Ehe du stirbst - Charlotte Enders - E-Book

Ehe du stirbst E-Book

Charlotte Enders

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Beschreibung

Eine Frau verschwindet. Nach Wochen taucht sie wieder auf. Was hat sie so verändert? Zahllose Narben entstellen ihren Körper, doch sie schweigt. Was ist in der Zwischenzeit geschehen? Dann verschwindet sie ein zweites Mal. Diesmal für immer? Ein alter Mann scheint etwas zu wissen, aber auch er bleibt stumm. Was bleibt ist ein Fall, der den Ermittlern an der Nerven zerrt.

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Charlotte Enders, Charlotte Enders

Ehe du stirbst

Pictures of her

Mein Dank gilt Massimo Pedicillo für das tolle Cover. Und natürlich meinen Töchtern. Wie immer.BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Ehe du stirbst

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

Covergestaltung:

Massimo Pedicillo

@nessunomass

 

Text:

Charlotte Enders

Lektorat: Charlotte Enders

Korrektorat: Charlotte Enders

 

Facebook: Charlotte Enders

Instagram: charlotteenders3152

web. Charlotteenders.jimdofree.com

 

Alle Rechte liegen bei der Autorin.

Kopieren, auch teilweise, nicht erlaubt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Eine Frau verschwindet. Nach Wochen taucht sie wieder auf. Was hat sie so verändert? Zahllose Narben entstellen ihren Körper, doch sie schweigt.

Was ist in der Zwischenzeit geschehen?

Dann verschwindet sie ein zweites Mal. Diesmal für immer?

Ein alter Mann scheint etwas zu wissen, aber auch er sagt nichts.

Was bleibt ist ein Fall, der den Ermittlern an den Nerven zerrt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die geliebt werden, können nicht sterben,

denn die Liebe bedeutet Unsterblichkeit.

 

Emily Dickinson

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Charlotte Enders

 

 

Ehe du stirbst

 

Pictures of her

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

 

„Du kannst jetzt gehen“, sagte er leise.

Immer sprach er leise, nie laut. Als hüte er ein Geheimnis hinter seiner Stimme, welches er mit niemandem teilen mochte. Schon gar nicht mit ihr. So, als hätte er schon genug gesprochen in seinem Leben. So, als hätte er es satt, die Stimme zu erheben oder Vokale extra zu betonen.

Der Tonfall war etwas rau, männlich herb. Unter normalen Umständen hätte sie ihn als verführerisch eingestuft. Nicht aber in ihrer Situation.

Sie spürte, wie er die Fesseln lockerte, sanft, sehr sanft. Beinahe mitfühlend. Als krasser Gegensatz zu dem, was er bereits an ihr zelebriert hatte.

In ihr schrillten Alarmglocken. Weshalb band er sie los? Hatte er wirklich vor, sie gehen zu lassen? Oder wäre die Jagd erst eröffnet, sobald sie sich frei bewegen konnte?

Sie spürte, wie Blut in ihren Handgelenken zu zirkulieren begann, das Taubheitsgefühl nachließ.

„Du wirst mich nicht ansehen“, flüsterte er. „Sobald ich die Augenbinde löse, gehst du stur geradeaus. Du drehst dich nicht um. Solltest du das tun, stirbst du. Du gehst bis zur nächsten Kreuzung. Von dort aus findest du einen Weg.“

Seine eiskalten Finger machten sich an ihren Knöcheln zu schaffen. „Ich behalte dich im Auge. Du wirst mich nicht sehen, aber ich bin in deiner Nähe. Du wirst niemandem auch nur das Geringste von uns erzählen.“ Das von uns klang widerlich intim, so als hätten sie eine Liebesaffäre.

Er half ihr auf die Füße.

Sie taumelte.

Er umfing ihre Taille, bis sie ihr Gleichgewicht gefunden hatte.

Etwas streifte ihr Ohr.

Sein Mund?

Lachte er etwa?

Ein fremdartiger Laut, wie der eines rostigen Rohres, gegen das ein Stein schlägt.

„Es war schön mit dir.“ Noch tiefer fiel seine Stimme, nur noch ein Hauch, dicht an ihrer Wange.

Dumpf pochend spürte sie den Schmerz ihrer zahlreichen Wunden. Die er ihr zugefügt hatte.

