Ein deutsches Klassenzimmer - Jan Kammann - E-Book

Ein deutsches Klassenzimmer E-Book

Jan Kammann

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Jan Kammann unterrichtet Englisch und Geographie in einer internationalen Vorbereitungsklasse in Hamburg. Im Klassenraum kommen Schüler aus über zwanzig Nationen zusammen – aus Lebenswelten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Eines Tages ist ihm klar: Er will mehr über ihre Herkunft wissen und kennenlernen, was für sie bis vor Kurzem ihre Heimat war. Kammann nimmt sich ein Sabbatjahr und zieht los; im Gepäck jede Menge Tipps, Adressen und Reiseempfehlungen seiner Schüler. Er erlebt den Alltag in Kuba, Nicaragua und Kolumbien, Südkorea, China, Russland, im Kosovo, in Albanien, Armenien, Iran und Ghana. Unkonventionell und warmherzig erzählt er vom Lehrersein heute. Und von der Welt, in der er selbst ein Jahr lang zum Schüler wird.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.malik.de

ISBN 978-3-492-99190-2 © Piper Verlag GmbH, München 2018 Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de Covermotiv: Umschlagfotos: Jan Kammann und Luisa Wolff Illustrationen: fotolia/stock.adobe.com und Shutterstock.com; Jessmine – stock.adobe.com (Hintergrund Tafel) Karten: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee Datenkonvertierung: CPI books GmbH

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Inhalt

Cover & Impressum

Zitat

Prolog: Sommer 2015

Hamburg – Sofia

Hamburg

Teil 1

Iran

Armenien

Kosovo

Polen

Teil 2

Kuba

Nicaragua

Kolumbien

Teil 3

Südkorea

China

Russland

Teil 4

Ghana

Epilog

Bildteil

Anmerkungen

Guide

»All these walls were never really there«The Streets

PROLOG: SOMMER 2015

Hamburg – Sofia

Nach den letzten Ferien erschien Raina1 drei Tage zu spät in der Schule. Zu ihrer Entschuldigung führte sie die abenteuerliche Rückfahrt mit dem Bus aus Bulgarien an. Sie berichtete von Pannen, endlosen Umwegen durch die deutsche Provinz und der Müdigkeit, die sie nach der fast zweitägigen Fahrt erfasst hatte.

An einem sonnigen Morgen, es ist der erste Tag der Sommerferien, sitze ich selbst in einem bulgarischen Bus mit Ziel Sofia. In der Schule habe ich mir einen Spaß daraus gemacht, Raina zu warnen, dass ich ihre Ausrede selbstverständlich überprüfen werde. Schulpflichtverletzungen seien schließlich kein Kavaliersdelikt. Sie sagte, eine Busreise würde sie mir nicht unbedingt empfehlen, wohl aber Erholungsurlaub in den zentralbulgarischen Bergen oder am Schwarzen Meer. Ich war noch nie auf dem östlichen Balkan, und sicher würde mir eine solche Reise helfen, die Lebenswelt Rainas besser zu verstehen – und dazu gehört natürlich, dass ich Bus fahre.

Neben mir richtet Konstadin sich für die Fahrt ein. Er hat belegte Brote dabei und Süßigkeiten, die er in die Tasche am Sitz vor ihm stopft. Eingestiegen ist er zusammen mit mir am Hamburger ZOB in den fast leeren Bus. Er sitzt am Gang, ich am Fenster. »Es wäre doch angenehmer für uns beide, wenn wir jeweils eine ganze Bank nehmen. Platz genug haben wir ja«, sage ich. Er schaut mich amüsiert an und klärt mich auf, dass der Bus schon noch voll werden wird. Würden wir jetzt umziehen, müssten wir später wieder alles umräumen, und das sei doch viel zu umständlich. Dann bringt er seine Lehne in die Liegeposition, atmet tief durch und beginnt, sich von seinen Strapazen zu erholen.

Sieben Monate hat er auf Baustellen in ganz Norddeutschland gearbeitet, nun ist er auf der Heimreise nach Plewen in Nordbulgarien. Diese Reise hat er schon öfter gemacht, und deshalb weiß er, wie unberechenbar der Fahrplan ist. Anders als ich wundert Konstadin sich nicht über den Busfahrer, der schon kurz hinter den Elbbrücken die Autobahn wieder verlässt und uns über die Landstraßen der norddeutschen Tiefebene bis in das Dorf Hülseberg irgendwo im Elbe-Weser-Dreieck chauffiert. Hier halten wir auf einem Erdbeer- und Spargelhof. Gerade als ich mich frage, warum wir diesen umständlichen Umweg genommen haben, und ratlos aus dem Fenster schaue, kommt ein Grüppchen junger Frauen auf den Bus zu. Die Tür geht auf, alle steigen ein. Es herrscht gelöste Urlaubsstimmung. Es ist Mitte Juli, die Pflück- und Stechsaison ist zu Ende.

Die Fahrt geht weiter. Hier und da halten wir in kleinen Dörfern und sammeln weitere gut gelaunte Menschen ein. Ihnen ist es egal, dass wir schon über drei Stunden unterwegs, aber noch keine hundert Kilometer von Hamburg entfernt sind, als wir bei Soltau auf die A7 biegen. Bis Sofia sind es von hier noch ungefähr 2000 Kilometer. Bis Kassel geht es jetzt schneller. Hier fahren wir wieder von der Autobahn ab, kreuzen durch die halbe Stadt und finden in einem Gewerbegebiet eine kleine Gruppe Bauarbeiter, die fröhlich schwatzend zusteigt. Obwohl noch in Nordhessen, sind wir doch schon in Bulgarien. Alle Passagiere sind gut drauf, halten Small Talk auf Bulgarisch, es stellt sich ein Gefühl von Nachhausekommen ein. In Bayreuth steigt Studentin Natalie zu. Sie sitzt direkt vor mir, und es ist sehr praktisch, dass sie da ist, weil sie fließend Deutsch und Englisch spricht. Der Bus wird mit jedem Stopp voller und voller, und je länger die Fahrt dauert, desto mehr bekomme ich das Gefühl, auf einer Klassenfahrt zu sein. Meine Mitreisenden fragen sich allerdings, weshalb ich daran teilnehme. Sie wollen wissen, warum ich mir diese dreißigstündige Bustortur antue. Völlig untypisch für einen Deutschen, sagen sie. Diejenigen, die nach Bulgarien kämen, würden schließlich alle fliegen. Und das auch nicht nach Sofia, sondern direkt an die Schwarzmeerküste.

Ich erkläre ihnen meinen Plan: Ich bin Lehrer an einer Hamburger Schule, wo ich Schüler2 ehemaliger Internationaler Vorbereitungsklassen unterrichte. In diesen Klassen haben die Kids für ein Jahr Deutsch gelernt, erfolgreich eine Prüfung absolviert und befinden sich nun, kurz vor dem Übergang in Klasse 11, auf dem steinigen Weg in Richtung Schulabschluss. In meiner Klasse gibt es gleich zwei Schülerinnen aus Bulgarien, eine von ihnen ist Raina, die nach den Ferien immer zu spät kommt und die Schuld den Busfahrern gibt. Außerdem empfehlen beide Bulgarien als schönes Reiseziel. Sie schwärmen von Gastfreundlichkeit, ursprünglichen Landschaften und wunderschönen Stränden mit Sonnenscheingarantie. All dies möchte ich gerne kennenlernen.

Konstadin schaut mich verblüfft an. Wahrscheinlich fragt er sich, was mit diesem Deutschen nicht stimmt. Entweder sitzt neben ihm ein völlig verrückter Kontrollfreak oder einer, der nicht weiß, was er mit seiner Zeit anstellen soll. Oder beides. Dann lacht er laut auf, haut mir mit der flachen Hand auf den Oberschenkel und bietet mir Käsebrot und Süßigkeiten an.

