, sagte Cousin Freddie. »Ja, da kann ich schlecht widersprechen. Aber es lag nicht allein an mir. Hätte mir mal irgendjemand gesagt, dass der Federantrieb mitten über den Valles Marineris ablaufen würde! Und dann hat auch noch irgendein garstiger Vogel meinen Ballon mit seinem Abendessen verwechselt und so musste ich mich für die restliche Strecke auf meine Pedalkraft verlassen. Eine schweißtreibende Angelegenheit, das kann ich dir sagen.« Er stocherte in dem Trümmerhaufen und angelte einen auf Hochglanz polierten Gehstock mit Silbergriff hervor. »Ah! Ich hatte das Ding fast schon abgeschrieben!« Fröhlich schwang er den Stock herum. Ich glotzte ihn nur noch fassungslos an.

Es ist schwer zu glauben, doch früher hatte Freddie allgemein als brillanter Kopf gegolten. Jedermann war überzeugt gewesen, dass er eines Tages groß herauskommen würde– doch mit seinem sechzehnten Geburtstag hatte sich das Blatt gewendet und Freddie war plötzlich zu einem liebenswerten Trottel mutiert. Ich war mir sicher, dass er sich damals irgendwo den Schädel angehauen hatte. Nach dem unglücklichen Vorfall mit dem Stelzgras und Tante Amelias neuer Abendrobe hatte Onkel Henry sich sogar angewöhnt, seinen Sohn nur noch »Freddie, den Idioten« zu nennen. Aber soweit ich auf dem Laufenden war, hatte selbst Freddie noch nie eine solch monumentale Dummheit begangen wie heute.

»Was zum Mars ist in dich gefahren? Wie kommt man auf die Idee, die Valles Marineris per Helirad zu überqueren?«

»Ah«, sagte Cousin Freddie. »Nun ja. Das ist in der Tat eine längere Geschichte. Weißt du, auf dem chinesischen Mars habe ich ein ausnehmend hübsches Mädchen kennengelernt, und ich dachte, sie…«

Hektisches Rascheln unterbrach unser Gespräch. Putty nahm den letzten Meter im Sprung, landete auf dem Boden und rannte herüber. Ein paar Schritte vor uns hielt sie inne.

»Cousin Freddie?«, sagte sie. »Du hier?«

Freddies Miene hellte sich auf. »Cousine Parthenia? Ach, wie groß du geworden bist! Und dann noch dieses… äh… hochinteressante Gewand.« Sie trug eine Miniaturausgabe von Papas schon recht altmodischem Gehrock und dazu passende Kniehosen.

Putty betrachtete Freddie genauer. »Was hast du da im Gesicht?«

Leicht verunsichert betastete Freddie seine Oberlippe. »Das hier, meinst du? Ist es dir etwa aufgefallen? Haha! Das ist mein Schnurrbart. Macht einen schneidigen Eindruck, was?«

»Sieht aus wie eine tote Raupe. Warum hast du dir einen Schnauzer wachsen lassen?«

»Äh… nun ja. Ist eine längere Geschichte. Das gehört alles zu meiner Tarnung. Ich war soeben dabei, deinem…«

»Das ist aber eine miserable Tarnung«, stellte Putty fest. »Ich habe dich auf den ersten Blick erkannt.«

Freddie wirkte gekränkt. »Na, er wächst ja noch. Ich finde, ich sehe damit aus wie ein strammer Preuße.«

»Einen Moment«, mischte ich mich ein. »Was hast du überhaupt hier zu suchen? Du solltest doch in Oxford sein. Auf der Erde«, fügte ich hinzu, damit Freddie auch wirklich begriff, worauf ich hinauswollte. »An der Universität.« Soweit ich wusste, hätte Freddie sich gegenwärtig seinem Studium widmen sollen. Zu Hause wurde er erst in Monaten erwartet.

Freddie zog eine Grimasse. »Äh… tja. Nun ja. Wie soll ich sagen, auch das ist eine längere Geschichte.« Er lachte unbeholfen. »Es gab eine kleine Meinungsverschiedenheit wegen eines Boxkampfs, und wie es immer so ist…« Er räusperte sich. »Aber sei’s drum, die Details interessieren euch sicherlich nicht.« Er riss eine nasse Hand hoch und spritzte Dreckwasser durch die Gegend. »Was stehen wir noch hier herum und tropfen wie zwei feuchte Badeschwämme? Ich bin am Verhungern. Habe seit gestern nichts mehr zwischen die Zähne bekommen.« Er beugte sich zu Putty hinab. »Sollte es dich je zum chinesischen Mars verschlagen, probier bloß nicht die kleinen Fleischspieße, die es dort überall zu kaufen gibt. Sind mir gar nicht gut bekommen. Und das mitten über den Valles Marineris– eine unappetitliche Angelegenheit. Was war ich froh, dass ich kein Fisch bin, der dort unten herumschwimmen muss!« Er fasste Putty am Arm. »Komm, Cousine Parthenia, das Abendessen ruft!«

Mit schmalen Augen blickte ich den beiden hinterher. Freddie war meiner Frage ausgewichen– als hätte er etwas zu verbergen. Man musste kein Genie sein, um daraufzukommen, dass Freddie mal wieder Ärger hatte. Freddie wurde vom Ärger verfolgt wie ein Landfisch von einem Biberbluthund.