Der Mann mit der Stimme eines schaurigen Gewölbes.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

 

 

Delia suchte Halt an einem Baumstamm. Das einfallende Licht blendete sie derart, dass sie die Augen zu Schlitzen kniff. Die Zeit, die sie in umfassender Dunkelheit verbracht hatte, forderte ihren Tribut.

Tageslicht. Schmerzhaft grell.

Verwirrung.

War sie frei?

Bis hierher hatte er sie begleitet. Sie festgehalten, wenn sie über Wurzeln zu stolpern drohte. Beinahe fürsorglich.

Nun war sie allein, sie spürte es. Seine Körperwärme fehlte. Die Atmosphäre um sie herum hatte sich verändert. War leichter. Luftiger.

Nicht umdrehen.

Die Versuchung war groß.

Nur um sich zu vergewissern.

Ihr erster Reflex: Flucht.

Die Frage: Was passierte dann?

Delia blinzelte. Hob die Arme und betrachtete sie. Noch immer trug sie dieselbe Bluse wie am Tag ihrer Entführung. Sie war nicht mehr hübsch. Ihre Arme waren nicht mehr hübsch.

Der Blick nach unten. Ihre Beine. Die Hose, die sie trug, scheuerte. Sie wusste, woran.

Das Blut war getrocknet, teilweise verkrustet. Es würden Narben bleiben.

Falls er sie am Leben ließ.

Falls dies keine Falle war, in die sie hinein tappen sollte. Für den Fall, dass er ein Jäger war, dem menschliches Fleisch lieber war als Wild.

Oder sollte sie es als Chance begreifen?

Es war kalt. Ein leichter Wind aus Osten streifte sie.

Schaudernd zog Delia die Schultern zusammen. Nur die Bluse und die Hose, sonst nichts.

Wie viel Zeit sie mit dem Mann verbracht hatte, war schwer abzuschätzen. Tage, Wochen? Genug Zeit für ihn, sich an ihr zu erfreuen, auf seine spezielle Art.

Die Sonne stand bereits tief. Sie sollte sich in Bewegung setzen, falls sie irgendwo ankommen wollte.

Immer geradeaus. Bis zur nächsten Kreuzung.

Delia lauschte. Kein Knacken, kein Rascheln, nicht das mindeste Geräusch verriet ihr, ob er noch in der Nähe war.

Sie zögerte. Die Kälte war ihr Feind. Ein zusätzlicher Feind, der genauso wenig Erbarmen zeigen würde wie er.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 2

 

 

Jasper Beerbusch schloss die Metallläden seines Geschäfts heute etwas später als gewöhnlich. Eine zögerliche Kundin. Er kannte sie. Entscheidungen zu treffen fiel ihr schwer. Sein Beruf brachte es mit sich, geduldig und höflich zu bleiben. Immerhin wollte er etwas verkaufen. Heute war sie gegangen, ohne etwas zu erwerben. Das ärgerte ihn ein wenig. Jasper war alt, nicht mehr ganz auf der Höhe. Er ging etwas gebeugt, was seiner Skoliose geschuldet war.

Jasper verkaufte Schmuck und Uhren. Sein Laden lag an der Hauptverkehrsstraße und war gut besucht. Über mangelnden Umsatz brauchte er nicht zu klagen.

Heute spürte er sein Alter besonders. Seine zweiundsiebzig Jahre. Das Alter und das Alleinsein. Rosa war bereits seit fünf Jahren auf dem Friedhof. Kinder, verteilt in Amerika, in Kanada.

Kaum Besuche. Flugreisen traute er sich nicht mehr zu. Mit dem neumodischen Kram, dem Smartphone oder dem Tablet, kam er nicht zurecht. Blieb nur das Telefon. Natürlich riefen sie an. Aber das, was sie sich zu sagen hatten, verlor im Lauf der Zeit immer mehr an Substanz. Sie hatten ihr Leben, er seines. Floskeln wie: Es geht uns gut, Papa, mach dir keine Gedanken, flogen hin und her.

Geheuchelte Sorglosigkeit auf beiden Seiten. Wie es ihnen wirklich ging, erfuhren sie nicht.

