Ein Beagle geht seinen Weg - Megan McGary - E-Book

Ein Beagle geht seinen Weg E-Book

Megan McGary

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Beschreibung

Müller-Löweneck kommt nicht zur Ruhe: Max kriegt Morddrohungen, vor dem Tor toben Aktivisten, und ein anonymer Hinweis ruft die Steuerfahndung auf den Plan. Von der Dating-Katastrophe mit Jacki gar nicht zu reden. Pommes, der Beagle, hat ganz andere Probleme. Er arbeitet mit voller Kraft daran, die Tierversuche zu stoppen – aber dann verschwindet plötzlich jemand. Und was für seltsame Dinge gehen eigentlich auf dem Mühlenhof vor? Die Fortsetzung von "Ein Beagle kommt selten allein"!

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Seitenzahl: 452

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ISBN: 978-3-98756-434-5

2023 Kampenwand Verlag

Raiffeisenstr. 4 · D-83377 Vachendorf

www.kampenwand-verlag.de

Versand & Vertrieb durch Nova MD GmbH

www.novamd.de · [email protected] · +49 (0) 861 166 17 27

Text: Megan McGary

Cover- und Umschlaggestaltung: Catrin Sommer – rausch-gold.com Bildmaterial: Shutterstock.de – @Charlie Rosenberg,

@Igor Normann

Lektorat: Alex Wegler

Korrektorat: Mila Erichson

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Druck: CUSTOM PRINTING

Wał Miedzeszynski 217, 04-987 Warszawa, Polen

Immer noch für dich, Mikey.

Thank you for always waiting.

Kapitel 1

Hundstage

🐾

Du, du und du.« Der Zeigefinger von Frau Doktor König hackt Löcher in die Luft, und drei Minuten später schließt Heidi grinsend hinter Jenny, Joe und Artemis ab. Die Zeiten, als Türschlösser nicht überprüft wurden, sind definitiv vorbei.

Die Zeiten, in denen wir unkommentiert jeden blöden Spruch von einer mäßig begabten Pflegekraft hinnehmen, allerdings auch. »Na, ob wir die jemals wiedersehen?«, sagt Heidi und wackelt mit den Augenbrauen. Wildes Gebell hallt von den Wänden, einundzwanzig Hunde stehen an den Zwingertüren Spalier.

»Ein Glück, drei weniger! Dachte schon, wir müssten wegen Überfüllung schließen!« – »Wann gibt’s endlich Abendessen?« – »’S is’ grade mal Mittag, du Hajopei!« – »Tür zu, es zieht!« – »Alter, geht’s noch! Bei der Hitze zieht nichts!« – »Hat mal einer ’n Eis?« – »Kann mal jemand die Klima reparieren?« – »Matze, mach was!« – »Wieso eigentlich Joe?« – »Können wir nicht lieber Pommes hergeben?« – »Genau, die Loser zuerst!« – »Matze, es langt jetzt!« – »Gewerkschaft, aber dalli!«

Unser Alpharüde spricht eins seiner üblichen Machtworte: »Ruhe im Karton! Weg da, du Dumpfmops! Glaubt ihr vielleicht, ich bin hier der Personalchef?«

Das Wägelchen mit den Hunden verschwindet um die Ecke, und kurz darauf öffnet sich die Fahrstuhltür. Und schließt sich wieder. Wäre hier nicht der infernalische Krach, der sich trotz Matzes Intervention nur langsam legt, könnte ich hören, wie die Kabine mit den Kollegen durchs Haus saust. Nach unten, weil, nach oben geht ja nicht: Wir bewohnen das Penthouse.

Letzteres ist neuerdings ein Quell ständiger Unbill, und das gleich in mehrfacher Hinsicht.

Es ist warm. Normalerweise atmen wir gefilterte Luft, wohltemperiert und befreit von allem, was Hundenasen irritieren könnte.

Schade ist das, denn mit Gerüchen könnte man sich so schön beschäftigen. Mein Blick wandert zur Tür, zum wohl fünfhundertsten Mal an diesem Tag, und dann zu den Oberlichtern. Jenseits von gewölbtem Plexiglas spannt sich ein wolkenlos blauer Augusthimmel über dem Firmengelände auf. An den Rahmen brechen sich die Sonnenstrahlen und zaubern zartbunte Prismen auf den Boden. Ob man die Kuppeln öffnen kann? Nötig wäre es, denn es müffelt. Die Klimaanlage bei Müller-Löweneck hat noch andere tolle Features, als nur die Temperatur zu regeln.

Kollektives Hecheln erfüllt die Anlage. Hundstage. Eine so dämliche Bezeichnung können sich auch nur Menschen ausdenken, aber angeblich hat es etwas mit einem Sternbild zu tun. Ich halte das für eine Schutzbehauptung; nur eine Sache mehr, die uns in die nicht vorhandenen Schuhe geschoben wird. Jedenfalls: Wenn ich unter solchen Bedingungen leben wollte, wäre ich in Dubai aufgewachsen! Oder direkt an einem Hochofen.

Für die Leute, die jeden Mittwoch vor unserem Firmentor demonstrieren, hätte ich einen heißen Tipp: Vielleicht könnte man mal ein paar der Wissenschaftler gegen Haustechniker austauschen. Das wäre auf jeden Fall ein Fortschritt.

Ich bin Pommes, gestatten, Laborbeagle.

Es ist voll geworden in unserem Penthouse, der Abteilung für Versuchshunde im obersten Stock von Müller-Löweneck. Die Tatsache, dass seit zwei Wochen in jedem Abteil des Zwingers mindestens ein Hund mehr wohnt, sorgt für gewisse Spannungen. Für jeden, der geht – so wie Jenny, Joe und Artemis – kommen zwei Neue. Zuletzt eine Gruppe Hündinnen mit Blumennamen und einem IQ knapp über der Wurzeltiefe selbiger. Rose, Daisy und Violet haben den Wortschatz von Internatsschülerinnen mit Vierer-Abschluss: Alles ist meeega und zucker und uuuuiii, wenn nicht sogar hyper.

Die anderen reagieren so, wie Frauen reagieren, wenn ihnen frischere, hübschere Geschlechtsgenossinnen vor die Nase gesetzt werden: mit Zickenkrieg. Als ob die Langeweile nicht schon schlimm genug wäre! Echt blöd, dass wir nach der Sache mit dem Chef zu nichts mehr zu gebrauchen sind, aber leider gibt es außer der ständigen Rudel-Neusortierung nichts für uns zu tun. Nie habe ich mehr bedauert, dass die Ära der einfachen Türschlösser Geschichte ist. Vermutlich wurde die ganze Schließanlage ersetzt. Noch etwas, was mir anzulasten ist. Ich frage mich, was sie der Versicherung erzählt haben – wahrscheinlich irgendwas über Marta, die bei Wasser und Brot im Kittchen sitzt.

Einer der Neuen rempelt mich an. Platz ist genug, wir sind nur zu dritt in unserem Abteil gleich am Eingang, aber er kann es nicht lassen und drängt mich ab. Wäre es nicht so schwül, würde ich mich drüber aufregen, aber so knurre ich nur ein bisschen und rücke einfach ein Stück zur Seite. Es reden ja alle von Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung. Ich entscheide mich klug und schone die Ressource »Nerven«. Nämlich meine.

Er sieht trotzdem durch mich durch. Dann tritt er volle Kanone gegen meinen Wassernapf, dass die warme Plörre nur so über die Fliesen spritzt.

Und ich dachte, Matze wäre der größte Raufbold unter dem Dach der Müller-Löweneck AG.

So was passiert neuerdings dauernd. Sie klauen mein Futter, pflanzen sich auf meinen Lieblingsplatz, pinkeln genau da hin, wo ich liegen will und tackeln mich weg, wenn Nike Streicheleinheiten verteilt. Um das Futter ist es nicht schade – schmeckt wie Turnschuh auf Toast. Der Ausflug in die echte Welt hat meine Geschmacksnerven ruiniert (oder wachgekitzelt, je nach dem), und verhungern lassen sie mich schon nicht. Aber das Gestreicheltwerden fehlt mir.

»Mach Platz, Blödolm«, sagt Mr. Snuggles, der nicht halb so niedlich und gemütlich ist, wie sein Name suggeriert. Wir liefern uns einen Anstarrwettbewerb, aber dass ich verliere, war eigentlich gleich klar. »Bin kein Blödolm, Blödolm.«

»Bist du wohl. Ein Blödolm.«

»Bin ich …« Nicht dagegenhalten ist schließlich auch keine Lösung. Snuggles guckt mich irgendwie auffordernd an. Im Geviert nebenan richten sich Rania und Alia gespannt auf. Sie hoffen auf eine Unterbrechung der Ödnis. Matze dreht sich weg und tut, als hätte er nichts bemerkt.

