Eh nur Gast auf Erden - Tilly Klinke - E-Book

Eh nur Gast auf Erden E-Book

Tilly Klinke

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Beschreibung

Frisch verwitwet und arbeitslos gerät Tilly Klinke auf eine Bildungsreise nach Italien, auf der erbarmungslos gemordet wird. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als ihre Trauer zu überwinden und aktiv zu werden.

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Seitenzahl: 626

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Tilly Klinke

Eh nur Gast auf

Erden

© 2021 Tilly Klinke

[email protected]

Umschlag, Illustration: Sara Contini-Frank

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-347-25485-5

e-Book:

978-3-347-25487-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

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Danke

Eh nur Gast auf Erden

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Kapitel 1

Danke

Eh nur Gast auf Erden

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Kapitel 1

Bis hierher bin ich gekommen. Ich atme tief durch und befehle mir, stolz auf mich zu sein. Die Kellnerin mit den Mega-Laufmaschen vorn an beiden Beinen bringt mir den bestellten Kaffee. Ich umklammere die Tasse mit beiden Händen, die Wärme beruhigt mich etwas. Vor der Scheibe eilen einzelne Gestalten durch den Nieselregen. Zu ungemütlich zum Bummeln, eigentlich auch zum Einkaufen oder überhaupt zum Rausgehen. Wie immer.

Nein, nein, nein, Korrektur: Das Wetter ist nicht immer schlecht. Die Sonne hat weiter geschienen, auch die letzten 6 Wochen und 3 Tage. Gelegentlich. Die Sonne ist noch da, die Erde dreht sich, es gibt Cafés. Und Kellnerinnen, die sich die Mühe machen, ihre Strumpfhosen symmetrisch aufzuschlitzen, um ihrem Outfit eine persönliche Note zu geben. Alles wie vorher. Ich lebe weiter. Ich bin nichts Besonderes. Auch andere können das.

Starrt mich da jemand an? Ein kleines Mädchen ein paar Tische vor mir. Ungefähr fünfjährig, strähniges dunkelblondes Haar mit blauer Spange schräg zurückgesteckt, große Augen unverblümt auf mich gerichtet. Ich merke, dass ich stocksteif sitze, lockere mich, will dem Mädchen zulächeln, aber gerade noch fällt mir ein, dass ich heute auf keinen Fall auffallen darf. Wenn ich mit einem Kind Blickkontakt herstelle, dann wird es mich weiter im Auge behalten, wird womöglich später beschreiben können, mit wem ich mich treffe. Blöde Situation.

Wie bescheuert bin ich eigentlich, einen Job zu machen, bei dem ich nicht mal ein Kind anlächeln kann? Ich drehe mich weg von dem Kind und stelle die Tasse mit so viel Wut ab, dass Kaffee herausschwappt und auf meinem Knie landet. Während ich ein Taschentuch aus meiner Handtasche zerre und versuche, das heiße Gebräu damit aus der Jeans zu saugen, ist mir klar, welch tolles Schauspiel ich für das Mädchen biete. Ich schaffe es, nicht hinüberzusehen und bin durch die Aktivität immerhin so munter geworden, dass ich einen neuen Gedanken fassen kann: Ein Gottesurteil muss her! Komisch eigentlich, dass ich darauf nicht früher gekommen bin. Hilft Menschen seit Jahrtausenden, wahrscheinlich Millionen Jahren. Also: Wenn der Kunde kommt, bevor ich meinen Kaffee ausgetrunken habe, dann gehe ich vor wie geplant. Wenn nicht, dann spaziere ich quasi sündenfrei aus dem Café und suche mir einen anderen Job. Irgendwas werde ich schon finden. Ich bin so begeistert von meiner Idee, dass ich grinse. Das Mädchen grinst zurück. Mist.

Zügig leere ich die Tasse und winke dabei schon mal die Laufmaschen heran. Ich muss ja nicht unnötig bummeln, das wäre sonst wie Schummeln. Ein unredlicher Versuch, das Gottesurteil zu beeinflussen. Während ich hastig bezahle, schiebt sich eine stabile ältere Frau in einem unglaublich abgewetzten grauen Lodenmantel an meinen Tisch und stellt ihre Handtasche auf dem Stuhl neben mir ab. Ganz schön ungeduldig, die Menschen in Oldenburg, zumal noch etliche Tische frei sind. Außerdem schaut sie mir pausenlos direkt ins Gesicht, während ich mich erhebe und meinen Mantel von der Stuhllehne pelle.

»Sie sind die Helfende Hand?«, fragt sie, in einem Ton, der klarmacht, dass sie keinen Zweifel daran hat. Warum auch. Ich bin zur verabredeten Zeit am verabredeten Ort, auf dem Tisch liegt eine Biographie über Goethe. Das Erkennungszeichen. Viele davon werden im Café Extrablatt wohl nicht herumliegen. Ich setze mich und gehe in Gedanken fieberhaft die wenigen Zeilen durch, die wir im Internet gewechselt haben. Der Kunde ist eine Kundin. Passt. Bin ich nur nicht drauf gekommen. Die Person hatte überhaupt nicht viel von ihrem »Projekt« verraten, was mir sehr entgegenkommt. Kriminelle Tätigkeiten im Netz zu erörtern, gehört ja nicht zu den schlauesten Maßnahmen. Sie sieht nicht aus wie eine Geisteswissenschaftlerin. Schade. Ich dachte, ich hätte meine Kleinanzeige im Weser-Kurier so formuliert, dass meine Präferenzen deutlich wurden. Oder besser gesagt die Grenzen meiner Fähigkeiten. Wie soll ich in Fachgebieten als Ghostwriterin arbeiten, von denen ich nicht die leiseste Ahnung habe? Und die mich auch null interessieren?

»Schön, dass Sie mich gefunden haben«, lüge ich. Thomas kichert.

»Wären Sie bereit, für diese Arbeit zu verreisen? Das muss zuerst geklärt werden.«

Ich zögere. Seit 6 Wochen und 3 Tagen habe ich das Haus so wenig wie möglich verlassen. Was, wenn Thomas kommt, und ich bin nicht da?

»Wie weit verreisen? Und wie lange?«, frage ich wenig begeistert.

»Zehn Tage Toskana, selbstverständlich auf meine Kosten, dazu 300€ am Tag für Ihre Arbeit. Ich erwarte einen knappen Telefonbericht täglich.«

Täglich? Wieso täglich? Hatte ich nicht in meiner Kleinanzeige einen Betrag pro geschriebener Seite angegeben? Welchen Sinn macht tägliche Bezahlung? Was, wenn ich keine Seite zustande bringe?

»Wie viele Seiten brauchen Sie?«, versuche ich etwas Klarheit ins Dunkel zu bringen.

»Es geht hier mehr ums Forschen als ums Schreiben. Zehn Tage Feldforschung, dabei wie gesagt, täglich kurzer Bericht.«

Zum ersten Mal scheint sie nachzudenken und zu improvisieren: »Schriftlich reicht ein zweiseitiger Abschlussbericht völlig.«

Feldforschung in Italien. Diese Frau ist nicht nur keine Geisteswissenschaftlerin, sie ist gar keine Wissenschaftlerin, verdient ihr Geld eher nicht mit Kopfarbeit. Sie ist das Herrschen gewohnt, vielleicht Geschäftsfrau mit eigenem Betrieb oder Hausfrau und Familienoberhaupt. Jedenfalls von Befehlsempfängern umgeben. Wie passt Italien da rein? Lebensmittelbranche, Gastronomie, Mafia, überschlagen sich die Assoziationen. Thomas steht plötzlich hinter dem Lodenmantel und schmunzelt mich mit hochgezogenen Brauen an. Das soll heißen: »Und ich bin der mit den Klischees?«

»Können Sie mir diese Feldforschung näher beschreiben?«

Sie fischt einen Umschlag aus ihrer gruselig altmodischen Kunststoff-Handtasche, nimmt ein Foto heraus und legt es vor mir auf die Tischplatte. Ein Mann um die 70 ist darauf zu sehen, schütteres Haar, eine große rote Nase und leuchtende Augen, ein lachender Mund mit unzähligen Lachfalten drum herum, offenbar durch ständigen Gebrauch eingegraben.

»Dieser Mann steht im Verdacht, große Summen veruntreut zu haben. Er und seine Frau werden mit dem Reiseunternehmen Glück-auf-6-Rädern zehn Tage durch die Toskana fahren. Möglicherweise will er versuchen, dort das veruntreute Geld in einer Immobilie anzulegen. Sie haben nichts weiter zu tun, als mitzufahren, ihn zu beobachten und herauszufinden, ob er sich mit Maklern oder Bankern trifft. Da es sich um eine Bildungsreise mit viel gemeinsamem Programm handelt, dürfte es nicht so schwer sein, ihn im Auge zu behalten.«

Beschattung.

