Ein Beagle kommt selten allein - Megan McGary - E-Book

Ein Beagle kommt selten allein E-Book

Megan McGary

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Beschreibung

Aufruhr bei Müller-Löweneck: Im Hundezwinger liegt eine Leiche! Wie gut, dass Pommes, ein Beagle besonders cleveren Gemüts, eigentlich Polizeihund werden wollte. Ungefragt greift er den Kommissaren unter die Arme. Leider handelt es sich bei dem Toten ausgerechnet um den Chef des Pharmaunternehmens, und ruckzuck gerät sein Nachfolger in den Fokus der Ermittlungen. Max ist ein Mann mit besonderen Talenten: Nicht nur, dass er es hervorragend versteht, sich zum Hauptverdächtigen zu machen - er kommuniziert auch auf ganz spezielle Weise mit Pommes. Aber wer ist denn eigentlich der Mörder? Gibt es für den blitzgescheiten Beagle ein Leben nach dem Tierversuch? Und wird das noch was mit Max und der Ermittlerin Jacki?

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Seitenzahl: 374

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ISBN: 978-3-98756-685-1

2023 Kampenwand Verlag

Raiffeisenstr. 4 · D-83377 Vachendorf

www.kampenwand-verlag.de

Versand & Vertrieb durch Nova MD GmbH

www.novamd.de · [email protected] · +49 (0) 861 166 17 27

Text: Megan McGary

Cover- und Umschlaggestaltung: Catrin Sommer – rausch-gold.com

Bildmaterial: Shutterstock.de – @Charlie Rosenberg, @Igor Normann

Lektorat: Alex Wegler

Korrektorat: Mila Erichson

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Druck: PRINT GROUP Sp. z o.o.

ul. Cukrowa 22

71-004 Szczecin (Polen)

Mikey, das hier ist für dich.

Thank you for always waiting.

Kapitel 1

Spaziergang

🐾

Es ist zwei Minuten vor vier an einem nebligen Freitagmorgen, als sich mein Leben grundlegend ändert.

Allerdings weiß ich das zu diesem unschuldigen, behaglichen Zeitpunkt noch nicht. Um mich herum bricht Gezeter aus, weil irgendetwas unsere Nachtruhe gestört hat, weshalb jetzt alle wach sind.

Fast alle. Ich hätte einfach weitergeschlafen, aber wie soll das gehen, bei dem kollektiven Gejammer:

»He, was soll das?« – »Wer ist denn da?« – »Habt ihr sie noch alle?« – »Matze, bist du das?« – »Tür zu!« – »Matze, mach was!« – »Licht aus!« – »Ich brauch meinen Schlaf!« – »Matze, verdammt!« – »Was ist das denn für ein Saftladen hier!« Das war Tyson. Er ist neu hier. Und eher tief- als hochbegabt.

Der Radau verstummt, nachdem Matze ein Machtwort geknurrt hat. »Ruhe jetzt, weiterpennen! Es ist nur der Chef!« Er wedelt ein bisschen.

Siebzehn Beagle drehen sich grummelnd im Kreis, wie man das als Hund so macht, wenn man eine neue Schlafposition sucht. »Ach so, nur der Chef.« – »Um diese Uhrzeit?« – »Unverschämtheit!« – »Hat der kein Zuhause?« – »Der Obertrottel!« – »Saftladen hier!«

Während Matze noch ein bisschen vor sich hin motzt, einen feldherrenmäßigen Rundumblick über das Rudel schweifen lässt, schließlich seine dicke Pfote über die Augen legt und innerhalb von drei Sekunden wieder im Land der Hundeträume ist, stelle ich fest, dass die Tür offen ist. Himmel, welche Hohlbirne hat denn … die Tür ist auf.

Die

Tür

ist

auf.

Das ist ungewöhnlich.

Ich erhebe mich leise, tappe nahezu lautlos über den glatten Boden, schnüffele mich nach vorn und stoße vorsichtig mit der Schnauze gegen den Rahmen, der leise klappert und sich ein Stück in die richtige Richtung bewegt. Ich mache einen schnellen Schritt nach hinten, damit die untere Kante mir nicht die Pfoten abrasiert. Zwingertüren gehen immer nach innen auf.

Und sind normalerweise abgeschlossen.

Besonders nachts.

Nachts sind wir unter uns.

Um mich herum herrscht wieder Ruhe, abgesehen davon, dass Pauli und Joe ratzen und sägen, was das Zeug hält. Die beiden haben garantiert was mit den Nebenhöhlen; so schnarcht doch kein Hund, der was auf sich hält. Pauli träumt. Seine Pfoten zucken wie ein DJ auf Speed.

Matze verarbeitet den Arbeitstag, indem er im Schlaf knurrt und mit den Lefzen wackelt. Warum ausgerechnet ich mit dem größten Rabauken diesseits des Äquators zusammengesperrt worden bin, weiß der Himmel.

Ich bin ein ausgesprochen feinsinniger Hund. Ich bin sogar musisch interessiert. Zum Beispiel kann ich zehn verschiedene Punk- und Metal-Bands schon am Intro auseinanderhalten.

Diese Feinfühligkeit ist es, die mich eine Minute lang nachdenken lässt, statt aufzuspringen und rauszurennen und eine kleine Tournee durch das stille Institut anzutreten: einen Trip in die Menschenwelt.

Das Personal geht abends nach Hause und kommt erst morgens wieder. Gestern Abend war doch die Tür zu? Oder? Egal. Jetzt ist sie auf, und nur das zählt.

Ich könnte jetzt anschlagen und die ganze Meute wieder aufwecken. Dann würden alle hektisch durch ihre Abteile rennen und irgendwen vom Sicherheitsdienst auf den Plan rufen; ist sowieso ein Wunder, dass nicht gleich jemand angeprescht kam.

Nichts da: Das ist meine Tür und meine Entdeckung, also ist es meine Chance: Vier Uhr früh im Hundehaus der Müller-Löweneck AG, und ich werde jetzt einen Spaziergang durch unsere Abteilung machen.

Übrigens: Ich heiße Pommes, gestatten, Laborbeagle.

Das Ding mit der Tür finde ich so erstaunlich, dass ich das Allererstaunlichste glatt übersehen habe: Auf dem Gang liegt jemand, und er ist offensichtlich tot.

Vor meinem Zwinger liegt eine Leiche.

Könnte ein interessanter Tag werden.

Weil ich noch nie tote Menschen gesehen habe und nicht sicher bin, wie man sich denen gegenüber angemessen verhält, schiebe ich mich an dem Typen vorbei. Ich weiß, wer das ist: Unser Boss. Wer legt denn bitte seine Leiche in unseren Zwinger? Und was sollen wir damit anfangen? Das ist doch kein Löwenkäfig hier! Und auch kein Piranhabecken.

Das Seltsame ist, dass der Chef mitten im Gang liegt, auf dem Rücken, genau vor unserem Gehege. Und er fühlt sich komisch an, als ich mit der Nase dagegen stupse. Ich weiß, wie Menschen sich anfühlen, denn ich kenne massenhaft Menschen, eine Unmenge Menschen, mindestens zehn Stück. Vielleicht sogar elf.

