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Wer weiß schon, was sich im Corona-Lockdown hinter verschlossenen Türen abspielte. Privatermittlerin Tilly bezieht kurzfristig das Pflegeheim Nächstenliebe in Hannover und erlebt mehr, als ihr lieb ist. Ja, es wird hingebungsvoll gepflegt, aber auch gelogen, gestohlen, gemordet.
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Seitenzahl: 322
Veröffentlichungsjahr: 2022
Tilly Klinke
Niemand hat Macht über dich
es sei denn
© 2022 Tilly Klinke
Umschlag, Illustration: Sara Contini-Frank
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Paperback
978-3-347-72103-6
e-Book
978-3-347-72111-1
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
1 früher Vogel
Knirschend rollt das Taxi durch die dichte Schneedecke davon, verlässt den Parkplatz und bewegt sich zurück Richtung Stadtmitte. Ich stehe alleine auf der riesigen, glitzernd weißen Fläche vor dem Möbelhaus. Obwohl die eisige Kälte sich unverzüglich meine Zehen als leichte Beute vornimmt und ihren Siegeszug in meinen Stiefeln und dann den Hosenbeinen fortführt, bin ich irgendwie froh, auf mein Anschlussfahrzeug warten zu müssen. Ein Ausflug außerhalb der eigenen vier Wände und sogar außerhalb des Wohngebiets, das ist ein seltenes Vergnügen geworden. Zudem wirkt die frische Luft so früh am Morgen doppelt frisch. Ich nehme meine Maske ab und atme befreit, neun Grad minus hin oder her.
Nach kaum drei Atemzügen allerdings sehe ich den angekündigten roten Kangoo auf den Parkplatz rollen. Er folgt so exakt den Spuren, die das Taxi im Schnee hinterlassen hat, als sei er ein Waggon auf Gleisen. Gleisen, die unweigerlich zu mir führen, ich markiere den Bahnhof. Direkt vor mir stoppt der Waggon.
Eine drahtige Frau um die 60 dreht die Scheibe runter, entlässt dabei eine Wolke warmer Luft in den eisigen Morgen, und strahlt mich an.
„Sie müssen Frau Klinke sein.“ Stark geschminkte Augen, sogar rosa Flecken auf die Wangen gemalt, blondiertes Haar zu einem langen Zopf geflochten. Ein deutliches Statement der Lebensfreude.
„Guten Morgen, Frau Heinrich“, erwidere ich, während ich die Gummibänder meiner Maske wieder hinter die Ohren friemele.
Rita Heinrich schaltet den Motor aus, springt leichtfüßig aus dem Kangoo, öffnet die Türen zum Kofferraum und zeigt stolz auf einen zusammengeklappten Rollstuhl.
„Voila! Den habe ich gestern Abend für Sie organisieren können.“ Ein handgestrickter Ringelschal – mindestens Nadelstärke 16 – ist um ihren Nacken geschlungen und hängt beidseitig bis zu ihren Knien herunter.
Sie klappt eine Rampe aus dem Kofferraum heraus, rollt das Gefährt auf das Pflaster und entfaltet es mit geübten Griffen.
„Wir sollten das einmal üben, solange uns niemand dabei zusieht. Setzen Sie sich mal rein und dann erheben Sie sich und ich helfe Ihnen auf den Beifahrersitz.“
Es war ihre Idee gewesen, dass ich mich vom Bahnhof per Taxi an einen ruhigen Ort in die Nähe des Reisezieles fahren lasse. Ich steige gesund aus dem Taxi, anschließend mit Gehbehinderung in Heinrichs Kangoo.
Ich setze mich in den Rollstuhl und gebe mir dann alle Mühe, mich von der Sitzfläche zu stemmen ohne meine Beine zu rühren. Mit Heinrichs Hilfe manövriere ich meinen Körper in das Auto. An Stiefeln und Hosenbeinen haftet haufenweise Schnee.
„Ganz doofer Winkel. Gleich nochmal“, kommandiert sie. „Sieht jeder Blinde, dass Sie das zum ersten Mal machen.“
Nach drei weiteren Anläufen ist sie zufrieden.
„Bleiben Sie mal gleich sitzen, Ihren Koffer hebe ich in den Wagen, gewöhnen Sie sich dran.“
So warte ich auf dem Beifahrersitz, bis sie den Koffer, den Rollstuhl und die Rampe verstaut hat und schnaufend einsteigt. Sie zupft eine FFP2 Maske vom Rückspiegel, zieht sie über und startet den Motor.
„Toll, dass das so schnell geklappt hat und Sie sich der Sache annehmen können. Es wird immer schlimmer im Haus. Gestern sind wieder Dinge aus meinem Büro verschwunden. Und am Medizinschrank war auch jemand. Passiert inzwischen täglich. So kann es nicht weitergehen.“
Tiefe Furchen ziehen sich in ihre Stirn.
„Ich hoffe, dass ich Ihnen helfen kann, aber versprechen kann ich natürlich nichts“, erkläre ich vorsichtshalber. Als Wachperson habe ich bisher nicht gearbeitet und solange ich das Haus und die örtlichen Gegebenheiten nicht kenne, kann ich mir keinerlei Vorstellung davon machen, ob der Job überhaupt machbar ist. „Sie haben die Vorfälle der Polizei gemeldet?“
„Na klar, das muss ich ja schon wegen der Versicherung. Es sind auch zwei Beamte ins Haus gekommen, so vor drei Wochen. Haben mit allen Bewohnerinnen und allen Pflegekräften gesprochen, die gerade Dienst hatten. Und sind unverrichteter Dinge wieder abgezogen. Danach war eine gute Woche Ruhe und dann verschwand wieder was.“
Damit ich als heimlicher Wachhund nicht gleich auffliege, muss meine Tarnung überzeugend sein. „Lassen Sie uns nochmal meine Geschichte durchgehen. Ich bin in einen Verkehrsunfall geraten, lag einige Wochen im Krankenhaus, bin jetzt in Ihrem Pflegeheim, weil ich noch nicht alleine klarkomme.“
Sie nickt. „Verkehrsunfall ist das Beste. Ich hatte erst an einen schweren Schlaganfall gedacht, aber der wäre überzeugender mit Sprachverlust. Aber Sie sollten mit den Bewohnern sprechen können, die könnten wichtige Informationsquellen sein.“
Könnte auch echt langweilig werden, wenn ich mich nicht unterhalten kann, denke ich.
