Ein Deutschtürke im Abseits - Safeta Obhodjas - E-Book

Ein Deutschtürke im Abseits E-Book

Safeta Obhodjas

0,0

Beschreibung

Das Leben türkischer Jugend, besonders auch von Jungs, die sich auf der Suche nach sich selbst unsicher zwischen der islamischen Tradition und modernen westlichen Lebensart bewegen, dürfte für deutsche Leser eine weitgehend unbekannte Welt darstellen. Mert Seyder, ein Schüler, der gerne kickt, will der beste Torschütze eines improvisierten Fußballturniers werden. Er ist in seine Nachbarin Enisa verliebt, die für Fußball nichts übrig hat und sich weigert, seine Freundin zu werden. Zwischen den Organisatoren des Turniers, Merts Mutter Suna, und dem geliebten Trainer Osman entbrennt ein Machtkampf. Sein Onkel Riza, das Oberhaupt der traditionell strukturierten Familie Seyder, versucht Mert eine Verlobung mit einer Cousine aufzudrängen. Der naive und unerfahrene Junge wird zwischen den Fronten hin und her gezerrt. Am Ende ahnt der Leser, dass er eine lange und beschwerliche Reise vor sich haben wird, bis er seinen Platz in dieser Welt finden kann.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 167

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


@Safeta Obhodjas - Ein Deutschtürke im Abseits

Lektorat und Layout: Melitta Depner

Cover:

Idee: Safeta Obhodjas / Realisierung: Melitta Depner

Epubli Verlag Berlin

www.epubli.de

Safeta Obhodjas

Ein Deutschtürke

im Abseits

… Kischbischuwuuuuu ... Bzuuuuuu! Grrrm! Brmkrmmmm!

Das Skateboard gehorchte dem Kommando seines Körpers: Schwingen, Springen, Rasen, Bremsen, Drehen, wieder Rasen.

Das Toben auf dem Brett wirkte beruhigend. Seine Euphorie verwandelte sich nach und nach in ein intensives Glücksgefühl. Mert bremste sein Rollbrett und bewegte sich langsam Richtung Straße.

Brrrrrrmiiiiiwu ... "Gute Leistung, du, Mert Seyder, bist ein cooler Typ …" Bziuuuu. "Hammer spielen …Warm anziehen ... Deine Gegner müssen sich warm anziehen …" Brmm, Brrrm …

Er streichelte die Plakate für die Endrunde, welche die Schaufenster und Säulen entlang der Straße schmückten. Vor zwanzig Minuten hatte der Junge erfahren, dass er der beste Torschütze des Fußballturniers werden könnte. Selbst hatte er seine Treffer nicht registriert, weil er nicht einmal ahnte, dass er so gut schießen konnte. Er hatte nur daran gedacht, das Team ins Finale zu bringen. "Alle fünf Gegner in die Wüste geschickt. Das hätte ich mir nicht mal träumen lassen!"

"Euer Finale heißt: Torschütze Mert Seyder! Er hat das Team so weit gebracht. Noch einen Treffer in der Endrunde und er springt auf das Podest als der beste Torschütze. Auf jeden Fall werden wir einen Gewinner haben. Ich will aber den doppelten Sieg. Ich will Mert und das Team in der Turnierspitze. Ihr könnt das erreichen! Konstantin, Rafik, Denis, Igor, Mert ... und alle, alle zusammen. Ich will von euch hören: 'Wir können, wir wollen den Doppelsieg!' "

So hatte ihr Trainer Osman vor einer halben Stunde geredet. Nach dem Training in der Stadtsporthalle, vor dem ganzen Team und vor den dutzend Zuschauern. "Ich will, ihr könnt!" Merts Skateboard klapperte über die holprigen Steine.

"Freaks, Fans! Kicken, schießen, siegen! Plakate, Pokale!" summte er wie ein Rapper. "Ein Tor, der doppelte Sieg. Der beste Kicker!"

"Vor einem Jahr noch im Halbfinale gescheitert! Jetzt wie eine Rakete hochgeschossen. Euer Finale heißt: Mert Seyder!"