Detektivarbeit.

Ist das hier etwa das Gottesurteil? Mir wird diese Frau geschickt, die meine Anzeige nicht kapiert hat und mich für eine Privatdetektivin hält? Das würde bedeuten, dass ich mich nicht schuldig machen muss durch Betrug an der Wissenschaft. Keine Doktorarbeiten schreiben muss für in Zeitnot geratene oder intellektuell überforderte Menschen mit Gier nach dem Doktortitel.

Lodenmantel hat in meinem Gesicht gelesen, dass ich positiv überrascht bin und holt einen weiteren Umschlag aus der albernen Handtasche. Dieser ist größer als der erste und prall mit gefalteten DIN A4 Bögen gefüllt, soviel ist zu erkennen.

»Die Reiseunterlagen schauen Sie sich zuhause in Ruhe an. Wenn Sie mir jetzt Ihren Namen, Ihre Anschrift und Nummer des Personalausweises verraten, dann werde ich Sie für die Fahrt anmelden.«

Ich gebe mir einen Ruck und ihr die Informationen. Damit ist der Beschluss gefasst. Bereuen kann ich es ja immer noch, wenn es zu spät ist. In Gedanken sortiere ich die Fragen, die noch offen sind und will gerade die erste stellen, da erhebt sich Lodenmantel, verkündet: »Melden Sie sich nicht bei mir, ich melde mich bei Ihnen«, und rauscht ab.

Etwas benommen ziehe ich die Papiere aus dem Umschlag, den ich eigentlich zuhause aufmachen soll. Was soll’s. Ich bin ja nun doch keine Kriminelle und kann besten Gewissens in einem Café meine Arbeitsunterlagen herausholen. Auf der ersten Seite der fröhlich-bunten Unterlagen von Glück-auf-6-Rädern lese ich in fetten Lettern »Glanzlichter im Herzen Italiens«. Mir springt der Reisetermin ins Auge: 4.-14. April. Heute ist… Das ist übermorgen. Panik durchflutet mich, ich springe auf, schnappe mir den Goethe, eile Richtung Kellnerin, erinnere mich, dass ich schon bezahlt habe, stürme auf die Straße, scanne ohne viel Hoffnung die Fußgängerzone nach dem Lodenmantel ab, und sehe ihn tatsächlich am Lappan um die Ecke biegen. Bestimmt will sie zur Bushaltestelle. Ich renne hinterher, während zwei Linienbusse die Straße entlangfahren. Wenn einer davon ihrer ist, werde ich‘s nicht schaffen.

Als ich um die Ecke biege, fährt der erste Bus schon wieder los, der zweite steht noch, schließt aber soeben seine Türen. Die Frau steht nicht an der Haltestelle. Keuchend erreiche ich die hintere Tür, die geschlossen bleibt. Im Seitenspiegel sehe ich, wie der Fahrer mit dem Daumen nach hinten winkt. Soll wohl heißen »Nimm den nächsten.« Und weg ist er, mitsamt Lodenmantel. Übermorgen eine Reise zu beginnen kann ich unmöglich schaffen, ich muss noch so viel regeln, Gespräche führen und überhaupt. Viel zu plötzlich.

Von rechts kommt jemand etwas zu nahe an mich heran. Dem Äußeren nach ein Obdachloser. Ich weiche einen Schritt zur Seite, denn ich war es, die ihm zu nahe gerückt war, oder besser gesagt seinem Arbeitsplatz. Er durchzieht den Mülleimer einer gründlichen Untersuchung. Im Stillen bewundere ich ihn für seinen Einsatz bei diesem Schietwetter und nicht zum ersten Mal in den letzten Wochen frage ich mich, ob dies auch eine Karriere für mich sein könnte. Wie ist dieser Mann in diese Situation geraten? Durch Arbeitslosigkeit? Verlust einer Partnerin? Eines Partners? Eines Kindes? Nie geheilte Verletzungen aus frühester Kindheit? Ich sehe mich in kaputten Sportschuhen und drei übereinander gezogenen Jacken durch die Oldenburger Innenstadt schlurfen, eine Strickmütze über die ungewaschenen Haare gezogen, in jeder Hand drei Plastiktüten mit Schätzen wie Pfandflaschen. Nirgends könnte ich mich hinsetzen, ohne abschätzigen Blicken, Kommentaren oder Pöbeleien ausgesetzt zu sein. Immer auf der Hut. Aber das Schlimmste wäre für mich vermutlich die Kälte. Ständig kalte Finger, kalte Füße. Reiß dich zusammen, Tilly, es wird nicht soweit kommen. Für mindestens ein Jahr bist du sowieso abgesichert. Und hast du nicht gerade einen Job angenommen? Du wirst nicht abrutschen, du schaffst es. Inzwischen ist der Obdachlose auf mich aufmerksam geworden. Kein Wunder - ich starre ihn an. Misstrauisch und feindselig schaut er zurück.

»Das ist meiner, der lag im Müll«, faucht er, während er sich einen noch trocken aussehenden Mantel anzieht. Grauer Loden. Endlich werde ich munter. Seinen giftigen Blicken trotzend trete ich an den Mülleimer heran, stopfe um die Hände frei zu bekommen den feucht gewordenen Goethe in meine Manteltasche und sehe die billige Plastiktasche im Eimer stecken. Rasch ziehe ich sie heraus, öffne sie und schütte sie aus. Nichts. Auch bei Inspektion der Seitentaschen findet sich nichts. Alles Verkleidung. Lodenmantel ist nicht mehr. Sie hatte sich Mantel und Tasche nur zu diesem Zweck zugelegt und sich der beiden Accessoires sofort entledigt. Dann muss ich mir wohl für meine Kundin einen neuen Namen ausdenken. Stumm reiche ich meinem Kollegen die Handtasche, die er mit verächtlichem Schnauben zurück in den Eimer wirft, dann steige ich in den nächsten Bus zum Hauptbahnhof und nehme den Zug zurück nach Bremen.

Während jenseits der Fensterscheibe die feucht-graue Flachlandschaft vorüberzieht, beschließe ich, die Ereignisse als belanglos einzustufen. Meine Kundin ist sicher eine Frau, die sich mit diesen Verkleidungsspielchen Farbe und Geheimnisse ins triste Leben zaubern will. Und das bereitet ihr so viel Freude, dass sie bereit ist, dafür viel Geld auszugeben. Obwohl, wer weiß? Noch habe ich kein Geld gesehen.

Der Mann auf dem Foto soll Geld veruntreut haben. Dass sie mir eine anständige Bezahlung angeboten hat, passt zugegebenerweise besser ins Bild, wenn tatsächlich viel Geld im Spiel ist. Zerknirscht muss ich mir eingestehen, dass mich die Hässlichkeit des Mantels und der Tasche so erfolgreich geblendet hat, dass ich überhaupt nichts anderes an der Frau bewusst wahrgenommen habe. Ich bin nicht in der Lage, sie zu beschreiben. Da ist also noch viel Entwicklungsraum für eine zukünftige Detektivin.

Dann trifft es mich mit voller Wucht. Ich habe Thomas im Café vergessen. Er hatte hinter Lodenmantel gestanden und dann? In meiner Eile, Lodenmantel noch zu erwischen, war ich aus der Tür gestürzt ohne mich umzusehen. War er mir gefolgt? Hatte ich ihm die Tür vor der Nase zugeknallt? Was, wenn er nach Betriebsschluss im Café eingesperrt würde? Würde er nicht mehr auftauchen? Wäre das wirklich das Ende? Fieberhaft rechne ich durch, ob ich das Café noch erreiche vor Toresschluss, wenn ich in Bremen auf dem Absatz kehrt mache und zurückfahre. Unmöglich.

In der telefonischen Beratung hatten sie mir praktische Tipps gegeben für akute Zustände. Tief ein- und ausatmen scheint der einfachste davon. Das versuche ich jetzt ganz konzentriert, schließe dafür die Augen, denn sonst will ich draußen jeden weiteren Baum zählen, der sich zwischen Thomas und Bremen stellt. Ich versuche beruhigend auf mich einzureden. Nichts spricht dafür, dass Thomas überhaupt Hilfe braucht, um durch eine Tür zu gehen. Oder dass er eine Tür braucht. Ich habe keine Ahnung, wie er heute nach Oldenburg gekommen ist. Meistens ist er bei uns zuhause. Wenn ich den wöchentlichen Einkauf erledige, taucht er gelegentlich neben mir auf, wenn ich schon an der Kasse stehe, und wirft einen missbilligenden Blick in den Einkaufswagen. Um ihn nicht abzuhängen, habe ich mir angewöhnt, beim Betreten und Verlassen des Supermarktes in der geöffneten Tür zu verweilen. Tatsächlich durchgehen sehen habe ich ihn aber nie. Möglicherweise geht er durch die Scheiben.