Die Fahrt dauert und dauert. Nach Bayreuth kommen wir nach Erlangen, Nürnberg, Regensburg, Passau und Wien. In jeder Stadt nimmt der Fahrer weite Umwege in Kauf, um noch mehr Leute einzusammeln. Es ist jetzt mitten in der Nacht, und die Neuankömmlinge wirken, als hätten sie schon Stunden am Straßenrand gewartet. Die versprochene Ankunftszeit in Sofia ist auf diese Weise auf keinen Fall zu schaffen. Irgendwo kurz vor der ungarischen Grenze wird dann auch Konstadin ungeduldig. Lauthals beschwert er sich beim Busfahrer über Missmanagement und beschwört deutsche Tugenden. In Germania gebe es so etwas wie einen Zeitplan, man würde so eine Fahrt anders und vor allem besser organisieren.

Mittags in Ungarn steht die erbarmungslose Sonne auf dem Bus. Es ist unerträglich heiß, und obwohl die Fahrt jetzt schneller geht, weil keine neuen Passagiere mehr zusteigen, ist von der anfänglichen Urlaubsstimmung nicht mehr viel übrig. Apathie und Langeweile machen sich breit, die schnurgerade und fast leere Autobahn durch die ungarische Puszta wird zur Geduldsprobe.

Am späten Nachmittag überqueren wir endlich die Grenze nach Serbien. Je näher wir der bulgarischen Grenze kommen, desto lauter wird das Heimatbashing. Die fröhliche Stimmung ist endgültig gekippt. Nichts funktioniert, alles marode, Politiker korrupt. Als dann noch, nach mittlerweile 38-stündiger Fahrt, der Bus ausgerechnet auf der Zielgeraden kurz vor Sofia schlappmacht, ist das Gezeter groß. Katastroph! Unter großen Anstrengungen und im Schweiße ihres Angesichts gelingt es den Fahrern nach etwa zwei Stunden schließlich doch, den altersschwachen Motor wieder zum Laufen zu bringen.

Der Unmut der Fahrgäste ist durchaus berechtigt, wie ich finde: Es ist mittlerweile vier Uhr morgens, und viele haben ihre Anschlussmöglichkeiten in die Provinz verpasst. Sie richten sich auf dem Bahnhofsvorplatz ein, strecken sich lang aus mit ihrem Gepäck als Kopfkissen. Völlig zermürbt und kaputt von der Fahrt stehe auch ich am Bahnhof und denke an Raina. Auch sie muss von hier noch weiterfahren. Fast 500 Kilometer bis nach Dobritsch in Nordostbulgarien. Ich weiß jetzt: Ihre Fehlzeiten sind unbedingt zu entschuldigen. Nach über vierzig Stunden Busfahren brauche ich jetzt dringend den empfohlenen Erholungsurlaub in den Bergen und am Schwarzen Meer.

Nach drei Tagen Regeneration in Sofia fühle ich mich bereit, wieder in einen Bus zu steigen und mich dorthin auf den Weg zu machen. Zwei Wochen später fliege ich von Varna zurück nach Hamburg. Beim Blick aus dem Fenster gehe ich im Geiste meine Klassenliste durch. Wie wäre es, ich würde noch etwas weiter über meinen Hamburger Tellerrand blicken? Mich noch viel länger in fremden, mir bislang unbekannten Ländern und Gesellschaften aufhalten?

Afghanistan, Ghana, Spanien, Italien, Rumänien, Kosovo, Russland, Kolumbien, Nicaragua, Südkorea, Polen, Kroatien, Mazedonien, Armenien, Kasachstan, Iran, Albanien, Griechenland, die Schweiz und die Ukraine.

Diese Länder fallen mir ein. Ich würde die Lehrerrolle für eine Weile aufgeben und selbst wieder Lerner sein. Der Gedanke elektrisiert mich.

Hamburg

Im nächsten Schuljahr bereiten sich die Schüler auf den mittleren Abschluss vor, und ich plane meine Reise-Auszeit. Dafür beantrage ich ein Sabbatjahr, welches nur Tage später bewilligt wird. Welch Freude! Besonders praktisch ist, dass ich gewissermaßen täglich direkt an der Quelle sitze, um Ratschläge, Hinweise und Tipps zu bekommen, wie sie nur von echten Kennern, von Einheimischen eben, zu erhalten sind. Was muss ich unbedingt sehen, was darf ich auf keinen Fall auslassen, was unter keinen Umständen tun? Im Englischunterricht fordere ich meine Klasse 10d auf, mir Reiseführer für ihre Heimatländer zu basteln inklusive kleiner Sprachführer, damit ich wenigstens auf Begrüßungen reagieren und etwas zu essen bestellen kann. Wieder einmal wird mir klar, was für eine kognitive Leistung es eigentlich ist, Deutsch zu lernen und nur drei Jahre später eine Abschlussprüfung zu schreiben. In einem Farsikurs, den ich in der Volkshochschule belege, komme ich selbst an meine Grenzen. Mehrfach werde ich ermahnt, doch bitte die Hausaufgaben zu machen, sonst würde das nichts werden mit Small Talk im Iran.

Sprechen wollte ich Farsi, oder besser Dari, wie der afghanische Dialekt heißt, eigentlich in Kabul. Im ersten Schulhalbjahr habe ich viele Kontakte angebahnt und Möglichkeiten ausgelotet, nach Afghanistan zu reisen. Das Land sollte die erste Station auf der Reise zu meinen Schülern werden. Ich sprach mit NGOs, Journalisten, einer Lehrerin an der Deutschen Schule in Kabul und musste nach einiger Zeit einsehen, dass es schwierig werden würde, das Land als Zivilist zu besuchen. Als Tanims Vater mich dann warnte und bat, Abstand von dieser Idee zu nehmen, gab ich endgültig auf. Eines Tages, versprach er mir, werde er mich nach Afghanistan einladen. Aber zunächst müsse er ganz in Deutschland ankommen und sein Heimatland sich beruhigen. Das verstehe ich gut. Ich wünsche ihm, dass seine Vision von Afghanistan Realität wird, in der er wieder als Bauingenieur Schulen planen kann, ohne dafür mit Waffen bedroht und vertrieben zu werden. Ich werde meine Reise im Iran beginnen und auch dort sicher auf Afghanistan treffen, versichert mir Tanims Vater.

In der Schule sind in diesem Jahr Englischkurse für die Internationalen Vorbereitungsklassen hinzugekommen. Neben Deutsch werden auch die Kernfächer unterrichtet, damit der Übergang in die Regelklassen möglichst reibungslos verläuft. Es sind alle Niveaustufen dabei, von Anfängern bis hin zu native oder near-native speakers. Letztere fallen unter meine Obhut, was für meine Pläne großartig ist. Potenziell kommen mit diesem Kurs folgende Länder als Ziele hinzu:

China, Syrien, Neuseeland, Jordanien, Japan, Weißrussland, Norwegen, Indien, Dänemark,USA, Türkei, Serbien, Nigeria, Somalia, Sudan, Pakistan, Taiwan, Ecuador, Kanada, Sierra Leone, Großbritannien, Frankreich, Norwegen und Eritrea.

45 Länder innerhalb eines Jahres zu besuchen ist wohl ein bisschen viel. Ich bleibe der 10d treu, schließlich geht es mir um mehr als nur die Stempel im Pass. Trotzdem erhalte ich auch von diesem Kurs viele Reiseführer. Bei der Vorstellung der kleinen Hefte sind alle beeindruckt von der unfassbaren Vielfalt: Alle Kontinente außer der Antarktis kommen in diesem Raum in ausgesprochener Harmonie zusammen. Ich finde das regelrecht fantastisch und merke, wie viele unterschiedliche Weltanschauungen hier versammelt sind und wie viel wir voneinander lernen können. Ich bin kein Freund des großen Pathos, aber diese Stunden fernab der bildungsbehördlichen Curricula sind wirklich bewegend.