Normalerweise machen Menschen ständig Geräusche, zumindest atmen sie. Atmen macht, dass das Herz schlägt, das ist nicht anders als bei uns. Das Herz kann man hören, und das Gegurgel in ihrem Bauch auch, aber hier gurgelt nichts. Hier schlägt auch nichts. Nach meiner fachmännischen Meinung – immerhin arbeite ich in einer medizinischen Branche, jedenfalls weitestgehend – ist der Mann tot. Als Beagle weiß man so was. Ich kenne zwar keine toten Menschen, aber als der alte Rocky nebenan gestorben ist (Rocky hieß eigentlich Rolf, bestand aber darauf, Rocky genannt zu werden. Das änderte nichts daran, dass auf dem Schild an seinem Zwinger Rolf stand), hat er sich genauso angefühlt. Also genauso komisch und fest. Aber nicht so gruselig wie der Typ hier.

Er liegt da ganz friedlich, aber tot ist tot, und es darf wohl bezweifelt werden, dass dieser Zustand im Sinne des Verblichenen ist. Zumal er ja offensichtlich noch was Wichtiges vorgehabt hat, oder was tut der Mann hier mitten in der Nacht?

Schnuppern wird wohl erlaubt sein. Also schnuffele ich mich von den Schuhen bis zum Hemdkragen an dem Körper entlang. Noch warm. Klar. Aus einer kleinen Wunde an seiner Schläfe sickert Blut. Es riecht so, wie frisches Blut riecht: nach Blut. In den Fernsehkrimis sagen sie immer, Blut riecht metallisch. Nach Kupfer oder so. Das ist eine Behauptung, die auch nur Menschen aufstellen können.

Jemand mit einer normal entwickelten Nase erkennt spielend den Unterschied. Jemand mit einer ordentlich entwickelten Nase – ein Hund, beispielsweise – erkennt Nuancen.

Jemand mit einer richtig entwickelten Nase – also, ein Beagle – zieht die richtigen Schlüsse: Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, ernährungstechnische Vorlieben und so weiter.

Aber das führt an dieser Stelle wohl zu weit. Außerdem hab ich ja Augen im Kopf und sehe trotz des Schummerlichts, wer hier in so traurigem Zustand vor mir liegt: eindeutig der Tierversuchsleiter. Trotzdem, wenn ich die Wahl habe, verlasse ich mich lieber auf meine Nase.

Jetzt fragen Sie sich bestimmt, wie ein Toter in einen Hundezwinger gelangen kann, ohne dass es einen Riesentumult gibt.

Tja, weiß ich auch nicht. Zur Verteidigung der Truppe kann ich sagen, dass gestern ein echt anstrengender Tag war: Vormittags war die Besuchergruppe da (Wissenschaftler, neugierig blickend), und nachmittags war Training. Draußen!

Training ist superanstrengend, nicht nur, weil es enorm viel zu rennen und zu denken gibt, sondern auch, weil Francesco so seltsam ist. Francesco ist der Trainer. Ziemlicher Spinner. Glaubt, er hätte das Hundetraining erfunden. Und perfektioniert. Pah.

Jedenfalls sind danach alle ganz schön platt, und da pennt man eben schon mal tiefer als an den gewöhnlichen, ereignislosen Tagen. Geht den anderen auch so. Abgesehen davon beherrschen Hunde die Kunst des selektiven Hörens, sonst würden wir nämlich alle völlig irre werden. Hunde haben das beste Gehör im ganzen Tierreich. Da muss man aufpassen, dass einem der Gemütszustand nicht entgleitet.

Ist ja auch gar nicht so, dass niemand was gemerkt hätte. Und eben hat er ja noch gelebt, der Boss, n’est-ce pas? In der Aufregung wegen der Tür hab ich nicht so drauf geachtet, aber war da nicht so ein Geräusch, als ob jemand zu Boden geht? Die Instinkte sind hier nicht so auf der Höhe der Zeit – warum auch, wir leben in einem Hochsicherheitstrakt. Es ist relativ ausgeschlossen, dass Wölfe oder Bären vorbeikommen. Höchstens jemand, der uns klauen will, weil wir so süß sind. Das hören wir öfter, und wenn ich mir die Mädels gegenüber so angucke, glaube ich sogar, dass das passieren könnte.

Der hier klaut nichts mehr.

Wahrscheinlich hat er auch noch nie was geklaut, höchstens Ideen, denn er ist der Chef von dem ganzen Laden hier. War der Chef. Jetzt ist er nichts als tot. Ganz in Gedanken lupfe ich den rechten Hinterlauf und kann mich im letzten Moment davon abhalten, an das tadellose, maßgeschneiderte Hosenbein vom Boss zu pinkeln.

Ich kann nichts dafür, es ist eine Art Reflex. Markieren liegt mir im Blut, sorry. Aber ich habe mich so weit im Griff, dass mein Verstand die niederen Instinkte besiegt. Alles andere wäre schon ziemlich pietätlos. Jemand gesehen?Nope, logo: Alles ist ruhig. Ich schau mich kurz um.

Als ich das Ausmaß der Bescherung erkenne, halte ich kurz inne, eine Vorderpfote in der Luft, wie ein Vorstehhund, der ich nicht bin.

Der größte Teil vom Chef liegt in der Schleuse, heißt: noch mehr offene Türen. Ich kann die ganze Abteilung besichtigen. Wahnsinn!

Ich schnaube einmal an die schlaffe Hand, tschüss Boss, echt nett von dir, noch mal vorbeizuschauen, und gucke den Gang entlang. Die blaue Notbeleuchtung brennt, und hinter unserer Kommandozentrale liegt alles in tiefem Schatten. Neugier kriecht in mir hoch und lässt mein Entdeckerherz wummern. Was zuerst? So viele Möglichkeiten, und ich hab alles für mich allein! Wichtig ist, dass nicht schon wieder jemand aufwacht. Vorbei am Kommandoraum (schade eigentlich, dass der Fernseher aus ist), lautlos biege ich um die Ecke, und schon liegen die Hundezwinger hinter mir.

***

Mit der Nase am Boden spaziere ich durch die Abteilung, halte kurz an der Tür zum Treppenhaus an, werfe einen Blick in das Besprechungszimmer, laufe zum Fahrstuhl (dessen Tür geschlossen ist; durch einen schmalen Spalt schimmert Licht), und nehme beiläufig dutzende von Geruchsmolekülen auf, die der Boss auf seinem torkelnden, schwankenden Weg zu uns hinterlassen hat.

Die Büros sind verlassen. Die meisten Türen sind geschlossen, aber manche stehen sperrangelweit offen (ein Raum ist taghell erleuchtet – oder sagen wir, am Schreibtisch brennt eine Lampe –, und ganz hinten läuft leise Musik: Radio angelassen. Tss. Ohne Ende Strom verschwenden, aber bei uns das Futter aufs Gramm genau abwiegen. Typisch.)

Ich kreuze durch den Flur, die Nase dicht am Teppich.

Die größte olfaktorische Fundgrube ist der Aufenthaltsraum. In der Luft hängt ein Hauch von Mettbrötchen. Natürlich wird dieser Duft von der süßen Note des Frankfurter Kranzes überlagert und von den Mettbrötchen ist leider nichts mehr zu sehen, aber in der Nähe der Sitzgruppe liegen ein paar Mandelblättchen.

Besser als nichts.

Beaglenasen sind so etwas wie Geruchsdatenbanken: fein sortiert, katalogisiert und jederzeit exakt abrufbar. Selbstverständlich habe ich noch nie Frankfurter Kranz gegessen, aber all diese Moleküle sind in meinem Gehirn, ach was, in meinen Genen seit Jahrhunderten überliefert. Wobei ich nicht genau weiß, seit wann es Frankfurter Kranz gibt. Aber es geht auch mehr um die einzelnen Bestandteile.