Andere Orte habe ich nicht aufgesucht seit seiner Beerdigung.

Im Bremer Hauptbahnhof lasse ich mich von der Menge zu den Bushaltestellen schieben und schaffe es irgendwie nach Hause. Im Büro ist er nicht, sieht alles unberührt aus. Ich rufe nicht nach ihm, denn ich habe längst begriffen, dass Gespräche nur von seiner Seite aus begonnen werden. Während ich durch alle Zimmer renne, wird der Kloß in meinem Hals immer dicker. Ich bin so erschöpft, dass ich mich sofort ins Bett legen und mich in den Schlaf weinen will. Ich schleppe mich zurück zum Schlafzimmer, doch da steht er in der Tür und seufzt.

»Na na, jetzt geh erstmal in die Küche und mach dir was zu essen.« Er hat wieder nach Hause gefunden.

Vor Erleichterung heule ich jetzt richtig und trotte gehorsam in die Küche, hole mehr tastend als sehend eine Dose Ravioli vom Regal, öffne sie und schütte die Masse in einen Topf.

»Beim nächsten Einkauf musst du aber wirklich mal etwas anderes mitbringen. Du kannst dich nicht ewig von Ravioli ernähren. Du musst besser auf dich achtgeben, Tilly.« Dabei schaut er mich mit einer Mischung aus Vorwurf und Zärtlichkeit an. Plötzlich bin ich stinkwütend.

»Ich soll auf mich achtgeben? Das sagt der, der sich mal eben mit seinem Fahrrad zu Tode fährt? Und mich hier alleine lässt? Rate mal, wie gut mir das tut!« Ich werfe die leere Dose in seine Richtung und den Dosenöffner gleich noch hinterher. Eine neue Angewohnheit von mir. Früher habe ich nie mit Gegenständen geworfen, aber nun, da es so überhaupt keinen Zweck hat, reizt es mich. Die Dose fliegt durch ihn durch, kracht an das Regal mit ca. zwanzig Geschwisterdosen, spritzt dabei Tomatensaft an die Wand und fällt dann zu Boden. Gefolgt vom Dosenöffner.

Ungerührt schaut Thomas in Richtung Herd. »Pass auf, dass dein kaiserliches Mahl nicht anbrennt.« Dann schnappt er sich die Tageszeitung und geht voran zum Esstisch. »Schön, dass du in die Toskana fährst«, sagt er während ich die Ravioli löffle. »Du wolltest immer schon dahin.«

Das stimmt, aber natürlich wollte ich mit ihm dahin. Außerdem war das Thema Reisen tabu. Unsere Firma hat noch nicht genug Gewinn abgeworfen, als dass wir uns mehr als ein verlängertes Wochenende im Inland spontan gegönnt hätten.

Korrektur: Vergangenheitsform. Unsere Firma hat nie genug Geld abgeworfen. Aber das war okay. Ich wollte immer gerne reisen, aber ich konnte auch warten und ihn hat es mehr belastet als mich, dass ich warten musste.

»Ich habe nicht nach einer Reise gesucht, sondern einen Job«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Und wenn du glaubst, dass ich mich freue, dann täuschst du dich.«

Ich werde dem Lodenmantel absagen. Ex-Lodenmantel. Und hier bleiben.

»Du wirst Sonne sehen und regelmäßige Mahlzeiten bekommen. Es wird dir guttun.« Und damit lässt er mich am Tisch sitzen, geht pfeifend die Treppe hoch, verschwindet im Schlafzimmer, von wo ich ihn rumoren höre. Als ich oben ankomme, hat er meinen Koffer vom Schrank geholt und vor dem Bett aufgeklappt. Gerade fischt er aus seinem Wäschefach seine Badehose und wirft sie mit großer Geste in den Koffer. »Und glaub bloß nicht, dass du mich so leicht abhängen kannst.« Und weg ist er.

Das weiß ich, und trotzdem suche ich ohne jede Hoffnung auf Erfolg nochmal das ganze Haus ab. Endlich nehme ich das Telefon, das mich schon die ganze Zeit anblinkt, um mir von einem entgangenen Anruf zu berichten, und setze mich damit in die Küche. Wie erwartet, meine Eltern. Ich rufe sie zurück, sage meiner Mutter, dass es mir gutgeht, dass ich vielleicht einen Job habe, dass sie sich keine Sorgen machen müssen, dass ich müde bin und mich morgen wieder melde. Dabei schöpfe ich Kraft aus den Spritzern an der Wand und dem verbogenen Dosenöffner am Boden. Sie beweisen, dass das Gespräch mit Thomas stattgefunden hat.

Kapitel 2

Der Bremer Flughafen ist mir einigermaßen vertraut. Zwar liegen meine eigenen Flüge schon viele Jahre zurück - da war der Schulaustausch mit Spanien in Jahrgang 10 und ein Familienurlaub auf Rhodos noch früher - aber in den letzten Jahren habe ich mindestens einmal jährlich meine Eltern zum Flughafen gebracht und nach ihrem Urlaub wieder abgeholt. Ich stelle fest, dass die leichte Gereiztheit vor dem Einchecken, über die ich mich bei meinem Vater immer amüsiere, nun von mir Besitz ergreift. Gültige Papiere, EC-Karte, Reiseunterlagen, Handy und Ladekabel, Wäsche, Kulturtasche im Koffer. Thomas‘ Badehose habe ich in den Schrank zurückgelegt, denn Baden ist im Programm nicht vorgesehen. Stattdessen habe ich ihm einen warmen Pullover eingepackt. Auch in Italien kann es im April noch sehr frisch sein, mahnen die Online-Reiseführer. Und natürlich den Schlafanzug. Den, den ich nicht mehr gewaschen habe. Am dritten Tag hatte ich gemerkt, dass sein Geruch schon fast verflogen war, seitdem steckt der Schlafanzug tagsüber in einem Gefrierbeutel, verschlossen mit einem Clip. Außerdem im Koffer sind Schutz gegen Regen, Schutz gegen Sonne, Schutz gegen Panik.

Einen Haustürschlüssel samt Pflegeauftrag für unsere Zimmerpflanzen und das Aquarium habe ich schon gestern der Nachbarin übergeben. Petra war begeistert darüber, dass ich verreise.

»Eine sehr gute Entscheidung! Das ist genau das, was du jetzt brauchst und Thomas würde dir das auch gönnen«, flötete sie und mich durchfuhr der Gedanke, ob Thomas auch bei den Nachbarn zu kleinen Schwätzchen auftaucht und Petra deshalb so genau seine Meinung kennt. Aber das ist natürlich Blödsinn, denn dann würde sie nicht den Konjunktiv benutzen, sondern einfach feststellen: »Thomas gönnt dir das.«

Gerne hätte ich mich irgendwie auf meinen Job vorbereitet, aber da ich keinerlei Daten bekommen habe, konnte ich nicht einmal versuchen, das Objekt meiner Bewachung zu googeln. Hoffentlich erkenne ich den Mann überhaupt, wenn ich ihn sehe. Es wimmelt im Flughafen von Männern seiner Altersgruppe, deshalb wird es wohl keinen Zweck haben, nach ihm Ausschau zu halten, bevor sich im Zielflughafen Rom unsere Reisegruppe herauskristallisiert.

Ohne Probleme kann ich einchecken und sehe meinen Koffer auf dem Band entschwinden. Ex-Lodenmantel hat es geschafft, mich in letzter Sekunde irgendwie unterzubringen als Ersatz für wen auch immer.

Plötzlich freue ich mich auf den Flug. Immerhin besteht eine kleine Wahrscheinlichkeit, dass wir abstürzen. Alternativ könnten wir in Brand geraten oder entführt werden und dann abstürzen wegen leergeflogener Tanks oder allesamt ermordet werden. Dann müsste ich morgens nie mehr aufstehen, die Haare waschen, mich anziehen, zum Einkaufen gehen und das Aquarium säubern. Alle Last dahin. Diese tröstlichen Gedanken tragen mich durch zwei Stunden Warterei, durch das Boarding und dann über die Gangway in den Flieger hinein. In den vorderen zwei Reihen installiert sich gerade eine Familie mit drei kleinen Kindern, das jüngste höchstens ein halbes Jahr alt. Offenbar gehören auch die ergrauten Herrschaften in Reihe 3 dazu, denn sie helfen wortlos und routiniert beim Sortieren. Und schon ist sie dahin, meine Heiterkeit. Die Idee, das ganze Flugzeug abstürzen zu lassen, treibt mir die Schamesröte ins Gesicht. Hinter mir schimpft jemand, ich solle gefälligst nicht den Betrieb aufhalten und ich stolpere weiter, finde meinen Platz in Reihe 13 und diese Zahl gibt mir Gewissheit, dass ich den Flug überleben werde. Pech halt.