Am Ende des Schuljahres bestehen alle die Abschlussprüfungen. Die Nervosität war groß, die Erleichterung ist nun umso größer. Mich freut besonders, dass die meisten ihre Schulkarriere in Deutschland bis zum Abitur fortsetzen. Ich ziehe meinen Hut vor der 10d. Wenn ich mir vorstelle, meine Eltern wären mit mir als dreizehnjährigem Teenager in den Iran oder nach Russland gezogen und ich hätte dort mit sechzehn oder siebzehn eine Abschlussprüfung auf Farsi oder Russisch bestehen müssen – es ist nicht unwahrscheinlich, dass ich kläglich gescheitert wäre. Zum Glück bin ich heute über zwanzig Jahre älter und weiß, was ich tue. Es ist Zeit aufzubrechen.

Als Erstes in den Iran. Ich bin sehr gespannt, ob nicht trotz mangelhafter Hausaufgabenmoral in der Volkshochschule ein paar sinnvolle Floskeln hängen geblieben sind, die mir den Start erleichtern. Der Konsulatsmitarbeiter in Hamburg, der mir eines Morgens ein vierwöchiges Visum in den Pass geklebt hat, reagierte auf mein freudiges »Sobh be kheyr« (Guten Morgen) völlig emotionslos mit einem sehr trockenen »Good Morning«. Ernüchternd. Nach Ablauf des Visums werde ich den Iran dann Richtung Norden nach Armenien verlassen, um von dort über Georgien auf den Westbalkan zu gelangen. Das Kosovo und Albanien wurden in meiner Klasse stets als spannende Reiseziele gepriesen. Mein Weg zurück nach Hamburg führt mich durch Italien und Polen, und dann, zu Beginn der kalten Jahreszeit, wartet meine Freundin Luisa am Flughafen auf mich, in den Händen unsere Reiseführer für Kuba, Nicaragua und Kolumbien. Das ist der Plan. Später soll es über den Pazifik und mit der Eisenbahn zurück nach Hause gehen. Und ich will unbedingt Ghana bereisen. Mal sehen, Zukunftsmusik. Erst mal los.

Iran

In meinem Reiseführer steht: Iran is a beautiful country. Just go and find out for yourself!

Ich habe gedacht, das steht da, weil Bahram, der Schüler, der das geschrieben hat, keine wirkliche Lust hatte, einen ausführlichen Reiseführer für seinen Lehrer zu verfassen. Womöglich stimmt das sogar, aber ich unterstelle wohlwollend, dass er genau wusste, was er tat, denn eigentlich sind diese zwei Sätze das Einzige, was man über eine Reise in das Land wissen muss. Jede Vorbereitung ist sinnlos, da das, was man gehört oder gelesen hat, sowieso nicht deckungsgleich ist mit der Realität, auf die der Einzelne trifft. Im Iran gibt es ganz viele parallel existierende Realitäten, von denen ich einige entlang der Städte, die mir der Reiseführer ohne präzise Ausführungen vorschlägt, kennenlerne. Bahram hat also geradezu philosophische Umsicht bewiesen.

Zunächst einmal ist da der offizielle Iran, der einen am Flughafen Imam Khomeini empfängt. Der namengebende Revolutionsführer ist es auch, der streng und überlebensgroß von einem Plakat auf die Reisenden in der Ankunftshalle herabschaut und sie in der Islamischen Republik begrüßt. Bei seinem Anblick kommt mir der Gedanke, dass die iranische Revolution ein Marketingproblem hat. Würde ihr Führer etwas gütiger gucken und nicht wie das fleischgewordene Böse, wäre das Image dieser Islamischen Republik vielleicht nicht ganz so miserabel. Andererseits symbolisiert er absolute Macht im Namen Allahs – ein netter Gesichtsausdruck ist da vielleicht irreführend und setzt falsche Signale.

Auch alle Banknoten, die ich bald nach meiner Ankunft vor dem Flughafen tausche, werden geziert von seinem grimmigen Antlitz. Wie viele Khomeinis ich denn wolle, fragt der windige Devisenhändler grinsend und hebt den Namen des toten und doch omnipräsenten Führers spöttisch hervor. Da der Iran vom internationalen Zahlungsverkehr abgeschnitten ist, Ausländer also nur bar bezahlen können, entgegne ich: »Viele«, und halte ihm einen Teil meines Reisebudgets in Euro hin. Er zählt und zählt und überreicht mir irgendwann einen fast ziegelsteingroßen Batzen Geld. Ich bin Khomeini-Millionär! Die Inflation der letzten Jahre führte zu irrwitzigen Beträgen, mit denen die Iraner jeden Tag hantieren. Ein paar Rial, so heißt die Währung offiziell, stecke ich lässig wie ein Local in meine Hemdtasche, den Rest in verschiedene Depots in meinem Gepäck.

Eine andere Realität der Stadt ist, dass sie an ihren Abgasen zu ersticken droht. Der Verkehr ist wahnsinnig und raubt jedem Neuankömmling die Sinne. Wäre ich Verkehrsminister, ich würde unbedingt leise schnurrende Elektromotorräder subventionieren, um den Höllenlärm, besonders verursacht von Zweirädern, erst einmal auf die vierrädrigen Vehikel zu reduzieren. Parallel dazu müsste es natürlich massive Investitionen in das öffentliche Nahverkehrsnetz geben, auf das schon heute viele Menschen ausweichen und das entsprechend voll ist. Dieser Umstand führt mich an meinem ersten Tag in Teheran in zwei weitere Realitäten des Landes. Die der Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum und die der legendären Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft der Menschen:

In Teheran gibt es zwar ein funktionierendes U-Bahn-Netz, das allerdings nicht ausreicht, um alle Stadtteile miteinander zu verbinden. Viele Tunnel mehr müssten gegraben werden für all die Pendler und Reisenden. Das ist auch geplant, bis zu deren Fertigstellung dauert es aber noch. Bis dahin müssen sich die Teheranis mit Expressbussen zufriedengeben. Diese Busse haben Extraspuren auf den Stadtautobahnen und freie Fahrt. Eigentlich eine gute Idee, nur reicht ihre Kapazität nicht aus.

Bei meinen Versuchen, einen Expressbus zu besteigen, scheitere ich kläglich. Resigniert stehe ich an der Haltestelle im Bereich für Männer und sehe Bus um Bus vor meiner Nase wegfahren. Ich habe einfach keine Chance, in eines der hoffnungslos überfüllten Gefährte einzusteigen. Es ist erstaunlich, auf wie wenig Raum sich so viele Menschen pressen lassen, denke ich noch, als mich der für die Haltestelle zuständige Fahrkartenkontrolleur anspricht und an die Hand nimmt. Er will mir helfen, im nächsten Bus einen Platz zu ergattern. Dazu bugsiert er mich in den Bereich der Haltestelle, der eigentlich ausschließlich für Frauen reserviert ist, und drängt mich bei Ankunft des Busses durch die Tür. Die mitreisenden Damen gucken verblüfft, als ich die Geschlechtertrennung im öffentlichen Personennahverkehr zwangsläufig aufhebe. Der Kontrolleur schiebt mich immer weiter in Richtung Fahrer bis ganz nach vorne und weist auf einen Platz direkt neben dem Mann am Lenkrad. Darauf nehme ich Platz, der Bus fährt an, und ich traue mich nicht, mich umzudrehen. Unmittelbar hinter mir wähne ich lauter Frauen in schwarzen Tschadors, die mich missmutig und übellaunig anstarren, und dahinter, eingepfercht in ihrem Abteil, die Männer, in deren Verdrängungswettkampf um ein bisschen Platz ich so erbärmlich versagt habe. Unsicher schaue ich stur geradeaus durch das Fenster, als mich von hinten eine sanfte Stimme anspricht. Ich drehe mich um und blicke in erheiterte Gesichter, die mich, umrahmt von Kopftüchern, allesamt aufmunternd lächelnd anschauen. Sogar eine alte Frau, deren moralinsauren Blick ich besonders gefürchtet hatte, wirft mir ein warmes »Welcome to Iran« zu.