Mir ist es auch zu anstrengend. Ich trolle mich in die Ecke – leider ist es die in der vollen Sonne – motze leise vor mich hin und resigniere ein bisschen. Wenn es warm ist, wird man träge. Darin unterscheiden sich Hunde kaum von Menschen.

Ruhe kehrt ein. Aus halbgeschlossenen Augen beobachte ich den Saugroboter, der brummend über den Gang fährt und die Beaglehaare aufkehrt. Früher hat Nana das gemacht. Jetzt kommt sie viel seltener.

Ich vermisse Nana. Oft hat sie sich vor mich hingehockt und mir über den Kopf gestreichelt, so wie Menschen das machen, wenn sie einen aufmuntern wollen. Das könnte ich gerade gut gebrauchen. Nana sieht aus wie Beyoncé, gurrt wie eine Silbertaube und verbringt die Hälfte ihrer Arbeitszeit mit Hundeknuddeln. Vermutlich wird sie genau aus diesem Grund allmählich gegen den rundlichen Typ mit dem sonoren Gebrumm ausgetauscht.

Man könnte sich auf das Ding draufsetzen und ein paar lustige Runden drehen, wenn …, ja, wenn die Türen nicht neuerdings gesichert wären wie die Kellerräume in Fort Knox.

Snuggles macht mit Matze gemeinsame Sache, um an einen der begehrten Schattenplätze zu kommen. Am Ende liege ich enttäuscht und hechelnd in der Knallsonne, kann fühlen, wie ich dehydriere, und schwanke zwischen Wut und Traurigkeit.

Früher war das nicht so. Früher, nachdem ich von meinem Ausflug in die echte Welt zurückgekehrt bin, war ich ein Rockstar. Einer, an dessen Lippen alle hängen. Einer, dessen Geschichten man verzückt lauscht. Einer, auf dessen Expertise man Wert legt: Wie sieht es draußen aus? Wie riechen Veilchen wirklich? Ist Maulwurfskacke essbar, und wie fühlt sich eigentlich Wetter an?

Jetzt sind sie neidisch auf meinen Vorrat an echten Erlebnissen, und sie sind sauer, weil ich eine besondere Begabung habe: Ich kann mit Max reden, unserem Chef.

Eigentlich ist Max derjenige mit der besonderen Begabung. Ich kenne niemanden außer Max, der mit Hunden kommunizieren kann. Ich weiß nicht, wie das funktioniert, aber ich kapiere, wie er denkt und verstehe, was er sagt. Und umgekehrt.

Dummerweise blieb diese Fähigkeit nicht unbemerkt: Beagle sind nicht doof, jedenfalls die meisten. Und ruckzuck erlebte ich ein dramatisches Downgrade: vom Helden zum Kollaborateur. Vom begehrten Gesetzlosen, dem Ausbrecher-Idol mit Superstarpotential, zum Canis non grata. Kurz gesagt: Ich bin ein Doppelagent.

Was Max ist, weiß ich nicht genau.

Er hat gesagt, unsere Entlassung sei beschlossene Sache. Er hat gesagt, dass der Tierschutzverein sich um uns kümmert. Aber das war Ende Juni, und nichts ist passiert.

Stattdessen wird es immer voller.

Es könnte sein, dass Max einfach einer ist, der sein Wort nicht hält.

Dabei hat Max mir von Anfang an keine richtigen Firmengeheimnisse anvertraut. Und ich erzähle ihm auch nicht jeden blöden Spruch weiter. Nur die Verbesserungsvorschläge, die anfangs an mich herangetragen wurden. Jetzt wäre es für die meisten die beste Verbesserung, wenn ich nicht mehr da wäre.

Nike kommt und verteilt frisches Wasser. Am liebsten würde ich mich in den Napf legen, aber die lebhafte Vorstellung, wie Matzes Reaktion darauf ausfallen würde, hält mich davon ab. Warum wir nicht wenigstens ein Planschbecken haben können, erschließt sich mir nicht, auch wenn ich gar nicht so auf Wasser stehe. Jedenfalls: Das mit den offenen Türen wurde sofort verworfen. Okay, nicht alle Verbesserungsvorschläge ergaben Sinn. Aus Sicht des Unternehmens.

Aus Sicht der Hunde schon: Ich denke an die Liste. Für den Fall, dass ich hier irgendwann ein- und ausgehen kann wie durch eine Drehtür, hat sich jeder überlegt, was er von draußen haben will.

Joe wollte immer ein Bällchen. Ich hoffe, er hat da, wo er jetzt ist, einen Ball. Joe vermisse ich noch mehr als Nana.

Ansonsten reden wir einfach, Max und ich. Sechsundsechzig Tage braucht man, um Gewohnheiten zu ändern; das weiß ich aus dem Fernsehen. Neue etablieren geht schneller: Max und ich haben das in zwei Wochen geschafft. Anfangs erschien Max unregelmäßig, immer nach Feierabend, nachdem das Haus sich geleert hatte. Dabei blickte er über die Schulter in Richtung des Flurs der Chefetage, die praktischerweise nebenan liegt, als befürchte er, ertappt zu werden. Dabei ist um diese Uhrzeit gar keiner mehr da.

Manchmal kommt er noch später, nach Meetings. Max achtet jedes Mal sorgfältig darauf, dass die Schleuse sich schließt. Er lockert seinen Hemdkragen oder die Chef-Krawatte (die er jetzt oft trägt) und lässt sich mit einem charakteristischen Ich-trage-die-Welt-auf-meinen-Schultern-Seufzen auf dem Boden nieder, um zu quatschen.

Aus den gelegentlichen Stippvisiten wurde im Laufe der Zeit ein Ritual. Mittlerweile halte ich ab sieben Uhr abends nach ihm Ausschau. Ich glaube, er braucht das. Er hat versucht, mit den anderen zu kommunizieren – vergeblich. Die Hunde halten uns beide für bekloppt, aber das nehme ich in Kauf. Max erzählt mir fast alles, jedenfalls hat er das einige Wochen lang getan. Er ist der neue Kapitän auf dem Müller-Löweneck-Dampfer, und seit einer Weile habe ich das Gefühl, dass das Schiff schlingert.

Max hat so was wie Liebeskummer. Wegen Jacki. Max steht auf Jacki, die Kriminalbeamtin. Er will mit ihr ausgehen. Ich fand es niedlich, wie er sich auf die Verabredung zum Essengehen vorbereitet hat. Er hat sich darauf gefreut. Nein, er hat dem Abend entgegengefiebert.

Er hat sie dazu überredet, mit ihm Essen zu gehen, aber dann kam etwas dazwischen. Beim nächsten Versuch kam ihr etwas dazwischen. Und beim dritten Termin war irgendwas anderes. Eine vierte Verabredung gab es nicht mehr.

Mich macht der Rest der Meute dafür verantwortlich, dass aus unserem Penthouse das Hauptquartier der Langeweile geworden ist, der Olymp der Ereignislosigkeit.

Max und ich sind wahre Leidensgenossen.

Wie man sich denken kann, kommen Beagle mit Unterbeschäftigung nicht gut klar. Bevor einem hier drin die letzten Gehirnzellen wegbröckeln, beschäftigen wir uns selbst. Vor einigen Wochen hat das zu wilden Partys und interessanten Entwicklungen geführt, und seitdem sinnen alle darüber nach, wie man das wiederholen kann.

Die Chancen stehen schlecht, insbesondere, weil Frau Doktor König jetzt hier regiert.

Grundsätzlich sind wir wertvolle Forschungsobjekte, die unabdingbar sind, um lebenserhaltende Medikamente zu entwickeln. Im Penthouse wohnt, wie man es erwartet, die Crème de la Crème der Versuchstiere von Müller-Löweneck. Man könnte sagen, dass wir das vierbeinige Äquivalent zu den Kirschen auf der Sahnetorte sind: besser geht nicht.

Faktisch… faktisch war das mal so, bis zu dem Moment nämlich, als eines Freitagmorgens Richard von Löweneck, der damalige Chef, tot und ermordet vor unserem Zwinger lag. Der unschöne Abgang des Oberbosses hatte unabsehbare Folgen. Vor allem für die Forschungsreihe, denn die war plötzlich nichtig.

Seitdem lungern wir hier herum und schlagen die Zeit tot.

Ein Hausmeister kommt und fummelt eine Weile am Stromkasten herum. Den Fehler kann er nicht finden, und so hängen wir lustlos ab, bei fast hundert Grad im Schatten, flach auf die Fliesen gedrückt und mit möglichst wenig Aktivität. Irgendwann wird die Sonne ja hoffentlich mal untergehen.

Für den Moment hat die Warterei ein Ende, denn mit dem Fauchen der Schleuse und einer angenehmen Brise gekühlter Luft aus der Chefetage rauscht Frau Doktor König in den Zwinger, eskortiert von Heidi, dem empathielosesten Tierpfleger aller Zeiten und gefolgt von der anderen Ärztin, Frau Bergen, mit ihrem Klemmbrett.