Mit dem Kicken in der Stadtsporthalle hatte er in der vorigen Saison angefangen, nicht ganz freiwillig. Eigentlich war das nur ein soziales Projekt, geleitet von dem Trainer Osman Demiran und Merts Mutter Suna. Sie war ohnehin im Sozialbereich tätig. Vor drei Jahren, ganz am Anfang, war ihr Ziel bescheiden: einige Jungen von der Straße holen und ihnen durch Sport ein bisschen Disziplin beibringen. Nach und nach war aus einer losen Gruppe eine gute Mannschaft geworden. Auf der Suche nach potenziellen Gegnern, mit denen sie ihre Kräf¬te messen konnten, klopfte der Trainer die anderen Sporthallen in der Stadt ab. Bald wurde Osman fündig und er kam auf die Idee, in ihrer Sporthalle ein Turnier für diese Teams zu organisieren.

Mert war nicht von Anfang an dabei. Lange Zeit ignorierte er Mutters Vorschläge, mehr Sport zu betreiben, anstatt Computerspiele zu machen. Er behauptete, dass sein netter Zeitvertreib am PC nichts mit einer Sucht zu tun hatte. Suna übte Druck aus und halbierte sein Taschengeld. Diese Strafe fand er so ungerecht, dass er noch widerspenstiger wurde.

Eines Tages wartete Osman vor der Schule auf ihn. Ein Gespräch "unter Männern" und Mert erklärte sich einverstanden, zum nächsten Termin vorbeizuschauen, um sich ein Bild von dem Training zu machen. Seine Aufwärmphase dauerte nur kurz, in einigen Wochen kam er als Erster zum Training. Ein bisschen länger brauchte der Junge, sich als Stürmer und Torschütze durchzusetzen.

Suna Seyder, Merts Mutter, hatte mit Fußball nichts am Hut, aber sie unterstützte Osman, wenn es um eine gute Sache ging. Als Familienberaterin in der Abteilung "Sozialkompetenz" hatte sie immer viel zu tun. Trotzdem fand sie immer Zeit und Energie, sich ehrenamtlich zu engagieren. Ständig beteiligte sie sich bei irgendwelchen Projekten, die Leuten helfen sollten, einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Sie war in der Gegend bekannt wie ein bunter Hund. Es gab so viele, die in ihrem täglichen Leben nicht zurechtkamen. Manchmal musste sie den jungen Müttern einfachste Dinge beibringen, zum Beispiel, wie man einen Haushalt organisiert. "Sie können nichts, nicht einmal vernünftig einkaufen oder saubermachen. Wenn ich ihnen nicht helfe, werden sie ihre Kinder verwahrlosen lassen." Ab und zu verzweifelte Suna an ihrer eigenen Ohnmacht, weil einige Mütter nicht lernfähig waren.

Osman Demiran, der den aussagekräftigen Spitznamen "der Gentleman" innehatte, war auch für seine Hilfsbereitschaft bekannt. Für sein soziales Engagement kassierte er viel Lob. Sein Motto lautete: "Sport und immer wieder Sport kann sich als letzter Rettungsanker für viele junge Schulversager und Rauschgiftsüchtige erweisen."

Mert war jetzt dabei, aber er dachte nicht, dass er selbst einer Rettung bedurfte. Sehr selten schwänz¬te er die Schule, er rauchte nicht einmal; ein paar Stündchen Computerspiele, das war doch keine Sucht, oder? Er ging in die Sporthalle, weil er Spaß am Kicken hatte und richtige Freude am Tore schießen. Einige von Osmans Freunden und Kollegen, unter ihnen ein paar Deutsche, wohnten manchmal ihrem Training bei. Für Mert hatten sie immer gute Ratschläge parat. "Junge, wenn du dein Talent entwickeln willst, musst du es bei einem richtigen Team versuchen. Komm, ich bringe dich wohin, wo du gut aufgehoben sein wirst. Du musst aber bereit sein, hart zu arbeiten!"

Obwohl ihm all das schmeichelte, hatte er keine Lust, noch mehr zu schwitzen. In seiner Mannschaft fühlte er sich pudelwohl und er wollte auf keinen Fall seinen Trainer verraten, der ihn wie ein Vater behandelte.

Inzwischen funktionierte die Mundpropaganda im ganzen Stadtbezirk. Das Team hatte schon sein Stammpublikum, das seine Kicker anfeuerte. Osman versprach ihnen, bald einen richtigen Verein zu gründen. Aber Suna glaubte nicht an so etwas. Mert hörte sie einmal zu ihren Freundinnen sagen: "Ach Osman, – er bläst sich wie immer auf. Wir haben nicht das Zeug für einen Verein."