Aber das würde meine Familie wohl kaum bemerken– obwohl einige meiner Familienmitglieder tatsächlich echte Genies waren. Mama war mit Leib und Seele in die Vorbereitungen zu ihrem prachtvollen Gartenfest abgetaucht, weil sie unbedingt die Damen aus der Nachbarschaft beeindrucken wollte, und Papa war dermaßen besessen von seinen Erfindungen, dass man ihn schon mit einer Dampfkanone in den Himmel hätte feuern müssen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Derweil war meine älteste Schwester Jane sicher vollauf damit beschäftigt, sich in einen x-beliebigen Jüngling im heiratsfähigen Alter zu verlieben, den es zufällig in ihre Nähe gespült hatte, und Olivia war viel zu anständig, um überhaupt anzuerkennen, dass es so etwas wie »Ärger« gab. Und Putty? Tja, Putty würde sich voller Freude in jeden Ärger stürzen, den sie kriegen konnte. Also blieb mal wieder alles an mir hängen.

Obwohl ich erst zwölf Jahre zählte, war es an mir, herauszufinden, was für einen Ärger Freddie diesmal am Hals hatte und ob er ihn in unser Haus mitgebracht hatte.

Captain W. A. Masters musste sich noch etwas gedulden. Auch wenn es ihm dort oben an der Mauer des Bergtempels vermutlich langsam ungemütlich wurde.

Als eine halbe Stunde später zum Abendessen geläutet wurde, trat Freddie aus seinem Gästezimmer. Nun, da er seine lädierte, moosfleckige Kniebundhose, sein zerfetztes Halstuch und seinen ledernen Fliegermantel abgelegt, sich den Schlamm von Gesicht und Händen gewaschen und die Haare gekämmt hatte, gab er eine wirklich eindrucksvolle Erscheinung ab.

Der Mars ähnelte der Erde in vielem. Die Tage waren lediglich eine halbe Stunde länger und die Luft ließ sich ebenso leicht atmen wie auf der Heimatwelt. Selbst die Jahreszeiten glichen einander; nur dauerte das Jahr auf dem Mars fast doppelt so lange, was zur Folge hatte, dass der Winter manchmal wirklich gar kein Ende nehmen wollte. Doch die Schwerkraft war auf dem Mars nicht mal halb so stark wie auf der Erde, und deshalb waren wir, die wir auf dem Mars aufgewachsen waren, meist dünner und leichter als andere.

Freddie war anzusehen, dass er zwei Jahre auf der Erde verbracht hatte. Seine Muskeln waren angeschwollen, er wirkte abgehärtet und robust. Außerdem hatte er sich eine neue, modische und hoch komplizierte Halstuchbindung angeeignet– das straffe Tuch saß weit oben am Hals und drückte sein Kinn in einem steilen Winkel nach oben, was einen komplett unbequemen Eindruck machte. Und er trug zwei Westen, die eine über der anderen. Alles in allem hatte Freddie beängstigend gut in die Rolle des Oxford-Studenten hineingefunden.

»Genau zur rechten Zeit!«, rief Freddie aus, als die Glocke zum Abendessen läutete.

»Was du nicht sagst«, entgegnete ich.

Falls es ihm darum ging, einem Vier-Augen-Gespräch mit mir auszuweichen, hätte er sein Zimmer tatsächlich zu keinem günstigeren Zeitpunkt verlassen können.

Putty hatte sich mit mir vor Freddies Schlafgemach herumgedrückt und studierte nun seine Kleidung, die Augen sinnierend zusammengekniffen.

»Wartet hier!«, rief sie und flitzte zurück auf ihr Zimmer.

»Wir müssen uns unterhalten«, sagte ich zu Freddie.

Er zwinkerte. »Nichts lieber als das, alter Knabe, aber wir wollen doch nicht zu spät zum Dinner erscheinen. Das wäre eine unentschuldbare Grobheit, und meine Mutter würde es mir nie verzeihen, sollte ich Tante Caroline verärgern.« Er wirbelte seinen Gehstock herum und rauschte treppabwärts Richtung Speisezimmer.