Von Jenny, Joe und Artemis ist nichts zu sehen.

Es ist Futterzeit, und Heidi kippt vorbereiteten Trockenfraß in die Näpfe.

König sieht zu, sieht sich um und verschränkt die Arme. »Wissen Sie was, Herr Heidinger?«

»Nee«, sagt Heidi folgsam und guckt dämlich, »wat denn?«

»Diese Hunde sind fett, träge und insgesamt eine Schande.«

»Jawoll, Frau Doktor«, sagt Heidi, dieses Schaf im Wolfspelz, und nickt. Die Bergen nickt auch und notiert etwas auf ihrem Zettel.

»Wie konnte es so weit kommen! Wie stehen wir denn da! So geht das nicht. Ab sofort weht hier ein anderer Wind.«

»’N bisschen Wind fänd’ icke für meinen Teil ja nich’ schlecht«, murmelt Heidi und schiebt die Ärmel nach oben.

Frau König sieht aus wie frisch aus der Maske und blinzelt Heidi irritiert an.

»In dem Zustand nimmt sie uns keiner ab. Rufen Sie diesen Trainer herbei. Sport und Diät. Ab morgen. Sonst werden wir die nie los.«

Das kollektive Zusammenzucken entgeht ihr.

»Natürlich, Frau Doktor.« Er zieht die Ärmel wieder runter und wischt sich über die Stirn. Schweißperlen glitzern dort.

König dreht sich auf dem Absatz um, zackig, rank und schlank wie eine Weide, vom Gewicht her nicht mal die Hälfte von Heidi, und streift beiläufig die blinkende LED-Anzeige auf der Brücke. Ihr Blick ist ebenso kühl wie ihre Ausstrahlung. »Und machen Sie der Haustechnik Beine. Die Klimaanlage ist kaputt. Bis ein Techniker kommt, der seinen Beruf beherrscht, lassen Sie sich was einfallen.«

Sobald sie weg ist – ZISCH!, macht die Schleuse, und abermals fächelt ein winziges, zartes Lüftchen zu mir heran – verzieht Heidi sein Boxergesicht und äfft die leitende Tierärztin nach. »Lassen Sie sich was einfallen, sagt se«, motzt er und gräbt in seinem Kabuff vergeblich nach einem undefinierbaren Gegenstand, »’türlich icke. Is’ ja auch sonst keener da. Wat bin denn icke? Der Pannendienst?«

Heidi praktiziert wie üblich real existierenden Dilettantismus. Er grummelt vor sich hin und schiebt seine knappe Tonne Lebendgewicht in Richtung Putzschrank, Nana-Territorium, bis er gefunden hat, was er braucht. Mit triumphierendem Grinsen stößt er eine Eisenstange in die Luft. Er hält sie wie einen Kampfspeer und trabt damit zu den Oberlichtern. Heidi ist ein Kerl wie ein Baum (allerdings nicht weidenmäßig wie Frau Doktor König, mehr so Typ »deutsche Eiche«, mit reichlich Jahresringen), aber er muss sich ziemlich recken. Nach viel Gestöhne und Geruckel öffnet sich die Haube. Spätsommerliche Luft wabert in den Zwinger.

Einundzwanzig Hunde atmen auf. Und durch. Wenigstens etwas. Heidis Laune bessert sich schlagartig, denn nach der Vollzugsmeldung, die er der Chefin über sein Diensthandy zukommen lässt, kann er Mittag machen. Der Ausblick auf seine geliebten Stullen scheint ihn zu beflügeln, und weil er gut drauf ist, pfeift er: Old MacDonald Had a Farm.

Meine Laune kann schlechter nicht werden. Wenn Heidi gleich anfängt, die Tiergeräusche nachzumachen, beiße ich ihn in die Wade: Ia-ia, ho.

Snuggles tritt mir auf den Schwanz, dann in die Rippen. Versehentlich. Ist klar. Ich jaule, und er hebt die Lefze auf eine Weise, die einfach nur fies ist. Als ob er grinst. »Mach Platz, Schnulli«, raunzt er.

»Selber Schnulli«, brumme ich.

Hinsichtlich der Sache mit der Laune habe ich mich geirrt.

Plötzlich offene Oberlichter haben Vor- und Nachteile.

Durch den Spalt dringt ein Potpourri an Wohlgerüchen. Es ist der Duft der großen weiten Welt, der die Zwingeranlage flutet, und auch, wenn hier knapp unter den Wolken nicht alles von unten ankommt, hat der Beagle an sich doch ein Duftgedächtnis – ein archaisches Wissen, das in den Genen liegt und das kein Laborhundezüchter der Welt aus uns herausfriemeln kann. Übrigens ebenso wenig wie den Jagdtrieb, auch der ist dem Beagle in die Hirnwindungen geknuspert.

Einundzwanzig Hundeschnauzen gehen nach oben. Einundzwanzig pechschwarze Nasenspiegel veranstalten ein olfaktorisches Synchronschwimmen. Zweiundvierzig Nasenlöcher blähen sich. Vor dem Tor scheint neuerdings eine Currywurstbude zu stehen. Brötchen auf Rädern – was könnte es Schöneres geben? In der Siedlung gegenüber grillt jemand. Aus der Kantine – nur ein Stockwerk tiefer – dringt Waffelduft herein, und irgendwo fährt jemand Gülle. Wie köstlich, wie vielversprechend! Ein Hauch von Kerosin – aha, der Postflieger! – rundet das Konglomerat ab. Einige meiner vierbeinigen Kollegen schmatzen, so wie man es als Kerl normalerweise nur tut, wenn eine läufige Hündin in der Nähe ist. Nicht, dass wir hier oben heiße Hündinnen hätten – dann wäre das Tohuwabohu ja noch größer – aber trotzdem: Millionen von Riechzellen tanzen Tango, Salsa und Rock’n’Roll gleichzeitig.

Lassen Sie uns kurz über Beaglenasen reden. Gerüche machen was mit Beaglenasen, und Beaglenasen sind legendär. Ganze Welten liegen in den Gerüchen; wer wüsste das besser als ich. Mag sein, dass wir hier drin nicht sonderlich gut trainiert sind. Mag sein, dass Übung den Meister macht. Aber der leichte Wind weht Möglichkeiten in das Penthouse, Andeutungen, Versprechungen, und das lässt sich hier keiner entgehen. Aus einundzwanzig Hundeschnauzen läuft der Sabber, und nach zwei Minuten andächtigen Schnüffelns fängt der erste vor Sehnsucht und Begeisterung an zu heulen. Alle anderen fallen ein, und glauben Sie mir: Es wackeln die Wände.

Natürlich lasse ich mich davon anstecken. Ich habe schon ganz andere Sachen erlebt und einen ganzen Fundus an Abenteuern; einen Gedächtnisschatz, auf den ich zugreifen kann, wenn mir langweilig ist, aber versuchen Sie mal, sich einer Massenekstase zu entziehen!

Übrigens ist es kein Widerspruch, dass Hunde nach drei Sekunden vergessen haben, was vor drei Sekunden passiert ist, aber trotzdem über ein voll funktionstüchtiges Langzeitgedächtnis verfügen. Im Langzeitgedächtnis speichern wir die wichtigen Sachen. Leider ist in dieser Hinsicht bei Laborhunden nicht allzu viel Schickes zu holen, und das macht mich hier zur Ausnahme, zum Primus inter Pares. Das ist es, was die anderen mir vorwerfen: den Trip in die echte Welt. Anfangs habe ich die Erinnerungen an meinen dreitägigen Ausflug geteilt, aber mittlerweile könnte ich auch aus der Ilias rezitieren – hätte den gleichen Effekt: Sie trauen mir nicht mehr. Sie schneiden mich. Es wäre ihnen lieb, wenn ich weg wäre, denn es quält sie. Es wäre mir lieb, wenn ich weg wäre, denn in meinem Herzen wohnen Sehnsucht und der verzweifelte Wunsch nach mehr, aber was mich hier hält, ist Laura. Ohne Laura kann ich nicht leben.

Durch den Spalt am offenen Dachfenster taumelt ein Schmetterling. Anscheinend ist das kleine braune Ding die Vorhut, denn es folgen weitere nach. Dem Schmetterling – Brauner Bär heißt er, unglaublich, aber wahr – folgt eine Hummel.