„Und warum bin ich nicht in eine Reha gesteckt worden? Fällt es nicht auf, dass ich jünger bin als alle anderen?“
„Eine ist immer die Jüngste“, lacht Heinrich. „Nein, im Ernst. Die Reha-Klinik, die Sie aufnehmen sollte, hat einen akuten Corona-Ausbruch, deshalb haben wir Sie zur Überbrückung aufgenommen. Das ist ihre Story. Wird keiner weiter nachfragen, glauben Sie mir. Corona macht alles möglich.“
„Ich bin also an den Rollstuhl gefesselt, habe aber kognitiv und sonst keine Einschränkungen“, vergewissere ich mich.
„Richtig. Und der Rollstuhl ist nur temporär. Von der Herumliegerei im Krankenhaus sind Sie geschwächt, die Muskeln haben sich zurückgebildet, aber im Prinzip können Sie ihre Beine benutzen. Dafür werden Sie Therapien bekommen. Also theoretisch. Da Sie gerade erst ankommen – und das an einem Samstag – haben wir ein paar Tage Aufschub, bis wir uns da was einfallen lassen müssen. Einer Therapeutin machen Sie nichts vor. Vielleicht kann ich mich mit der verständigen, die dienstags und donnerstags zu uns ins Haus kommt“, überlegt sie laut. „Jedenfalls haben Sie das Zimmer mit der optimalen Aussicht. Ein echter Glücksfall, dass Frau Bachmann so plötzlich ins Krankenhaus musste. Von ihrem Zimmer aus können Sie mein Büro und das Schwesternzimmer im Auge behalten.“
„Was machen wir, wenn Frau Bachmann aus dem Krankenhaus entlassen wird?“
Die Heimleiterin wirft mir einen finsteren Blick zu. „Die kommt nicht wieder. Lungenentzündung und hohes Fieber bei schlechter Allgemeinverfassung, 92 Jahre alt.“
Will ich wissen, ob sie Corona hat? Noch könnte ich aussteigen aus der wahnwitzigen Idee, mitten in der Pandemie in ein Pflegeheim einzuziehen.
Heinrich hat meine Gedanken erraten. „Na ja, was wissen wir schon? Aber eigentlich bin ich ganz zuversichtlich. Wir hatten im Dezember einige Fälle, haben das aber mit Quarantäne in den Griff bekommen. Zwei Bewohner sind damals im Krankenhaus gestorben, die anderen Erkrankten zu uns zurückgekommen. Seitdem haben wir keine Fälle und alle bekommen heute ihre zweite Impfung. Das hatte ich Ihnen ja am Telefon erzählt.“
Das hatte sie. Sie war ganz begeistert gewesen von der Fügung: Genau das richtige Zimmer wird frei und dann fällt auch noch pünktlich eine Impfdosis ab, die für meine Vorgängerin eingeplant war. So kann mir als attraktiver Bonus eine Ladung Vakzin von BioNTech in den Oberarm verpasst werden. Zu den 300 € als Tagessatz, auf die wir uns geeinigt hatten. Kein großartiger Stundensatz, aber schließlich muss ich nur herumsitzen. Und das Geld kann ich genauso gut gebrauchen wie die Abwechslung.
Ich betrachte die Frau neben mir, die mindestens so alt wie meine Mutter ist. Sie ist an ihrem Arbeitsplatz dauernd der Gefahr des Ansteckens und der Ansteckung ausgeliefert. Genau wie meine Mitbewohnerin Nadine an ihrem Arbeitsplatz, einem Pflegeheim in Bremen. Mit welchem Recht würde ich kneifen? Bin ich schützenswerter als diese beiden Frauen?
„Haben Sie eigentlich jemanden in Verdacht?“, fällt mir ein.
„Überhaupt nicht. Ich traue es niemandem zu. Also kann es jeder sein. Außer Jürgen. Jürgen Böhm. Unser Hausmeister und Mann für alles. Der ist absolut zuverlässig.“
„Ist er eingeweiht?“, will ich wissen.
Sie seufzt. Offenbar macht es ihr keine Freude, ihren Hausmeister zu hintergehen. „Nein, ich will da ganz unvoreingenommen rangehen. Die Einzige, die Bescheid weiß, ist Laura.“
Ich nicke. Laura ist die Pflegerin, die der Heimleiterin den Einsatz einer privaten Ermittlerin vorgeschlagen und den Kontakt hergestellt hat. Denn sie war mit Nadine zusammen in der Ausbildung und hatte von ihr neulich gehört, dass sie mit einer Detektivin zusammengezogen war. Mich als Detektivin zu bezeichnen war etwas großspurig, aber nun ja.
Erst als Heinrich stolz ausruft: „Da vorne rechts, das ist mein Haus“, merke ich, dass ich nicht weiß, wie mein neues Heim heißt. Als Kinder hatten wir es ungeheuer witzig gefunden, uns für Altenheime die fiesesten Namen einfallen zu lassen. Haus Friedhofsblick. Haus Abendruhe. Zum bitteren Ende. Haus Zielgerade. Haus Goldener Herbst. Zum Abstellgleis. Damals kannte noch niemand von uns jemanden, der pflegebedürftig war. Die Heimleiterin hat einen Parkplatz gleich neben der flachen Rampe zum Haupteingang. „Haus Nächstenliebe“, lese ich laut das Schild über dem Eingang.
„Ich dachte erst an den Namen ‚Caritas‘, das heißt ja Nächstenliebe. Aber der Name ist geschützt und die katholische Kirche lehnt es ab, dass Häuser so heißen, die nicht von der Caritas betrieben werden.“
„Sozusagen ein Monopol auf Nächstenliebe.“
Die Heimleiterin hilft mir aus dem Beifahrersitz in den Rollstuhl und schiebt mich zum Fuß der überdachten Rampe. Der ganze Bereich ist sorgfältig vom Schnee befreit worden.
„Könnte man denken. Aber tatsächlich weiß ja kaum einer, was Caritas heißt. Mittlerweile finde ich das deutsche Wort viel besser. Das versteht jeder.“
„Und das überlässt Ihnen die Kirche.“
„Genau. Da denkt man halt nicht automatisch an die katholische Kirche, deshalb besteht keine Verwechslungsgefahr. Die Rampe schaffen Sie bestimmt selber, die ist ja sehr flach. Wir wollten den Eingang nur etwas über das Straßenniveau heben, falls mal Sturzregen kommt.“
Tatsächlich bugsiere ich trotz meiner untrainierten Arme mein Gefährt hoch, wo sich eine doppelflügelige Glastür selbstständig öffnet.