Alle Hunde können das, manche besser, manche weniger gut. Beagle sind in dieser Hinsicht Ausnahmetalente.

Leider gibt es hier drin wenig Gelegenheit zum Üben. Deswegen nutze ich die Exkursion, um meine Fähigkeiten auf die Probe zu stellen und zu verfeinern.

Bei der Sekretärin stinkt es: Parfüm überdeckt die zarten, leckeren Duftnoten. Gute Nasen sind Fluch und Segen zugleich.

Hinter der nächsten Tür riecht es nach Chef. Ich trippele in den Raum – kurze Orientierung: Wo riecht es wie verlockend –, springe elegant auf einen Tisch, bringe ein paar Sachen in Unordnung, genehmige mir die Krümel, die auf einem ansonsten traurigerweise sehr leeren Teller liegen, schnuppere an dem anderen Geschirr, was in genauso betrüblichem Zustand herumsteht (ein Glas fällt um und rollt auf den Boden, aber der dicke Teppich dämpft das Geräusch und hindert es am Zerbrechen) und stecke nebenan meine Nase tief in eine Aktentasche.

Uninteressant.

Aber der Teppich ist klasse. Ich wälze mich ausgiebig und grunze behaglich. Warum haben wir eigentlich keine Teppiche? Auf einer lederbezogenen Couch liegen Kissen. Der Chefgeruch nimmt zu. Ich reibe mit der Nase über das Leder und sabbere dabei alles gehörig voll, rutsche ein bisschen auf dem Bauch herum und kicke alle Kissen vom Sofa. Menschen sind Glückspilze. Wir haben nicht mal Decken.

Eigentlich eine Frechheit.

Auf der Fensterbank stehen Pflanzen, deshalb verzichte ich drauf, auch die auszuprobieren. Wenn eins der Dinger runterfällt, war’s das mit dem Ausflug. Außerdem wird mir bestimmt schwindelig, wenn ich rausgucke.

Unser Domizil thront auf dem Gebäude wie die Kirsche auf der Torte. Okay, Kirschen sind selten viereckig, aber so ungefähr muss man sich das vorstellen: ein Dachaufbau wie die Beleuchtungseinheit auf einem Aquarium.

Es ist früh am Morgen, und außen an den Scheiben rinnen Tropfen entlang. Ob es draußen kalt ist? Keine Ahnung. Hier drin ist es nie kalt. Wir wohnen im Penthouse des höchsten Gebäudes eines riesigen Firmenkomplexes. Unsere Wohnung ist gigantisch. Eine Art Innenhof gibt es auch. Tagsüber können wir durch Hundeklappen ins Freie, aber nachts sind die zu.

Ich schlendere zurück auf den Gang. Das Schnarchen der anderen Hunde ist jetzt ein Stück weit entfernt. Der tote Chef ist ein unförmiger, stiller Hügel auf dem blanken Linoleum, sehr weit hinten, eingerahmt von der blockierten Tür der Schleuse.

Warum man unser Zuhause Zwinger nennt, entzieht sich meiner Kenntnis. Hier geht es autoritär zu, aber zwingen funktioniert bei Beagles nicht. Matze zwingt mich manchmal, mein Essen herzugeben, aber dass die Menschen danach ein Zuhause benennen, glaube ich nicht.

Ich hebe den Kopf und linse zu den Oberlichtern. Wolken huschen an der Mondsichel vorbei. Ein Nachtvogel fliegt übers Haus, und ich ducke mich automatisch: Große, fliegende Wesen machen kleinen Hunden Angst. Muss eine Urangst sein. Nachts ist alles anders. Vor allen Dingen ist es still. Die Schatten sind seltsam zweidimensional, und ich merke, wie mein Nackenfell sich aufrichtet.

Etwas gluckert in den Leitungen, und mir wird ein bisschen mulmig. Ich wandere bis zum Ende des Flures. Viel zu sehen gibt es nicht. Ich schnuppere mich über den Boden. Es riecht nach Putzzeug und Desinfektionsmittel und den Spuren der vielen Menschen, die tagsüber hier ihrer Arbeit nachgehen. Auf dem Parkplatz, sieben Stockwerke unter mir, schlägt eine Autotür zu. Irgendwo springt ein Aggregat an, und ich mache vor Schreck einen Hüpfer.

Ab hier wird es mir ein bisschen zu gespenstisch. Wusste gar nicht mehr, dass der Gang so lang ist.

Ich meine: Immerhin bin ich hier fast allein, im Mondlicht, mit einer Leiche. Und ziemlich weit weg von meiner Koje.

Plötzlich sehne ich mich nach meiner Schlafecke.

Geduckt schleiche ich zurück, dicht an der Wand entlang. Doch, der Weg ist irgendwie länger als vorhin. Ich gehe leise: Wenn man die Pfoten in einer bestimmten Weise aufsetzt, so seitlich, schleicht man fast lautlos auf den Ballen.

Mein Schatten folgt mir, geduckt gleitet er hinter mir her. Die Rute des Schattens ist zwischen seinen Beinen. Eben war sie noch oben! Ruten führen ein Eigenleben, als Stimmungsbarometer. Mit der Herzfrequenz eines kollabierenden Hamsters ziehe ich mich zurück.

Wahrscheinlich wird mir keiner glauben, dass das Institut nachts – menschenlos – bedrohlicher wirkt als tagsüber, aber so ist es: Die Notbeleuchtung, die Stille und der wolkenverhangene dunkle Himmel über dem Atrium machen mich bange. Noch fünf Meter. In der Lüftung klappert etwas, und ich schleiche noch behutsamer.

Ich bin so ein Weichei.

***

Vor mir steht Matze.

»Huch«, sagt er und gähnt. Matze ist unser Galionsbeagle: der Leithund. Auch Hundegruppen in Versuchslaboren brauchen einen Leithund. »Na, Dummbatz?«

Ich verzichte auf eine Erwiderung.

Das Grollen kommt tief aus seiner Kehle. »Der Boss. Is’ ja immer noch da. Was’n passiert?« Der Schlaumeier. Raunzt mich rumpelig an, als wäre ich schuld an dem Dilemma.

»Ähm, keine Ahnung?«

»Is’ dein Zwinger, vor dem er liegt.«

Jetzt klingt er vorwurfsvoll. Bin ich jetzt verdächtig? Was soll ich sagen? Etwa: »Ich war’s nicht?«

»Sag schon. Was’n mit dem?«

Mensch, Matze. Ich bin Laborhund, kein Gerichtsmediziner. »Keine Ahnung. Tot.« Knappe Kommunikation ist üblich unter Kollegen, aber Matze ist mit mehr als acht Silben auf einmal sowieso überfordert.

»Ah.« Er läuft innen am Zaun lang, bis er mit der Leiche auf einer Höhe ist. Dann hebt er das Bein und strullert durch das Gitter ans Knie vom Chef. Auf der Hose erscheint ein dunkler Fleck, gesiebt vom Zaundraht und mittig geteilt von der tadellosen Bügelfalte.

Fassungslos starre ich ihn an. »Wie konntest du das tun? Angenommen, wir finden Fingerabdrücke: Muss ich damit rechnen, dass du sie ableckst?«

Matze starrt zurück. Kritikfähigkeit ist keine Eigenschaft, die ihn auszeichnet. »Kann sein, dass du gleich einen Pfotenabdruck findest. Und zwar auf deinem Hintern, Dummbatz.«

Wer ist hier der Dummbatz? Mein Blick wandert unwillkürlich zur Tür.