Die Hummel entpuppt sich als suizidgefährdet: Sie stürzt sich ohne Umstände in den Wassernapf der Blumenmädels. Violet tickt dermaßen aus, dass sie den Schmetterling abschießt, und dann kreischt Daisy los: »Iiihhh! Da ist etwas in meinem Essen! Nimm es weg! Nimm es weg!« Sie gibt würgende Geräusche von sich, schreit nach Matze und läuft, ich schwöre es, grün an. Matze hebt die Pfoten ans Gitter und bellt. In den Lärm mischen sich panikartige Untertöne, das Gebell wird schrill. Die Schmetterlinge flüchten. Rose rettet der armen Hummel das Leben, indem sie unabsichtlich Iris in die Schüssel schubst, und Iris heult, weil ihr Fell nass wird.

Dreißig Sekunden später erscheinen Heidi, Max und Frau Doktor König. Im Laufschritt. Nachdem die Schleuse endlich passiert ist (Heidi prallt in vollem Lauf gegen Max, der gegen die Tierärztin donnert, und Heidi entschuldigt sich wortreich), staunen sie bebende Beaglekörper in Habachtstellung an, gruppiert unter vier Plexiglaskuppeln. Durch den Gang summt – möglicherweise ein wenig atonal – eine Hummel mit Schlagseite.

Max von Löwenecks Miene durchläuft eine interessante Bandbreite von Stimmungen. Während seine Gesichtsfarbe einen höchst bedenklichen Ton annimmt, presst er hervor: »Welcher Vollidiot hat die Fenster geöffnet?«

»Ähm«, sagt Heidi, aber Max hat bereits genug gehört. Er raunzt Heidi an: »Wenn Sie das nächste Mal meine Hunde in den Wahnsinn treiben wollen, sagen Sie vorher gefälligst Bescheid! Vorzugsweise, wenn zur Abwechslung mal kein wichtiges Meeting auf der Agenda steht! Kriegen Sie das hin?«

»Wat, icke? Weeß nich’«, stammelt Heidi.

Max und Doktor König sind adrett angezogen und geben ein hübsches Paar ab, aber beide wirken angespannt. Doktor König hält zu Max. »Herrgott, Heidinger, nun seien Sie doch nicht so tranfunzelig! Fenster zu! Aufräumen!«

»Jawoll«, sagt Heidi.

Max telefoniert schon. Er drückt sich nicht gerade so aus, wie man es von einem Konzernchef vielleicht erwarten dürfte, aber ich wette, bis zum Abend wird die verdammte Klimaanlage repariert sein.

Die Todessehnsucht der Hummel führt das Insekt schnurstracks in unsere Box, die von Matze und Snuggles dominiert wird. Der Brummer beendet seine irdische Existenz im Maul eines rauflustigen Versuchshundes. Auch das ist eine unschöne Veränderung: Der alte Joe hätte der Hummel stundenlang verzückt zugesehen und sie auf seinem Rücken spazieren getragen.

Der Angriff der Killerschmetterlinge hat mich verunsichert, und Max’ miese Laune tut ein Übriges, obwohl mir die Formulierung meine Hunde gut gefallen hat. Ich verstecke mich hinter Matze. Mein Blick fällt auf die Schleuse. Da tut sich gerade etwas Merkwürdiges: Auf der anderen Seite der Glastür steht eine Gruppe fremder Menschen. Eine Frau, die so klein ist, dass sie knapp die Kante des Glaseinsatzes erreicht, lugt zu mir hinüber. Ihr Gesicht ist das einer Porzellanpuppe, und für den Haarschnitt benötigte man todsicher Lineal und Zirkel. Neben ihr taucht ein hagerer, gutgekleideter Mann auf. Beide sehen irritiert aus.

Max stöhnt gepeinigt auf. Als er mit Doktor König die Zwingeranlage verlässt – ohne sich auch nur nach mir umzusehen – spricht das Püppchen ihn direkt an. »Sagen Sie: Womit experimentieren Sie hier? Tollwut?«

Kapitel 2

Neuigkeiten

🐾

König lächelt gezwungen, und Max wirkt, als hätte er Heidis Eisenstange verschluckt. Die Besuchergruppe wird zurück in den Gang komplimentiert. Schätze, sie sitzen gleich alle im Konferenzsaal.

»Wer waren die Leute?«, frage ich, als Max sich abends gegenüber meiner Box auf den Boden rutschen lässt, später als sonst und mit einem Gesicht wie sieben Tage Dosenfutter, aber solches von der billigen Art. »Ach«, sagt er, schüttelt den Kopf und winkt mit einer lahmen Geste ab.

Bei Heidi kann man an den Liedern, die er pfeift, ablesen, wie er drauf ist. Bei Max ist es die Getränkeauswahl. Er bringt immer etwas mit. Meistens ist es Milch. Nach einem Rüffel von Nike (»Wenn Sie das alles hier ernst meinen würden, würden Sie sich anders benehmen!«) schwenkte er vorübergehend um, auf Hafermilch, dann Sojamilch, aber begeistert war er von der veganen Variante nicht.

Heute trinkt er dunkles Bier aus einer Flasche mit Bügelverschluss. Vielleicht ist unser kleines Meeting nach Büroschluss eine Art Absacker für ihn. Wir pflegen eine Mini-Besprechung über die neuesten News, und ich glaube, er braucht diese Updates mittlerweile genauso sehr wie ich.

Neuerdings fallen die Besuche vom Chef immer knapper aus, und ich registriere es mit Besorgnis. Überhaupt: Dass Max die vergangenen Wochen als neuer Geschäftsführer von Müller-Löweneck gutgetan haben, kann man beim besten Willen nicht behaupten. Wenn das in der Firma so weiter geht, kommt er demnächst mit einer Flasche Stroh-Rum hier an.

Er zerrt sich den schicken Zwirn von den Schultern und lockert seine Krawatte. Die Klimaanlage läuft wieder, aber es dauert wohl eine Weile, die übliche Temperatur wieder herzustellen. Die Handwerker sind erst vor zwanzig Minuten gegangen: Das Problem war größer als gedacht.

Max stützt stöhnend den Kopf in die Hände. »Glaubst du, es gibt eine Art Seminar? ›Pharmaunternehmensführung für Anfänger’ vielleicht? Oder ein E-Learning?«

»Ich glaube nicht«, sage ich vorsichtig. Er sieht fertig aus und tut mir ein bisschen leid, aber ich hatte auch nicht gerade einen Traumtag.

»Ich hätte ja eh keine Zeit für Fortbildung«, murmelt er.

Max will in den Gesellschaftervertrag aufnehmen lassen, dass Nachhaltigkeit und Tierschutz bei MüLö eine größere Rolle spielen, aber bisher beißt er damit bei den Aktionären auf Granit: Tierversuche abschaffen ist nicht unbedingt das Ziel einer Firma, die mit medizinischer Forschung ihr Geld verdient.

»Wie funktioniert eigentlich so eine AG?«, will ich wissen, und es interessiert mich wirklich.

Max’ Miene verfinstert sich noch mehr, und er sieht sich um, als könnte uns jemand belauschen. Aber die Aufregung des Tages hat den Vorteil, dass sich die anderen noch weniger um uns kümmern als üblich. »In Kurzform: Die Firma gehört mehreren Leuten. Der Aufsichtsrat will nicht unbedingt das, was der Vorstand will. Und die Hauptversammlung – also die Aktionäre – will vor allem eins: Beweise, dass genug Geld verdient wird. Man kann keinen Fliegenschiss allein entscheiden. Es geht die ganze Zeit um Kohle, und etwas zu verändern, ist fast unmöglich, weil jeder auf die Börsenkurse schielt.«

»Was willst du denn verändern?«

»Mann, Pommes, das weißt du doch.«

Max will keine Tierversuche mehr durchführen, sagt er. Weil das so einfach nicht geht, will er wenigstens die Hunde, Katzen und Schweine aus dem Unternehmen herausnehmen. Das kriegt er nie durch, denn offenbar spielt der Aufsichtsrat da nicht mit. Alternative Methoden sind teuer. Und unüblich. MüLö wäre mit einem Schlag ein Exot auf dem Weltmarkt, und sinkendes Vertrauen bedeutet sinkenden Umsatz. Sinkende Aktienkurse bedeuten weniger Dividende, und wenn ich eines über Menschen weiß, dann das: Keiner verzichtet freiwillig auf Geld, schon gar nicht, um ein paar Tiere zu retten.

Mit dem Vertrauen in die Firma ist es ohnehin nicht mehr weit her. Wenn Sekretärinnen Chefs mit Gift hinmeucheln, wirft das ein schlechtes Licht auf ein Gesamtpaket, bei dem es um lebensrettende Produkte für schwer erkrankte Menschen geht.

»Wer waren die Leute?«, frage ich erneut, weil mir etwas dämmert.

Max reibt sich die Stirn. »Die Konkurrenz«, sagt er, »Vertreter eines Firmenkonsortiums aus Österreich.«

Und jemand aus China. Kann man ja unschwer übersehen. »Ich denke über einen Verkauf nach.«

Ich reiße die Augen auf. »Du willst MüLö nach China verkaufen?« Aber dann geht es uns schlecht! Jeder weiß doch, was Chinesen mit Hunden machen!