Kaum sitze ich, da holt mich die Erschöpfung ein und ich werde erst wach, als sich ringsherum Unruhe ausbreitet. Menschen stehen im schmalen Gang, dehnen ihre Schultern, holen Jacken aus den Schließfächern und verrenken sich, um durch die Luken Blicke nach draußen zu erhaschen. Draußen ist eine weite geteerte Fläche mit Fahrbahnmarkierungen zu sehen, sowie ein Terminal, das nicht nach Bremen aussieht. Ich habe den kompletten Flug verschlafen. Kommt vielleicht daher, dass ich in letzter Zeit ungern ins Bett gehe, und wenn doch, dann mit einer großen Thermoskanne Kaffee. Wäre schließlich zu ärgerlich, wenn Thomas auftaucht und ich verpenne es. Und wenn ich gar nicht erst einschlafe, kann ich auch nicht von den Albträumen heimgesucht werden, in denen ich ständig neuen Variationen von seinem Tod ausgesetzt bin. Doppelter Gewinn. Zwei Fliegen mit einer Kaffee-Klappe, würde Thomas sagen.

Der Reiseveranstalter scheint gut organisiert zu sein. Eine Kompetenz ausstrahlende ca. 50-jährige Frau in himmelblauem Blazer zu weißer Jeans hält lächelnd ein Schild hoch, auf dem die Worte »Glanzlichter im Herzen Italiens« neben dem Firmenlogo prangen. Sie braucht keine zehn Minuten, bis sie alle Elemente der Reisegruppe eingesammelt und auf ihrer Namensliste abgehakt hat. Auch mein Name hat es bereits in ihre Liste geschafft. Dann führt sie die Herde wenige Schritte weiter, ruft eine technische Pause aus und wartet, bis alle von den Toiletten zurückgekehrt sind, um danach zügig voranzuschreiten zur Bushaltestelle.

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie so direkt anspreche, aber ich habe ein kleines Problem. Mein Mann hat unsere Medikamententasche in letzter Minute wieder aus dem Koffer geholt und jetzt habe ich keine Reiseapotheke dabei. Ich mache gerade eine kleine Sammlung in der Gruppe. Schlaftabletten und Nasenspray gegen Schnupfen habe ich schon. Haben Sie zufällig ein Abführmittel, von dem Sie etwas abgeben können? Natürlich erstatte ich alles zurück, wenn wir Gelegenheit haben, eine Apotheke aufzusuchen.«

Eine wettergegerbte Frau mit rot gefärbtem Bubikopf läuft neben mir her und lächelt mich nervös an.

»Wenn Sie Ihrerseits irgendetwas brauchen, sagen Sie Bescheid, wir müssen ja alle zusammenhalten, nicht wahr?«, schiebt sie nach.

»Ich würde Ihnen gerne helfen, aber ich habe kein Abführmittel dabei. Und überhaupt keine Medikamente«, ergänze ich sicherheitshalber, damit sie nicht nochmal wegen Halsschmerztabletten, Sportsalbe, Blasenpflastern, Desinfektionsspray oder Nierentee vorbeikommt. Zusammenhalten? Ich suche keine Freunde hier, ich habe eine Mission und werde mich bestimmt nicht amüsieren. Während die Pillensammlerin eine andere Reiseteilnehmerin anspricht, lasse ich langsam meinen Blick über die vor mir Laufenden gleiten, obwohl ich von hinten mit Sicherheit niemanden erkenne, den ich nicht mal kenne.

Unser Bus ist hinter der Windschutzscheibe mit der gleichen Informationstafel ausgestattet, wie unsere Reiseleiterin sie hat. So gut betreut bin ich seit Kindergartenzeiten nicht gereist. Unwillkürlich frage ich mich, ob der Grad der Betreuung in Zusammenhang steht mit den intellektuellen Möglichkeiten der Reisegruppe, aber ringsum sehen alle recht unverdächtig aus, jedenfalls nicht so, als benötigten sie Betreuer.

Paare sind am häufigsten vertreten, aber es gibt auch eine Gruppe von Frauen im erwerbstätigen Alter, vier soweit ich sehe, außerdem einen hochgeschossenen Jungen, der schulpflichtig aussieht. Zu wem er gehört, kann ich nicht erkennen, er hält sich lustlos und schweigend am Rande auf. Von den Paaren scheinen sich einige untereinander zu kennen, denn sie plaudern entspannt miteinander, ohne sich dabei gegenseitig in Augenschein zu nehmen. Durchschnittsalter gefühlt 70 plus.

Vor der Bustür ist es inzwischen zu einem kleinen Stau gekommen und irgendwie sind plötzlich alle Frauen vor mir, die eben noch hinter mir liefen. Die zugehörigen Männer treffe ich an den Gepäckluken, wo wir unsere Gepäckstücke dem beschlipsten Mann anvertrauen, der seine fast zwei Meter Körperlänge irgendwie in den Laderaum geklappt hat, von innen die Koffer entgegennimmt und platzsparend stapelt und zusammenschiebt. Fasziniert schauen die Rentner und ich zu, wie sich der Fahrer gleich einer Riesenkatze in der Luke windet und hingebungsvoll seine Arbeit erledigt, wobei er sich nicht zu schade ist, mehrfach Gepäckstücke wieder aus- und einzuladen, wenn er eine bessere Möglichkeit der Sortierung erkannt hat.

Endlich ist alles zu seiner Zufriedenheit, er steigt aus dem Gepäckraum, entfaltet sich und schlendert federnden Schrittes unter unseren anerkennenden Blicken zur Tür. Nach diesem ersten Gruppenerlebnis sind wir alle recht gelöst und freundlich miteinander und die Herren lassen mir betont höflich den Vortritt in den Bus. Als ich die Stufen erklommen habe, stelle ich schnell fest, dass die Rentner allen Grund haben, entspannt zu sein, denn während sie ihrer Aufgabe nachgegangen waren, sich um das Gepäck zu kümmern, haben ihre Frauen Sitzplätze gesichert. Es schein so, als säße auf jeder Sitzbank eine weibliche Person am Fenster, mit zufriedenem Gesichtsausdruck der Männergruppe entgegenblickend. Nest bereitet, Handtuch ausgelegt, Gardinen aufgehängt, komm nach Hause, Schatz!

Ich bin offenbar die einzige Alleinreisende an Bord, abgesehen von der Reiseleiterin und dem Busfahrer. Die hoffentlich nicht zusammengehören. Reihe vier auf der rechten Seite ist aber tatsächlich frei, das ist also meine ökologische Nische für die nächsten acht Tage. Ich lasse meine Handtasche auf den Fensterplatz fallen und setze mich daneben. Dabei beschrifte ich im Geiste feierlich eine Kladde mit dem Titel »In 100 Schritten zur Superdetektivin«. Erster Tipp: Zur bestmöglichen Gewährleistung der unauffälligen Beobachtung einer Person in einem Reisebus (Reiseziel unerheblich) ist es für die Detektivin unabdingbar, ganz hinten zu sitzen und so jederzeit alles im Blick zu haben.

Na super. Diese Detektivin in Ausbildung wird sich also ganz unauffällig bei jedem Stopp des Busses nach hinten drehen und überprüfen müssen, ob der zu observierende Mann den Bus verlässt. Am besten zwischendurch auch immer schauen, mit wem er Gespräche führt, denn schließlich kann sich ein Makler ja auch in der Gruppe befinden.

»Das finde ich gut, dass Sie auch Ihren Mann ans Fenster setzen und selber am Gang sitzen«, spricht eine Stimme zu mir. Auf der anderen Seite des Ganges sitzt sehr aufrecht eine Frau mit hochgesteckten Haaren. Sie hat bereits ihre Lesebrille herausgeholt und einen Reiseführer über Rom auf ihren Knien liegen.

»Ich reise allein«, sage ich mit fester Stimme, wundere mich, wie barsch das klingt und sehe, wie sich den Bruchteil einer Sekunde ihre Augen zu Schlitzen zusammenziehen. Sie lächelt nicht, hat sie vorher auch nicht, schaut freundlich aber eine Spur zu aufmerksam.