Der von Matze auch. »He«, sagt er, »wieso bist du eigentlich draußen?«

»Tür war offen«, sage ich. Ich gebe mir Mühe, lässig zu klingen, und spaziere entspannt an ihm vorbei. Schätze, bis Matze die Tragweite von so einer offenen Tür begriffen hat, ist die schon dreimal wieder abgeschlossen. Matzes kognitive Fähigkeiten decken eher die anderen Gebiete ab: Fressen. Frauen. Macht.

Matze ist cool, das spricht aus seiner gesamten Haltung. Wenn er könnte, würde er sich mit verschränkten Pfoten lässig gegen die Wand lehnen. Die Mädels stehen auf ihn. Er ist zehn und der Alpha, und außerdem hat er eine Fellzeichnung, um die ihn jeder beneidet. Matze ist ganz okay, besteht aber aus purem Testosteron. Macho-Matze kann es nicht leiden, wenn er nicht Bescheid weiß. Natürlich komme ich an ihm nicht vorbei; das zu erwarten, war wohl ziemlich naiv. Er patrouilliert den ganzen Tag an seinem Gitter entlang, und ihm entgeht nichts.

Außer, dass plötzlich ein Toter im Zwinger liegt. Mein Respekt bekommt an den Rändern kleine Risse.

Trotzdem wäre ich irgendwie gern wie er.

Selbstredend sind wir alle reinrassig, aber Matze entspricht in jeder Hinsicht einer exquisiten Rassebeschreibung. Vielleicht legte man früher mehr Wert auf Optik und Klasse. Bei meiner Generation spielte das anscheinend schon keine so große Rolle mehr. Die Hündinnen links von uns sind auch von Matzes Kaliber. Wenn sie jemals entlassen werden, prügeln sich die Interessenten um sie. Wenn – falls – ich entlassen werde, sieht man einen etwas mickrig geratenen Beagle mit zwei Narben auf der Nase, einem zerbissenen Ohr und zu großen Pfoten.

Matze deutet mit dem Kopf zu der Ecke, in der ich immer schlafe. »Leg dich wieder hin, Kleiner.« Er klingt irgendwie angepisst.

Bevor ich knurre, habe ich ungefähr sieben Dutzend körpersprachlicher (und mimischer) Signale ausgesandt. Knurren liegt ungefähr in der Mitte der Gefährlichkeitsskala, wenn es um das Verhalten von Hunden geht. Heißt: Ab Knurren wird’s ernst.

Normalerweise. Matze verzichtet auf solches Gedöns, rast auf mich zu und rempelt mich zu Boden. Beim Football bezeichnet man das als Tackle. Jetzt gibt der hier den Kapo! Na ja, genau genommen ist er das auch. Ganz blöd ist er nicht, das merkt man daran, dass er mit der Schnauze die Tür ins Schloss wirft.

»Ruhe!«, kommt es von weiter hinten. Die Stimme gehört Jenny. Hatte grade Welpen. Ist wahrscheinlich froh, dass die Racker endlich in ein eigenes Abteil gezogen sind. Dort maunzen sie ab und zu im Schlaf, alle auf einem Haufen, ein Knäuel dreifarbiges Beaglefell mit sechzehn riesigen, rosa Pfoten.

»Saftladen hier!« Tyson.

Ich verdrehe die Augen. Matze wirft mir einen langen Blick zu, rollt sich zusammen – und schläft weiter.

Dann klappt er eines seiner Augen noch mal auf. »Das mit der Tür. Liegt am Schnapper. Ist wohl verstellt. Wir wollen doch nicht, dass es auffällt, oder?«

Ich komme mir ein bisschen doof vor.

Folgsam trotte ich zu meinem Platz, seufze tief, fummele Fell und Pfoten zurecht und denke noch eine Weile nach. War ein bisschen viel für die nachtschlafende Zeit. Ich muss das alles gedanklich sortieren und einordnen, dann sehen wir weiter. Ich hoffe, dass die Polizei kommt. Hatte ich es bereits erwähnt? Ich habe einen Plan: In meinem nächsten Leben werde ich Polizeihund. Oder Detektiv, einer mit einem Monokel. Nachdem ich Hercule Poirot gesehen habe (auf 3Sat, Heidi guckt das), hab ich eine Weile damit herumexperimentiert, ein Auge zuzukneifen. Bringt einem aber nur einen Besuch beim Tierarzt und eklige Augentropfen ein, kein silbergerahmtes Monokel. Meine wahre Begabung ist das Erstellen von Profilen, das weiß ich so sicher, wie ich ein Beagle bin.

Wir nennen den Überwachungsraum Kommandozentrale oder Brücke, aber eigentlich handelt es sich nur um das Kabuff an der Kopfseite der Zwinger; der Raum, in dem die Pfleger Kaffee trinken, Listen führen und, wenn nichts zu tun ist, Zeitung lesen. Und Fernsehen gucken. Fernsehen geguckt wird allerdings nur nachts, wenn sonst keiner im Haus ist. Manchmal muss einer von uns überwacht werden, und dann gucken Nike und Heidi zwischendurch Fernsehen.

Ich gucke immer mit. Das Gehege, das ich mir mit Matze und dem alten Joe teile, liegt strategisch günstig. Der Bildschirm ist an der Wand aufgehängt, und neuerdings gibt’s Netflix.

Ich kenne jede Krimiserie der Welt. Ich steh auf Polizei, mit allem Pi und Po: Blaulicht. Streifenwagen. Uniform. Knarren und Schlagstöcke nicht so, aber sonst alles. Ich bin ein Polizei-Junkie.

Herumliegende Leichen rufen fast immer die Polizei auf den Plan, aber unser Penthouse ist die Sahneschnitte im Top-Secret-Bereich eines Pharmaunternehmens, und wir Hunde sind Trillionen wert. Daher weiß ich nicht genau, wie man hier mit so was umgeht. Hatten wir jedenfalls noch nicht.

Um Punkt halb sieben bricht die Hölle los.

Kapitel 2

Kontaminiert

🐾

Marta schreit und schreit und schreit. Sie steht auf der anderen Seite der Schleuse, hat die Hände vorm Mund und starrt mit einer Intensität auf den toten Boss zu ihren Füßen, dass ich halb befürchte, ihr werden demnächst die Augen aus dem Kopf springen.

Marta ist die Chefsekretärin. Sieht so aus, als sei sie – wie üblich – als erste im Haus gewesen, um – wie üblich – ihre Runde zu drehen. Sie begrüßt uns jeden Morgen und nimmt bei der Gelegenheit die Kontrolllisten von der Brücke mit. Heute sind ihre Hände leer: Anscheinend hat sie sich am Chef nicht vorbeigetraut. Vielleicht will sie auch bloß nicht über den Leichnam klettern. Frauen sind da empfindsam. Ich denke an meine Abteilungsbesichtigung von vorhin und schäme mich ein bisschen. Ich bin wirklich unsensibel. Aber tot ist tot. Glaube nicht, dass der Chef mir das übel genommen hat.

Martas Gekreisch sorgt dafür, dass Heidi angestampft kommt: Keuchend wie eine überhitzte Dampflok und mit rollendem Blick biegt er um die Ecke, so rasant, dass die schwere Tür zum Treppenhaus gegen die Wand knallt. Der Türknauf hinterlässt eine Delle im Putz.