„Du sammelst meine Tränen in deinen Krug und zählst sie“, lese ich auf einem bunten handbeschriebenen DIN A 3 Plakat.
„Ist das aus der Bibel?“, frage ich überrascht, weil ich angenommen hatte, dass Rita Heinrich bewusst ein nicht-kirchliches und nicht-religiöses Heim leitet.
„Ach, das muss ich gleich noch auswechseln“, fällt ihr dazu ein. „Jeden Samstag hänge ich sowas wie einen Sinnspruch aus. Seit dem letzten April. Wir haben zusammen überlegt, wie man irgendwie die Woche oder den Monat akzentuieren kann. Damit nicht in jeder Hinsicht der gleiche Trott herrscht tagein, tagaus. Manchen unserer Bewohner macht das zwar nichts aus, aber andere verlieren allmählich den Verstand. Und wir von der Pflege auch. Und wenn man hier so reinkommt, oder sich im Foyer aufhält – da hängt auch so ein Poster – dann bekommt man vielleicht einen neuen Anstoß zum Nachdenken. Und zum Austausch.“
„Und die Zitate oder Sinnsprüche suchen Sie sich in der Bibel?“
„Die Sprüche kommen aus verschiedenen Quellen. Unsere Bewohner können Vorschläge in diesen Postkasten werfen. Sie könnten gleich mal die Glücksfee spielen und einen Vorschlag für diese Woche herausziehen, wenn Sie mögen.“ Dabei hebt sie die Klappe von einem kleinen an der Wand angebrachten Kasten an. Ich greife hinein, ertaste vier oder fünf Zettel, nehme den untersten, einen mehrfach gefalteten, heraus und überreiche ihn Heinrich.
„Wenn keine Ideen reinkommen, suche ich im Internet. Unter den Suchbegriffen Zuversicht, Hoffnung und so.“
Ich darf meinen Rollstuhl weiter selber mit Armkraft antreiben, während sie meinen Koffer durch das Foyer trägt. Uns begrüßt ein zentral aufgestellter Spender mit Desinfektionsmittel. Wir reinigen ausgiebig die Hände damit. Beste Absichten demonstrierend. Wie früher mal das Vorzeigen leerer Hände bewies, dass man unbewaffnet in friedlicher Absicht kam. In den guten alten Zeiten konnte das menschliche Auge unbewaffnet von bewaffnet unterscheiden. Dachten wir jedenfalls. Wer heute friedliche Absicht und guten Willen zeigen will, muss sich schon die Mühe machen, öffentlich seine Hände zu desinfizieren. Wie die Welt sich verändert hat, seit Thomas nicht mehr lebt.
„Mein Büro“, sagt sie mit einer Kopfbewegung nach rechts. Ihr Büro ist zum Eingang und zum Foyer hin mit großflächigen Glasscheiben ausgestattet, teils mit Milchglas, deshalb nur teilwiese einsehbar. Auf der anderen Seite des Eingangsbereichs befindet sich ein geräumiger Lift, dahinter ein Treppenaufgang.
Der erste Eindruck von meinem neuen Zuhause ist nicht unangenehm. Der lichtdurchflutete Raum weitet sich zu beiden Seiten bis zu großzügigen Fensterfronten. Auf einer Seite erkenne ich an Tischen und Stühlen den Speisesaal, auf der anderen gibt es ein paar Sitzgruppen mit Sesseln und Abstelltischchen. Dazwischen Freifläche. Die Wände sind teils weiß, teils sonnengelb gestrichen. Schräg gegenüber dem Haupteingang sehe ich durch ein breites Fenster in einen verschneiten Innenhof. Auf diesen Innenhof hinaus gehen beidseitig abwechselnd bodentiefe und halbhohe Fenster, offenbar wohnen hinter diesen Fenstern die Bewohnerinnen, zu deren Zimmertüren man durch die Korridore gelangt, die rechts und links ins Foyer münden. Überall, wo Trampelpfade beginnen oder sich kreuzen, stehen Desinfektionsmittelspender.
Soeben taucht ein Rollator im rechten Korridor auf, geführt von einem Hochbetagten in gestreiftem Schlafanzug, der zielstrebig zum Haupteingang trottet.
„Herr Möbius, wohin wollen Sie denn so früh am Tag?“, will Heinrich wissen.
„Ich hole Brötchen. Samstags möchte meine Frau so gerne Brötchen haben. Soll ich Ihnen welche mitbringen?“
„Herr Möbius, das Frühstück wird Ihnen doch gebracht! Gehen Sie mal wieder nachhause, die Brötchen kommen sofort.“
„Ach ja, das habe ich ganz vergessen“, murmelt Möbius, kehrt um und trottet zurück in den rechten Korridor.
„Immerhin weiß er, dass heute Samstag ist“, sage ich anerkennend.
„Jeder Tag ist Samstag. Seine Frau ist seit 20 Jahren tot“, sagt Heinrich trocken.
Derweil hält sie mit meinem Koffer auf den links gelegenen Korridor zu. Ich folge ihr und zähle drei Zimmertüren auf jeder Seite dieses Ganges, der an einer dicken, offensichtlich nach außen führenden Glastür endet.
Aus der dritten Tür zur Rechten rollt sich ein Rollstuhl uns in den Weg. Eine stattliche alte Dame in senffarbenem Tweed-Kostüm schafft es, obwohl wir uns auf derselben Augenhöhe befinden, gebieterisch auf mich herunterzuschauen. „Haben Sie sich dieses Haus ausgesucht? Das haben Sie gut gemacht. Nicht besonders luxuriös, aber kompetent geführt. Das ist schließlich das Wichtigste, nicht wahr? Sie werden ja auch nicht lange bleiben, im Gegensatz zu den Alten hier. Ich bin auch nur vorübergehend hier. Meine Tochter nimmt mich in Kürze zu sich.“
„Frau Dr. Krämer, heute gibt es die zweite Ladung Impfstoff, ist das nicht wunderbar?“, flötet Heinrich.
„Ich werde sehen, ob ich das terminlich einrichten kann. Ich muss noch viele Patientinnen sehen heute“, verkündet Dr. Krämer huldvoll und rollt zurück in ihr Zimmer.