Der Rest der Familie saß bereits um die Tafel, als Freddie und ich dazukamen. Papa hatte am Kopfende Platz genommen, vor sich ein Meer aus Zetteln, vollgekritzelt mit unentzifferbaren Konstruktionsplänen. Vor den Fenstern, die gewöhnlich einen Blick auf unsere ausladenden Rasenflächen an den Gestaden der Valles Marineris boten, waren die Gardinen zugezogen worden, damit niemand zusehen musste, wie sich die Handwerker immer noch mit den Vorbereitungen zum Gartenfest abplagten. In der Mitte stand ein vielarmiger Leuchter, der den Tisch in flackerndes Licht tauchte, und an den Wänden brannten Gaslampen.

In einem lauten Rascheln grünen und goldenen Stoffs erhob sich Mama, als wir eintraten. »Frederick! Wie schön, dass es Ihnen möglich war, uns einen Besuch abzustatten.«

Ich runzelte die Stirn. Hatte Mama schon mit Freddies Besuch gerechnet? Aber warum hatte sie ihn dann mit keinem Wort erwähnt?

»Trifft die Familie aber ein wenig unerwartet, nicht wahr?«, entgegnete Freddie. »Eben war ich noch sonst wo, plötzlich bin ich hier.« Er schenkte den anderen ein breites, geistloses Lächeln.

»Es ist eine ganz wunderbare Überraschung«, sagte Jane, die sich ebenfalls elegant erhob, um ihren Platz an Mamas Seite einzunehmen.

Jane war meine älteste Schwester. Sie war neunzehn Jahre alt und die wahrscheinlich lieblichste Person auf dem ganzen Planeten. Außerdem besaß sie die Begabung, jeden jungen Gentleman dazu zu bringen, sich in sie zu verlieben, und das meist schon auf einhundert Meter Entfernung. Wir hatten Freddie seit beinahe zwei Jahren nicht gesehen, seit er auf die Universität ging. Ob er wohl immer noch immun gegen Janes Kräfte war? Ich kam mir vor, als würde ich ein interessantes wissenschaftliches Experiment beobachten.

»Ach, ich musste doch kurz vorbeischneien, als ich, äh, zufällig in der Gegend war«, meinte Freddie. »Oder sollte ich sagen: über der Gegend?«

Meine zweitälteste Schwester Olivia neigte zur Begrüßung den Kopf, steif wie ein ladenneues Buch. Sobald Besuch im Haus war, ging es bei uns immer fürchterlich förmlich zu. »MrWinchester, Sie sind uns stets willkommen.« Aus unerfindlichen Gründen hatten sich Olivias Wangen gerötet und aus dem straffen Haarknoten an ihrem Hinterkopf war ein braunes Strähnchen entwischt.

»Hugo!«, rief Mama über den Tisch. »Wir haben Besuch von Frederick!«

Papa, der bisher auf einem Notizblock herumgekrakelt hatte, blinzelte über seine verschmutzte Brille hinweg und zog seine buschigen Augenbrauen hoch. »Ah. Da bist du ja, mein Junge. Hatte mich schon gefragt, wo du dich herumtreibst.«

Einen Augenblick lang dachte ich, Papa meinte mich. Hatte Papa etwa nach mir gesucht?

»Frederick war auf der Erde, er besucht die Universität von Oxford«, klärte Mama ihn auf, und ich dachte mir: Ach was, natürlich hat er Freddie gemeint. Wieso sollte Papa denn nach mir suchen? Es schien ihn nie groß zu interessieren, ob ich anwesend war oder nicht.

Seufzend schob ich mich auf den Stuhl neben Olivia.

»Was ist denn los mit dir?«, flüsterte ich ihr zu.

Unmerklich schüttelte sie den Kopf, doch ihre Wangen schimmerten noch immer rötlich.

Da krachte die Tür auf und Putty kam hereingerannt. Sie hatte ihren alten Gehrock gegen zwei Westen eingetauscht, genau wie Freddie sie trug.

»Was soll uns das sagen?«, keifte Mama ihr entgegen.

»Ähm… was soll uns was sagen?«, fragte ich vorsichtig, während der Ro-Butler mit einem Tablett Plesiosauriersteaks und Feuerbohnen hereintrudelte, abgeschmeckt mit grobem Pfeffer und Rosmarin.

»Parthenia!«, herrschte Mama meine Schwester an, und ihre Hand wischte derart dramatisch durch die Luft, dass um ein Haar ihr Glas quer über den Tisch geflogen wäre.

»Als würden wir uns das nicht alle schon lange fragen«, murmelte Olivia an meiner Seite.

Als der Ro-Butler meine Portion auf meinen Teller klatschte, lehnte ich mich weit zurück.