Niemand mag Heidi. Heidi ist unser Pfleger und somit derjenige, der uns das Leben zur Hölle macht. Es könnte nämlich ganz chillig sein bei der Müller-Löweneck-AG. Wenn Karl-Heinz »Heidi« Heidinger nicht seine beständig miese Laune und seinen allgemeinen Frust an uns auslassen würde.

Aber das tut jetzt nichts zur Sache.

Marta mögen alle. Gerade geht sie auf die Knie und hockt in ihrem schicken Rock neben dem Boss, rümpft dann ein bisschen die Nase – der Stoff des edlen Beinkleids ist getrocknet, aber keinesfalls geruchlos geworden, den Zaubertrick beherrscht hier leider keiner – und rückt kaum merklich wieder ein Stück ab. Dann fängt sie an zu weinen.

Der Fahrstuhl kommt, und drei Leute vom Sicherheitsdienst stürmen heraus, kaum dass die Tür sich mit ihrem sonoren Geräusch – swuuschschsch – geöffnet hat.

Betreten blicken sie auf den Chef. Einer beugt sich steif hinunter und fühlt nach dem Puls, dabei wirkt der Typ, offen gesagt, beschämend unsicher. Selbst ich könnte das besser.

Sie holen die Betriebssanitäter, die dem Chef nicht mehr helfen können, denn das ganze Vitalfunktionsmanagement ergibt hier keinen Sinn mehr, und dann einen Notarzt. Was der bringen soll, weiß ich auch nicht, aber Vorschrift ist Vorschrift.

Die Menschen, die nach und nach zur Arbeit kommen, verteilen sich auf dem Flur, in lockeren Grüppchen, tuschelnd. Die Damen mit Taschentüchern in den Händen, die Männer unschlüssig. Unser Gebell verstummt allmählich, bis auf ein paar gelegentliche Motzer, die überwiegend von Tyson kommen.

Ich setze mich artig vor meine Tür und halte die Stellung. Aufmerksame Beobachtungshaltung, nennt Francesco das. Francesco ist mir egal, ich will bloß nichts verpassen; das hier könnte das Highlight des Jahres sein!Als endlich der Arzt kommt, geht alles von vorne los: Party.

Er trägt Turnschuhe mit quietschenden Sohlen, stellt sich vor, untersucht den Boss, der in diesem Leben garantiert keinen Notarzt mehr braucht, und dreht ihn um. Küster heißt er, und einen schnoddrigen Tonfall hat er am Leib. Die Sanis assistieren ihm und werfen ein paar Begriffe in den Raum: Totenstarre. Totenflecken.

Kenn ich. Ich bin vorgebildet, sagte ich ja schon. Sie diskutieren leise über die Todesarten. Es gibt im Prinzip nur zwei: natürlichen Tod und nicht natürlichen Tod. Als der Doc die Stirn runzelt, weiß ich, dass sich das mit dem natürlichen Tod erledigt hat. Sein Kreuzchen auf dem Leichenschauschein wird er wohl bei »ungeklärt« machen.

Der breiteste und älteste der relativ arbeitslosen Truppe – zu retten gibt’s hier schon seit Stunden nichts mehr – zieht ein Handy hervor. Dann sagt er die Zauberworte: »Ich glaub, das ist was für die Polizei.«

Yesss: Strike!

Unwillkürlich wedele ich.

***

»Geht das denn nicht ohne?«, flüstert Marta nervös.

»Kommt nicht in Frage!« Dr. Küster legt seine ganze berufsethische Entrüstung in diese vier Worte. Gab es je eine menschliche Leiche in einem Tierversuchslabor? Wohl nicht. Dieser Fall will sorgfältig untersucht sein.

Aber was ihn so misstrauisch gemacht hat, weiß ich leider auch nicht.

Noch nicht.

Marta zieht sich heulend zurück. Ihr Schluchzen ist den ganzen Weg lang zu hören, bis sie schließlich am Ende des Flurs um die Ecke biegt.

Eine halbe Stunde später nimmt der Notarzt am Fahrstuhl eine Streifenwagenbesatzung in Empfang. »Ach, die junge Frau Hellfeier«, näselt er, »immer da, wo es spannend wird.« Alte Bekannte.

Mit einer ziemlich polizeimäßigen Kopfbewegung erfasst die Kommissarin bemerkenswert schnell die Lage: Die halbentkleidete Leiche auf dem Boden, das Geheule der Angestellten – Marta hat inzwischen erfolgreich die beiden diensthabenden Tierärztinnen nebst ein paar Bürokräften mit ihrer Schwermut angesteckt –, die tobenden Hunde. »Vielleicht sollten wir uns woanders besprechen«, sagt sie.

Sie gehen nur um die Ecke, und die Polizeibeamtin berät sich leise mit dem Arzt.

Er füllt ein paar Zettel auf einem Klemmbrett aus und drückt sie ihr in die Hand. »Nicht unbedingt ein hinreichender Verdacht, aber auf jeden Fall ist es unklar«, sagt er. »Ich bin ein bisschen enttäuscht.«

»Bitte?«

»Klar. Dachte, die Hunde hätten ihn zerfleischt.«

Für einen Augenblick wirkt er, als sei er maßlos unglücklich über den Zustand der Leiche: Wahrscheinlich hat er Bisswunden und zerfetzte Gliedmaßen erwartet, als er Hundezwinger hörte.

»Sind Sie verrückt?«, piepst Marta Späth. Ihre Augen sind weit aufgerissen.

»Herr Küster«, tadelt Frau Hellfeier moderat und schüttelt den Kopf.

»Nur ein extremer Befürworter von Ärzte gegen Tierversuche.« Dr. Küster lässt keine Frage offen. Er guckt Marta an, als sei sie persönlich für Sinn, Zweck und Betrieb des Instituts verantwortlich.

»Was hat er da auf dem Ärmel?« Die Polizistin beugt sich vor.

»Das schwarze Zeug? Ist auch zwischen den Zähnen. Die Rechtsmedizin soll es klären.«

Sie nickt. Ihr junger Kollege sieht aus wie ein Praktikant im ersten Jahr und wirkt eingeschüchtert, aber er macht Fotos und verknotet rot-weißes Absperrband an den Türklinken.

Matze runzelt besorgt die Stirn. Ich kann seine Gedanken ahnen: Was soll das werden? Wird uns jemand füttern? Und macht hier heute keiner sauber?

Saftladen, würde Tyson sagen.

Matze und ich tauschen einen Blick. Stillschweigend kommen wir überein, nicht für noch mehr Panik zu sorgen. Es ist gerade wieder Ruhe eingekehrt.

»Dann ruf ich mal die Kripo«, sagte die Polizistin.

Auf dem Flur klappt Marta filmreif zusammen. Zwei Frauen schreien auf. Hektisches Gewusel bricht aus, und die Panik unter den Hunden steigt proportional zu Martas hyperventilierendem Gejapse an.

Die Ohnmacht dauert nur kurz. Marta sitzt auf dem Boden und kann schon wieder weinen.

Nach dem Abgang von Dr. Küster passiert eine Weile nichts. Ich bette meinen übernächtigten Kopf auf die Pfoten und döse ein bisschen zur beruhigenden Hintergrundmusik gewohnter Geräusche: die Lüftung, entferntes Tastaturgeklapper, klingelnde Telefone und das gelegentliche Piepen der Maschinen aus dem OP-Trakt nebenan. Störend ist eigentlich nur der Boss.