Ihre Organisation funktionierte aber so gut, dass sie echte Werbung machen konnten. Mert hatte keine Ahnung, wie viel Arbeit dahintersteckte, wer ihre Sponsoren waren. In der Sporthalle stand er als Nummer 1 im Rampenlicht und alles Weitere ging ihn nichts an.

"Freaks, Fans! Kicken, schießen, siegen! Plakate, Pokale!", summte er wieder. "Suna war damals sehr gemein zu mir. Sie hat sich über mich lustig gemacht: "Mert, mein Sohn, es ist leichter, einen alten Türken zu überzeugen, für das Projekt zu spenden, als deine Faulheit zu besiegen."

Er wusste nicht, ob die Türken aus der Umgebung das Turnier unterstützt hatten. Mit denen hatte er ohnehin nicht viel zu tun. Sein Fußballteam war gemischt, aber was für einen Migrationshintergrund seine Mitspieler hatten, interessierte ihn wenig.

Mert stoppte sein Skateboard und spürte alle Muskeln in seinem durchtrainierten Körper. Das war ein Genuss, jede Mühe wert. Die Trainingskämpfe waren keine Kinderspiele. Die kosteten viel Blut und Schweiß. Mag sein, dass Osman sich bei den anderen, besonders bei den Frauen, als Gentleman zu profilieren wusste. Die Jungen nannten ihn aber unter sich "Hans – der Sklaventreiber". Nein, das war nicht böse gemeint, weil sie ihn respektierten, da er sich um sie kümmerte. Alle strengten sich an, sein Lob zu verdienen.

Mit den Zuschauern ging Osman immer freundlich um. Er kündigte immer an, wann sie eine Mannschaft aus einer anderen Sporthalle zu Gast hatten. Merts Team gab sich Mühe, seine Gäste zu besiegen, und das lockte mehr Publikum auf die Tribünen. Viele Mädchen entpuppten sich als richtige Fans, die bei jedem Training in den ersten Reihen hockten und kreischten. Mert war das nicht ganz geheuer. Er begegnete ihnen mit der Arroganz seiner erwachenden Männlichkeit. Der Junge hätte diese Weiber gerne verspottet, aber Osman untersagte das streng. Er mochte diese kreischende Schar. "Unsere Engel, unsere Glücksbringer. Mert, sei nett zu ihnen!", ermahnte ihn Osman. Nett zu ihnen sein, das fiel ihm schwer. Er wollte sich selbst nicht eingestehen, dass die Mädchen ihn nervten, weil seine Angebetete nie in der Sporthalle vorbeikam, um ihn zu bewundern. Der Junge blendete das Publikum einfach aus, gab sein Bestes und kickte das Team ins Finale.

"Nur noch ein Tor! Aber das wäre zu wenig. Wenigstens drei, um zusammen mit dem Team ganz oben zu stehen. Wir haben gemeinsam gekämpft, wir werden auch gemeinsam unsere Pokale entgegennehmen."

Gemeinsam? Bei diesem Wort dachte er ein bisschen nach. Hatte er mit den anderen im Team noch etwas Gemeinsames? Mit Igor etwa, seinem Assistenten im Spiel? Nein, nein, er mochte ihn zwar, aber Igor war sehr launisch. Man wusste nie, wann er ausflippen würde. Konstantin, Rafik, Robby, Denis? Zwar chillten sie ab und zu zusammen, aber sie waren nicht wirklich vertraut miteinander. Mert wusste nicht genau, was seine Mitspieler außerhalb der Stadtsporthalle trieben.

"Meine Freunde? Nein, sie sind nicht meine Freunde; nur Mitspieler, mit denen ich auf dem Spielfeld gut auskomme. Rafik ist mir sympathisch, aber er hängt an Osman wie ein kleiner Junge. Er plappert ihm immer nach. Suna sagt, er sei unser Trainer, nicht unser Vater. Das weiß ich, ich brauche keine Vaterfigur."

Wozu eine Vaterfigur? Seine Mutter konnte auch ganz schön autoritär sein. Sie zögerte nicht, ihm seine Grenzen aufzuzeigen. An Streitereien fehlte es nicht. Zum Glück waren die aber meist weder von langer Dauer noch bösartig.