»Nein. Ich will einen verträglichen Weg finden, denn so wie jetzt kann es ja wohl nicht weitergehen. Ich will Innovation, auch wenn’s Geld kostet. Frau Ping und Herr … Menschenskind, wie heißt der noch… irgendwas Hochgestochenes… egal. Sie sehen sich an, wie man das umsetzen könnte.«

Eine chinesische Hundehasserin und ein Nachfahre der Habsburger also. Wowhowhow! Ich würde durch die Schneidezähne pfeifen, wenn ich könnte, aber das funktioniert natürlich nicht. »Das kann ja heiter werden«, murmele ich.

»Eher nicht«, murmelt Max.

Ich muss darüber nachdenken.

Themenwechsel. »Wie geht’s denn mit dem Date?«

Max zuckt zusammen und setzt die Bierflasche an den Hals. Ich erkenne Übersprungshandlungen, wenn ich welche sehe. »Das mit Jacki?«, fragt er.

Oh. Verstehe: Er will Zeit gewinnen.

Es steht schlimmer, als ich vermutet habe. »Ich weiß ja nicht, wie viele tête-à-têtes du noch so hast, Mr. Ich-bin-der-begehrteste-Junggeselle-in-ganz-Mariental.«

»Keins«, sagt er, steht umständlich auf und klopft sich nicht vorhandenen Staub von seiner Geschäftsführer-Anzughose, »gar keins. Übrigens auch nicht mit Jacki.«

WTF?! »Aber ich dachte…«

»Fürs Denken bis du echt nicht gemacht, Alter.« Und weg ist er.

Mit offenem Maul starre ich ihm hinterher.

Nach dem ganzen Radau hat Frau Doktor König Nachtwache angeordnet. Zum Glück ist es Nike, die um zweiundzwanzig Uhr durch die Tür spaziert. Jetzt sitzt sie auf der Brücke – so nennen wir den kleinen Raum, von Heidi auch gern als Kabuff bezeichnet –, starrt ins Nichts und macht sich offensichtlich Gedanken. Ich hoffe, dass sie trotzdem ein Auge auf unser Wohlergehen hat.

Hunde haben die Fähigkeit, alles, was sie nicht interessiert, einfach auszublenden. Das Piepsen der Apparate, das Geplapper der Mädels, das Rauschen der Lüftung – all das nehme ich schon lange nicht mehr wahr. Ich schütze mich vor Reizüberflutung. Würde ich zuhören, was Kallisto und Artemis sich erzählen und was in den Köpfen der Blumenmädchen vorgeht – man könnte meinem IQ beim Sinken zusehen, und das möchte ich mir nicht antun. Schließlich bin ich eine Art Profiler.

Unsere Box liegt direkt am Kommandostand, und außerhalb der Geschäftszeiten läuft meistens die Flimmerkiste. Oder der örtliche Radiosender. Die Hälfte meines Wissens beziehe ich aus TV und Radio. Der Extraportion Bildung würde ich mich niemals verweigern!

Nike telefoniert mit ihrem dubiosen Freund und guckt dabei Netflix. Als geübter Serienkonsument identifiziere ich sofort, was geboten wird, und schalte für eine Weile ab: Ragnarök ist nicht meins, da geht es um fürchterliches Wetter. Ich mag lieber Downton Abbey. Und Bridgerton. Guckt Heidi immer. (Funfact: Heidi wäre gern Lord Grantham. Mit seiner Pingeligkeit ist er aber eher wie Carson, der Butler. Nur in unhöflich.)

Allerdings habe ich eine Art Suchfilter aktiviert: Bei bestimmten Stichworten klappen meine Ohren wie von selbst hoch, und ich bin von jetzt auf gleich voll da.

Das Stichwort, das mich elektrisiert, fällt nicht in der Glotze, sondern von Nikes hübschen Lippen. Es tropft wie duftender Honigtau von ihrer Zunge und verwandelt sich vor meinen Augen in Dynamit, denn mit manchen Begriffen gehen Assoziationen einher, und die Assoziation bei »ausländischer Investor« lautet: Tod und Verderben. Für uns alle.

Max hat mich belogen.

Nike ist der multitaskingfähigste Mensch, den ich kenne. Während sie spricht und in den Bildschirm schaut, beschäftigen sich ihre Hände mit einer Bastelarbeit. Was sie da fummelt, kann ich nicht erkennen, aber es riecht nach Klebstoff. Schnipp-schnapp, macht die Papierschere, deren lange, schmale Blätter im Licht der Arbeitslampe aufleuchten. Ich drücke den Kopf auf den Boden und lege die Ohren auf die Pfoten. Nike tratscht über Interna.

Ich bin empört: Das darf sie gar nicht! Schließlich gibt es vertragliche Verschwiegenheitsverpflichtungen! Die Bastelei scheint kniffelig zu sein, denn unsere Nachtschwester stellt das Handy auf Lautsprecher. »Und du kannst mir glauben, Schatz: Seitdem die König wieder da ist, gehen die Uhren hier echt anders, wei –«

Michas Stimme erfüllt die Brücke, als er Nike unterbricht. »Wie komme ich an ein Interview mit deiner Frau Doktor?«

Nikes Hände halten kurz inne, und sie faucht: »Woher soll ich das denn wissen? Gar nicht. An die kommt man nicht dran. Und bin ich vielleicht deine Sekretärin? Oder dein V-Mann?«

»V-Frau, wenn schon. Eine Klassefrau, übrigens. Weißt du doch. Du kannst was für mich tun, Babe.« Er klingt plötzlich charmant. Um Nikes Beziehung zu Micha steht es nicht gut, aber aus irgendeinem Grund hängt sie an ihm. Sie überlegt tatsächlich. Dann: »Sie hat ihr Kind tagsüber in einer Kindertagesstätte. Spatzennest, glaube ich, macht um fünf zu. Versuch’s halt mal da.« Das mit der Kita hat König Nike in einer Art Frauengespräch anvertraut, und Nike hat höflich, aber uninteressiert genickt. Der Solidarisierungsversuch ist Nike suspekt. Als ob Wissenschaftler und Pfleger von derselben Spezies wären.

»Gibt halt nie ein gutes Bild ab, wenn einer aus der zweiten Reihe nachrückt, der keine Ahnung vom Geschäft hat«, tönt Micha.

Ich weiß nicht genau, wie sehr der Mord am alten Boss der Reputation von Müller-Löweneck geschadet hat, aber das finde ich jetzt unfair. Ich grummele ein bisschen, und Nike dreht den Kopf und lächelt beruhigend auf mich herab.

Dass Max keine Ahnung hat, kann man nicht sagen. Der Mann ist halt Tierarzt, kein mit allen Wassern gewaschener Wirtschaftsjunkie, so wie Richard einer war.

»Dafür hat der doch seine Leute«, widerspricht Nike. »Jedenfalls laufen hier so viele Anzugträger rum wie noch nie, inklusive er selber.«

»Macho-Maxe im Anzug? Das würde ich gern sehen!« Micha lacht. Micha ist ein Großmaul. Und Chefredakteur beim Marientaler Anzeiger. Keine gute Kombination.

»Kannst du bald«, sagt Nike und klingt ein bisschen verträumt, weil auf der Mattscheibe jemand ein Liebeslied singt, »es gibt demnächst wohl ein Interview, im Morgenmagazin.«

»Die Talkshow? Ohne mich?« Micha ist pissig.

»Hättest halt deine Hausaufgaben machen müssen.« Nike, die reizende Meerelfe, kann auch fies.

Micha klingt nachdenklich. »Ein Fernsehinterview? Und da sitzt er dann neben dem Gesundheitsminister und jammert über die Notwendigkeit von Tierversuchen und dass es noch nicht genug Lobbyisten gibt? Na, da bin ich ja echt gespannt.«

***

Der Durchschnittsdeutsche geht um dreiundzwanzig Uhr vier ins Bett und steht um sechs Uhr achtzehn auf, auch das weiß ich aus der Glotze. Max sieht heute aus, als ob die Zeit dazwischen mit Lichtgeschwindigkeit vergangen ist. Seine erste Amtshandlung an diesem abermals hitzerekordverdächtigen Vormittag ist es, mit Frau Doktor König Einigkeit zu demonstrieren. Sie stecken die Köpfe zusammen und tuscheln zischend. König lächelt mit schräggelegtem Kopf, kurz und federleicht liegt ihre Hand auf seinem Arm, und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen: Doktor König gräbt Max an.

Ich lege meine Stirn in so viele Falten wie möglich, bis ich ganz sicher Ähnlichkeit mit einem Basset habe, und denke über Kausalität nach.