»Wir haben ein Problem«, schluchzt Marta. Sie kann sich einfach nicht fassen, seit einer Stunde heult sie. Heidi steht hinter ihr, wie ein menschlicher Schutzschild, und tätschelt unbeholfen ihre Schulter. Ich staune. Seit fast vier Jahren lebe ich hier und schlage mich mit Heidi herum. Es ist das erste Mal, dass Heidi so etwas wie Empathie erkennen lässt.

Die Polizeibeamtin wirft einen angelegentlichen Blick auf die Leiche. »Da gebe ich Ihnen recht.«

Sie hat Mühe, sich Gehör zu verschaffen. Es ist tierisch laut, wenn siebzehn Hunde durchdrehen. Siebzehn Beagle sind ein akustisches Inferno: Der betriebsinterne Feueralarm ist dagegen ein sanftes Raunen. Matze plärrt dazwischen, aber sogar er muss sich ziemlich anstrengen, und Ruhe kehrt trotzdem nicht ein.

Zu sensationell ist es, was sich hier vor unseren Augen abspielt: Fremde Menschen laufen durchs Revier. Unsterile Menschen.Die Leute im medizinischen Trakt tragen bunte OP-Kleidung und Masken, und Besucher stecken sie normalerweise in weiße Papieranzüge, dazu gibt’s schicke Schlappen, die aussehen wie kleine Müllsäcke. So was würde ich nicht mal in der Geisterbahn anziehen. Heute sind keine Papieranzüge zu sehen (jedenfalls nicht, bevor später am Tag die Kriminaltechnik anrückt und Spusi betreibt): Es ist unfassbar, aber niemand hat daran gedacht, die Sicherheitsbestimmungen durchzusetzen.

Um auf das zuvor angesprochene Problem zurückzukommen, weist Marta scheu darauf hin.

Die Polizei sieht irritiert aus. Garantiert hat noch niemals jemand darum gebeten, die Uniform gegen Laborkleidung zu tauschen. Sie kommen der Bitte nicht nach, und weil es jetzt sowieso zu spät ist, deshalb noch den Molli zu machen, gibt Marta Ruhe. Sie sieht beleidigt aus. Wahrscheinlich schreibt sie in Gedanken schon ein Memo. Oder einen Beschwerdebrief an den Polizeipräsidenten.

»Entschuldigen Sie, junge Frau.« Marta versucht es anders. »Wir wollen… Müller-Löweneck möchte keine uniformierte Polizei im Haus. Wenn es also …«

Die Polizistin unterbricht, und Marta sieht konsterniert aus. »Da hat Müller-Löweneck leider Pech gehabt. Sie werden fürs Erste mit uns vorliebnehmen müssen. Die hohen Herren von der Kripo können erst nach der Frühbesprechung.«

Gelegentlich kommt Besuch, so wie die Wissenschaftler gestern. Wir sind privilegiert, einfach, weil wir am Leben sind. Besucher erfreuen sich an uns, wie im Zoo. Wir machen uns einen Spaß draus, aber im Grunde langweilen wir uns zu Tode. Deshalb saugen wir jeden Eindruck auf wie ein Schwamm. Eine Kolonie von Schwämmen sind wir, begierig auf jedes noch so kleine Fitzelchen Input. Einmal im Jahr erscheinen zwei Frauen von einem Tierschutzverein und sprechen mit dem Chef, was meistens damit endet, dass eine neue Diskussion über environmental enrichment geführt wird und wir ein paar Spielsachen mehr kriegen. Neulich, im Frühjahr, kamen die Betriebssanitäter, weil eine der Reinigungskräfte ausgerutscht war: Bänderriss. Ansonsten sehen wir hier nur Pfleger und medizinisches Personal, die Tierschutzbeauftragte, und Marta. Und den Boss.

Letzteres dürfte sich wohl erübrigt haben. Was wollte ich eigentlich … ah, richtig: Wer uns besucht, muss sich umkleiden, denn Privatklamotten sind nicht erlaubt.

Eigentlich sind nicht mal Besucher erlaubt. Man kommt hier nur auf besondere Einladung rein, geschlossene Gesellschaft, ganz geheime Sache, Sie wissen schon. Wenn es jemand in den VIP-Bereich schafft, muss derjenige sich in einem eigens dafür geschaffenen Umkleidebereich sterile Firmenkleidung anziehen – pinkfarbene Hemden und Hosen, quietschende Plastikschuhe. Und Hauben. Mit Plastikmützen auf dem Kopf sieht jeder idiotisch aus. Der VIP-Bereich beginnt an der nunmehr defekten Schleuse.

Das mit der Schutzkleidung ist heute unterblieben, und man kann nicht sagen, dass es niemandem aufgefallen wäre. Kallisto, im Zwinger gegenüber, dreht völlig durch. Sie rast durch ihr Geviert wie eine kopflose Gans und wirft sich ans Gitter: »Gefährliche Keime! Tödliche Bakterien! Wir werden alle sterben!«

Hysterie ist ansteckend. Die Zwingernachbarin steigt am Zaun hoch und fletscht die Zähne. Die Mädels bellen sich in die Schnappatmung, und Jennys Jungs, zwölf Wochen alt, kriegen Panik und stolpern in ihrem Welpenabteil übereinander. Ihre hohen Stimmen überschlagen sich und tun sogar mir in den Ohren weh.

Ich kann dem Rambazamba nicht widerstehen und lasse mich mitreißen. Beagles sind Meutehunde. Ich weiß selbst nicht genau, ob das eine Massenpanik ist oder eher eine Party.

Du meine Güte.

Und der Tag hat erst angefangen!

***

Ich kann gar nicht schnell genug gucken. Um nichts zu verpassen, stelle ich die Pfoten ans Gitter und mache einen langen Hals.

Die Polizistin trägt tatsächlich Dienstkleidung. Ich bin begeistert und hechele aufgeregt. Ihr Kollege drückt sich in die Ecke, Leichen sind wohl nicht so seins, jedenfalls ist er ein bisschen grün um die Nase. Dabei sieht der Chef noch präsentabel aus, und dass die Menschen den Geruch wahrnehmen, der sich allmählich verändert und zunimmt, wage ich nun wirklich zu bezweifeln.

Sie spricht in ihr Funkgerät und stellt murmelnd fest, dass der Empfang zu wünschen übrig lässt. Das Funkgerät verschwindet in einer Tasche der Schutzweste, stattdessen erscheint ein Handy. Sie telefoniert, seufzt, sieht auf die Uhr und sagt verstanden. Der Blick der Beamtin schweift durch das Penthouse. Die Hundezwinger sind im Karree um die Außenanlage angeordnet.

Meiner ist der mit dem besten Blick auf die Schleuse, somit habe ich einen verantwortungsvollen Job: Ich bin der Wächter. Die Gehege sind durch Klappen miteinander verbunden, natürlich nach Geschlechtern getrennt. Die Mädels wohnen links, die Jungs rechts. Miteinander reden können wir nur im Außengehege, das durch eine Lochblechwand geteilt ist. Die Löcher in dem Lochblech sind ziemlich groß, aber natürlich nicht groß genug, dass man durch könnte. Die Leute hier passen schon gut auf uns auf. Tyson hat es trotzdem geschafft, sich eine blutige Nase zu holen, weil Artemis ihm eine gescheuert hat, als er zu aufdringlich wurde.

Marta erhebt sich würdevoll und besteht darauf, den Auffindeort zu verlassen. Man sieht, dass die Polizei nichts von diesem Vorschlag hält, aber wahrscheinlich geht ihnen das Gekläff auf die Nerven, denn die Polizistin gibt nach.