Und das, fand Jasper, machte seine Einsamkeit noch schwerer. Dass er an ihrem Leben nicht mehr teilnehmen konnte. Sie an seinem. Dass Oberflächlichkeiten durch den Äther flogen, nichtssagend, banal. Einen Teil seiner Enkelkinder kannte er nicht.

Fotos in der Post. Eine Glanzschicht über Gesichtszügen, die ihm fremd waren. Die er manchmal nicht einmal hätte zuordnen können, wäre die Adresse auf der Rückseite nicht gewesen.

Jasper war entschlossen, seine Arbeit so lange fortzuführen, bis er eines Tages tot umfiel. Was hatte er sonst noch? Leere in der Wohnung, Arztbesuche. Kaum Kontakte. Er war nie ein geselliger Mensch gewesen, im Gegensatz zu Rosa. Die alles in die Wohnung einlud, was Beine hatte. Manchmal auch Ungeziefer. Menschliches Ungeziefer. Rosa wollte es einfach nicht begreifen, mit ihrem großen Herzen.

Dass manchmal etwas fehlte – was machte das schon aus. Sie hatten ja genug.

Das war lange her.

Jasper schaltete die Alarmanlage ein, traf alle Sicherheitsvorkehrungen, die notwendig waren. Zog die schweren dunklen Vorhänge vor. Ließ das Fenstergitter herunter und ging durch den Nebenausgang hinaus.

Bevor er den Landen abschloss, ließ er seinen Blick durch die Straße schweifen, wie jeden Abend. Viele Passanten waren nicht mehr unterwegs. Nach Ladenschluss wurde es ruhig in der Straße. Trotzdem lag ein Summen in der Luft, ausgehend von offenen Fenstern, von Lautsprechern, Fernsehern oder Unterhaltungen. Irgendwo quietschte etwas fürchterlich. Kinderlachen.

Jaspers Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Die Zeit blieb nicht stehen, für niemanden. In ein paar Jahren würden sich andere Menschen fragen, wohin die Jahre verschwunden waren.

Der Schlüsselbund steckte noch im Schloss, als er sie wahrnahm. Die junge Frau, die sich mit unsicheren Schritten vorwärts bewegte.

War sie betrunken?

Zu leicht bekleidet für diese Jahreszeit.

Ihr braunes langes Haar hing ihr wirr über die Schultern, als hätte sie es tagelang nicht frisiert. Ihre Haltung verkrampft, unnatürlich. Die Kleidung schmutzig, teilweise zerrissen.

Eine Obdachlose?

Hinter ihr, in einiger Entfernung, meinte Jasper einen Schatten auszumachen, der ihr folgte. Ein schwarzer Schatten. Dessen Bewegungen katzenhaft geschmeidig und so, als wäre er Versteckspiel gewohnt.

Jasper blinzelte. Jetzt geht es mit den Augen schon los, dachte er. Der Rücken, die Hüfte, jetzt die Augen. Alt werden ist nicht schön. Er versuchte, seine Augen scharf zu stellen. Der Schatten verschwand.

Die junge Frau nicht.

Sie kam näher, langsam, als hätte sie keine Eile. Oder wüsste nicht wohin.

Sie taumelte. Auf der anderen Straßenseite. Streckte einen Arm aus, als suche sie nach Halt. Jetzt erkannte er ihre Wunden.

„Jesusmaria“, flüsterte Jasper, schloss seinen Laden ab, überquerte die Straße, ohne länger zu überlegen. Rasch war er bei ihr, stützte sie. Sie zuckte zusammen. Sah zu ihm auf. Roch nicht nach Alkohol

Hektisch sah sie sich um. „Ist er da? Ist er da?“

Jasper Beerbusch stellte sich unwissend.„Was meinen Sie? Da ist niemand.“

Ihre Schultern sanken herab.

„Kommen Sie.“

So hätte Rosa es gemacht. Die junge Frau mitgenommen, ihr eine Tasse Tee bereitet.

Sie in den Laden zu führen, war keine gute Idee. Ob ihr ein Schatten folgte oder nicht. Seine eigene Wohnung war lediglich ein paar Straßen entfernt.

Sie starrte ihn an, sagte nichts.