Einen Raum weiter steht ebenfalls die Tür offen und die Chefin des Hauses trägt meinen Koffer hinein. Ich rolle hinterher und werde vom krassen Klimawandel beinahe umgehauen. Hier ist es fast so kalt wie draußen. Das Fenster steht weit offen. Dennoch hängt ein süßes Parfum so dick im Zimmer, dass ich gleichzeitig würge und nach Luft schnappe. Das ist also nun mein Reich und mein Beobachtungsposten.
„Leider hatten wir ja noch nicht die Zeit, es gründlich reinezumachen wie es sich gehört bei einem Neueinzug“, entschuldigt sich die Heimleiterin und schiebt hinterher: „Sauber ist es natürlich, aber eben noch nicht geräumt. Sie haben ja auch keine eigenen Möbel mitgebracht.“
Damit ist erklärt, was ich ringsum sehe: Abgenutzte Möbel, darauf Häkeldeckchen, zwei sandfarbene Sessel, von denen einer voll besetzt ist mit ausgestopften Katzen, der andere zeigt mit einem tiefen Krater an, wo Bachmann bis vor kurzem ihre Zeit verbracht hat. An einer Wand hängen zahllose kleine gerahmte Fotografien, über dem Bett eine Kopie eines Gemäldes. Auf einem schmalen Pfad entlang einer steilen Bergwand pflückt ein kleines Mädchen Wildblumen, ein ebenso kleiner Junge jagt einem Schmetterling nach, beide mit arglos heiterem Gesichtsausdruck und nackten Füßen knapp am Abgrund. Direkt hinter ihnen breitet ein großer lächelnder Schutzengel sowohl Flügel als auch Arme aus, für den Fall, dass die Kinder danebentreten.
Wie Nadine mir erklärte, werben Pflegeheime damit, dass Bewohner ihre eigenen Möbel mitbringen können. Dies sind meistens keine wertvollen Antiquitäten, sondern liebgewonnene Stücke, von denen man sich nicht trennen will.
„Um das Zimmer kümmert sich Jürgen noch heute“, versichert Heinrich. „Sagen Sie ihm, was er rausräumen soll. Das Bett ist übrigens Spitzenqualität, überall verstellbar, ziemlich neu und selbstverständlich frisch bezogen.“
„Kann ich eigentlich mein Fenster öffnen und schließen, oder muss ich dafür Hilfe anfordern?“, erkundige ich mich im Flüsterton. Mir beginnt zu dämmern, auf was ich mich da eingelassen habe.
Sie flüstert zurück: „Ja sicher, Sie können kurz stehen und sogar gehen, wenn Sie sich festhalten. Ich sagte ja, Sie können im Prinzip die Beine benutzen. Denken Sie an ein Kind, das gerade die ersten Schritte macht.“
Dann schiebt sie leise die Zimmertür ins Schloss, tritt zum Fenster, schließt es und zieht die weißen Stores davor. Mit einem Fingerzeig bedeutet sie mir, dass ich zu ihr ans Fenster kommen soll. Vor uns der Innenhof, nicht besonders groß, aber hell genug, weil das Gebäude nur zwei Obergeschosse hat. Wenn nicht gerade Schnee liegt, wird allerdings weniger Licht hereinkommen. Gegenüber die Fenster der anderen Zimmer, oben dasselbe. Heinrich deutet nach rechts. Wir stehen am linken Fensterrand. Schräg rechts kann ich durch das Fenster im Foyer wieder hineinsehen ins Haus, in den öffentlichen Bereich, wo im Hintergrund klar das Büro der Heimleiterin und der Raum daneben zu sehen sind. Die Türen zu beiden Räumen sind voll im Blickfeld.
„Mein Büro und das Schwesternzimmer“, erläutert sie. „Im Schwesternzimmer haben wir sonst immer Frühstückspausen und Übergaben gemacht, vor Corona. Jetzt sind nur vier Personen gleichzeitig darin zugelassen, aber der Medikamentenschrank ist da.“
Beide Tatorte kann ich einsehen und das sogar sitzend vom Rollstuhl aus. Es ist tatsächlich das perfekte Überwachungszimmer. Weder die oben gelegenen Zimmer, noch die im anderen Korridor haben den richtigen Winkel, um durch das Fenster im Foyer bis zu den beiden Räumen blicken zu können. Außerdem verbirgt mich die Gardine vor den Augen hinter den anderen Gardinen.
„Sie haben das letzte Zimmer für Bewohner in diesem Gang. Dahinter kommt das Hausmeisterzimmer, ihm gegenüber der Technikraum“, informiert sie mich, während sie wieder zur Tür geht und sie öffnet.
„Ja, liebe Frau Klinke, da sind wir also“, sagt sie dann laut. “Richten Sie sich mal ein, so gut Sie können. Diese Kommode ist leer. Es gibt gleich Frühstück aufs Zimmer und dann kommt auch bald der mobile Impfdienst. Wenn irgendwas ist, kommen Sie zu meinem Dienstzimmer neben dem Haupteingang, oder nutzen Sie das Haustelefon hier neben der Tür. Einen guten Aufenthalt wünsche ich Ihnen.“
Ihrem Wortwechsel mit Dr. Krämer kann ich entnehmen, dass selbige wieder den Gang blockiert hat. Sie langweilt sich wohl in ihrem Raum. Ich muss zugeben, dass ich schon jetzt genug habe von meiner parfümierten Zelle und beschließe, möglichst viel Zeit im Aufenthaltsbereich zu verbringen. Meinen fahrbaren Untersatz so zu platzieren, dass ich von dort aus die beiden fraglichen Räume im Blick habe, wird überhaupt kein Problem sein. Es könnte natürlich sein, dass der Dieb oder die Diebin nicht zuschlägt, solange da jemand sitzt. Dann wiederum wäre meine Wache dort kontraproduktiv, denn es ist sowohl in meinem als auch in Heinrichs Interesse, diese Sache spätestens in drei Tagen erledigt zu haben.