Weil in unserem Zuhause fast alles aus Glas ist – die Firma hat Architektur- und Nachhaltigkeitspreise einkassiert, an der Wand hängen meterweise Zertifikate, es geht um Tageslichtnutzung und Energiegedöns – kriege ich eine Menge mit. Die Türen der Schleuse sind offen – immerhin hat der Boss Fuß und Kopf drin –, und ich kann hören, was in den Büros den Gang runter gesprochen wird. Sagte ich es bereits? Meine Ohren sind Hochleistungsgeräte.

Der nächste, der (unvorschriftsmäßig in Straßenkleidung) im Labor erscheint, ist der Typ von der Kripo. Er lehnt das Ansinnen mit dem Umkleiden ebenfalls pikiert ab und wirkt insgesamt nur mäßig interessiert. »Schön, was haben wir?«

Wegen des prompt einsetzenden Lärms, der jeder Flugzeugturbine zur Ehre gereichen würde, schneidet er eine Grimasse und hebt eine sehr gepflegte Hand an die Schläfe, als ob er Migräne hätte.

Dann scheint er sich auf seine Aufgabe zu besinnen. Mit selbstbewusstem Gehabe scannt er die Szenerie und wendet sich brüsk an die Schutzpolizistin. »Was ist das hier? Die Hölle? Stell sofort den infernalischen Krach ab!«

Die Frau in Uniform zuckt mit den Schultern und lehnt sich gegen die Wand. »Seh ich aus, als könnte ich zaubern? Mach’s doch selber.«

Cool.

Sie beugen sich erst über die Kladde mit dem Geschreibsel, dann über die Leiche. Die Hunde drehen noch ein bisschen höher. Ich kann kein Wort mehr verstehen, aber Frau Hellfeier scheint den Schönling zu instruieren.

»Hier riecht’s nach Erbrochenem«, sagt er, kraust die lange Nase und dreht sich langsam um die eigene Achse, »wieso seh ich nichts davon am Fundort?«

Meine Güte: Na, weil nichts da ist. Außer dieser getrockneten Minispur am Jackettaufschlag. Der Bulle guckt den Gang entlang und sieht uns so missbilligend an, als ob er uns verdächtigt, die Spuren beseitigt zu haben. Wir fressen doch keine Menschenkotze! Entrüstet belle ich, und der Kripomann guckt, als würden ihm die Ohren schmerzen.

Zusammen drehen und schieben sie am Boss herum, drehen ihn auf den Rücken, dann auf den Bauch. Noch mehr Fotos werden gemacht.

Die Frau legt den Kopf schief. Hübsch sieht sie aus in ihren blauen Sachen, silberne Sterne auf den Schultern, dunkles Haar. »Neulich habe ich ein Bild von Izima Kaoru gesehen. Die Frau auf dem Foto lag genau so da«, sagt sie.

Nicht laut genug. »Izima wer? Wie? Was? Ich versteh mein eigenes Wort nicht, geschweige denn deins! Wir brauchen einen ruhigen Platz. Schon, um die Leute zu befragen«, brüllt der Kripo-Typ. »Ruf die Spusi. Und einen Bestatter. Und nimm mal die Hunde hier weg.«

»Wieso? Meinst du, sie könnten vom Anblick einer Leiche traumatisiert werden?« Nein, sie wirkt nicht wie eine, die Angst hat, dass ihr Fell nass wird.

Der Typ murmelt was von Pietätsgründen, und »…und wer weiß, vielleicht stecken die uns mit irgendwas an.«

Meine Güte, womit denn? Grassierendem Wahnsinn? Grassierender Ahnungslosigkeit? Grassierender Unlust?

Junge, wenn ich Polizeihund wäre: Dem würde ich Feuer unterm Hintern machen. Die Kollegin nickt steif und greift erst zum Funkgerät, dann zum Handy.

Es passt ihr nicht, wie der Typ den Obermacker rauskehrt. Kenn ich: Matze ist auch so.

Marta trippelt heran, noch immer – schon wieder? – laufen Tränen über ihr Gesicht. Bekümmert sieht sie aus. Im Schlepp hat sie Heidi, der die Hunde mit einem kasernenhofmäßigen »Ruhe, zum Henker« in eine erträglich vor sich hin blaffende Meute verwandelt.

»Warum denn nicht gleich so«, murmelt der Mann vom K 12. Dann wechselt er die Tonlage und stellt sich schnarrend vor. »Cem Held, Kriminalhauptkommissar, Kriminalpolizei Mariental.« Er gibt Marta die Hand.

»Marta Späth«, erwidert Marta, schluchzt, tupft sich zierlich die Augen und rückt nach links, um Platz für Heidi zu machen, der nicht vorhat, von ihrer Seite zu weichen. So sieht es jedenfalls aus.

»Heidinger, Karl-Heinz«, knurrt Heidi, »Tierpfleger.«

»Aha. Und der Tote ist …?«

»Richard von Löweneck«, sagt Marta und verzieht ihr Gesicht in einer Weise, als ob sie gleich erneut sehr lange weinen müsste, »Doktor-Doktor. Der Geschäftsführer unseres Traditionsunternehmens. Und gleichzeitig der Tierversuchsleiter. Und der Vo-, der Vorstandsvorsitzende. Und … und …«

Tot?

»… der beste Vorgesetzte, den man sich wünschen kann!«

»Und Schweine können fliegen«, brummelt Heidi, der immer noch Martas Schulter umfasst, aber dann sieht er zu Boden und nickt. Kummervoll.

Echt?, denke ich und bin reichlich alarmiert, was sofort zu einem neuen Bellanfall führt. Schweine können fliegen? Davon wusste ich gar nichts! Ich sehe mich um, um zu fragen, aber der normale Betrieb hat heute noch nicht angefangen, somit ist hier niemand, der mir weiterhelfen könnte.

Die arme Marta kann nicht aufhören zu jammern. »Was mach ich denn nun? Ich bin – ich war – die persönliche Assistentin der Geschäftsführung. Und Office Manager.« Zu Recht, wie ich finde, also, so als Hund. Marta hat eine hohe fachliche Kompetenz und beträchtliches Organisationstalent.

Und sie begrüßt uns jeden Morgen. Noch bevor alle anderen kommen. Marta mag uns. Sie ist nett. Eine kleine, angenehme Frau, die den Laden hier schmeißt, ohne großes Trara zu machen.

»Was?«, sagt Cem begriffsstutzig. Für einen studierten Kriminalisten kommt er mir ganz schön hilflos vor. Der sollte sich mal ein Beispiel an den Leuten aus dem Fernsehen nehmen! Frau Hellfeier verdreht die Augen. Sie wirkt deutlich kompetenter. »Sie ist die Chefsekretärin!« Vielleicht will sie verdeutlichen, dass der Herr KHK manchmal schwer von Kapee ist. Kommt mir auch so vor. Ich halte auf jeden Fall zu Frau Hellfeier.

Sie trägt eine blau gerahmte Brille. Hinter der blauen Brille funkeln ihre Augen. Sie findet es interessant hier, obwohl sie müde aussieht.

Jetzt wendet sie sich Marta zu. »Ich bin sicher, es wird eine neue Geschäftsführung geben«, sagt die Polizistin freundlich und reibt in einem routinierten Trostversuch über Martas Arm.