»Was habe ich denn gemacht?«, fragte Putty.

»Dein Aufzug.« Mama schniefte. »Du hast eine junge Lady zu sein, Parthenia. Was soll denn Frederick denken?«

»Nun ja…«, hob Freddie an.

»Frederick kommt direkt von der Erde! Aus England! Er muss uns allesamt für Barbaren halten!«

»Also nein, auf keinen…«

Mama wandte sich an Freddie. »Wissen Sie, dass ich einst selbst beinahe auf dem Weg nach England war? Man hatte mich eingeladen. England ist doch so viel zivilisierter als der Mars. Ich schäme mich nicht, offen zuzugeben, dass diese Erfahrung sehr zur Verfeinerung meines Charakters beigetragen hat. Ohne diese Erfahrung wäre ich nicht die Dame, die Sie heute vor sich sehen.«

»Äh… welche Erfahrung genau?«, fragte Freddie, doch Mama hörte ihm nicht zu. Sie widmete sich wieder Putty.

»Schlimm genug, dass du dich verspätet hast…«

»Das ist meine Schuld«, warf Freddie ein. »Tut mir schrecklich leid. Habe den ganzen Betrieb aufgehalten, weil ich mein Zweithalstuch verlegt hatte. Aber ohne ordentlich gebundenes Halstuch kann ein Gentleman doch nicht vor die Leute treten.«

Papa hob die Augenbrauen. Er versuchte hin und wieder, sein Halstuch vorschriftsgemäß zu knoten, gab es aber jedes Mal nach wenigen Sekunden auf.

»Ihr Halstuch ist ausgesprochen flott gebunden«, meinte Jane. »So trägt man es also heutzutage in London, Cousin Freddie?«

Ja, Jane war lieblich wie Sirupbeerenwein– doch soweit ich es beurteilen konnte, war ihr in ihrem ganzen Leben noch kein einziger Gedanke durch den Kopf gegangen, der sich nicht um Mode oder junge Herren gedreht hätte.

Freddie fasste sich an sein albernes Halstuch. »Äh, tja, wie soll ich sagen… diesen Halstuchknoten habe ich selbst ersonnen. Ich nenne ihn die ›Winchester-Kaskade‹. Glauben Sie, er könnte sich in der Modewelt durchsetzen, Cousine Jane?«

»Oh, daran hege ich keinen Zweifel!«, schwärmte Jane.

»Aber wäre es nicht sinnvoller«, meinte ich, »deinen selbst ersonnenen Halstuchknoten der Londoner Modewelt zu präsentieren? Wieso bist du schon jetzt zum Mars zurückgekehrt? An der Universität ist das Semester doch noch in vollem Gange?«

»Ah!« Freddies Augen leuchteten auf. »Gut, dass du darauf zurückkommst. Wie gesagt, der alte Podgy– äh, ich meine natürlich Viscount Podwood– hatte eines Abends bei einer feuchtfröhlichen Feierlichkeit den fantastischen Einfall, dass wir alle Mann auf ihn wetten sollten… und zwar, nun ja, bei einem Boxkampf…« Als Freddie bemerkte, wie ihn Mama, Jane und Olivia anstarrten, verstummte er. »Verstehe«, sagte er dann. »Kein Thema, das in Gegenwart des zarten Geschlechts angeschnitten werden sollte. Bitte um Entschuldigung.« Sein Blick huschte zu mir.

Ich starrte zurück. War das Absicht gewesen? Er musste doch wissen, dass er vor Mama, Jane und Olivia nicht über solche Dinge reden konnte. Keine Frage, Freddie war ein Idiot, aber das musste selbst ihm klar sein.

Freddie räusperte sich. »Onkel Hugo. Vater meinte, Sie arbeiten an einer neuen Erfindung? Klang hochinteressant, auch wenn ich mir keinen Reim darauf machen konnte.«

Putty hampelte so begeistert auf ihrem Stuhl herum, dass sich fast ihr Teller überschlug. »Der Wasserabakus!«

»Wie bitte? Ein Wasserabakus?«, rief Freddie. »Damit die Fische zählen lernen? Haha!«

Papa war Mechaniker. Wie Hunderte andere Mechaniker auf dem Mars auch machte Papa sich die sensationellen mechanischen Vorrichtungen zunutze, die in den Drachengrüften des Lunae Planum zutage gefördert worden waren, und erdachte Erfindungen, die das Angesicht des Mars und der Erde veränderten. Doch kein anderer Mechaniker konnte sich auch nur annähernd mit Papas Genialität messen.