Die sanfte Stimme gehört Behnaz, einer Künstlerin, wie sich später herausstellt. Ich habe ihr im Bus auf ihre Nachfrage meine Telefonnummer gegeben, sie ein paar Tage später getroffen und so weitere iranische Realitäten kennengelernt: die der Paranoia, der Kreativität und der Verzweiflung, wenn man sich nicht dem System anpassen kann und will, und wer kann das schon, wenn man nicht das tun darf, was man gerne macht.

Behnaz treffe ich in ihrem Atelier im Norden der Stadt, wo die besser gestellten Tehranis wohnen. Hier oben in den südlichen Ausläufern des Elburs-Gebirges weht ein frisches Lüftchen, der Verkehr ist nicht ganz so übel, und man kann manchmal den Horizont sehen. Das Beverly Hills Teherans sozusagen. Wie in Kalifornien mangelt es auch hier nicht an frischen Ideen. Behnaz zeigt mir ihr letztes Projekt, in dem sie sich kritisch mit der Verschleierung von Frauen auseinandersetzt. Sie kann es nicht ertragen, dass Frauen, insbesondere solche aus konservativen Familien, sich von einem Stück dunklen Stoffs knechten lassen müssen. Der Tschador mache Frauen unsichtbar, sagt sie, und führe zu enormer Verunsicherung ihrer Trägerinnen, die sie nie wieder abschütteln könnten. Warum denn nicht alle so luftige Kopftücher tragen wie sie, will ich wissen, und ob es eine offizielle Vorgabe gibt. Mir ist nämlich schon aufgefallen, dass es ganz unterschiedliche Auslegungen der öffentlichen Kleiderordnung gibt. Das hänge allein von der Erziehung und der Situation zu Hause ab, erklärt sie. In konservativen Familien ist ab dem Teenageralter Tschador angesagt, in offeneren Haushalten wie dem ihren wird der schwarze Stoff durch farbenfrohe Hidschabs ersetzt. Hauptsache, in der Öffentlichkeit sind das Haar und der Nacken bedeckt, dafür sorgt die Sittenpolizei, über deren Präsenz sich alle im Klaren sind und die die Regeln je nach Bedarf mal strenger und mal weniger streng auslegt.

Die Sittenpolizei sorgt auch dafür, dass Behnaz ihre Kunst nicht im öffentlichen Raum ausstellen darf und im Internet nur unter falschem Namen unterwegs ist. Geld verdienen mit dem, was sie am liebsten macht, ist also nicht drin. Das geht nur im Ausland, und da will sie hin, wie so viele andere auch. Das Problem mit dem Ausland ist allerdings ein Visum – und, noch viel wichtiger, im Ausland stoße sie mit ihrem Anliegen wohl auf großes Verständnis, für die eigentlichen Adressaten bleibe ihre Kunst aber weiterhin unsichtbar.

Auf meinem Rückweg durch die Stadt achte ich verstärkt auf die Art, wie Frauen sich in Teheran kleiden. Mir fallen ganz unterschiedliche Variationen von Kopfbedeckungen auf, ich erkenne konservative Familien und freiheitsliebende Individualistinnen, und mir wird klar, wie viel Mut es braucht, die Grenzen der Regeln auszuloten. Beim Anblick eines Mädchens, das ein Iron-Maiden-Shirt trägt, abgewetzte Chucks und einen Nasenring, kombiniert mit einem lax im Nacken hängenden Schal, denke ich an meine Schüler und ihre oft hilflosen Versuche zu provozieren. In Deutschland gar nicht so leicht, meinen Kollegen und mir ringt höchstens plötzliche Vollverschleierung eine Reaktion ab, in Iran ist die Wahl der Garderobe im öffentlichen Raum ein Drahtseilakt und ein hochpolitisches Statement, das im schlimmsten Fall körperliche Maßregelung nach sich zieht. Oh Iran, warum tust du deinen Frauen das an?

Afghanistan im Iran: Seekers of Knowledge

Die Schule mit dem ambitionierten Namen Seekers of Knowledge liegt nicht in Afghanistan. Sie liegt in den westlichen Randbezirken der iranischen Hauptstadt Teheran. Hier unterrichten engagierte Ehrenamtliche aus der Stadt Flüchtlingskinder aus dem benachbarten Afghanistan, die im Iran keinen Anspruch auf den Besuch einer staatlichen Schule haben. Schätzungsweise zwischen zwei und drei Millionen Einwanderer aus dem Nachbarland leben im Iran, genaue Zahlen kennt niemand. Auch in zweiter Generation bekommen die Afghanen keinen Zugang zu Bildung und damit auch nicht zum regulären Arbeitsmarkt, selbst die Kinder der vor Jahrzehnten Geflüchteten haben also keine Aussicht darauf, jemals ein geregeltes Leben im Iran führen zu können.

Ich wurde von Reza, einem der Ehrenamtlichen, eingeladen, ihn in der Schule zu besuchen und zu sehen, wie er und seine Kolleginnen den circa 250 Schülerinnen und Schülern Englisch beibringen. Die über zweistündige Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch den mörderischen Verkehr des Fünfzehn-Millionen-Molochs Teheran ist nervenzerfetzend und wahnsinnig anstrengend. Alle Kollegen nehmen diese Tortur regelmäßig auf sich, was allein schon große Anerkennung verdient. Rezas Kolleginnen, an diesem Tag Anahita und Azadeh, sind mit demselben Feuereifer dabei wie Reza selbst. Sie wollen den Menschen ein Stück ihrer Würde zurückgeben und wenigstens für ein Mindestmaß an Bildung sorgen.

Wie im Iran üblich, werden die Schüler auch bei den Seekers of Knowledge getrennt nach Geschlechtern unterrichtet. Alle haben Uniformen an, die Jungs dunkelblaue Hosen und ein hellblaues Hemd, der Dress der Mädchen wird mit einem taubenblauen Kopftuch abgerundet. Bei Anahita geht es heute für die ganz kleinen Jungs um das lateinische Alphabet. In dem viel zu kleinen Raum drängen sich bis zu drei Schüler auf einer Schulbank, es ist heiß, der Ventilator rattert. Der Reihe nach werden Schüler nach vorne gerufen, um dort Buchstaben an die Tafel zu schreiben. Das ist nicht so einfach, es scheitert oft schon daran, dass die Stifte nur schlecht funktionieren, aber auch an nicht gemachten Hausaufgaben und fehlendem Arbeitsmaterial zu Hause.

Es sei sowieso schon ein kleines Wunder, dass die Eltern ihre Kinder überhaupt hierherschickten, sagen die Lehrerinnen, schließlich müssen die Kids oft zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Die Väter verdingen sich als Tagelöhner auf dem Bau, in der Gastronomie, auf Teherans gigantischem Basar und überall dort, wo sonst noch billige Arbeitskräfte gebraucht werden, während sich ihre Kinder durch übervolle U-Bahnen und Busse quälen oder sich durch den dichten Verkehr schlängeln, beladen mit schweren Plastiktaschen, um daraus allerlei Billigware wie Selfiesticks, Kopfhörer oder auch Plüschtiere zu verkaufen. Auf meinem Weg zur Schule habe ich einen Jungen gesehen, der rote Pappnasen verkaufte. Ein zynisches Bild. Das sind oft die Kinder der Einwanderer aus Afghanistan, bestätigt Anahita. Unter solchen Umständen bekommen Hausaufgaben, ja Schulbesuche insgesamt einen ganz anderen Stellenwert.