»Und, darf ich so neugierig sein, zu fragen, was Sie gerade an dieser Reise interessiert?«

An dieser Stelle hätte ich das erste Mal die Gelegenheit gehabt, die kleine Geschichte zu präsentieren, die ich mir auf dem Flug zurechtlegen wollte. Die ich jetzt dummerweise nicht parat habe, weil ich die Flugzeit komplett mit Schlafen verbracht habe. Ideen hatte ich in den letzten drei Tagen reichlich gehabt, aber alle verworfen. Wenn ich behaupte, die kulinarischen Genüsse zögen mich nach Norditalien, verwickeln mich sofort irgendwelche Gourmets oder Möchtegern-Gourmets in langweilige Fachsimpeleien über Millionen von Zubereitungsmöglichkeiten z.B. einer Zucchini und entlarven mich ob meiner Ignoranz oder weil ich vor Langeweile vom Stuhl kippe als Lügnerin. Das gleiche trifft zu auf Architektur. Davon abgesehen wird sich früher oder später jemand wundern, dass ich alleine reise. Keinen Mann zu haben, geht ja vielleicht noch an, aber dann verreist man ja wenigstens mit Verwandten, Kolleginnen oder Freundinnen. Meine Geschichte sollte also in mehrerer Hinsicht wasserdicht sein.

»Meine Schwester. Also meine Schwester hatte diese Idee, also sie hat sich diese Reise ausgesucht. Wir wollten mal wieder zusammen etwas unternehmen. Und jetzt ist ihr was dazwischengekommen und deshalb reise ich jetzt alleine. Also ohne meine Schwester«, stottere ich.

»Ach, Sie ersetzen Ihre Schwester?«, mischt sich jetzt eine fröhliche Grauhaarige von schräg hinten ein. Bevor ich sie korrigieren und meine Geschichte wiederholen kann, erläutert sie: »Das hat unsere Reiseleiterin uns vorhin verraten, dass Sie erst vor drei Tagen gebucht haben, weil Sie für jemanden eingesprungen sind.«

Notgedrungen muss ich meine Story wohl etwas angleichen.

»Äh, ja genau. Meine Schwester wollte ursprünglich mit ihrem Mann fahren, aber der konnte dann nicht. Dienstlich. Da bin ich eingesprungen und nun ist meine Schwester auch noch ausgefallen. C’est la vie. Ich bin hier, und reise allein. Ausnahmsweise.«

Zufrieden mit meiner Lösung versuche ich, die Sache mit einem Lächeln für meine Zuhörerinnen leicht verdaulich zu machen. Aber inzwischen ist mitmenschliche Fürsorge herangereift.

»Ach, das ist aber schade, was hat denn Ihre Schwester? Hoffentlich keine Krankheit?«

»Na ja, sie musste ins Krankenhaus, aber nein, nichts Böses«, improvisiere ich lahm. »Ein Kind! Sie bekommt ein Kind. Und es kommt viel früher als gedacht, sonst hätte sie natürlich nicht diese Reise gebucht.«

Verdutztes Schweigen breitet sich aus und mir ist klar, dass ich vor weiteren Fragen nur durch den Betrieb im Mittelgang gerettet werde. Von vorne schlurft der hochgewachsene Junge durch und setzt sich weiter hinten neben eine Frau, die das Durchschnittsalter fast soweit senkt wie ich es tue. Gleichzeitig eilt die Pillensammlerin von hinten nach vorne, ein Päckchen hochhaltend und triumphierend rufend: »Abführmittel habe ich jetzt auch!« Offenbar hat sie die Zeit bis zum Anschnallen genutzt, um eine Sammeltour durch den hinteren Teil des Busses zu unternehmen. Ihre frohe Kunde richtet sie an den hageren Mann in der ersten Reihe rechts, neben den sie sich nun setzt. Er ist nicht gewillt, seine Frau für ihren erfolgreichen Beutezug zu loben, sondern schaut ungerührt aus dem Fenster. Wahrscheinlich dement, denke ich mir. Das würde erstens den Mangel an Reaktion erklären und zweitens dazu passen, dass immerhin er es war, der die Medikamente aus dem Koffer genommen und dadurch den Notstand ausgelöst hat, den seine Frau hier emsig auszugleichen sucht.

»Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Italien-Gäste«, schallt es nun aus dem Lautsprecher. »Ich darf Sie sehr herzlich begrüßen auf unserer Tour in das Herz Italiens. Ich darf mich vorstellen, ich bin Signora Michela und ich werde jeden Tag mit Ihnen unterwegs sein. Ich werde Ihnen unterwegs einige Erläuterungen geben zu den Orten, die wir besuchen werden und allgemein zu meinem Heimatland. Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, bitte fragen Sie, ich will versuchen, alles zu beantworten oder zu helfen, wenn es ein Problem gibt. Und ich möchte Ihnen unseren Fahrer vorstellen: Vittorio. Vittorio und ich haben schon viele Fahrten gemeinsam unternommen und glauben Sie mir, er ist ein hervorragender Fahrer. Absolut sicher und unfallfrei. Er fährt uns jetzt zunächst nach Rom hinein zum Hotel Avanti. Morgen frühstücken Sie im Hotel und dann starten wir um 9:00 Uhr mit diesem Bus. Wir machen dann zuerst die Stadtbesichtigungstour durch Rom, vorbei an den wichtigsten Gebäuden, danach verlassen wir Rom und starten unsere Rundreise.

Aber, meine lieben Damen und Herren, bestimmt möchten Sie heute Abend die Gelegenheit nutzen, vom Hotel aus in die Innenstadt zu fahren. Die Straßenbahn fährt ganz in der Nähe ab, Sie können sie vom Hotel sehen. Tickets ziehen Sie am Automaten. Alles ganz einfach zu verstehen. Bummeln Sie durch die ewige Stadt, es wird sicher ein unvergessliches Erlebnis. Und passen Sie sehr auf ihre Wertsachen auf! Besonders im Stadtbus oder in der Straßenbahn. Es gibt Banden, die sich systematisch durch einen vollen Bus drängeln und mit allen Geldbörsen wieder aussteigen.«

Im Moment ist von Gedränge einer Großstadt draußen noch nichts zu sehen. Wir rollen auf einer sechsspurigen Straße dahin, die einzigen Menschen, die sich außerhalb von Fahrzeugen aufhalten, sind schrill gekleidete Frauen jeglichen Alters – viele von ihnen Schwarze - die in jeweils einigen Metern Abstand voneinander gelangweilt am Straßenrand stehen. Die meisten halten einen Glimmstängel in der Hand und schreiten vor und zurück, obwohl sie offensichtlich am Fleck verharren wollen. Zum Warten verdammt. Bis irgendein Mann des Weges kommt, für eine von ihnen das Warten beendet, sie in sein Auto holt, mit ihr anstellt, wonach ihm ist. Klassische Frauenkarriere, denke ich bitter und kann mich nicht wehren gegen Erinnerungen an unzählige Male, die ich Menschen mit süffisantem Grinsen vom »ältesten Gewerbe der Welt« reden hörte. Als Kind hatte ich gedacht, wenn ich erstmal erwachsen wäre, würde ich das Grinsen verstehen, aber tatsächlich kann ich es noch heute nicht. Grinst da einer aus Genugtuung in dem Wissen, sich finanziell alles leisten zu können, was im Angebot ist? Oder grinst er aus Stolz auf die eigene Weisheit? Denn wer vom ältesten Gewerbe sprechen kann, muss ja offenbar ein versierter Geschichtskenner sein. Obendrein scheint diese fundierte Geschichtskenntnis dazu zu berechtigen, Schlüsse über die natürliche Bestimmung der Menschheit zu ziehen. Dass ein gewisser Prozentsatz an Menschen nun mal seine Körper zu opfern hat für die Befriedigung der anderen, wird als Naturgesetz angesehen. Oder als Gottes Ordnung – je nach Neigung des Betrachters.

Während wir mit dem Glück-auf-6-Rädern durch Roms Schmutzrand der Gescheiterten und Entrechteten rollen, stemme ich mich mit aller Kraft gegen die deprimierenden Gedanken, indem ich versuche mich zu erinnern, welche Arten von Menschenopfer im Laufe der Geschichte überwunden wurden und heute rückblickend als barbarisch bewertet werden. Es gibt ja schließlich Fortschritte. Auf diese Art will ich meinen Glauben an die Menschheit ein bisschen wieder aufpäppeln, funktioniert aber eher schlecht als recht. Deshalb beschränke ich mit großer Willensanstrengung meine Sicht auf meine eigene kleine Existenz und fasse den Beschluss, im äußersten Notfall anstatt Prostituierte lieber Pennerin in Oldenburg zu werden - trotz des Regens. Dann versuche ich mich wieder auf die Ausführungen der Signora zu konzentrieren, die gerade einen Mini-Vortag über die Geschichte Roms hält.