2 heimisch werden
Es sind schon viele erfroren, aber noch niemand erstunken. Heißt es so leichthin, aber ist das erwiesen? Bevor die schwere Süße mich heimlich und schleichend wie eine Kohlenmonoxidvergiftung außer Gefecht setzt, reiße ich nochmal das Fenster auf, ziehe die Gardine vor die Fensteröffnung und schließe meinen Steppmantel, den ich noch gar nicht ausgezogen habe. Dann rolle ich ins Bad und bin erleichtert, dass meine Nase da außer einem leichten Zitronenduft nichts wahrnehmen kann. Kürzlicher Einsatz von Putzmitteln. Stahl und Keramik saugen Gerüche nicht auf, Gott sei Dank.
Für die paar Dinge, die ich mitgebracht habe, ist die Kommode ausreichend. Trotzdem wage ich einen Blick in den Kleiderschrank, was keine gute Idee ist, denn prompt fallen mir Bündel von Textilien und einige Blechdosen entgegen. Offenbar wurde alles, was sich in der Kommode, im Zimmer und Badezimmer befand, nach Bachmanns Transport ins Krankenhaus hier wahllos hineingestopft. Das müssen sie mindestens vierhändig gemacht haben, denke ich, denn ich brauche viele Anläufe, um die Schranktür hinter dem ganzen Kram zu schließen. Dann bin ich durchgeschwitzt, aber stolz auf mich, weil ich es geschafft habe, ohne dabei den Rollstuhl zu verlassen. Ich mache Fortschritte als Behinderte, sorry, als Mensch mit Behinderung.
Auf dem Gang nähert sich das Geräusch von Rollen und leisem Scheppern.
„Frühstück, Frau Doktor!“, erklingt es von nebenan.
„Meine Tochter wird mich jeden Augenblick abholen, aber gut, stellen Sie’s hin.“
Rollen und Scheppern werden lauter und eine freundliche Frau in weißem Kittel klopft an meine offenstehende Tür, während sie ihren Servicewagen hereinschiebt. Sie grüßt mich lächelnd mit Namen, fragt, ob ich Tee- oder Kaffeetrinkerin bin, stellt ein mit Folie überzogenes Frühstück auf dem Tisch ab, lässt sich von mir versichern, dass ich selbstständig essen kann und verschwindet wieder. Das entspricht dem, was Heinrich mir zugesichert hatte: Die Pflegekräfte sind derart in Eile, dass ich vor neugierigen Fragen von dieser Seite sicher bin.
Bei offenstehender Zimmertür und mit Mütze auf dem Kopf lässt es sich am offenen Fenster ganz nett picknicken, der eiskalte Durchzug täuscht eine beinahe geruchsbefreite Umgebung vor. Zwar habe ich zuhause vor dem Aufbruch bereits gefrühstückt, aber die Gewissheit, dass alles Essbare, was aus meinem Zimmer wieder abgeholt wird, in den Müll wandern wird, außerdem die Aussicht auf kleine Portionen in den nächsten Tagen, sind Ansporn genug, eine Scheibe Graubrot mit Gouda zu verspeisen. Schließlich weiß ich nicht, wie lange ich mit meinem Vorrat an Studentenfutter und M&M‘s auskommen muss. Dass die übersichtlichen magenfreundlichen Portionen, die hier den Alten serviert werden, mich sättigen, hat Nadine ausgeschlossen.
Kauend sitze ich also hinter der Gardine und betrachte drüben die fraglichen Türen.
Rita Heinrich sitzt jetzt mitten in ihrem Büro an einem Schreibtisch. Ich versuche mir vorzustellen, wer Geld aus Handtaschen und Jackentaschen und außerdem Medikamente stiehlt. Vielleicht hat die Heimleiterin recht, wenn sie die Medikamente für den Schlüssel der Angelegenheit hält. Ist das jemand, der diese Medikamente selber braucht und nicht in hinreichender Menge bekommt? Jemand, der für seine Angehörigen sorgen will? Jemand, der sie auf dem Schwarzmarkt verkauft? Jemand, der dem Heim schaden will? Oder jemand, der einer konkreten Person schaden will, die die Medizin als Folge nicht bekommen kann? Auf diese Weise womöglich sogar ein Mordversuch? Es sind nicht nur bestimmte Präparate verschwunden, sondern wahllos alles Mögliche von Schnupfenspray bis zum Morphinpflaster.
Andererseits kann aber auch das Stehlen der Medikamente Tarnung sein, während etwas ganz anderes verschwand oder geschah. Ich sollte mir möglichst bald eine detaillierte Liste von allem erstellen lassen, was gestohlen wurde.
Aus dem Korridor dringt von rechts das Geräusch eines Schlüssels im Schloss zu mir. Das muss die Außentür sein. Eine Tür schlägt ins Schloss, dann noch eine. Als nächstes rollt von links Frau Doktor durchs Bild. Sie klopft an die Tür des Hausmeisters, wartet, klopft lauter und ruft:
„Herr Hausmeister, ich weiß, dass Sie da sind. Kommen Sie raus, ich muss mit Ihnen reden.“ Diese Forderung wiederholt sie noch zweimal und wird dabei sehr laut.
„Frau Doktor, bitte beruhigen Sie sich“, beschwichtigt eine Pflegerin, die nun auftaucht. „Der Hausmeister ist offenbar nicht in seinem Zimmer. Ich habe ihn eben vorne gesehen. Lassen Sie uns mal nachschauen gehen. Wofür brauchen Sie den Hausmeister denn so dringend?“, erkundigt sie sich, während sie den Rollstuhl mitsamt Ärztin Richtung Foyer schiebt.
„Dann soll es wohl so sein. Ich wollte es gerne im Stillen arrangieren, um dem Ruf dieses Hauses nicht zu schaden“, höre ich meine neue Nachbarin noch sagen, ehe sie meiner Hörweite entschwinden.
Und dann steht wie aus dem Boden gewachsen ein Mann in grauem Kittel in meiner Tür. Mitte 50 etwa, graue Locken, schlanke Gestalt, eine Brille, die ihn fast wie einen Intellektuellen aussehen lässt.
„Moin, Frau Klinke“, sagt er mit einem leisen Grinsen. „Jürgen Böhm, mein Name. Ich bin der Hausmeister.“ Kein Zweifel: Er ist sich darüber im Klaren, dass ich sein Versteckspiel mitbekommen habe. „Die Chefin sagt, ich soll hier alles rausräumen, was Sie nicht haben wollen.“
„Werfen Sie das weg?“, frage ich reflexartig. Plötzlich stelle ich mir vor, wie meine Vorbewohnerin unerwartet geheilt aus dem Krankenhaus zurückkommt.