Papas Durchbruch war der automatische Uhrwerksdiener gewesen. Vor Papa wurden automatische Diener von Dampf angetrieben– klobige, einfältige Maschinen, die nur zum Schleppen und Heben von Lasten zu gebrauchen waren. Sie rumpelten durch die Gegend, rülpsten Rauch, ließen Dampf entweichen und waren jeder vornehmen Gesellschaft ein Graus. Da erfand Papa einen federbetriebenen Diener, der keinerlei Dreck verursachte und absolut lautlos arbeitete, ausgestattet mit einem Gehirn, das ein wahres Wunderwerk fragiler Schönheit war und Tausende verschiedener Aufgaben bewältigen konnte. Papa richtete eine Manufaktur zur Herstellung der Automaten ein und schon der erste Ro-Butler eroberte den Markt im Sturm. Jede bessere Familie auf dem Mars musste sich einen zulegen, Papa verdiente ein Vermögen und die Tharsis Times bezeichnete meinen Vater als »größte Erfolgsgeschichte des britischen Mars«.

So ging es weiter, bis Papa vor ein paar Jahren mit der Arbeit an seiner neuesten Erfindung begonnen hatte: dem Wasserabakus. Seine Geschäfte überließ er währenddessen sich selbst und bemerkte nicht, dass sie so ganz allein nicht viel mit sich anzufangen wussten.

Soweit ich daraus schlau wurde, war der Wasserabakus nichts weiter als ein Zimmer voller Maschinen, die riesige Summen zusammenzählen und voneinander abziehen konnten. So ein Ding könnte vielleicht den Algebra-Unterricht überflüssig machen, was ich sehr reizvoll fand, aber ansonsten? Ich kapierte einfach nicht, wieso Papa jede freie Minute an dieser Apparatur herumtüfteln musste.

»Es ist eine Rechenmaschine«, sagte Papa. »Eine Maschine, die jede Aufgabe tausendmal schneller lösen soll, als es uns von Hand möglich wäre.«

»Na, schneller als ich wäre jedes Kind«, scherzte Freddie. »Ich bin mit meinem Abakus nie zurande gekommen. Diese vielen Kugeln– zum Auswachsen! Trotzdem, verteufelt clever von den alten Griechen, sich so ein Dingsbums auszudenken. Oder waren’s die alten Römer? Die werfe ich andauernd durcheinander. Treibt meinen Griechischlehrer zur Weißglut. Oder meinen Lateinlehrer?«

»Tatsächlich«, sagte Papa, der Freddies Geschwätz einfach ignorierte und in den Zetteln neben seinem Teller herumkramte, »habe ich just heute einen Brief von meinem alten Kollegen Professor Lane erhalten.«

»Gütiger Gott, Hugo!«, rief Mama aus. »Kein Mensch interessiert sich für deinen elendigen Brief! Jane hatte sich doch gerade mit Frederick unterhalten.«

Wie war Papa nur an seine Post gekommen? Meine Phänomenalen Geschichten vom Mars galten noch immer als vermisst. Mir gegenüber rutschte Putty nervös auf ihrem Stuhl herum. Misstrauisch kniff ich die Augen zusammen.

»Du erinnerst dich doch sicher an Professor Lane?«, sagte Papa zu Mama. Ihren vernichtenden Blick hatte er schlichtweg übersehen. »Wir hatten uns gemeinsam mit dem Kräftespiel der Drachenpfade beschäftigt.«

»Du erwartest doch nicht, dass mir deine Bekannten in Erinnerung bleiben!«, erwiderte Mama. »Die Herren verkehren nicht gerade…«, Mama schniefte, »…in besseren Kreisen.«

»Wie auch immer«, plapperte Papa munter weiter. »Professor Lane hat angefragt, ob man den Wasserabakus nicht nutzen könnte, um die Funktionsweise der Artefakte aus den Drachengrüften zu ermitteln. Bei den Artefakten ist nämlich immer einiges an höherer Mathematik im Spiel.«

»Hugo!«, keifte Mama. »Dieses Gesprächsthema geziemt sich nicht.«

»Aber Liebste. Stell dir doch nur vor, welch gewaltige Fortschritte die Wissenschaft feiern könnte, sollte Professor Lane richtig liegen.«

»Nichts werde ich mir vorstellen! Drachengrüfte– da hört sich ja alles auf! Ich werde nicht zulassen, dass die Leute glauben…«, sie feuerte einen Blick auf Freddie ab, »…unsere Familie besäße keine Manieren.«

»Die Leute?«, sagte Putty fröhlich. »Das ist doch nur Freddie!«

»Parthenia«, zischte Olivia, während ihre Augen zu Freddie zuckten. »Sei nicht unhöflich.«

»Aber sie hat recht«, meinte Freddie. »Es gibt Tage, da bin ich kaum als menschliches Wesen zu erkennen. Haha!«

»Cousin Frederick«, sagte Olivia, den Blick eisern auf ihren Teller gerichtet, »Sie haben die Drachenpfade selbst bereist. Wie lautet Ihre Einschätzung zu ihrer Herkunft? Sind sie natürlichen Ursprungs? Oder sind sie eine Schöpfung der alten Marszivilisation?«

»Aber Olivia!«, krächzte Mama halb erstickt.