Der Unterricht geht weiter, bis Suleiman über das kleine e stolpert. Er schafft es nicht, den Buchstaben für die Lehrerin zufriedenstellend an die Tafel zu bringen. Nervös trippelt er von einem Fuß auf den anderen, seine Mitschüler lachen. Ich kann ihn ganz gut verstehen: In dem Sprachkurs zur Vorbereitung auf diese Reise und zum besseren Verständnis meiner Hamburger Schüler habe ich versucht, des persischen Alphabets Herr zu werden. Bei meinen unbeholfenen Schreibversuchen wurde ich oft von meinem gestrengen Lehrer gerügt: »Am besten lernt man durch Wiederholung«, sagte er dann und forderte mich auf, immer weiter das persische Wort für Wasser (āb) in mein Heft zu schreiben: , , 

Eine halbe Seite später war mein kalligrafischer Ausdruck dann in den Augen des nach Perfektionismus strebenden Lehrmeisters in Ordnung, und es ging weiter mit baba (Papa). Dann baradar (Bruder). Es ist gar nicht so einfach, ein fremdes Alphabet zu lernen. Mich haben schon die zwei simplen Buchstaben a und b an den Rand der Verzweiflung gebracht.

Bohrende Ermahnungen bleiben Suleiman heute erspart. Anahita korrigiert und beendet die Stunde. In der Pause stellt Reza mir Shabana vor. Sie ist neunzehn und die beste Schülerin der Seekers of Knowledge. Sie spricht hervorragend Englisch, und so kommen wir ins Plaudern. Ihre Geschichte erinnert mich sehr an die der Schüler, die ich aus meiner Hamburger Schule kenne: geflohen mit ihrer Familie aus Afghanistan vor Krieg, Terror, Chancen- und Arbeitslosigkeit, in den Iran gekommen über die grüne Grenze zu Pakistan mithilfe eines Schleppers. Gelandet ist Shabana schließlich in diesem trostlosen Vorort Teherans, wo sie mit vielen anderen Leidensgenossen aus ihrem Heimatland lebt.

In Anbetracht der Situation hier kann ich verstehen, warum die Eltern meiner Schüler sich entschlossen haben, weiterzuziehen oder, und auch das gibt es oft, ihre Kinder alleine loszuschicken, um später selbst nachzukommen, wenn die Umstände es zulassen.

Dass diese Situation schwer zu ertragen ist, weiß auch Reza, und der iranische Staat weiß es auch. Das Bildungswesen sei zwar insgesamt gut, aber die Kapazitäten reichten schlicht nicht aus, erzählt Reza. Der Iran hat selbst große Probleme, das Land kann diese Aufgabe nicht alleine stemmen. Als Zeichen des guten Willens beschloss das Bildungsministerium in diesem Jahr, allen Flüchtlingen aus Afghanistan im schulpflichtigen Alter den Zugang zu staatlichen Schulen zu ermöglichen. Ein Lippenbekenntnis, passiert ist bisher nichts, die Seekers of Knowledge haben mehr Zulauf denn je.

Auch Shabana weiß all das und ist verzweifelt. Sie sagt, selbst wenn sie jetzt noch eine iranische Schule besuchen dürfte, würde sie doch nie für eine Uni zugelassen werden. Sie wollte immer Ärztin werden, um später den Menschen in Afghanistan zu helfen. Sie weiß, dass sich dieses Ziel hier nicht erreichen lässt, und deshalb fragt sie vorsichtig, ob es vielleicht eine Möglichkeit gebe, nach Deutschland zu kommen.

Auf diese Frage hätte ich vorbereitet sein müssen. Ich kann sie nicht beantworten. Hilflos suche ich nach einer passenden Antwort, wissend, dass es für Menschen wie Shabana wohl nahezu unmöglich ist, legal nach Deutschland einzureisen. Sie ist neunzehn, hat keinen Schulabschluss und keine Berufsausbildung. Mir bricht es das Herz. Gerne würde ich ihr von den Erfolgsgeschichten der afghanischen Schüler an meinem Hamburger Gymnasium erzählen, die eine ähnliche Biografie haben wie sie: von Stipendien für Eliteinternate und bestandenen Prüfungen, von Zugangsberechtigungen für deutsche Unis, von Familiennachzug und Arbeitserlaubnissen für die Eltern. Doch das tue ich nicht, ich will sie nicht ermutigen, die Flucht nach Westen fortzusetzen. Denn ich kenne auch die Geschichten derer, die nicht so viel Glück hatten. In denen geht es um lebensgefährliche Überfahrten, langes und bleiernes Warten in vorübergehenden Unterkünften in verschiedenen europäischen Ländern, Suizidversuche aus Heimweh und Einsamkeit, um Familientragödien, Depressionen und permanente Angst vor Abschiebung. Aber auch davon erzähle ich nichts. Ich sage nur, dass es dieser Tage für Flüchtlinge aus Afghanistan schwer möglich sei, in Deutschland überhaupt anzukommen.

Shabana ist enttäuscht. Zu Recht. Da kommt jemand den weiten Weg aus Deutschland, nur um ihr diese Nachricht zu überbringen. Es ist unfair, dass ein offenbar sehr talentiertes, weltoffenes und intelligentes Mädchen nicht die Chancen erhält, die für mich selbstverständlich waren und die für alle deutschen Schüler selbstverständlich sind.

Was also tun? Reza verspreche ich, mich nach meiner Rückkehr nach Deutschland um Stifte zu kümmern. Außerdem bin ich zuversichtlich, dass meine Schule noch ein paar Englischbücher entbehren kann. Ich befürchte allerdings, dass ein paar Stifte und ein paar Bücher Menschen wie Shabana nicht zum Bleiben bewegen werden. In ihren Augen funkelt Entschlossenheit. Sie wird ihr Schicksal nicht einfach so akzeptieren, sie wird alles daran setzen, herauszukommen aus diesem tristen Teheraner Randbezirk, und es woanders auf der Welt versuchen. Auch hat sie keine Zeit, darauf zu warten, dass sich die Bedingungen in ihrer Heimat bessern. Sie will leben, und deshalb wird sie allen Schwierigkeiten und Gefahren zum Trotz ebenfalls aufbrechen und ihr Glück in Westeuropa suchen. Wer kann es ihr verdenken? Ich jedenfalls nicht. Ach, Iran, Afghanistan und der Rest der Welt. Irgendwie müssen wir gemeinsam eine Lösung finden.

Defizitorientierung

Die Basare des Iran sind schlicht wundervoll. In labyrinthartigen Gängen und Hallen befinden sich Hunderte kleine Stände, die alles, was der Mensch zum Leben braucht, und noch ein bisschen mehr, grell illuminiert in ihren Auslagen zum Kauf anbieten. Diese Orte des Handels und der sozialen Zusammenkunft sind oft jahrhundertealt und haben sich einen besonderen Zauber bewahrt. So auch in Kashan, einer kleinen Stadt am Rande der Dasht-e Kavir, einer der trockensten Wüsten der Welt. Man kann sich vorstellen, wie schon zu Zeiten der Seidenstraße hier Waren begutachtet wurden, bei Tee und Shisha hart gefeilscht wurde und es nach zähen Verhandlungen am Ende doch zu einem Geschäftsabschluss kam.