„Nee, keine Sorge. Das kommt erstmal in den Keller, bis die Angehörigen hier waren. Die Frau Bachmann ist eine ganz liebe, wirklich eine gute Seele. Über zehn Jahre hat sie hier gelebt, war immer friedlich und nett. Vielleicht sogar 15 Jahre…“ Einen Moment schaut er traurig aus dem Fenster. „Allerdings würde ich hier jetzt ohne Nasenklammer nicht einziehen wollen“, ergänzt er und das Grinsen ist wieder da.
Wir verständigen uns darauf, dass der Kleiderschrank verschwindet, außerdem die beiden Sessel und sämtliche Katzen. Ich hoffe, dass damit auch der Geruch größtenteils ausgeräumt sein wird. Ich besinne mich auf meine Behinderung, ringe erfolgreich meinen Instinkt nieder, beim Ausräumen und Möbeltransport mit anzufassen, und rolle ins Foyer, um hier nicht im Weg zu sein. Da alle Bewohnerinnen und Bewohner in ihren Zimmern frühstücken müssen, ist der weite Raum gänzlich unbevölkert. Im Büro der Heimleiterin sind ebendiese und Dr. Krämer in ein lebhaftes Gespräch vertieft, sieht aber durchaus einvernehmlich aus. Sie trinken gemeinsam Kaffee und scheinen mit ihren Tassen sogar anzustoßen. Was auch immer meine Zimmernachbarin eben in Wallung brachte, scheint beigelegt zu sein.
Ich parke meinen Sitz möglichst unverdächtig weit links an der Außenwand, stecke mir einen InEar Kopfhörer ins linke Ohr, wähle ein hochgradig episches Hörbuch aus meiner Bibliothek im Handy, zupfe die Mund-Nasen-Bedeckung zurecht und gratuliere mir zu meinem entspannten Job. Meiner Umgebung widme ich das rechte Ohr. Rumpeln, Krachen und Quietschen aus der Richtung meines Zimmers zeigen mir den Fleiß des Hausmeisters an.
Nach einer Weile öffnet sich vorne die Glastür und Heinrich schiebt Dr. Krämer im Rollstuhl zurück zu ihrem Zimmer. Als sie an mir vorüberrollen, fällt mein Blick auf zwei Flaschen im Gepäcknetz des Rollstuhls. Eierlikör und Baileys. Während Heinrichs langer strohblonder Zopf fröhlich hin und herschwingt, umweht mich eine feine Fahne.
Die Geräusche aus meinem Zimmer sind verstummt. Heinrich kommt zurück, schenkt mir ein maskiertes Lächeln und verschwindet jenseits des Foyers da, wo ich die Küche vermute. Ich schaue mein Flurstück entlang, sehe, wie Frau Doktor aus ihrem Zimmer herauskommt, zum Hausmeisterzimmer rollt, an der Tür lange lauscht, dann in ihrem Zimmer verschwindet. Ihre Tür schließt sich und wird hörbar abgeschlossen. Kurz darauf trägt Böhm den ersten Umzugskarton aus meinem Zimmer und verschwindet damit durch die Außentür.
Inzwischen sind offenbar meine ersten Mitwohnis mit Frühstück und Morgentoilette fertig, denn aus dem anderen Korridor wird ein Rollstuhl ins Foyer geschoben. Darin sitzt eine unvorstellbar faltige kleine Person mit schwarzer Wollmütze. Auf den ersten Blick könnte man meinen, die Person werde entführt, denn sie krallt sich rechts und links in die Armlehnen und lässt ihre Blicke unruhig durch den Raum schweifen. Dann allerdings deutet sie mit knittriger Hand in meine Richtung und sofort wird ihr mobiler Sitz auf mich zu gerollt. Die Frau hinter dem Rollstuhl ist deutlich weniger faltig, was aber nicht nur an geringerem Alter liegen muss. Sie ist recht rund und hat darum deutlich mehr Bedarf an Hautoberfläche. Über ihrem weißen Wollpullover trägt sie einen BH. Ebenfalls weiß, also fast unauffällig. Vom Kopf stehen silbergraue Haare struwwelig mindestens 10 cm in alle Richtungen ab. Beide Frauen sind ohne MundNasenbedeckung, sodass ich reflexartig etwas zurückweiche.
„Sie sind also die Neue im Zimmer von Frau Bachmann. Na dann, herzlich willkommen! Ich bin Martha Riese“, begrüßt mich strahlend die Rollstuhlschieberin.
Bevor ich etwas erwidern kann, sagt eine leise aber scharfe Stimme aus dem Rollstuhl:
„Das sieht denen ähnlich, das Zimmer zu vermieten, wenn die letzte Bewohnerin noch gar nicht richtig raus ist. Heutzutage geht es allen nur ums Geld. Keine Ideale, keine Visionen.“ Kurz trifft mich ein harter Blick, dann schweift er wieder umher.
„Erika, nun sei mal nicht so. Die Neue kann doch gar nichts dafür. Stell dir vor, man hätte dich so empfangen“, spricht Martha in mildem Scheltton. Dann zu mir: „Die Erika hat es nicht immer leicht gehabt. Ich möchte gar nicht wissen, was sie schon alles erlebt hat. Irgendwann sind die Nerven halt aufgebraucht, nicht wahr, und nun diese Epidemie! Alle Leute laufen mit Masken rum und das erinnert Erika an den Krieg.“
„Schön, Sie kennenzulernen. Mein Name ist Mathilde Klinke“, sage ich artig und wundere mich darüber, dass ich mich hier nicht als Tilly vorstelle. Vielleicht ist es die Ahnung, als Mathilde besser in die Umgebung zu passen.
Nebenbei versuche ich auszurechnen, welcher Krieg Erika in den Knochen steckt. Hat sie den Zweiten Weltkrieg miterlebt? Meine Augen ruhen auf dem faltigen Gesicht und den knorrigen, durchscheinenden Händen, die sich fortwährend festkrallen.
„Die Erika ist vor ein paar Wochen 97 Jahre alt geworden“, vermeldet Martha stolz. „Aber sie will kein Aufheben davon machen. Sie hat der Frau Heinrich von Anfang an verboten, den Bürgermeister einzuladen.“
Folglich war diese Erika bereits fünfzehn, als Deutschland Polen überfiel, einundzwanzig, als die Alliierten von verschiedenen Seiten endlich das Monster Deutsches Reich zur Strecke brachten. Sie könnte ihren Liebsten im Krieg verloren haben. Vielleicht sogar schon ein eigenes Kind. Eltern, Geschwister, ganz zu schweigen von dem, was sie am eigenen Leib an Entbehrung und Gewalt erfahren haben kann.