Die Drachenpfade erstreckten sich durch den leeren Raum zwischen Mars und Erde. Ich war noch nie auf einem Drachenpfad unterwegs gewesen, hatte aber schon viel darüber gelesen. Gewaltige Luftströme brausten von der Marsoberfläche hinauf ins Nichts und bis hinüber zur Erde, verdrehten sich dort um sich selbst und rauschten in einer unendlichen Doppelspirale zurück zum Mars. Sorgsam konstruierte Schiffe konnten darauf entlangfahren, ihre riesigen Segel gebläht von den Winden der Drachenpfade, und so Passagiere und Fracht von Planet zu Planet befördern.

Bisher waren nur ein halbes Dutzend Drachenpfade entdeckt worden. Im Jahr 1602 war man auf den Pfad gestoßen, der das englische Oxford mit den Hängen der Tharsis Montes auf dem Mars verband, und schon einige Jahre später hatte Großbritannien einen ersten Handelsposten auf dem fernen Planeten eingerichtet, um Geschäfte mit den Ureinwohnern zu treiben, die nahe den Ruinen der alten Marsianerstadt Tharsis lebten. So begann die britische Kolonisation des Mars. Erst Jahre darauf kam ans Licht, dass sowohl die Chinesen als auch die Mapuche-Indianer aus Patagonien bereits eigene Kolonien auf dem Mars besaßen.

Zugegeben: So gut wie alles, was ich über die Drachenpfade und ihre Funktionsweise wusste, stammte aus den Phänomenalen Geschichten. Bei einem besonders haarsträubenden Abenteuer hatte sich Captain W. A. Masters ein Feuergefecht mit den Handlangern des Tyrannen geliefert, während sie allesamt einen Drachenpfad entlanggeweht worden waren.

Freddies Blick wanderte von Olivia zu Mama und wieder zurück. »Äh… meine Einschätzung…«

»Ich denke, die Pfade können nur natürlichen Ursprungs sein.« Olivia ignorierte Mamas zorniges Starren– sehr untypisch für sie. »Keine Technologie, und sei sie auch noch so fortgeschritten, könnte ein solches Wunder hervorbringen. Meinen Sie nicht auch?«

»Du meine Güte, Olivia, nun beherrsche dich doch!«, platzte Mama heraus. »Kein Mensch interessiert sich für deine Ansichten!«

Olivia beugte sich tief über ihren Teller. Ich öffnete schon den Mund, doch bevor ich mir eine passende Erwiderung zurechtlegen konnte, schnitt Freddie mir das Wort ab.

»Nicht doch! Da bin ich entschieden anderer Meinung!«

Als Freddie ihr zu Hilfe eilte, kauerte Olivia sich nur noch kleiner zusammen.

Mama griff über den Tisch und tätschelte Freddies Hand. »Sehr galant von Ihnen, Freddie, aber sparen Sie sich die Mühe. Wir haben uns inzwischen schweren Herzens damit abgefunden, dass Jane die ganze Schönheit und Anmut geerbt hat, die es in unserer Familie zu verteilen gab. Tatsächlich dürfte unsere Jane die liebreizendste junge Dame des Planeten sein. Da wollen Sie doch nicht widersprechen?«

Peinlich berührt räusperte Freddie sich. »Äh… nun ja.«

Neben mir röteten sich Olivias Wangen erneut.

Mama grinste wie ein hungriger Schlangenhai. »Jane? Erzähl deinem Cousin doch von dem Ball, der letzte Saison im Hardhaven Court gegeben wurde. Dein Abendkleid ließ sämtliche Damen vor Neid erblassen.« Ihre Augen nahmen Freddie ins Visier. »Ich selbst hatte die Seide ausgewählt, denn mein Geschmack ist über jeden Zweifel erhaben. Ja, ich muss zugeben, dass Jane mich an meine eigene Jugend erinnert. Wissen Sie, wie man mich nannte? ›Die kristallene Rose von Tharsis‹. Alle jungen Gentlemen vergötterten mich.« Sie seufzte. »Ich sollte sämtliche Metropolen der Erde und des Mars bereisen. Ich hätte die Mode geprägt und den elegantesten Salons vorgestanden.« Wieder seufzte sie.