Eine vollkommen authentische Erfahrung – so würden Reiseanbieter in ihren Prospekten werben. Aber es stimmt tatsächlich. Während ich da so sitze bei einem Tee in einem bauchigen Gläschen, beobachte ich die Kashaner Bevölkerung dabei, wie sie ihre alltäglichen Einkäufe erledigt, und freue mich darüber, dass es eine Welt gibt, die nicht dominiert wird von den Marken großer Ketten und Einkaufszentren. Tee trinken vor einem Lidl-Markt ist sicher langweiliger. In Iran dagegen ist man auf einem Basar nie lange allein, erst recht nicht Tee trinkend. Zu mir gesellt sich Emran, ein arbeitsloser Soziologe. Solche Abschlüsse führen im Iran selten zu Jobs oder gar zu finanziellem Erfolg, sagt er und lacht bitter. Das ist eine Sache, die Deutschland und der Iran gemein haben, antworte ich, warte aber vergeblich auf eine Reaktion. Seinen Lebensunterhalt verdient er zurzeit mit Gartenarbeiten in Hotels und schaut kurz sorgenvoll drein, findet aber schnell seine gute Laune wieder, als er über den großen persischen Dichter Hafis (1315 – ca. 1390) zu sprechen beginnt. Zu seiner Zeit konnte man mit den schönen Künsten glänzen, das gute Leben mit seinen Genüssen war hoffähig, nachzulesen in den Werken Hafis’, in denen es um Alkohol, verliebte Schwärmereien und Sinnlichkeit geht. Mit Hafis kann ich noch etwas anfangen, ich hatte sogar von Goethes huldvoller Zuneigung zu ihm gelesen. Nicht so sehr allerdings mit Omar Chayyām, dessen Werk Emran mir als Nächstes ans Herz legt. Er schaut enttäuscht, als er feststellt, dass ich den Namen dieses bedeutenden Universalgelehrten aus dem 11. Jahrhundert nicht kenne. Plötzlich fühle ich mich elend und ignorant. Bezogen auf Europa ist das in etwa so, als hätte ich noch nie von Leonardo da Vinci gehört, wie ich später bei einer Recherche feststelle.

Dies nehme ich mal als Metapher für den Umgang Europas mit dem Iran insgesamt. Wenig bis gar nicht kommen die Errungenschaften dieser großen Kultur in unserem Leben vor. In der Schule hören wir höchstens rudimentär von persischen Schriftgelehrten, Astrologen und Naturwissenschaftlern, und in der Uni muss man schon Iranistik studieren, um von bedeutenden persischen Menschen und deren Leistungen zu erfahren. Das ist kein besonders wertschätzender Umgang mit einer so bedeutenden Kulturnation wie dem Iran, denke ich schuldbewusst, als Emran nachlegt und mich mit den Sozialtheorien Max Webers konfrontiert, dem kategorischen Imperativ Immanuel Kants und seiner Faszination für Carl Friedrich Gauß und Sigmund Freud. Er kennt sich auch noch mit den Werken großer deutschsprachiger Intellektueller und Denker aus, er vereint das Beste aus allen Welten, bewundere ich ihn und fühle mich selbst sinnlos und oberflächlich. Bis eben hatte ich gedacht, für eine Reise in den Iran reiche es aus, sich knapp mit dem Koran auseinanderzusetzen, einen Film von Abbas Kiarostami zu schauen und die Reiseführer meiner Schüler zu lesen. Eben nicht! Schlagartig wird mir klar, dass ich nicht besser bin als all diejenigen, deren Iranbild sich auf fundamentalistische und amerikahassende Ajatollahs beschränkt. Vielleicht noch ein bisschen schlimmer, denn ich gebe vor, großes Verständnis für die Lage der Menschen im Land zu haben. Aber eigentlich habe ich keine Ahnung, was mich schlicht zu einem Heuchler macht. Iran, was soll ich sagen, du hast mich entlarvt!

Als ich im Nachhinein über das Gespräch nachdenke, wird mir besonders klar, wie schwierig es für meine Schüler sein muss, die Inhalte deutscher Schulbücher zu durchdringen. Vor allem in Fächern wie Geschichte und Politik ist es nicht nur die Fachsprache, die ihnen zu schaffen macht, sondern es sind ebenso die für jeden Deutschen geläufigen Namen wie Bismarck, Ludwig Erhard oder Helmut Schmidt, die sie vor große Rätsel stellen. Hinter diesen Namen verbergen sich Konzepte, Ideen und Weltanschauungen, die für jeden Muttersprachler leicht zugänglich sind – allein schon durch die Vertrautheit der Namen. Das wird schwieriger, wenn der Name nichts auslöst, wie mir am Beispiel Ali Shariatis bewusst wird, eines iranischen Revolutionärs, der zu Zeiten des Kalten Krieges von sich reden machte, als er einen dritten Weg neben Kapitalismus und Kommunismus propagierte.

Auch von ihm sprach Emran, und ich habe viele Anläufe gebraucht, um ihn endlich bei Google zu finden, weil ich mir nur den ungefähren Klang seines Namens hatte merken können. Ich nehme mir vor, den Denkern der Welt mehr Wertschätzung entgegenzubringen, indem ich mich mit ihnen auseinandersetze, sie vor allem auch in der Schule thematisiere und sie gemeinsam mit den Schülern mit den wichtigen Persönlichkeiten aus deutschen Lehrplänen abgleiche. So bekommen wir dann alle ein besseres Gespür für die großen Zusammenhänge.

Zurück im Kashaner Teehaus äußert Emran noch einen interessanten Gedanken. Wir sind mittlerweile angelangt bei der hohen Arbeitslosigkeit im Land und der Frustration, die viele Schul- und Uniabgänger empfinden, wenn sie verzweifelt versuchen, einen Job zu finden. Ob es hilfreich wäre, wenn die noch immer wirksamen Sanktionen vollends aufgehoben würden, frage ich. Emrans Antwort ist überraschend: Einerseits könnte das zumindest für einen kleinen Aufschwung sorgen, andererseits auch große Probleme verursachen. Zunächst würden die Basare verschwinden und durch Einkaufszentren wie überall auf der Welt ersetzt werden. Dadurch würde der Iran einen Teil seiner kulturellen Identität verlieren, seine Städte würden gesichtslos werden durch die Präsenz der ewig gleichen Shoppingmalls. Außerdem, und das darf man nicht unterschätzen, hängen viele Millionen Arbeitsplätze von den Basaren im ganzen Land ab. Diese würden dann verloren gehen, verdrängt von finanziell potenten Westfirmen. Die stolzen Bazaaris plötzlich Angestellte bei H & M, Carrefour oder Lidl! Unvorstellbar. Deshalb seien auch alle Händler sehr konservativ. Nicht so sehr aus religiösen Gründen, sondern in erster Linie, weil sie ihr Geschäft schützen wollten. Iran, du stolzes Land.

Ich verlasse Kashan mit einem Zug nach Yazd. Auf beiden Seiten die endlose Ödnis der Wüste, im Abteil ein amüsantes Gespräch mit zwei Zugbegleitern. Sie wundern sich, weshalb es Touristen gibt, die freiwillig in diese unattraktive Mondlandschaft reisen, und machen ihre Witze über die Schlichtheit von Mensch und Natur in dieser Gegend. Kurz vor der Ankunft am Zielort bin ich fast geneigt, ihnen recht zu geben, so reizarm wurde der Blick aus dem Fenster nach anfänglicher Wüsteneuphorie.