Der alte Mann. Das Gesicht wie eine Wurzel. Matte Augen, aber freundlich. Hilfsbereit. Der lange Hals mit dem hervor stehenden Adamsapfel. Ein dünner alter Mann mit dünnem alten Haar.

„Mir ist so kalt“, flüsterte sie.

„Nur ein paar Schritte“, erwiderte Jasper.

„Sind Sie mein Schutzengel?“

„Ja“, gab er zur Antwort.

Es lag auf der Hand.

Ein Schutzengel.

So hatte er sich nie gesehen.

Den Tee trank sie wie eine Verdurstende. Obwohl er heiß war und sie sich mit Sicherheit die Zunge verbrannte. Sie verzog keine Miene. Eine Wolldecke hatte er ihr um die Schultern gelegt. Die alte, aus Armeezeiten.

Jasper saß ihr gegenüber und dachte, dass sie hübsch war. Sehr jung, sehr hübsch. Schmal, abgerissen, mit grünlichen Augen, die gut zu ihrer Haarfarbe passten. Was nicht passte, waren die Schnitte. Alle exakt in einer Reihe, nur wenige Zentimeter dazwischen. Variierten nur in Länge und Tiefe.

Mit einem Mal war er sicher, dass er nichts an den Augen hatte. „Ihnen ist jemand gefolgt.“

Sie nickte, antwortete nicht.

„Möchten Sie ein Telefonat führen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Kann ich noch Tee bekommen?“

Jasper stand auf, vorsichtig, weil seine Hüfte schmerzte. Diesmal blieb er länger in der winzigen Küche. Sah ihr anschließend dabei zu, wie sie in das Brot biss. Ihre Zähne förmlich hinein grub.

Was den Verdacht nahe legte, dass sie lange nichts gegessen hatte.

„Ich werde Sie zur Polizei begleiten“, sagte er, als kein Krümel mehr auf ihrem Teller lag.

Sie hob den Blick, abwehrend, panisch. Entdeckte das Bild an der Wand. „Ist das Ihre Frau?“

„Hmhm“, brummte Jasper, verschränkte die Arme.

„Ich möchte mit ihr sprechen.“

Er legte sich keine Rechenschaft ab, führte sie hinaus, setzte sie auf den Beifahrersitz seines kleinen Autos. Fuhr zum Friedhof. „Hier“, sagte er, „können Sie mit ihr sprechen.“

Sie nickte ernsthaft. Dann faltete sie die Hände vor ihrem Bauch. Ihre Lippen bewegten sich leise murmelnd. Ob sie betete oder Rosa von ihrem schrecklichen Erlebnis berichtete, blieb offen.

Jasper wartete geduldig mit etwas Abstand zum Grab. Er hörte nicht zu. Mochte sie ruhig mit Rosa sprechen. Wenn ihr das half. Nach einer gewissen Zeit richtete sie sich auf.

„Ich brauche einen Platz zum Schlafen. Nur für diese Nacht.“

„Sie können nicht bei mir übernachten.“

„Warum nicht?“

„Weil ich ein Mann bin.“

Sie musterte ihn skeptisch. Er war alt, sicher schon über siebzig. Etwas gebeugt, mit dünnem weißen Haar und glattrasiert. Seine Hände waren weiß, etwas verkrümmt und schmal. Seine matten Augen ruhten auf ihr, ablehnend.

Delia biss sich auf die Lippen, damit ihr nichts Unbedachtes entschlüpfte. Sie fror wieder. Hier draußen gab es keine Armeedecke.

Jasper beobachtete sie genau. Sah, dass sie zitterte. Sicher vor Kälte, aber auch vor etwas anderem.

Rosa hatte ihn als Gentleman bezeichnet, früher, als sie jünger waren. Das fiel ihm ein und er zog seine Jacke aus, hängte sie um die mageren Schultern. Dankbar sah sie ihn an, schlüpfte in die losen Ärmel.

„Schön warm.“

„In Ordnung“, sagte Jasper, schon im Wegdrehen. „Aber nur für eine Nacht. Sie können das Kinderzimmer haben.“

 

 

 

Kapitel 3

 

 

Der Schatten war verschwunden, das bemerkte er sofort, als er vor seinem Haus hielt. Ein kleines, geducktes, zwischen all den Türmen und Kolossen. Er und Rosa hatten es sich vom Mund abgespart, damals.