»Sie können an einem Abend nicht alles sehen, was diese faszinierende Stadt zu bieten hat, aber Sie sollten zum Sonnenuntergang an der Spanischen Treppe sein. Das ist sehr romantisch. Amore, Amore, Amore!«

»Jetzt weiß ich, warum Sie alleine reisen«, sagt eine charmante Tenorstimme aus Richtung der Hochfrisur. Die Hochfrisur sitzt aber gar nicht mehr da, woher die Stimme kommt, sondern steht im Gang und nestelt im Gepäcknetz herum, und was ich sehe, raubt mir den Atem: Auf dem Fensterplatz sitzt ein Mann mit schütterem Haar, großer roter Nase und leuchtenden Augen, darunter ein lachender Mund mit unzähligen Lachfalten drum herum, offenbar durch ständigen Gebrauch eingegraben.

Da sitzt er und strahlt mich an, genau wie auf dem Foto. Jetzt zwinkert er mit seinem linken Auge und tut so, als wenn wir uns seit Kindertagen kennen. Dabei wiegt er bedeutungsvoll den Kopf hin und her zwischen mir und der Signora, deren »Amore, Amore, Amore« gerade verhallt. Ich bin begeistert. Mentaler Eintrag Nr. 2: Glück muss die Detektivin haben, dann braucht sie auch keinen Platz auf der Rückbank. Seine Frau setzt sich wieder und er dreht sich zu seinem Fenster, als hätte er mich nie angesprochen.

»Mein Mann ist sehr romantisch«, sagt sie trocken. »Er kann sich gar nicht vorstellen, dass jemand aus anderen Gründen als der Liebe überhaupt verreisen kann.«

Damit schlägt sie ihren Reiseführer auf und vertieft sich demonstrativ in die Lektüre. So begeistert bin ich, den Mann vom Foto vor mir zu haben, dass ich erst nun mit Verzögerung merke, dass der Mann versucht hat mit mir zu flirten. Seine Frau scheint eher gelangweilt als empört darüber zu sein. Wenn dieser Mann tatsächlich ein Haus in der Toskana kaufen will, ist das dann für ihn? Oder für seine Frau? Oder für jemand Drittes? Oder doch für beide? Es soll ja zahlreiche Ehepaare geben, die sich in Gefühlskälte wohlig eingerichtet haben.

In der Hotellobby dauert es ewig, bis alle mit ihren Gepäckstücken vom einzigen Lift in den fünften Stock getragen werden. Als ich endlich oben ankomme, trifft sich gerade die Frauengruppe der noch-lange-nicht-Rentnerinnen im Flur. Zwei von ihnen haben es geschafft, sich in der Zwischenzeit in eine Ausgehgarderobe zu werfen. Eine von diesen verstellt mir lächelnd den Weg. Etwas kleiner als ich, lange dunkle Haare zu einem Zopf gebunden, große braune Augen, gesunder Teint, der nach viel Aufenthalt an der frischen Luft aussieht. Sie trägt jetzt einen kurzen Rock mit folkloristischen Stickereien über schwarzen Leggings. Wäre dieser Rock nicht so lebenslustig, wäre mir nicht aufgefallen, dass sie sich umgezogen hat.

»Da bist du ja, wir haben schon gedacht, dein Zimmer ist auf einem anderen Flur. Ich bin Sandra. Wir wollen sofort rein in die City. Kommst du mit?«

»Das ist wirklich nett von dir«, stammele ich. »Aber ich glaube ich muss heute Abend ausfallen lassen, bin etwas angeschlagen und will natürlich fit bleiben… Ich heiße Tilly.«

»Okay, dann erhol dich gut, Tilly. Wir sehen uns morgen.« »Ja, danke. Euch einen schönen Abend!«

Voller Tatendrang ziehen die Mädels – es sind tatsächlich vier – Richtung Lift, während ich in mein Zimmer verschwinde. Geräumig und sauber, mit Blick auf ein Industriegebiet, davor schwere Gardinen, die den Blick nach innen lenken sollen. Das Bett am Fenster gehört Thomas, da hat er den kürzeren Weg ins Badezimmer. Kein Wasserkocher, stelle ich befriedigt fest, war also eine geniale Idee, meinen Reisewasserkocher mitzunehmen. Nachdem ich das Ding auf meinem Nachtschränkchen installiert, den Pulverkaffee hervorgekramt und meinen Schlafanzug auf dem Bett ausgebreitet habe, lege ich mich bäuchlings hin, öffne vorsichtig den Gefrierbeutel, ziehe seinen Schlafanzug ein wenig hervor, lege mich mit der Nase hinein, inhaliere tief und warte dabei auf das Geräusch des kochenden Wassers.

Ich wache auf, weil mir kalt ist. Unser Zimmer ist schwach erleuchtet von Lichtern in der Ferne. Meine Armbanduhr zeigt kurz vor 4 Uhr an. Ich liege ohne Decke mit nackten Füßen und in meiner Tageskleidung auf dem Bett. Eingeschlafen, bevor ich Kaffee trinken konnte. Und ich habe die Tüte nicht zugeknipst. Mist, sein Geruch hat sich weiter verflüchtigt. Und er ist nicht da. Frustriert verschließe ich die Tüte, ziehe die Vorhänge zu und schleppe mich ins Badezimmer, putze meine Zähne, die ich eigentlich nicht mehr brauche, weil ich sowieso nicht mehr essen will. Kann man Zähne spenden für einen guten Zweck? Muss ich mal googeln. Zähne, Haare, Lunge, Leber, Herz, Arme, Beine, alles abzugeben. Mechanisch ziehe ich meinen Schlafanzug an und gebe in mein Handy ein, dass es mich um 7:30 Uhr wecken soll.

»Wenn du mich fragst, dann macht der Hauskauf hier keinen Sinn. Was sollen sie hier mit einem Haus? Ich kann mir gut vorstellen, dass er sich ohne sie amüsieren will, aber vielleicht ist sie von der Sorte, die ihm nicht von der Seite weicht. Nach dem Motto, wenn du mir das Leben versaust, dann versau ich dir auch deins. Was soll da ein Lustschloss?« Thomas liegt auf seinem Bett und schaut grübelnd an die Zimmerdecke. »Lodenmantel ist vielleicht einfach auf dem Holzweg.«

»Ex-Lodenmantel« erinnere ich ihn.

»Ex-Lodenmantel. Entweder hat der Typ überhaupt kein Geld veruntreut, oder er nutzt eine andere Möglichkeit, es anzulegen. Hast du auf ihren Schmuck geachtet?«

Schmuck ist mir nicht aufgefallen. Aber Schmuck muss ja nicht dauernd sichtbar herumgetragen werden. Und natürlich kann man in Rom durchaus ein Vermögen in Schmuck investieren.

»So was Blödes!«, entfährt es mir, »womöglich haben die beiden in der Zwischenzeit in der City schon alles erledigt. Die sind bestimmt alle nochmal los. Sie haben das ergaunerte Geld in Klunker umgesetzt und den Zweck ihrer Reise bereits erfüllt. Und ich Trottel will morgen mit der Observierung beginnen.«

»Also erstens hat deine Auftraggeberin nur von Immobilien gesprochen, warum auch immer. Wenn du also einen Schmuckkauf verpasst hast, hat sie sich das selber zuzuschreiben. Und zweitens: Falls das der Fall ist und das Geld bereits ausgegeben, bleibt dir immer noch die Reise. Genieße doch einfach.«

»Oder ich finde eine Gelegenheit, ihre Koffer zu durchsuchen«, sinniere ich und überlege, wie ich das anstellen soll. Einen spontanen Überraschungsangriff kann ich diese Nacht genauso wenig starten wie einen leisen Einbruch, weil ich nicht mitbekommen habe, in welchem Zimmer sie sind. Ab dem nächsten Hotel muss ich besser aufpassen. Ungefährlicher scheint mir, in der offenen Kofferluke des Busses in Aktion zu treten, wenn die Riesenkatze gerade nicht aufpasst. Also muss ich auch darauf achten, wie ihre Koffer aussehen.

»Und warum hat Ex-Lodenmantel sich heute nicht gemeldet?«, fällt mir plötzlich auf.

»Na ja, dass du schon am Anreisetag Erfolge melden kannst, ist ja nicht sehr wahrscheinlich. Morgen meldet sie sich bestimmt«, gähnt er und schläft ein. Sein leises Schnarchen lässt auch mich bald wieder einschlafen.

Kapitel 3

Im Frühstücksraum sehe ich so viele bekannte Gesichter, dass ich den Eindruck habe, schon wieder die Letzte zu sein. Am Buffet lade ich einige Salamischeiben und ein Brötchen auf meinen Teller, während vor der großen Kaffeespezialitätenmaschine die Schlange immer länger wird. Mürrisch späht ein Rentner an der Schlange vor sich entlang und macht seinem Ärger Luft.