Dass die Gegend aber alles andere als schlicht ist, erfahre ich schon bald von Amir. Mir ist schon aufgefallen, dass sich scheinbar zufällige Begegnungen mit Menschen vor Ort schnell zu einer Art Verkaufsgespräch für Fahrt- und Reiseleiterdienstleistungen aller Art entpuppen. So war es auch bei ihm, und ich gehe ihm mehr oder weniger absichtlich auf den Leim, weil er charismatisch und lustig ist und offenbar weiß, wovon er spricht. Wir fahren also gemeinsam zum geheimnisvollen Turm des Schweigens, wie eine ehemalige zoroastrische Bestattungsanlage vor den Toren der Stadt genannt wird. Der Zoroastrismus, der vorislamische Glaube in Persien, sei keineswegs verschwunden, erklärt mir Amir auf der Fahrt. Neben kleinen Gemeinden in Iran selbst, in Indien, aber auch in den USA und Europa sei vieles vom zoroastrischen Glauben in alle anderen Religionen übergegangen. Die Maxime der Zoroastrier sei: Gutes tun, Gutes denken und Gutes sprechen – und dies finde sich unbestreitbar in allen Weltreligionen wieder. Man denke nur an die Zehn Gebote der Christen oder das Karma der Hindus. Auch die europäischen Aufklärer hätten im Prinzip nichts weiter als diese drei Leitgedanken formuliert. Es gehe sogar noch weiter, fährt Amir fort. Sogar durchaus spektakulär, wie ich finde, denn der Zoroastrismus hat Eingang in unser aller Sprachgebrauch gefunden. Der eine Gott, auch Zoroastrier sind Monotheisten, heißt Ahura Mazda. Und ebendiesen Ahura finden wir heute als Ausdruck von Freude in vielen Sprachen wieder. Hurra! Hooray! Hurrah! Ob Mazda von Japanern für den Namen einer Automarke geklaut wurde, kann Amir mir leider nicht sagen. Möglich sei das aber durchaus, überlegt er nachdenklich.

Interessant geht es weiter, als wir schließlich den Turm oder eher die Türme des Schweigens erreichen. Es sind zwei, wie schon aus der Ferne zu erkennen ist. Die Türme waren für die Riten der Zoroastrier von zentraler Bedeutung. Ihr Glaube sieht vor, dass die Erde, auf der wir leben, auf keinen Fall beschmutzt werden darf. Schon gar nicht darf sie von den Körpern der Toten kontaminiert werden, und deshalb musste man sich etwas Besonderes einfallen lassen: Die Türme sind eigentlich natürliche Berge, deren Gipfel flach sind. Hier wurden die Überreste der Verstorbenen von Totenwächtern abgelegt und damit den Geiern überlassen. Die Knochen, die übrig blieben, wurden dann Löchern auf dem Gipfel übergeben, immer noch weit genug weg vom Boden, auf dem wir leben. Bis in die Sechzigerjahre hinein wurde diese Praxis an diesem Ort durchgeführt, klärt Amir mich auf. Dann wurde sie verboten.

Es folgt ein weiteres Beispiel für meine grenzenlose Ignoranz, denn ich wittere in meiner lehrerhaften Defizitorientierung sogleich die Diskriminierung religiöser Minderheiten. Amir lacht laut auf. Er möchte mal sehen, wie lange deutsche Behörden es dulden würden, wenn plötzlich eine Religionsgruppe darauf käme, ihre Toten an Wildtiere zu verfüttern. Da ist was dran, Ordnungs- und Gesundheitsämter wären dieser Idee sicher nicht besonders zugeneigt. So ist es auch hier, das Verbot hatte ausschließlich hygienische Gründe, schließlich ist die Stadt im Laufe der Zeit immer näher an den Turm des Schweigens herangewachsen. Außerdem müsse ich doch wohl zugeben, dass das alles mehr als ekelig sei, diese Riesenvögel dabei zu beobachten, wie sie Fleischfetzen und Innereien aus den Kadavern rissen und sie dann noch permanent über der Stadt kreisen zu sehen, wissend, dass ihre einzige Nahrungsquelle tote Menschen seien. Ich gebe Amir recht, besonders, als mir auffällt, dass tatsächlich kein einziger Aasfresservogel zu sehen ist, und er bestätigt, dass die Geier kurz nach dem Verbot ganz aus der Gegend verschwunden sind. Als natürliche Nahrungsquelle eignet sich die Dasht-e Kavir nämlich nicht. Oh Mann, Iran, wie oft willst du mich noch blamieren. Heute bestatten die Zoroastrier ihre Toten übrigens in oberirdischen Gruften auf eigens angelegten Friedhöfen.

Abbas Normal Farmer

Zwischen Yazd und Schiras befinden sich viele Täler im Zagros-Gebirge. In einem dieser Täler liegt Bavanat, ein kleiner Bezirk inmitten eines Gebietes, das bis heute von Nomaden bewohnt wird. Nicht weit von der Bezirksstadt entfernt befindet sich das Dorf von Abbas Barzegar, Abbas Normal Farmer, wie er sich selbst nennt. Seine Geschichte ist wirklich erstaunlich und einigermaßen unwahrscheinlich, fast schon fantastisch und gerade deshalb erzählenswert. Seine Legende geht so:

Zu einer Zeit, als Abbas am Boden zerstört war, nicht wusste, wie er seine Familie ernähren sollte mit den paar Walnüssen und Trauben, die auf seinem Grund wuchsen, und dem bisschen Getreide, das er dem kargen Boden abringen konnte, und schon aufgeben wollte, geschah es: Es klopfte an der Tür. Draußen war es dunkel und stürmisch, und es regnete. Abbas wunderte sich, wer um diese späte Stunde bei diesem Wetter noch Einlass begehrte. Fast hätte er die Tür nicht aufgemacht, aus Angst, Missmut und Lustlosigkeit. Er tat es doch, und sein Leben nahm eine unglaubliche Wendung.

Vor seiner Tür standen zwei Motorradfahrer. Sie waren den weiten Weg aus Deutschland gekommen und nun in der Gegend von Abbas Normal Farmer von schlechtem Wetter überrascht worden. Ihnen war kalt, sie waren müde und hatten Hunger. Gott würde es glücklich machen, wenn ich den beiden helfe, dachte Abbas und bereitete den beiden eine Nachtstatt, während seine Frau ihnen ein Abendessen servierte. Zufrieden, satt und ausgeschlafen setzten die beiden sich am nächsten Morgen auf ihre Motorräder und fuhren davon. Abbas wollte kein Geld für seine Gastfreundschaft, doch die Reisenden bestanden darauf, ihm eine Aufwandsentschädigung dazulassen. Es war eine für Abbas ungeheuer hohe Geldsumme. So viel, wie er sonst nicht in einem Monat verdient.

Ein paar Tage später nur klopfte es wieder an der Tür von Abbas Normal Farmer. Skeptisch öffnete er auch diesmal und erblickte eine größere Gruppe Menschen. Sie kämen aus Yazd, sagten sie und eröffneten ihm, dass dort zwei Motorradfahrer von seiner Gastfreundschaft und dem guten Essen in seinem Hause berichtet hätten. Das wollten sie nun auch probieren und hätten deshalb einen Fahrer engagiert, damit sie in sein Dorf hätten gelangen können. Zu seiner Verblüffung kamen diese Menschen wieder aus Deutschland. Wieder bereitete er ein Lager für die Nacht und seine Frau ein üppiges Abendessen. Die Gruppe war begeistert und reiste am nächsten Tag nach einem Frühstück wieder ab, nicht ohne ihm eine noch beträchtlichere Geldsumme dazulassen. Abbas begann, Licht am Ende des dunklen Tunnels zu erkennen, durch den er sich so lange hatte schleppen müssen.