Auffallend ist, dass die König genauso übernächtigt aussieht wie der Boss, aber noch hoffe ich, sie tun es aus unterschiedlichen Gründen. Ansonsten sehe ich schwarz für Jacki, meine absolute Lieblingsperson. Aber im Ernst: Max und Frau Doktor König? Ich muss dringend mit Laura darüber reden. In Beziehungsdingen ist sie einfach cleverer als ich.

König sortiert weiter aus, und ich kann nicht erkennen, nach welchem System. Alle stehen wedelnd an den Türen, als ob ein besonders vielversprechender Ausflug angesagt wäre.

Sie will Sweetie, Smoothie und Tyson mitnehmen. Voller Begeisterung springen die drei auf. Wenn es mit dem Laborjob mal nicht mehr klappt, könnten sie sich glatt als Cheerleader bewerben. Mariental hat eine Footballmannschaft. Gar nicht mal schlecht: Amateurliga, GFL Nord. Hab ich im Fernsehen gesehen.

Mich streift die Cheftierärztin mit einem beiläufigen Blick, und weil ich nicht weiß, was hier läuft, bin ich aufs Höchste gefrustet. Ich blaffe sie ordentlich an, aber wie so oft kommt nur ein blöder Spruch: »Hallo, Kleiner, ja, ja! Du bist ein guter Hund. Pass du nur gut auf. Sorg du mal für Ordnung.«

Ob sie so mit ihrem Kind redet? In diesem debilen Singsang? Und das von einer Akademikerin, einer Veterinärmedizinerin, einer, die für ihre Sachlichkeit bekannt ist! Nicht zu glauben.

Mein absoluter Favorit auf der Unfassbarkeitsskala menschlichen Dumpfsinns ist reg dich doch nicht so auf, und heute kommt die Plattitüde wie erwartet von Heidi.

Professionelles Beleidigen will gelernt sein, und ich ziehe vom Leder, dass die Schwarte kracht. Max würde sich sicher kaputtlachen, aber er ist bereits in Richtung Chefetage entschwunden.

Heidi sieht mich sinnend an, als würde er Maß nehmen. »Sicher, dass man Beagleohren nich’ doch für irjendwat jebroochen kann? Für’t Polieren von Autolack vielleicht?«

Wie jemand, der mit seinem rötlichblonden Stoppelfeld auf der Birne aussieht wie das Sams, über kleine hübsche Hunde lästern kann, werde ich nie begreifen.

Hoffentlich kriegt Heidi niemals Nikes Schere in die Finger.

Ärzte und Pfleger unterscheiden sich voneinander. Pfleger sind zumindest rudimentär um unser Wohlergehen besorgt, außer Nike, die liebt uns aus ihrer ganzen reinen, gutmütigen Seele heraus und würde alles für uns tun.

Ärzte indes haben ein Forschungsziel vor Augen. Max bildet die Ausnahme und unterscheidet sich wiederum signifikant von Frau Doktor König, mit der er womöglich ein Techtelmechtel hat. Noch so eine Unbegreiflichkeit. Aber das würde immerhin erklären, warum er die Sache mit Jacki und dem Date nicht hinkriegt. Kausalität: die Basis der Kriminalistik. Kriminalistik ist mein Hobby. Ich wäre ein fantastischer Kriminalist geworden, aber ich wurde ja dazu verdonnert, in einem Versuchslabor zu sitzen, um täglich Proben sämtlicher Körperausscheidungen abzugeben. Augen auf bei der Berufswahl!

Doktor König sieht in uns nur eine Ansammlung von erforschungswürdigen Weichteilen und Parametern, eine Art Bausatz, der ihr die Ergebnisse liefert, die sie für ihre Arbeit braucht. Schätze, in nicht allzu ferner Zukunft werden zwei Doktortitel ihren Nachnamen zieren.

»Du bist so lost, Alter«, sagt Matze, als alle weg sind.

»Dumm wie Brot«, höhnt Snuggles, »oder soll ich sagen: Dumm wie Brötchen?«

Das ist jetzt gemein.

Es reißt eine alte Wunde in meinem Herzen auf, die sich niemals ganz schließen wird.

Ich hatte mal ein Brötchen.

Beagle sind grundsätzlich besitzstandorientiert, aber das Brötchen habe ich geliebt. Ich trauere ihm heute noch hinterher. Tyson hat es gestohlen, da bin ich mir sicher, auch, wenn die Tat unmöglich nachzuweisen ist.

Jetzt ist Tyson genauso weg wie mein Brötchen. Ob ich den Abgang der Supernervensäge positiv oder negativ bewerten soll, ist ein weiteres der unzähligen Rätsel der Menschheit, wie zum Beispiel, das am Fäkalienbecken unserer Hauskläranlage ein Rettungsring hängt. Wer sollte denn da drin schwimmen wollen!

***

Laura sieht die Sache pragmatisch. »Überleg doch mal, Lieber: Weniger Hunde bedeutet mehr Platz. Und vielleicht holt sie als Nächstes deinen Mr. Snuggles. Dann bist du ihn los, den alten Krawallbruder.«

»Er ist nicht mein Mr. Snuggles«, grummele ich. Sie stupst mich an, und ich gerate ein bisschen aus dem Tritt.

Wir wandeln durch das luftige Karree unseres Innenhofs, über uns der freie Himmel, an dem jetzt ein paar Wolken aufgetaucht sind. Hin und wieder gucke ich besorgt nach oben: Nach Hitze kommt meistens Gewitter, und vor Gewitter hab ich Angst. Aber noch sind die Wolken klein und hell.

Wenn Heidi nach dem Frühstück mit dem Wasserschlauch herumfuhrwerkt und die Boxen ausspritzt, dürfen wir in den Innenhof – mein Highlight des Tages, denn meistens treffe ich dort Laura. Im Patio spazieren dürfen ist wie Cabrio fahren: Wind, duftende Luft und Sonne. Laura ist mein Augenstern, die Dame meines Herzens, meine Freundin und große Liebe, meine Vertraute und einfach das schönste Schwein der Welt. Heute sieht sie frisch geputzt aus: Ihr Schnäuzchen duftet nach Marzipan, und die zarten, aufrechten Öhrchen leuchten, wenn das Sonnenlicht sie streichelt. Lauras Knopfaugen funkeln lustig: Sie freut sich, mich zu sehen. Ein schöneres Geschöpf als Laura gibt es auf der ganzen Welt nicht.

Die anderen Hunde feixen, aber das ist mir egal. Mit der Liebe ist das so eine Sache: Manchmal passt es nicht so gut – auf den ersten Blick –, aber die Gefühle sind umso tiefer.

Ich berichte ihr von meinen neuesten Erkenntnissen.

»Frau Doktor König und Max?« Sie lacht glockenhell. »Im Leben nicht! Die Frau Doktor hatte was mit Richard. Glaubst du wirklich, sie macht gleich mit dem nächsten Bruder weiter?«

Mir klappt die Kinnlade herunter. »Nicht dein Ernst!«

»Und ob.« Laura nickt, und in ihren Äuglein leuchtet Heiterkeit. »Du bekommst nicht allzu viel mit, oder?«

»Es scheint so«, murmele ich betreten. König und Richard? Gruselige Vorstellung. Hoffentlich liegt das Casanova-Gen nicht in der Familie, sonst wird das nichts mit Jacki, und dass das was mit Jacki wird, ist wichtig. Auch für mich.

Aber ich glaube schon, dass König scharf auf Max ist. »Wir müssen das im Auge behalten.«

Laura stimmt mir zu, und wir gehen zum nächsten Thema über. »Was meinst du, Liebste? Kann man Max trauen?«

Sie denkt nach, bevor sie antwortet. Das mag ich so an ihr. (Unter anderem. Ihr entzückendes Popöchen mag ich auch.) »Er ist hier der CEO. Natürlich liegt ihm das Wohl der Firma am Herzen. Aber ich habe gehört…«

Was Laura aufgeschnappt hat, klingt noch schlimmer als das böse I-Wort und lässt sogar Max’ Aussage in anderem Licht erscheinen: Müller-Löweneck steuert auf die Pleite zu.

Ich rege mich sofort auf. »Aber wie kann denn einer in so wenig Zeit eine ganze Firma zugrunde richten!«Wie lange ist Max da? Seit zwei Monaten? Ungefähr jedenfalls.

»Niemand schafft das in so wenig Zeit. Es liegt nicht an Max, Schnuffelchen.« Laura klingt sanft.