Olivia und ich sahen uns an. Wir alle kannten das Ende vom Lied: Mamas Vater hatte sein ganzes Vermögen verspielt, Mama war vollkommen verarmt zurückgeblieben und ihre Bewunderer hatten sich verflüchtigt wie ein Nebelhauch in der Wüste.

Ich räusperte mich. Zum ersten Mal war das Tischgespräch ins Stocken geraten, sodass Freddie meiner Frage nicht mehr entkommen konnte.

»Freddie…«, fing ich an. Aber ich hatte keine Chance.

Mamas Augen blitzten. »Und was dich angeht, Edward…«

»Mich?« Was hatte ich denn getan?

»Wieso hast du deine Freunde nicht eingeladen, den Sommer bei uns zu verbringen? Als Frederick in deinem Alter war, war er des Öfteren zu Besuch bei Familien von hohem gesellschaftlichen Rang. Ich weiß noch, wie Amelia damit geprahlt hat.« Ein Schniefen. »Warum nimmst du dir kein Beispiel an deinem Cousin? Wie soll Parthenia eine gute Partie machen, wenn du ihr keine jungen Gentlemen vorstellst?«

Das war nicht fair! Viscount Harrison hatte mich in sein Haus eingeladen– hätte Mama davon gewusst, wäre sie vor Freude in Ohnmacht gefallen. Und ich wäre liebend gerne zu ihm gefahren! Aber stattdessen war ich hier, weil meine Familie ohne mich in ihre Einzelteile zerfallen würde.

Gegenüber verschluckte Putty sich an einem Löffel Feuerbohnen. »Ich bin doch erst neun!«, grunzte sie. »Ich will keine jungen Gentlemen!«

Mama überhörte ihren Einwand. »Man kann ja kaum darauf bauen, dass Parthenia aus eigener Kraft einen Mann an sich binden wird– wo sie doch immer herumläuft wie ein Gossenkind. Hergehört, Edward! An Frederick kannst du dir abschauen, wie ein junger Gentleman zu leben hat. Dein Cousin käme nie auf den Gedanken, eine Karriere anzustreben oder…«, sie erschauderte, »…sich irgendwie nützlich zu betätigen.«

»Grundgütiger!«, rief Freddie. »Nie im Leben!«

Mit einem Seufzen wandte ich mich wieder meinem Essen zu.

»Also gut«, sagte Mama. »Ich will an diesem Tisch kein Wort mehr hören über Drachenpfade, Drachengrüfte oder Hugos vermaledeite Erfindungen. Von nun an beschränken wir unsere Konversation auf das Wetter, die Mode und kommende gesellschaftliche Ereignisse.«

3. ZANKELBEERSAFT– MIT VORSICHT ZU GENIESSEN!

Endlich stand Mama auf und verließ das Speisezimmer, gefolgt von meinen Schwestern. Papa wischte sich mit einer Serviette über die Stirn und blickte sich unbeholfen um.

»Tja ja…«, sagte er zu allen und niemandem, hob seinen Stift auf und verzierte den nächsten Zettel mit einer Skizze.

Wäre es nach meinem Vater gegangen, hätte er sämtliche Mahlzeiten in seiner Werkstatt eingenommen. Er hätte sich mit ölverschmierten Händen den Mund vollgestopft, gleichzeitig in seinen Gerätschaften herumgepult und sich nur ans Tageslicht gewagt, wenn ein besonders interessanter Besuch vorbeikam. Das gemeinsame Herumsitzen mit Gästen nach Abschluss des Dinners war nicht seine größte Stärke.

Doch damit überließ er mir das Feld. Ich konnte Freddie nach Herzenslust ausfragen, und Freddie würde sich nicht ewig wegducken können. Ich fixierte ihn mit stechendem Blick.

»Sag mal, Edward«, sagte Freddie, »hast du das hier schon mal probiert?« Aus seiner Innentasche holte er ein Fläschchen. »Nennt sich Zankelbeersaft. Ist offenbar der letzte Schrei auf dem chinesischen Mars. Schmeckt wirklich köstlich und sprudelt wie nichts!«

Er zog sich ein Glas heran und goss einen Schwall violetter Flüssigkeit hinein, die ich argwöhnisch beschnupperte. Roch süß. Luftbläschen zerplatzten an der Oberfläche.

»Nur zu!«, rief Freddie. »Ich habe gehört, in Tharsis City macht das Gesöff auch schon die Runde.«

Ich nahm das Glas in die Hand und nippte an dem Getränk. Freddie hatte mich nicht verschaukelt– es schmeckte wirklich gut. So ähnlich müsste Goldsaft schmecken, könnte man Goldbüsche züchten und die Früchte auspressen. Und es war tatsächlich sehr sprudelig. Enorm sprudelig. Als Freddie aufmunternd nickte, trank ich einen großen Schluck. Lecker. Die Luftbläschen kitzelten meinen Gaumen, als wirbelte in meinem Mund ein Sandsturm.