Die Kinder würden es verkaufen, sobald er die Augen zumachte. Es würde abgerissen werden, um Raum zu geben für Fortschritt, so viel war sicher.

Das Kinderzimmer war klein, eingerichtet wie eine Höhle und vollkommen unverändert, seit seine Kinder ausgezogen waren.

Beerbusch gab ihr wiederum zu trinken und machte ihr ein Brot, was sie mit einem schüchternen Lächeln quittierte, ein angedeutetes Verziehen der Mundwinkel.

Sie schrie in der Nacht, die Frau, die ihren Namen nicht nannte. Er ging nicht zu ihr. Was hätte er auch tun können. Jasper Beerbusch kämpfte seinen eigenen Kampf.

Jasper las keine Zeitung, sonst hätte er vielleicht gewusst, dass es sich bei dieser Person im Kinderzimmer um Delia Winter handelte, die seit Wochen vermisst wurde. Die verschwunden war, einfach so.

Er sah auch nicht Fernsehen, all die Gräuel und Mord und Totschlag. Sonst hätte er den Aufruf der Eltern gesehen, verzweifelt auf der Suche nach ihrem Kind.

Die unter Tränen schilderten, was für ein fröhlicher, aufgeschlossener Mensch Delia war. Wie beliebt und umgänglich, und dass sie sich erst vor Kurzem von ihrem Freund getrennt hatte.

Jasper mochte Wein. Und die Berge.

Wenn etwas über Wein im Fernsehen lief, Kochshows oder Dokumentationen über die Alpen, dann sah er sich das an, aber sonst.

Auf dem Rücken lag er, mit vor der Brust gefalteten Händen, wach ins Dunkel starrend und lauschte ihren Schreien.

Was sie durchgemacht hatte!

Jasper hatte es in ihren Augen gelesen, an ihren Armen, den Blutergüssen an ihren Handgelenken, an der geröteten Haut um ihren Mund abgelesen, und die Stunden gezählt, bis sie sein Leben wieder verlassen würde.

Sie brachte Unruhe.

Jasper mochte keine Unruhe.

Die paar Tage, die er noch hatte …

 

Am nächsten Morgen war sie fort und das begrüßte er, ersparte es ihm doch, sich noch einmal mit ihr auseinander setzen zu müssen.

Das Bett war gemacht, das Fenster offen zum Lüften. In dicken Bündeln stieß die Sonne hinein in dieses Zimmer, in ihrer Mitte tanzten Staubwirbel wie ausgelassene Kinder.

Jasper schlurfte in die Küche, bemerkte den Zettel, der neben der Kaffeemaschine lag und ein einziges Wort enthielt: Danke.

Sie hatte sich ein Brot gemacht, das konnte er erkennen, die Tüte lag offen auf der Arbeitsplatte. Ein benutztes Glas. Himmel, wie früh musste sie aufgestanden sein.

Das geschundene Mädchen.

Er würde sie nie wiedersehen.

Er erinnerte sich, sie schon einmal gesehen zu haben.

Am Tag ihres Verschwindens.

 

 

 

 

 

Kapitel 4

 

 

„Sie ist ein Miststück“, schnaubte Gero Straub.

„Du meinst Tilly?“ Henning Lüders hob die Brauen.

„Brooke Shields.“

„Brooke Shields?“

„Mann, dein Gesichtsausdruck. Was ist los mit dir? Pennst du noch? Natürlich meine ich Tilly.“

„Sie ist hübsch.“

„Aber ein Miststück. Wirft mir die Akte auf den Tisch, als wäre sie hier der Boss. Dabei ist ihr Licht genauso hell wie meins oder deines.“

„Das gleicht sich aus“, grinste Lüders, ging zum Fenster und öffnete es weit. Die Luft im Büro der beiden Kommissare war stickig. Tief sog er die herein strömende Kühle ein. „Wer so aussieht wie sie, darf ruhig ein Miststück sein. Im Ernst jetzt, würdest du sie etwa nicht gern knallen?“

Gero öffnete demonstrativ die Akte, rückte ein paar Stifte gerade, das Kästchen für die Büroklammern. „Das habe ich nicht gehört.“