»Woran denn dann!« Mein Puls steigt, ich kann es fühlen, und hinter meinen Augen pocht es. Pleite! Pleite bedeutet, dass man seinen Hunden nichts mehr zu essen kaufen kann. Nicht mehr lange, und man wird uns mit Schlachtabfällen und altem Brot füttern, wie die armen Straßenhunde in Südeuropa. Das fein abgestimmte Futter vom Institut für Tierernährung wird ersetzt durch Billigmarken vom Discounter, die gemahlene Knochen enthalten und Allergien auslösen, weil genmodifiziertes Getreide drin ist, und uns wird das Fell ausfallen und wir kriegen Ekzeme an den Pfoten und Milben in den Ohren und wir werden Leberschäden bekommen und Nierenversagen und –

»Schatz«, sagt Laura und sieht streng aus, »beruhige dich.«

»Ich kann nicht!« Ich hyperventiliere. Futter ist ein sensibles Thema für einen Beagle. Matze guckt schon. Ich fahre mich herunter. Mühsam.

Wild blicke ich mich um und betrachte die anderen, die planlos abhängen, miteinander raufen und sich um nichts auf der Welt scheren; diese Langzeitahnungslosen.

Es gibt nur einen Weg, Müller-Löweneck zu überleben, ganz egal, was mit der Firma passiert: Wir müssen hier raus.

Und von diesem Moment an suche ich nach einem Fluchtweg.

Schon wieder.

Kapitel 3

Von neuen und alten Besen

🐾

Neue Besen kehren gut, sagt man, aber dieser Besen hat offenbar irgendein grundlegendes Problem: Es scheint sich um eine Fehlkonstruktion zu handeln.

In den ersten drei Tagen ist es meiner Mutter vier Mal gelungen, die gesamte IT-Abteilung gegen sich aufzubringen. Ich liebe meine Mutter, aber es wäre mir lieber, sie würde sich nach wie vor zu Hause um den Garten kümmern und ihre Charity-Projekte vorantreiben.

Die Nachfolge von Marta gestaltete sich schwierig. Allem Anschein nach ist es eine besondere Herausforderung, eine kompetente Büromanagerin zu finden. Ich brauche eine Sekretärin, aber ich finde keine – was auch daran liegt, dass dank des Marientaler Anzeigers neuerdings die ganze Region weiß, dass bei Müller-Löweneck Tierversuche gemacht werden, noch dazu solche mit Hunden. Tierversuche, vor allem solche mit höheren Säugetieren, kommen in der Work-Life-Balance qualifizierter Sachbearbeiterinnen nicht vor.

Ich habe mich bemüht, zusammen mit der Personalabteilung, aber nach fünfmal vergeblich Probearbeiten und nachdem ich drauf und dran war, meine Briefe selber zu tippen – zu allem anderen! – haben wir Ellen reaktiviert. Sie hat das an der Seite meines Vaters schließlich jahrelang gemacht.

Aber das ist zwanzig Jahre her, und seitdem gab es nicht nur eine unschöne Scheidung, sondern auch gewisse Fortschritte im Unternehmen. In erster Linie, was die EDV anbelangt.

Mit dem Computersystem steht meine Mutter auf Kriegsfuß. Deshalb haben wir momentan zwei Frauen im Vorzimmer: Meine Mutter, und eine junge, clevere Angestellte aus dem Rechnungswesen, die ihr die Grundbegriffe von Windows, Word und Excel beibringen soll. Besonders bei Letzterem gehen meine Erwartungen gegen Null.

Mit gerunzelter Stirn sitzt meine Mom vor dem PC und spielt anscheinend Codewort-Bingo. In den Augen ihrer jungen Mitstreiterin erkenne ich leise Verzweiflung.

Ellens Gesicht hellt sich schlagartig auf, als sie mich sieht, aber leider verfinstert es sich gleich wieder. »Wir müssen reden, Sohn«, sagt sie, und wie ich aus über vierzigjähriger Erfahrung weiß, ist das die Einleitung zu einem Verhör, das sich gewaschen hat. Sie überlässt den Computer dem Mädchen und grapscht nach der Mappe mit der Post.

Mom lotst mich ins Chefbüro. Genaugenommen geht sie voran, und mir bleibt nichts anderes übrig, als zu folgen. Energisch schließt sie die Tür und zupft zielstrebig einen Briefbogen aus der Registermappe. Der dazu gehörende Umschlag ist mit einer Büroklammer daran befestigt.

Um bei dem Besen-Bild zu bleiben: Was Büroorganisation und Arbeitsabläufe anbelangt, ist meine Mutter der neue Nimbus 2000.

Mit spitzen Fingern hält sie mir das Blatt unter die Nase. »Das ist schon das zweite Schreiben dieser Art. Das erste hielt ich noch für einen Scherz. Aber nachdem jetzt noch eins aufgetaucht ist… Max, wir müssen die Polizei einschalten.«

Ich reibe mir übers Gesicht und setze mich auf die Kante meines Chef-Schreibtischs. Meine Mutter kann man nicht belügen. »Das war nicht der erste Brief«, sage ich deshalb, »und dieser hier ist nicht der zweite. Um der Wahrheit die Ehre zu geben… es handelt sich um Nummer vier.«

Seit ein paar Wochen trudeln spezielle Briefsendungen ein – adressiert an mich persönlich. Sollten Chefsekretärinnen persönliche Post öffnen? Ich hatte noch nie eine Sekretärin, ob Chef oder nicht, und bin mir daher nicht sicher.

Ellen sieht schockiert aus. »Maximilian«, sagt sie, und bei dem Tonfall wünsche ich mir augenblicklich, eine dieser Work-Life-Balance-Anhängerinnen eingestellt zu haben. Jene, die vor dem Personalgespräch möglicherweise ihre Think-Speech-Balance optimieren sollten, die Drei-Tage-Woche favorisieren und neben all der Freizeitplanung nicht im Traum darauf kommen, mehr zu tun, als unbedingt nötig ist.

»Das sind Morddrohungen!«

»Du übertreibst, Mutter.«

»Zumindest ist es Erpressung!«

»Ist es nicht.«

Ellen wedelt mit dem Corpus Delicti vor meinem Gesicht herum. »Jemand verlangt, die Firma zu schließen!«

»Das ist keine Erpressung.«

»Du klingst wie diese Carolin Benning. Die spielt auch immer alles herunter.«

Carolin ist eine unserer Firmenanwältinnen. Und Pressesprecherin. »Wirf einen Blick zum Tor: Da draußen stehen hundert Erpresser, deiner Definition nach.«

Erwartungsgemäß beißt meine Mutter sich fest. »Unterschätz das nicht! Es sind schon andere Geschäftsleute entführt worden! Und dann hat man sie in einer Kiste im Wald gefunden! Terror ist das!«

Ich kann nicht anders und verdrehe die Augen. »Mutter. Es reicht jetzt. Jemand schreibt ein paar Unartigkeiten auf einen Zettel und du vermutest ein Verbrechen?«

In ihren leuchtend blauen Blick tritt ein seltsamer Glanz, und sie greift zur ultimativen Keule: »Dein Bruder ist ermordet worden! Soll ich das etwa noch mal durchmachen?«

Ich seufze abgrundtief. Ich scheine dieser Tage oft zu seufzen, aber ich habe weiß Gott auch allen Grund dazu.

Ich gebe mich geschlagen, nicht, weil es meine Art ist, sondern weil es mir meine Mutter vom Leib hält, zumindest vorläufig, und rufe bei der Polizei an. Hat Jackis Dezernat eigentlich etwas mit möglichen Entführungsopfern zu tun?

Ich kann diese wesentliche Frage nicht weiter beleuchten, denn in meinem Kalender ploppt eine Erinnerung auf: das nächste Meeting.

Meetings sind die Pest. Besonders, wenn bestimmte Leute daran teilnehmen. Auf dem Weg in den Konferenzraum drehe ich mich noch mal um und briefe meine Mutter, die Office-Managerin, mich in spätestens neunzig Minuten zu retten: »Lass mich ja nicht hängen, sonst bin ich meinen Job los.«

»Bist du nicht«, sagt sie und lächelt optimistisch, »du bist der Boss. Auch, wenn du nicht so aussiehst.« Sie mustert mich mit leichtem Tadel. Wahrscheinlich macht sie als Nächstes einen Termin bei einem Herrenausstatter für mich, dabei halte ich meinen neuen, beinahe managermäßigen Haarschnitt bereits für den Gipfel aller Kompromisse. Ich bringe es nicht über mich, jeden Tag einen verdammten Anzug zu tragen.

Boss hin oder her: Länger als neunzig Minuten reichen meine Argumente auf keinen Fall.

***

Gegen Frau Ping wirkt M, der Leiter der Doppel-Null-Abteilung bei James Bonds MI6, geradezu verspielt.

Ellen nennt sie heimlich Chinagirl, aber Ping hat in Stanford promoviert und ist die Beste. Leider trägt sie ihren enormen IQ vor sich her wie ein Schutzschild, und von zwischenmenschlicher Interaktion hat sie keine Ahnung. Unterschätzen sollte man sie auf keinen Fall.