Blau und Gelb sind übrigens die einzigen Farben, die ich erkennen kann. Das hat was mit den Zapfen und Stäbchen auf meiner Netzhaut zu tun. Ich bin spitze darin, drei Dutzend unterschiedliche Grautöne zu differenzieren – Marta zum Beispiel trägt heute ein recht lebhaftes Mausgrau –, aber mit Bunt hab ich’s nicht so. Farbensehen ist für Hunde schwierig. Wir ziehen dazu andere Parameter, etwa die Positionen unterschiedlicher Helligkeit, heran. So gut wie Menschen sehen wir nicht. Deswegen muss ich beim Fernsehen auch immer ziemlich dicht an den Apparat ran rücken, aber wenn Bewegung ins Spiel kommt, wird’s besser. Im Dämmerungssehen sind wir den Menschen dann wieder überlegen, aber wobei mir das hier von Nutzen sein soll, hab ich noch nicht rausgefunden.

Inzwischen sind mindestens hundert Leute auf dem Flur. Die ganze Belegschaft ist zusammengelaufen. Sie drücken sich an den Wänden entlang, halten die Hände vor den Mund, einige Frauen und sogar einer der technischen Assistenten zerren an feuchten Taschentüchern.

Betretenes Gemurmel ist zu hören.

***

Kriminalhauptkommissar Held hat einen olivfarbenen Teint und schokoladenfarbene Augen, aber man sieht, dass er innerlich kocht. »He, Jacki«, fährt er seine Kollegin an, »das hier ist womöglich ein Tatort. Sieh um Himmels willen zu, dass dieses vierundzwanzigköpfige Spurenvernichtungskommando nicht jeden Hinweis zerstört, falls es ihn gibt.«

Ah, denke ich und bin wegen der ganzen bedrohlichen Keime ein wenig erleichtert, nur vierundzwanzig Menschen. Keine hundert. Mit dem Zählen hab ich’s ehrlich gesagt nicht so.

Jacki Hellfeier reißt die Augen auf, springt sofort und gibt den Rüffel an ihren jungen Kollegen weiter, der umgehend damit beginnt, alle Personalien zu notieren. Und das Flatterband umplatziert. Wie bei uns: Auch in Meuten gibt es eine Rangordnung. Das bedeutet, dass man einen Anpfiff direkt nach unten durchreicht. Jacki hat das Prinzip begriffen. Sie scheucht die erste Gruppe in Martas Büro. Ich setze mich zurecht. Auf die Entfernung muss ich die Ohren schon ein bisschen mehr spitzen. Und dann … nein, nein! Nein! Nicht die Tür zumachen! Mit einem leisen, satten Schmatzen – smack! – rastet das Schloss ein. Fuck!

Auch das hab ich aus dem Fernsehen gelernt. Kallisto, die schöne, langbeinige Dreijährige von Gegenüber, schätzt keine Kraftausdrücke und wendet sich mit tadelndem Kopfschütteln pikiert ab.

Alles Dummbatze.

Je weiter der Tag fortschreitet, desto signifikanter verändert sich der Geruch vom Chef. Um acht riecht es in der Schleuse nach altem Laub, gewürzt mit einem Hauch vergorener Marmelade.

Um halb neun gesellt sich zu den geruchlichen Feinheiten ein Hauch verdorbener Hummer, und als die Tür zum Chefbüro nach gefühlten zehn Stunden wieder aufgeht, weil zwei Bestatter aus dem Fahrstuhl treten (der Sicherheitsdienst hat sie telefonisch angekündigt und von der Pforte an heraufbegleitet), ist der Geruch so, wie sich ein Jagdhund eine leicht zu verfolgende Spur vorstellt: verführerisch-penetrant.

Jedenfalls für Hundenasen. Die Menschen werden noch stundenlang nichts merken und verziehen keine Miene. Hinterher werden sie sagen, es röche süßlich.

Sie können es halt nicht besser.

Dummbatze, sag ich ja.

Kapitel 3

Jacki

🐾

Der Chef verlässt uns in einem Zinksarg, in den er kaum reinpasst, weil seine Gelenke langsam steif werden. Schwarze Gummifolie hüllt ihn ein.

Die Belegschaft läuft erneut zusammen und schaut ihm sichtlich beklommen nach. »Rechtsmedizin«, ruft Held den Männern in Schwarz hinterher.

Marta zerpflückt ein weiteres Taschentuch. Sie ist ganz blass, und ihr sonst so sorgfältiges Make-up hat sich schon lange verabschiedet.

»Die Frau ist ausgesprochen mitgenommen«, flüstert die Polizeifrau ihrem Kollegen zu.

»Frau Späth, sollen wir Ihnen einen Arzt rufen? Oder einen Seelsorger?«

»Nein, nein, es geht schon. Machen Sie sich um mich keine Gedanken. Es ist nur so ein unersetzlicher Verlust …« Frau Hellfeier entlässt Marta in die Obhut einer älteren Angestellten, die sie mütterlich in den Arm nimmt und gebeugt mit ihr von dannen geht.

Der unersetzliche Verlust wird derweil in den Lastenaufzug geschoben. Ich bin sicher, unten vor dem Eingang steht ein schwarzer Daimler mit folierten Palmzweigen auf der Heckscheibe.

Jetzt ist die Schleuse leer. Jemand schiebt einen Keil unter die Türen, wegen der Spurensicherung, die auf sich warten lässt.

»So«, sagt der Kriminalkommissar. Und dann: »Wieso hat der Küster eigentlich nicht natürlich angekreuzt? Sieht doch aus wie Herzversagen.«

Frau Hellfeier hebt eine fein geschwungene Augenbraue.

Wenn ich könnte, würde ich das auch tun, einfach, weil es cool ist.

Leider ist mir so was anatomisch nicht möglich. Deshalb mache ich ersatzweise von dem Gebrauch, was ich wirklich gut beherrsche: Pfoten ans Gitter und in höchsten Tönen bellen. Menschliche Gesten würden ziemlich bescheuert aussehen, wenn ein Hund das versucht. Matze hält das aber nicht davon ab: Er kreuzt die Vorderpfoten, wodurch er aussieht wie eine dreifarbige Primaballerina auf Koks. Er bellt mit und schwankt hin und her.

Es sieht bescheuert aus.

Die Polizeibeamtin fasst uns ins Auge. »Wenn die Hunde doch bloß reden könnten«, sagt sie in Richtung des Kripo-Typen. »Ist fast so, als ob sie uns etwas mitteilen wollen, findest du nicht?«

Ich wusste gleich, dass sie die klügste Person auf dieser Welt ist.

Cem Held lacht sich kaputt. Den Respekt im Angesicht des Todes hat er vermutlich irgendwo zwischen der hundertsten und der zweihundertsten Leiche in seinem Berufsleben an der Garderobe abgegeben. Er schiebt die Hände in die Taschen seines Kurzmantels – im Fernsehen tragen Kommissare immer Lederjacken, aber vielleicht ist das bei Hauptkommissaren ja anders – und sieht sie scharf an. »Wolltest du nicht zum KDD? Mir ist, als hätte ich deine Bewerbung gelesen.«

»Ja«, sagt sie und schafft es, zugleich misstrauisch und neugierig zu klingen.

»Dann Glückwunsch. Ich hatte heute Morgen drei Krankmeldungen auf dem Tisch. Wir sind ebenso ausgedünnt wie überlastet. Willkommen im Team«, sagt Held.

Fröhlich sieht sie nicht aus. »Wie das funktionieren soll, ist mir ein Rätsel«, murmelt sie, »ich war schon immer echt scheiße im Kaffeeholen. Und über Umsetzungswünsche hast du noch nicht zu entscheiden, soviel ich weiß.«

Oh-oh.