»Bei dem Tempo kriege ich gar keinen Kaffee, bevor der Bus abfährt«, ruft er in den Raum, wo ein zustimmendes Raunen als Echo entsteht.

Endlich taucht eine junge Frau in weißer Schürze auf, um an dem Gerät zu hantieren. Sie klappt die eine oder andere Klappe auf, dreht an Rädern, schaut dem Apparat von oben und von unten tief in die Eingeweide und geht dann flott wieder davon. Offenbar kommt überhaupt kein Kaffee raus, denn der Kopf der Schlange ist immer noch derselbe. Es ist die Mutter des schlaksigen Jungen. Mein Blick schweift nochmal durch den ganzen Raum bis ich ihn alleine an einem Sechsertisch sitzen sehe, mit dem Rücken zum Raum. Er hantiert mit seinem Handy, das Frühstück steht unberührt vor ihm. Ich beschließe, auf einen Café Latte zu verzichten, kann ja schnell auf meinem Zimmer einen löslichen Kaffee trinken, auf diese Weise den Rest der Truppe überholen und dann pünktlich am Bus auf dem Posten sein, um meinen Job ernsthaft in Angriff zu nehmen.

Ich frage den Jungen, ob ich mich ans andere Ende seines Tisches setzen darf. Seine Anwesenheit in dieser Gruppe finde ich momentan mindestens genauso rätselhaft wie den kriminellen Rentner. Der Junge schaut mich überraschend freundlich an, sagt höflich »Gerne« und schaut über die Schulter nach dem Verbleib seiner Mutter.

»Das Kaffeeholen dauert hier wohl etwas länger«, sage ich und wir werden Zeuge, wie eine Rangelei entsteht, weil ein Mann einem anderen vorwirft, er habe sich stumpf von der Seite reingedrängelt. Der Beschuldigte behauptet jedoch, sein Teil der Schlange habe schon viel länger da gestanden und ein Dritter kommentiert weise, die Italiener seien so clever, für nichtsahnende Touristen nicht funktionierende Kaffeemaschinen aufzustellen, weil es natürlich günstiger komme.

Die Miene des Jungen heitert sich sichtlich auf.

»Wie lange bis zur ersten Blutgrätsche?«, murmelt er belustigt. Seine Mutter hat inzwischen das Warten aufgegeben und kommt mit ihrem Frühstück an den Tisch.

Auch ohne Kaffee wünscht sie mir strahlend einen guten Morgen.

»Schön, dass Sie sich zu uns setzen. Wir sind die Holtmeyers. Aus Bremen. Auf ihrer ersten Bildungsreise.«

»Klinke,« antworte ich, »ebenfalls aus Bremen. Ich hatte gedacht, sie müssten aus einem anderen Bundesland sein. Die Schulferien sind doch vorbei?«

»Tobias musste dieses Schuljahr auslassen. Er war mehrere Monate im Krankenhaus. Es geht ihm inzwischen richtig gut, aber mein Mann und ich haben beschlossen, dass er sich ein bisschen Luftveränderung verdient hat zwischen Krankenhäusern und Klassenzimmern. Mein Mann ist zuhause geblieben mit den anderen beiden Kindern. Die müssen schließlich zur Schule.«

Es zeigt sich, dass der unberührte Teller vor Tobias nichts mit Appetitlosigkeit zu tun hat, sondern seiner guten Erziehung zuzuschreiben ist. Als die Mutter Platz genommen hat, beginnen beide mit dem Frühstück.

»Durftest du dir eine Reise aussuchen, Tobias?«, frage ich.

»Naja, theoretisch schon, aber es kamen nicht viele in Frage innerhalb der Zeit, die ich habe bis zu den nächsten Untersuchungen. Davon ist diese Reise die einzige, die in den Süden geht. Aber ist okay. Das Programm sieht ganz interessant aus.«

»Und gleichaltrige Mitreisende konntest du auf keiner der Reisen erwarten«, schlage ich mitfühlend vor.

»Das bin ich gewohnt«, winkt er ab und sein entspanntes Lächeln sieht überzeugend aus.

»Haben Sie sich gestern Abend ein paar Sehenswürdigkeiten in Rom angesehen?«, wende ich mich wieder an seine Mutter.

»Ja, ich bin mit der Tram in die Stadt gefahren, von da mit der blauen Metro-Linie zum Colosseum, bin im Halbkreis drumherum gelaufen und habe Bilder gemacht für unseren Jüngsten. Das hatte ich ihm versprochen, er ist gerade in seiner Gladiatorenphase. Ob ich heute auf unserer Stadttour vom Bus aus ein anständiges Foto schießen kann, ist ja ungewiss. Dann bin ich auf schnellstem Wege zurück ins Hotel. Tobias war vom Flug etwas erschöpft und wollte gestern Abend nicht mehr los. Und das war offenbar eine gute Entscheidung. Sehen Sie nur, wie frisch er heute aussieht!«, schließt sie begeistert mit stolzem Blick auf den Junior. Der sehr blass und unterernährt aussieht in meinen Augen. Aber ich weiß eben nicht, wie er die letzten Monate ausgesehen hat. Ich beschließe, nicht beim ersten Frühstück nach der Krankengeschichte zu fragen.

»Sie selbst sehen allerdings etwas blass aus, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf«, hängt Frau Holtmeyer an. »Sind Sie auch aus gesundheitlichen Gründen verreist?«

»Nein, eigentlich nicht.« Ich entsinne mich der Geschichte, die gestern mithilfe der Hochfrisur und der Dame hinter ihr im Bus entstand und tische sie auf. Wer weiß, wer hier mit wem Wissen austauscht, da sollten die Erzählungen besser kompatibel sein, wenn ich kein Mysterium und dadurch Mittelpunkt des Interesses werden will.

»Aber Sie haben recht, ich erhole mich auch gerade von einer…, von etwas. Das Nichtstun, die schönen Bauwerke, das Bekochen-lassen, wird uns allen sicher guttun. Tobias, was glaubst du wird das Highlight der Reise sein?«, lenke ich das Gespräch weg von meiner Gesundheit.

»Der Patrizius-Brunnen in Orvieto«, kommt es wie aus der Pistole geschossen. Mit leuchtenden Augen fährt er fort: »Ein vollständig intakter begehbarer Brunnen aus dem 16. Jahrhundert. In Tuff und Lehm gehauen. Mit zwei Wendeltreppen, die sich nicht berühren, so wie in manchen Parkhäusern, wissen Sie?« Dabei dreht er seine Hände umeinander. Er hat das Programm der Reise nicht nur überflogen, er hat es studiert, sich Gedanken gemacht und zusätzliche Informationen beschafft. Verblüfft stelle ich fest, dass mir ein solches Ausflugsziel nicht aufgefallen ist, genau genommen fällt mir nur die Form der rot skizzierten Reiseroute auf einem sehr grob beschrifteten Kartenausschnitt ein und ein einziger Name neben Rom: Siena. Wahrscheinlich hat der ausgedehnte Schulentzug bei Tobias ein Vakuum hinterlassen, das alle Informationen aufsaugt wie ein Schwarzes Loch Materie.

»Auf den Patrizius-Brunnen«, sage ich, feierlich mein Wasserglas erhebend und Mutter und Sohn stoßen mit mir an. Dann verabschiede ich mich auf später und eile in den fünften Stock zum Kaffeekochen und Packen und schaffe es, wenig später fast die erste am Bus zu sein. Endlich ein Erfolgserlebnis.

Die Pillensammlerin streicht vor der Bustür auf und ab, schaut immer wieder auf die Uhr und wundert sich, wo der Fahrer bleibt, was mir ein wenig überzogen erscheint angesichts der Tatsache, dass wir noch fast 30 Minuten Zeit haben bis zur Abfahrt. Ihr unscheinbarer Mann steht völlig still und schaut in den Morgenhimmel. Ich postiere mich etwas abseits neben der noch geschlossenen Gepäckluke auf der dem Hotel zugewandten Seite in der Hoffnung, dass nur von dieser Seite geladen wird. Sicherheitshalber merke ich mir schon mal, welche Gepäckstücke zu diesem Paar gehören.

»Auch ich in Arkadien!«, sagt der Hagere zu mir und schaut mich aus äußerst lebhaften Augen aufmunternd an. Es scheint sogar so, als versuche er ein Zwinkern. Da der Mann mir bisher völlig geistesabwesend erschien, bin ich echt überrascht. Ich zögere. Wie unterhält man sich mit Dementen? Möglichst natürlich wohl, aber was kann ich auf diese Anrede erwidern? Ich nicke erst einmal freundlich um Zeit zu gewinnen und schaue unwillkürlich, ob seine Frau der Konversation zu Hilfe eilen wird. Aber sie ist mit Umherstreichen und Auf-die-Uhr-Schauen voll ausgelastet.