Sie ist auf meinen Wunsch hier. Oder jedenfalls auf Wunsch des Vorstandes, dessen Vorsitzender ich bin, auch wenn ich mich jeden Tag kneifen muss, um das zu glauben. Ich bin nicht der Typ, der Jobs macht, die er im Grunde hasst. Ich nehme es meinem Stiefbruder jeden Tag mehr übel, dass er die Dreistigkeit besessen hat, sich ermorden zu lassen.

Wir haben Ping engagiert, um Müller-Löweneck in eine glänzende Zukunft zu führen, am liebsten ohne mich. Leider sieht es so aus, als würde das ohne mich erst in ein paar Jahren funktionieren. Bis dahin gibt es viel zu tun, aber ich fürchte, wenn es endlich so weit ist, bin ich reif für die Klapse.

Ein Unternehmen führen zu müssen, das man ein Jahrzehnt zuvor verlassen hat, weil man nicht mit der Art klarkam, wie das Unternehmen geführt wurde, ist ein Fluch und eine Bürde.

Aber auch eine Chance.

Ich gedenke, sie zu nutzen. Bedauerlicherweise möchten mindestens drei der anderen Personen in diesem Raum, dass ich genau das unterlasse. Ich habe das Gefühl, die Teilnehmer unserer innigen Konferenz harmonieren ungefähr so gut miteinander wie VHS-Kassetten mit einem Blue-Ray-Spieler.

Das Pendant zu Frau Ping ist Herr Edelholzner, dessen Namen ich mir nur merken kann, wenn er wie jetzt auf dem laminierten »Visitor«-Schild an seinem Revers zu lesen steht. Edelholzner ist ein steifer Typ mit verkniffenem Gesicht und dunkel umrahmter Brille. In einem anderen Leben wäre er sicher gern Finanzbeamter geworden, oder vielleicht Steuerprüfer. Jemandem, der so redet, wie Hubert von Goisern singt, traue ich maximal die Teilnahme an den Europameisterschaften im Steinestapeln zu, aber er ist ein hochbegabter Wissenschaftler mit berechtigten Ambitionen auf diverse Forschungspreise. Außerdem ist er Vizepräsident einer Holding, die mit uns fusionieren möchte.

Witzigerweise – nein, in Wirklichkeit ist es überhaupt nicht witzig – handelt es sich genau dabei um den wichtigsten Tagesordnungspunkt unseres kleinen Meetings: das Geld. Und witzigerweise – wobei auch das keineswegs zum Lachen ist – wird Edelholzners Holding die Rettung aus unserer Liquiditätskrise sein.

Josi greift sofort an, und zwar mich, was ich ehrlich gesagt ziemlich verblüffend finde. Sie meckert, weil die Hunde im Penthouse kein Geld mehr einbringen, der Betrieb des Hundehauses aber Unsummen kostet. Das möchte sie ändern.

Ihre Vorstellungen kollidieren mit denen von Doktor König. Und denen meiner Mutter, die eben nicht nur Office Managerin, sondern auch Vorstandsmitglied ist. »Sie wissen, dass täglich diese ganzen Leute vor unserem Tor demonstrieren? Für einen Wandel in der Forschung? Und da wollen Sie diese ganzen Hunde euthanasieren?«

»Von den anderen Tieren gar nicht zu reden«, sagt Kathi. Wenn jetzt wieder die Grundsatzdiskussion über den Wert der verschiedenen Tierarten kommt, melde ich mich auf der Stelle krank.

Doktor Josefine Bergen windet sich. Direkte Konfrontation verträgt sie nicht gut. Ellen legt nach: »Sie müssen doch eine klare Position haben!«

»Zum Tierschutz? Habe ich ja. Wenn wir das nicht machen – also, die Projekte wie bisher bearbeiten – macht es jemand anderes.« Sie schießt einen giftigen Blick zu Ping. Ich habe bisher darauf verzichtet, ganz genau zu erläutern, in welcher Funktion die Dame mit dem fernöstlichen Touch hier ist. Meine Mitarbeitenden glauben, es hat was mit der Fusion zu tun. Stimmt ja irgendwie auch.

Josefine und Katharina sind gut in ihrem Job. Sie haben glänzende Karrieren hinter- und noch vor sich, und sie verkörpern einen bestimmten Typus Frau: sachlich, erfolgsorientiert, kühl. Vielleicht muss man so sein, wenn man wissenschaftlich arbeitet.

Auch Edelholzner sieht von einer zu anderen, als ob er einem Volleyballmatch folgt. »Und was stellen Sie sich da vor, Frau Doktor Bergen?«, fragt er.

»Es ist schlimm genug, dass die ganze Studie zerstört wurde. Man müsste die Ermittlungsbehörden eigentlich dafür haftbar machen.« Die polizeiliche Ermittlung – und die defekte Schleuse – nach Richards unschönem Tod vor dem Hundezwinger hat dazu geführt, dass der klinische Zustand, der für unsere Langzeitstudie unabdingbar war, nicht mehr hergestellt werden konnte. Seitdem können die Hunde im Penthouse nur noch zu Verhaltensstudien eingesetzt werden, und für ein paar andere rudimentäre Forschungszwecke. Der Verlust des ursprünglichen Forschungszieles hat uns Millionen gekostet. Wir müssen herausfinden, ob wir die bisher erlangten Ergebnisse noch irgendwie zu Geld machen können, sonst sieht es bald schlecht aus.

»Die meisten dieser Tiere sind am sinnvollsten eingesetzt, wenn man sie entsprechend verwertet. Mit den konservierten Strukturen kann man noch sehr viel bewirken.«

Katharina König ist entsetzt. »Nur, damit ich dich richtig verstehe: Du willst die Hunde aus der LZF um die Ecke bringen und sie stückweise weiterverkaufen?«

»So kann man das wirklich nicht ausdrücken. Wir halten hier keine Schoßhündchen. Das sind keine Haustiere, sondern Forschungsobjekte. Abgesehen davon arbeiten wir schon immer mit fixierten Präparaten.« Viele Versuchstiere werden bis zur letzten Faser verwendet. Sie sind zu teuer, um sie nach dem Tod einfach zu entsorgen, das weiß hier jeder.

Josefine Bergen klingt herablassend. Sie hat ihr Leben der Forschung gewidmet. Sie sieht die Dinge ein wenig anders als Kathi. Und ganz anders als ich. Ich sollte sie rausschmeißen, aber so einfach ist das leider nicht.

»Aber wir haben Kontakt zu einer Tierschutzorganisation!«

»Und die nehmen uns diese ganzen Objekte ab? Das glaubst du doch selbst nicht, meine Liebe.«

Edelholzner räuspert sich. »Werte Damen, Frau Kollegin, darum geht es nicht. Ihre ethischen Bedenken in Ehren, Frau Müller, aber ganz ohne tierisches Material ist Forschung noch nicht durchführbar. Sie sollten an den Fortbestand Ihrer Firma denken.«

Die österreichische Konkurrenz hat uns ein Angebot gemacht, das wir eigentlich nicht ausschlagen können. Dumm nur, dass alles, was wir im Hinblick auf einen Ausstieg aus den Tierversuchen bisher erreicht haben, dann hinfällig ist, denn Edelholzner hat an Alternativmethoden wenig Interesse. Es würde die Bilanz verschlechtern. Herrgott, wieso lässt sich denn kein anderer Partner finden! Wir brauchen mehr Zeit, aber die gibt es leider nicht.

Ich glaube an Karma. Das habe ich nicht erst in Ostafrika gelernt. Wir können nicht die ganze Welt retten, aber den Teil, der uns am nächsten ist. Und ganz besonders den Teil, der uns gehört. Ich weiß noch nicht, wie, aber ich werde mich hier durchsetzen. Ob das der richtige Weg ist, wird mir unter anderem Frau Ping sagen müssen.

Edelholzner wäre der richtige Partner für Müller-Löweneck, aber er versucht schon jetzt, quasi per Dekret, die Richtung vorzugeben. Allerdings muss ich den Typen ja auch nicht mögen. Es geht um die Firma.

Vielleicht ist die eine Stimme in meinem Kopf zu laut, um die andere noch zu hören. Die erste klingt schwer nach Pommes, und die andere schreit nach Sicherheit für das Unternehmen.

Nach sechsundachtzig Minuten, als ich zwischen dem kindischen Wunsch nach einem Wutanfall und dem sehr erwachsenen Verlangen nach einem Machtwort schwanke, greift Ellen wie gewünscht ein und behauptet, der nächste Termin stünde an.

Danke, Mom.

Kapitel 4

Mission impossible

🐾

Der Satz, der einen am zuverlässigsten in Schwierigkeiten bringt, lautet: »Ich mach das«. Ich habe ihn zu Laura gesagt, und somit ist er gleichsam in Stein gemeißelt, eine Verpflichtung für alle Zeiten, zumindest aber, bis die Mission erfüllt ist. Was man seiner Liebsten verspricht, ist bindend.