Der Fahrer der Gruppe fuhr nun regelmäßig nach Bavanat zu Abbas Normal Farmer. Er war auch kein Fahrer mehr, sondern Reiseleiter, und er war umso erfreuter, als er erfuhr, dass Abbas’ Frau eine Nomadin gewesen war, bevor sie ihn geheiratet hatte. Nomadische Kultur ist für Touristen aus dem Westen besonders exotisch, die kennen sie nicht und wollen deshalb gerne sehen, wie Nomaden so leben, wusste der Reiseleiter aus Yazd. Also organisierte Abbas Normal Farmer kurze Ausflüge in die Lager der Nomaden mit seinem neuen Auto. Die Touristen waren begeistert und noch begeisterter davon, dass sie bei ihm zu Hause traditionell nomadisches Essen bekamen. An Abbas’ Tür klopfte es jetzt fast täglich.

Das alles passierte zu Beginn der Zweitausenderjahre, und Abbas weiß, dass er sich nur an folgenden Grundsatz halten muss: I’m happy, you’re happy, God is happy! Denn solange Menschen sein Haus glücklich verlassen, werden andere kommen, um auch glücklich zu sein. Sind sie das, lassen sie Geld da, was wiederum Abbas glücklich macht und andere Dorfbewohner, die dann für Abbas arbeiten können und dafür gut bezahlt werden. Sein Erfolg wäre wohl nicht möglich gewesen ohne die Bescheidenheit, die er sich bewahrt hat: Noch heute sei er nur Abbas Normal Farmer, der andere Menschen glücklich machen will, sagt er, wissend, dass Touristen Normal Farmer lieber mögen als Special Farmer.

Dennoch grenzt es an ein Wunder, dass er, und da ist er durchaus glaubwürdig, noch immer Abbas Normal Farmer ist, denn seine Geschichte wird noch fantastischer. Seine heute siebzehnjährige Tochter Zahra erzählt sie uns, während sie vor einem Schrein steht, in dem Gegenstände aus aller Welt, die die Gäste der Familie als Geschenke mitgebracht haben, aufbewahrt sind.

Als lokale Fernsehsender von Abbas’ Erfolg erfuhren, besuchten sie ihn und drehten einen Beitrag über seine Familie, die Touristen und die Nomadenkultur im Zagros-Gebirge. Plötzlich kamen auch iranische Touristen und waren genauso begeistert wie einst die deutschen Motorradfahrer. Abbas Normal Farmer konnte den Rummel nicht fassen, plötzlich war er so etwas wie eine Berühmtheit, und es sollte sogar noch besser kommen. Eines Tages erhielt er eine Einladung nach Teheran. Er, Abbas Normal Farmer, der nicht an einem einzigen Tag seines Lebens eine Schule besucht hatte, sollte in die Hauptstadt reisen, um dort Interviews zu geben und vor wichtigen und gebildeten Leuten zu sprechen. Er wurde begleitet von Zahra und ihrer kleinen Schwester, die, in traditionelle nomadische Gewänder gehüllt, mit auf der Bühne standen. Nach diesem Auftritt dachte er, nun könne nichts mehr kommen, der Gipfel sei endgültig erreicht. Doch weit gefehlt, plötzlich wollte sogar der Präsident ihn und seine Töchter treffen. DER PRÄSIDENT! IHN! ABBAS NORMAL FARMER! Und dazu kam es dann auch, zu sehen auf einem Foto, das Zahra und Abbas zusammen mit dem damaligen Staatsoberhaupt Mahmud Ahmadinedschad zeigt.

Zusammen mit meiner eigenen kleinen Reisegruppe bin ich einigermaßen fassungslos über diese Geschichte, die schier kein Ende nimmt, von Höhepunkt zu Höhepunkt eilt und von der wir bis zu unserer Ankunft im Dorf gar nichts wussten. Wir haben gedacht, wir machen Stopp in einem Dorf zwischen Yazd und Schiras, essen und übernachten bei einem normalen Farmer und gelangen mit etwas Glück noch in das Gebiet der Nomaden. »It’s magic«, dass wir gerade hier gelandet seien in dieser endlosen Weite der iranischen Wüsten, sagt Abbas. Seine Geschichte geht noch weiter.

Zahra führt uns in einen neuen Bau auf dem Grundstück der Familie. Er entpuppt sich als ein Museum. Die Exponate beschäftigen sich ausschließlich mit dem ungewöhnlichen Aufstieg der Familie, sind aber allein schon dann sehenswert, wenn man weiß, wie es überhaupt zu diesem Museum kam:

Der Präsident fand, dass Abbas Normal Farmer ein ganz famoser Botschafter seines Landes sein würde. Und so sandte er ihn ins Ausland zu Reisemessen und Tagungen. Auf diesen Reisen lernte Abbas so einiges über die Menschen, die ihn seit einigen Jahren täglich besuchten. Zum Beispiel erfuhr er in der Schweiz, dass die Menschen dort ihren Hunden Namen geben und die Tiere wie Familienmitglieder behandeln. Bei seiner Rückkehr erhielten auch seine Hunde Namen und stiegen von reinen Nutztieren zu Freunden der Familie auf. Ihm selbst gefällt das, den Touristen umso mehr. I’m happy, you’re happy, God is happy! In Deutschland machte er Bekanntschaft mit der Begeisterung der Menschen für biologische Landwirtschaft. Seine Landwirtschaft ist sowieso schon immer biologisch gewesen, trotzdem betont er seitdem bei jeder Gelegenheit, dass bei ihm alles organic sei. I’m happy, you’re happy, God is happy! Und in Paris hatte er den Eindruck, dass die ganze Stadt ein einziges Museum sei mit lauter Besuchern aus aller Welt. Also brauchte auch er ein Museum für die Menschen aus aller Welt. Nur, was darin ausstellen? Na klar, die Geschichte seines eigenen Aufstiegs. I’m happy, you’re happy, God is happy!

Seitdem die Motorradfahrer an seine Tür klopften, sind fast sechzehn Jahre vergangen, dennoch versprühen Abbas Normal Farmer und seine Familie eine derart positive Energie, dass man ihn durchaus auch auf Motivationslehrgängen für ausgebrannte Großstädter auftreten lassen könnte. Zweifellos ist sein Geschäftssinn grandios, aber auch sein Mantra und Markenzeichen I’m happy, you’re happy, God is happy zeigt nach all den Jahren keine Abnutzungserscheinungen und verleiht ihm eine Leichtigkeit, die jedem Start-up-Unternehmer von ganz alleine zu großem Erfolg verhelfen würde. Auch in der Schule werde ich diese Geschichte sicher erzählen. Vielleicht gelingt es mir sogar, Abbas Normal Farmer einzuladen und ihn vor der Schule sprechen zu lassen, um Schüler mitzureißen und sie zu ermutigen, niemals aufzugeben. Oh Iran, du erzählst große Geschichten.

Widersprüche

Mit dem Schrein Schah Tscheragh befindet sich eine bedeutende Pilgerstätte für schiitische Muslime in Schiras. Hier liegen die sterblichen Überreste Amir Ahmads und Mir Muhammads, beide Brüder des im Iran ungeheuer wichtigen Imam Reza, einer der zwölf Imame und Anhänger Alis. Wörtlich sind die Schiiten (Shiat Ali) die Jünger Alis, der das Erbe des Propheten nach dessen Tod im Jahre 632 hätte antreten sollen und dem die zwölf Imame folgten. Alle Muslime zu einen, so argumentierten sie, dazu sei nur ein Blutsverwandter des Propheten Mohammed, dessen Neffe Ali war, in der Lage. Die Sunniten sahen das anders. Sie installierten den in ihren Augen geeigneteren Kandidaten Abu Bakr, ein Weggefährte, jedoch kein Verwandter Mohammeds, an der Spitze des Kalifats. Ali und seine Anhänger fühlten sich zurückgesetzt, harrten aber weiter geduldig ihrer Chance. Im Jahre 656 wurden sie belohnt, das Glück über das Kalifat währte jedoch nur kurz. Unruhig wurde es so richtig, als Ali nur fünf Jahre nach Übernahme des Amts ermordet wurde.