»Wie Goethe«, hilft mir der Mann auf die Sprünge und deutet auf meinen Mantel. Mein Blick folgt seinem knochigen Fingerzeig und bleibt an der Ecke des Titelblatts der Biographie hängen, das aus meiner Manteltasche ragt. Das aufgeweichte Taschenbuch hatte ich nach meinem Ausflug nach Oldenburg zuhause in einigen Klumpen ins Altpapier werfen müssen, aber offenbar war ein Fragment des Titelblatts irgendwie in der Manteltasche hängen geblieben und hatte in der Zwischenzeit Gelegenheit zum Trocknen. Eingerissen ist es aber, und außerdem sieht man eigentlich zu wenig, um es lesen zu können.

»Dieses Titelblatt kommt mir so vertraut vor. Ist das nicht die Goethe-Biographie von Lohmeier und Winkelmann? Mit der Ausgabe habe ich jahrelang gearbeitet in der Oberstufe. Ich nahm mir daher die Freiheit, für mich die Arbeitshypothese aufzustellen, sie seien auf den Spuren des Dichters unterwegs.«

Hört sich nicht so an, als bräuchte ich hier eine Ausbildung im Umgang mit Dementen.

»Teils, teils,« sage ich vorsichtig, wiederhole die Geschichte von Schwester und Schwager, die mir jetzt so vertraut vorkommt, dass ich sie schon beinahe selber glaube und versichere ihm dann, dass die Schilderungen Goethes zweifellos ein wichtiger Reisebegleiter sind auf dieser Strecke, insbesondere in Siena. Wie durch ein Wunder finden plötzlich zwei weitere Orte unserer Strecke aus den Tiefen meines Gedächtnisses ans Licht, zweifellos weil dieser Mann bei mir Erinnerungen an eine Vorlesung an der Uni geweckt hat. Goethes Italienreise. »Perugia. Assisi«, triumphiere ich und sehe, welche Freude ich dem Mann damit mache.

»Ich bin entzückt, Sie kennenzulernen«, sagt er mit leichter Verbeugung und stellt sich als Herr Grillenkron vor.

Dann eröffnet er mir feierlich, dass er, ohne sich rühmen zu wollen, doch mindestens eine Gemeinsamkeit mit Goethe habe: Wie dieser habe er sich seit Jahren, nein Jahrzehnten, verzehrt nach einer Reise nach Rom, doch aus verschiedenen privaten Gründen, er wolle mich nicht mit Details langweilen, sei es ihm bisher verwehrt geblieben. Auch wenn eine Reise nach Italien für einen Deutschen heute ungleich viel einfacher zu bewerkstelligen sei, man denke alleine an die lange und unbequeme Anreise, von der der Meister so wunderbar lebendig berichte, so gebe es doch auch heute genügend Gründe, warum jemand sich nicht aufmachen könne.

»Da kann ich Ihnen nur zustimmen«, nicke ich und frage mich, ob er aus demselben Grund wie ich bisher aufs Reisen verzichten musste: Mangel an Kleingeld.

»Aber nun ist die Zeit gekommen. Endlich kommen wir, erlauben Sie, dass ich Sie mit einbeziehe, in das Zentrum der Welt. Die Stadt, in der jeder, der sehen kann, neu geboren wird. ER hat geschrieben, dass auch der gemeinste Mensch in Rom zu etwas wird. Und auf unsere vorigen Begriffe«, er strahlt mich an, »werden wir zurückblicken wie auf Kinderschuhe.«

Ein Kicheranfall unterbricht seinen freudigen Redeschwall. Als er sich wieder gefangen hat, wiegt er nachdenklich den Kopf.

»Wie auf Kinderschuhe zurückblicken – ist das nicht ein wundervolles Beispiel für SEINE genialen Vergleiche? Lassen Sie sich darauf ein! An welche Schuhe, die Sie als Kind getragen haben, können Sie sich erinnern? Und passen die Ihnen heute? Natürlich nicht! Gänzlich unvorstellbar, dass Ihnen diese Schuhe einmal passten. Und ebenso ist es mit den Begriffen von damals. Wie nur reichten sie aus um uns auszudrücken? Ja, ein starker Vergleich, ein ganz starker Vergleich.«

Ich komme nicht umhin, mich tatsächlich an ein Paar Kinderschuhe zu erinnern. Ungeliebte Sportschuhe waren das, die ich irgendwann im Kindesalter kaufen musste, weil sie die einzigen in meiner Größe waren, die unter dem Preislimit lagen und nicht pink waren. Die in pink wären noch schlimmer gewesen.

Ich war in diesen Schuhen nie beheimatet, sehnte stattdessen den Moment herbei, da das Wachstum meiner Füße mich endlich zum Kauf neuer Sportschuhe berechtigte.

Und was meine Begriffe angeht, so habe ich bisher keine Lebensphase gehabt, in der ich stolz auf meine Begriffe wäre und lächelnd auf die überwundenen zurückschaute. Na ja, jeder Vergleich hat seine Schwächen. Dieser eignet sich vielleicht exklusiv für Genies.

»Sie erhoffen sich also eine persönliche Wandlung?«, folgere ich aus Grillenkrons Ausführungen.

»Damit kann ich fest rechnen, nach allem, was ER geschrieben hat«, bestätigt er mit eifrigem Nicken.

Inzwischen ist mir der Verdacht gekommen, dass dieser pensionierte Deutschlehrer den Namen Goethes meidet. Stattdessen spricht er vom »Meister« oder spricht das männliche Personalpronomen so aus, als sei es fett gedruckt.

»Das Allermindeste wird ja sein, dass ich danach nicht mehr auf billigen Ersatz wie Fotos oder Zeichnungen der bedeutendsten Kunstwerke der Menschheit angewiesen sein werde. Oder auf Gipsabdrücke, wie ER damals. Nein, ich werde der Werke selbst ansichtig werden, sie endlich ganz verstehen, »beherzigen« wie der Meister sagt, und nie wieder vergessen. Das muss einen Menschen ja verändern. Mehr als das. Wir werden hier neu geboren, sagt ER. Neu geboren!«

»Kann es sein, dass Sie Goethes Namen nicht aussprechen? Sowas ist mir sonst nur bekannt von den Bewohnern der Harry-Potter-Welt im Umgang mit dem Namen Voldemoort.«

Dann fällt mir ein, dass Juden aus Ehrfurcht vor Gott ihn nicht beim Namen nennen. Ist Grillenkron womöglich Mitglied einer Sekte, die Goethe als Gott anbetet?

Grillenkron windet sich ein wenig und wird leicht rot. »Das ist nur eine Grille von mir, wissen Sie, ER ist mir so vertraut, dass es ganz falsch scheint, ihn beim Nachnamen zu nennen. Aber ich kann mir andererseits nicht erlauben, ihn beim Vornamen zu nennen, denn dazu hat er mich nicht ermächtigt. Eine Zwickmühle gewissermaßen.«

Er beginnt, nachdenklich an seiner Unterlippe zu kauen, während er sich vermutlich in Gedanken ausmalt, dem Meister persönlich zu begegnen und die Gnade gewährt zu bekommen, ihn beim Vornamen anzureden. Oder eben nicht. So hat jeder seine Sorgen.

»Ich muss zugeben, dass ich das Reiseprogramm nicht in allen Einzelheiten studiert habe, aber ist es nicht so, dass wir von Rom nur wenig sehen werden?«, fällt mir ein.

»Leider wahr, leider wahr«, seufzt Grillenkron. »Die Anbieter von Bildungsreisen bieten natürlich maßgeschneiderte Touren auf den Fußspuren des Meisters, aber dafür zahlt der Kunde dann ein Vielfaches des Preises dieser Reise. Im Übrigen bin ich gezwungen zu akzeptieren, dass meine liebe Frau sich weniger als ich für Ihn begeistert und lieber Landschaft sieht. Wir haben uns auf diese Reise geeinigt als einen Kompromiss. Und es muss ja nicht das letzte Mal sein, dass ich nach Rom komme.«

An dieser Stelle fängt er die just vorbeiflatternde Pillensucherin ein und stellt sie als seine liebe Frau vor. Sie lächelt mich durchaus warm an, aber schon gleitet ihr unsteter Blick wieder fort, auch wenn sie körperlich anwesend bleibt.

»Na, dann sind wir mal gespannt auf unsere Verwandlungen«, sage ich zu beiden.

Er nickt heftig. »Sicher ergibt sich auf der Reise noch öfter die Gelegenheit, sich über unseren Nationaldichter auszutauschen. Wie wunderbar, dass ich mit meiner Leidenschaft nicht alleine bin in der Gruppe der Gefährten.«