„Wie gut, dass Sie für Erika da sind, Frau Riese“, lobe ich die Rollstuhlschieberin. „Sie sind um einiges jünger, wie ich sehe.“
Riese lacht schallend. „Ich könnte Erikas Tochter sein! Ich bin doch erst 75! Und viele sagen ja, ich sehe so aus, als sei ich nicht mal 70“, fügt sie mit koketter Stimme hinzu. Dann schaut sie mich erwartungsvoll an, gespannt auf mein Urteil.
Hier fehlt es mir eindeutig an Übung im Umgang mit älteren Leuten. Während ich noch überlege, ob ich sagen darf, dass Menschen mit mehr Fett sich optisch besser halten, wird Rieses Aufmerksamkeit zum Haupteingang gelenkt.
„Ach Herr Böhm, Sie habe ich ja heute noch gar nicht gesehen! Man sieht sich ja gar nicht mehr. Es ist so jammerschade, dass wir alle in unseren Zimmern frühstücken müssen, nicht wahr? Geht es Ihnen gut?“
Der Hausmeister trägt einen Karton, grummelt einen freundlichen Gruß und macht Anstalten, die Kellertreppe hinunterzugehen. Erst jetzt sehe ich, dass diese sich neben dem Fahrstuhlschacht in Verlängerung der Haupttreppe in den Boden schraubt. Martha Riese ist aber noch nicht bereit, ihn ziehen zu lassen. Sie ist mitsamt Erika im Rollstuhl zu ihm hinübergeeilt und flüstert aufgeregt: „Sie dürfen sich nicht ausnutzen lassen, Herr Böhm. Das ist die Sorte Frau, die einen Mann ausnutzt, das steht mal fest.“
„Da machen Sie sich mal keine Sorgen“, erklingt gutmütig die Stimme hinter Karton und Maske und verschwindet in den Keller.
Der Karton kam mir bekannt vor. Na gut, Kartons haben alle eine gewisse Familienähnlichkeit, besonders wenn sie Umzugskartons sind. Dennoch: Kann es sein, dass Böhm den Karton, den er aus meinem Zimmer geholt hat, außen ums ganze Haus herum- , vorne wieder reingetragen hat und nun in den Keller bringt? Bei grober Schätzung wäre das doppelt so weit wie von meinem Zimmer aus direkt durchs Foyer zur Kellertreppe. Und das bei den arktischen Temperaturen.
„Der will nicht mit dir ins Bett“, zischt die Alte aus dem Rollstuhl, woraufhin Martha ihr eine ordentliche Kopfnuss verpasst. Das zarte sitzende Persönchen wird mindestens 20 Zentimeter nach vorne geworfen und ich halte die Luft an. Wenn die Alte nun aus dem Rollstuhl fliegt, werde ich aufspringen, ihr zu Hilfe eilen und auf diese Weise schon in der ersten Stunde mein Cover auffliegen lassen?
Doch die Alte ist zäher, als ich vermutet hätte. Sie lehnt sich lächelnd zurück und sagt ungemein zufrieden: „Ich sag‘ ja nur, wie‘s ist.“
Aus dem hinteren Korridor taucht eine Pflegerin auf. „Frau Riese, Sie sollten doch auf mich warten, damit ich Ihnen beim Anziehen helfen kann.“
„Das kann ich noch sehr gut alleine“, stellt die Angesprochene klar, dabei dreht sie sich einmal stolz um die eigene Achse um das Ergebnis zu präsentieren.
„Das haben Sie toll gemacht, Frau Riese. Sie haben Pullover und BH sogar farblich abgestimmt. Dann machen wir jetzt nur noch den letzten Schliff und ihre Haare. Und Ihre Masken müssen Sie doch aufsetzen!“ Die Pflegerin geht voraus, gefolgt von Riese, die Erikas Rollstuhl schiebt.
Ich höre noch, wie Riese in kollegialem Ton der Pflegerin anvertraut: „Erika war wieder sehr böse.
Sie wird zur Strafe Zimmerarrest bekommen müssen.“ Zur Strafe? Leicht beunruhigt schaue ich den drei Frauen hinterher.
Schritte auf der Kellertreppe kündigen den Hausmeister an, der mit leeren Händen auftaucht und durch den Haupteingang verschwindet. Wird er etwa wieder außen herum gehen zu meinem Zimmer? Ich zähle die Sekunden. Eine Minute und acht Sekunden später öffnet sich die schwere Glastür am Ende meines Korridors, der Hausmeister tritt ein, geht in mein Zimmer und holt den nächsten Karton.
Wer hätte gedacht, dass es im Foyer eines Pflegeheims so unterhaltsam ist. Mit dem Herrn der Ringe starte ich von vorne, wie war das mit der Auenländischen Zeitrechnung? Muss ich mir das etwa merken und mitrechnen?
3 erste Wache
Eine Weile geht es recht beschaulich zu, sodass ich mich den Hobbits widmen und nebenbei die umhereilenden Pflegekräfte beobachten kann, wie sie mal mit, mal ohne technische Ausrüstung oder Wäsche in einem Korridor verschwinden und wieder auftauchen. Am anderen Ende des Foyers sitzt eine junge Frau mit zwei Bewohnern in einer Sitzgruppe. Sie spielen Mau-Mau. Die Heimleiterin sitzt in ihrem Büro am Schreibtisch, mehrfach klingelt ihr Telefon.
Dann taucht das dreiköpfige Impfkommando auf, Heinrich stürzt aus ihrem Büro, empfängt das Grüppchen und begleitet es zunächst in die oberen Stockwerke. Kurz darauf geht eine Pflegerin zum Schwesternzimmer, schließt von innen die Glastür und telefoniert mit ihrem Handy, wobei sie direkt vor dem Medikamentenschrank steht und ihn pausenlos anstarrt. Anschließend geht sie mit angespanntem Gesichtsausdruck in den hinteren Korridor. Ich sollte mir von Heinrich berichten lassen, wer wann an den Medikamentenschrank darf.