Freddie schenkte mir nach.

Doch nach einem weiteren tüchtigen Schluck schüttelte ich den Kopf. So leicht ließ ich mich nicht von der Fährte abbringen. Auch wenn mir der Zankelbeersaft wirklich vortrefflich mundete.

Ich öffnete die Lippen, um endlich die entscheidende Frage zu stellen: Was machst du hier, Freddie? Im Ernst? Doch es kam etwas anderes heraus: »Murrgrrpfschtlm.«

Über meine Nase hinweg starrte ich auf meinen Mund und probierte es noch einmal.

»Gurrflbnurrrrr!«

Meine Zunge war vollkommen taub.

Freddie sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an– und wandte sich an Papa. Das hatte er absichtlich getan!

»Also…«, sagte Freddie. »Dieser Wasserabakus muss ja ein kolossal cleveres Ding sein. Aber was könnte man denn konkret damit anstellen? Könnte einem das Ding zum Beispiel helfen, neue Konstruktionen oder Maschinen zu entwerfen?«

»Durchaus!«, rief Papa, der endlich einen Grund hatte, sich von seinen Skizzen loszureißen. »Der Wasserabakus könnte sämtliche Rechnungen bewältigen, die wir heute noch händisch erledigen müssen. Aufgaben, die heutzutage Wochen verschlingen, könnte man am Wasserabakus binnen Stunden lösen. Und ich bin absolut zuversichtlich, dass der Abakus, wenn er erst einmal fertiggestellt ist, auch Kalkulationen meistern wird, die jeden Menschen heillos überfordern.«

Ich griff zu einem Glas Wasser, um die Taubheit aus meiner Zunge zu vertreiben. Es brachte nichts. Ich starrte Papa an, die Augen weit aufgerissen. Er bemerkte mich nicht. Vielleicht sollte ich mal auf den Tisch hämmern?

»Was ist mit Reisen?«, fragte Freddie. »Könnte man mit einem Schiff, das eine solche Apparatur an Bord hat, durch den Raum abseits der Drachenpfade navigieren, also die Leere zwischen den Welten durchqueren, ohne sich zu verirren?«

Papa zog die Stirn kraus. »Schon möglich. Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Um ein solches Vorhaben zu verwirklichen, müsste man selbstverständlich erst einmal genügend Energie aufbringen, um dem Schwerefeld des Planeten zu entkommen. Und man müsste das Gefährt natürlich luftdicht versiegeln. Darüber hinaus hätte man zwischen den Welten selbstredend um ein Vielfaches größere Entfernungen zu bewältigen, wenn man sich keines Drachenpfads bedient. Dennoch erscheint es denkbar. Ja, durchaus denkbar.«

Ich presste die Augenlider ein paarmal zusammen und öffnete sie wieder. Wieso interessierte Freddie sich auf einmal brennend für den Wasserabakus? Noch vor ein paar Minuten hatte er den Eindruck erweckt, er könne nicht mal einen gewöhnlichen Abakus bedienen oder Latein und Griechisch unterscheiden. Jetzt diskutierte er mit Papa über Ingenieurskunst und Flugreisen durch den leeren Raum.

»Und Verschlüsselungen?«, fragte Freddie. »In der Times habe ich gelesen, dass Kaiser Napoleon seine Befehle neuerdings verschlüsselt, damit sie nicht entziffert werden können, sollten sie vom Feind abgefangen werden. Könnte Ihre Apparatur einen solchen Code entschlüsseln?«

Ich hatte gedacht, Freddie wäre auf der Flucht vor irgendeinem Ärger– aber vielleicht steckte viel mehr dahinter. Vielleicht besuchte er uns nur wegen Papas Wasserabakus. Aber was zur Hölle wollte er damit?

Papa runzelte die Stirn. »Ich wüsste nicht, was dagegensprechen sollte. Doch der Mars befindet sich nicht im Krieg mit Frankreich, und ich werde nicht zulassen, dass meine Erfindung für gewalttätige Zwecke missbraucht wird.«

»Dennoch«, beharrte Freddie, »Ihre Apparatur könnte einen solchen Code knacken?«

»Mit Leichtigkeit. Napoleons Verschlüsselungstechniken dürften nicht allzu komplex sein. Mein Wasserabakus könnte es mit deutlich schwierigeren Codes aufnehmen.«

»Aha.« Freddie lehnte sich zurück, ein halbes Lächeln auf den Lippen. »Was sagt man dazu. Klingt wirklich faszinierend. Wären Sie