Böhm kommt mit einer Trittleiter und einem kleinen Werkzeugkoffer, klopft an die Bürotür der Heimleiterin, obwohl weithin sichtbar ist, dass niemand drin ist, geht dann hinein und wechselt mithilfe der Leiter eine Glühbirne in der Deckenlampe aus. Danach kontrolliert er einige Schranktüren und stellt offenbar Scharniere nach. Als er hinterher durchs Foyer kommt, erkundige ich mich, ob er in meinem Zimmer fertig ist.
„Fast fertig“, meldet er. „Ich wollte diese Kleinigkeiten schnell erledigen, wenn Frau Heinrich gerade nicht im Büro ist und dadurch gestört wird. Ich sage Ihnen Bescheid, wenn Ihr Zimmer bereit ist.“
Leiter und Werkzeugkoffer trägt er in den Keller, dann kommt er wieder hoch und verlässt das Haus durch den Haupteingang. Eine Minute und acht Sekunden später öffnet sich die Hintertür in meinem Korridor und der zuverlässige Mann widmet sich wieder meinem Zimmer. Er trägt auf bekanntem Wege Schrankwände in den Keller und erst nach dem vierten Gang verlangsamt sich seine Außenrunde auf eine Minute 12 Sekunden. Das ist der Rückweg, ohne Lasten, den Hinweg stoppe ich nicht. Dann holt er aus seinem Raum einen Besen sowie Handfeger und Kehrblech, verschwindet wieder in meinem Zimmer.
Zwei Pflegerinnen begegnen sich in meiner Nähe.
„Schon mitbekommen? Die Impftruppe ist schon im Haus.“
„Ja, ich weiß“, sagt die zweite mit Müdigkeit in der Stimme. „Wird wohl nichts mit unserer Frühstückspause heute. Bei der Aufregung haben sie letztes Mal doppelte Betreuung gebraucht.“
„Was soll’s. Wer braucht schon Pausen in einem so erfüllenden Beruf?“, höhnt die erste.
„Haste recht. Wollen wir uns mal nicht beschweren. Sind oben alle fertig mit Waschen und Anziehen?“
„Beate ist noch mit Ernesti beschäftigt, dann sind alle durch. Ich gehe mal zu Putz, die schiebt doch bestimmt schon Panik wegen der Spritze.“
Damit verschwindet sie im hinteren Korridor, während die andere die Treppe hinaufeilt.
Aus dem Augenwinkel bemerke ich eine große Bewegung am Ende meines Korridors. Dort steht der Hausmeister mit einer Sackkarre gerüstet zwischen den beiden sandfarbenen Sesseln und winkt mir stumm zu. Das soll wohl das Zeichen sein. Ich werfe einen letzten Blick auf Büro und Schwesternzimmer und rolle dann in meine Schlafkammer. Böhm ist sehr zufrieden mit seinem Einsatz und tatsächlich ist das Zimmer deutlich angenehmer geworden, nicht nur weil er ohne Schrank und Sessel etwa doppelt so geräumig ist, sondern auch, weil der Geruch wesentlich nachgelassen hat. Es ist schon fast auszuhalten hier, obwohl das Fenster geschlossen ist.
„Sie haben nicht zufällig Katzenstreu im Haus?“, frage ich den Hausmeister, weil mir eingefallen ist, dass meine Nachbarin mal erwähnte, wie wunderbar Katzenstreu Gerüche aufsaugt. Damals hatte Petra einen Lebensabschnittsgefährten, der öfter mal im Vollrausch seinen Mageninhalt ins Wohnzimmer erbrach. Da soll Katzenstreu Wunder gewirkt haben.
„Kann ich besorgen“, nickt er freundlich und schiebt die Sackkarre unter den ersten der beiden Sessel, die noch in den Keller gebracht werden müssen.
Wieder kämpfe ich gegen den Instinkt, mit anzufassen und rolle stattdessen ans Fenster, um gleich wieder die Beobachtung fortzusetzen. Alles ruhig da drüben.
Als nach dem zweiten Sessel die Außentür laut ins Schloss fällt, wird mir bewusst, dass sich so das ganz normale Zuschlagen anhört. Bisher muss Böhm jedes Mal die Tür kontrolliert leise geschlossen haben. Schon höre ich, wie eine Tür aufgeschlossen wird und dann rollt Dr. Krämer an meinem Zimmer vorbei und hämmert mit einer Faust an die Tür des Hausmeisters. Nach einer Weile gibt sie auf und kehrt wutschnaubend zurück. Vor meiner Türöffnung hält sie an.
„Besorgen Sie sich einen Zimmerschlüssel, junge Frau. Jemand treibt hier sein Unwesen, glauben Sie mir. Wahrscheinlich ein Frauenhasser. Hinter mir ist jemand her, auch wenn Rita Heinrich das nicht wahrhaben will. Sie ist ja ein liebes Mädchen, aber so einfältig, meine Güte.“ Sie rollt dramatisch mit den Augen. „Ihren unnützen Hausmeister hält sie für Wunder was. Nicht einmal aus der Nähe gesehen habe ich den und ich bin seit drei Wochen im Haus. Ein fauler Hund, wenn Sie mich fragen. Frau Thatcher hatte recht: Wenn Sie wollen, dass etwas erledigt wird, fragen Sie eine Frau.“
„Wie kommen Sie darauf, dass jemand hinter Ihnen her ist?“, will ich wissen.
Sie schaut mich durchdringend an. Dann sagt sie kalt: „Wieso sollte ich Ihnen vertrauen? Ich kenne Sie doch überhaupt nicht. Sie könnten sich mit falscher Identität eingeschlichen haben. Vielleicht stecken Sie mit denen unter einer Decke. Das würde auch erklären, warum Sie sich nicht einschließen.“
Nochmal schießt sie einen kalten Blick auf mich ab, dann rollt sie in ihr Zimmer und schließt sich ein.
Kurz darauf taucht im Türrahmen erneut ein Rollstuhl auf, aber es ist nicht meine Nachbarin, sondern das Duo, das ich heute früh bereits im Foyer kennengelernt hatte. Ich bin ein bisschen erleichtert, dass sie sich offensichtlich wieder versöhnt haben und der Zimmerarrest für die böse Erika aufgehoben wurde. Riese trägt den BH nicht mehr über dem Pullover und ihre Haare sind gekämmt. Erika trägt weiterhin ihre schwarze Wollmütze und hat nun eine karierte Wolldecke über ihren Beinen liegen. Beide tragen Masken.