Mert freute sich auch über Osmans Lob bezüglich seiner Mutter. Schade, dass sie es selbst nicht hatte hören können. Sie beklagte sich immer, für ihre Leistung zu wenig Anerkennung zu bekommen. "Er hat mir die ganze Büroarbeit aufgedrückt als wäre ich seine Sekretärin", meckerte sie manchmal. Oft diente der Junge als Kurier zwischen den beiden und brachte ihr vom Trainer die Umschläge mit den Belegen. "Gott sei Dank, dieser Chaot sammelt wenigstens alle Unterlagen, sonst wäre ich verloren."

Endlich konnte Mert Suna mit Osmans Anerkennung überraschen. Er versuchte sich daran zu erinnern, was der Trainer genau gesagt hatte, um all das vor der Mutter wiederholen zu können.

"Jungs, die Organisation des Turniers verlief bisher fast perfekt. Alles fair, ohne Gewaltausbrüche und Zwischenfälle. Ich bin sehr, sehr stolz auf euch. Aber beim Finale müssen wir das noch einmal beweisen. Das Wichtigste ist, jetzt dafür trommeln, trommeln, trommeln. Eure Familien müssen uns dabei helfen, viel Publikum in die Sporthalle zu locken. Wie Merts Mutter zum Beispiel, sie macht das prima. Suna Seyder ist nicht nur eine Vorzeigemutter, sondern auch eine großartige PR-Agentin. Sie ist so tapfer und engagiert, hält ihr Wort und weiß genau, was zu tun ist. Von Anfang an unterstützte sie unser Sportprojekt. Ich wünschte mir, die anderen Mütter würden ihr nacheifern. Im vorigen Jahr schaffte sie es sogar, viele Väter zu überreden, ihre Töchter zur Endrunde mitzunehmen. Was wäre ein Spiel ohne kreischende Mädchen im Publikum? Mert, sag ihr, ich schicke ihr diese Plakate und Tickets. Sie weiß schon, was sie damit tun soll. Und sag ihr, dass ihre Unterstützung unentbehrlich ist."

Mit seinem Skateboard sprang der Junge noch einmal hoch und dann fuhr er ein bisschen schneller. Er war stolz darauf, so ein gutes Gedächtnis zu haben. Es würde eine Freude sein, Suna solch eine wunderbare Botschaft zu überbringen. Bis jetzt hatte er ihr immer nur viel Arbeit von Osman mitgebracht. Das war einfach phantastisch, vor und von so vielen Leuten bewundert, bejubelt und beneidet zu werden. Es war phantastisch, so tolle Mitspieler, einen großartigen Trainer und eine engagierte Mutter zu haben; durch die Straße zu rasen, wo die Fotos der Mannschaft überall hingen.

"Freaks, Fans! Kicken, schießen, siegen! Plakate, Pokale! Lobeshymne." Seine Stimme wurde lauter. Er vollführte noch einige Pirouetten auf seinem Skateboard und lächelte dem Bild auf dem Plakat in einem Schaufenster zu. Dann sah er, dass die Sonne schon fast hinter dem Berg war. Er überlegte, was er alles an diesem Abend auf dem Programm hatte: an erster Stelle die Hausaufgaben. Und die "Bruchzahl" sollte kommen. Er hätte gerne die Nachhilfestunde verschoben, aber ohne Sunas Genehmigung durfte er das nicht. Mert eilte nach Hause. In wenigen Minuten bog er in seine Straße ein. Plötzlich stand es vor ihm: sein "Tabu-Mädchen". Monatelang hatte er sich gewünscht, Enisa wiederzusehen. Sie wusste sich aber gut vor ihm zu verstecken. Eine Glückswelle spülte alle Warnungen hinweg. Keine Zeit nachzudenken, ob ihm das Ansprechen des Mädchens verboten war. Eigentlich durfte er am heutigen Tag alles, was er wollte. Ein Tabu? Nein, das wollte er nicht mehr akzeptieren. Er war nicht mehr ein kleiner, anonymer Junge, dem ein arroganter Nachbar etwas untersagen konnte. Nein, an diesem Tag pfiff er auf Enisas Hochnäsigkeit und die Ablehnung ihres Vaters.

Das Mädchen stand vor Marinas Haarstudio "Glamour" und unterhielt sich mit einer älteren Dame, deren "Opfer" er früher gewesen war, eine pensionierte Lehrerin, die jetzt die Kinder auf der Straße unterrichtete – und Erwachsene auch, wenn sie zuhören wollten. Ihr Stadtteil gehöre nicht mehr zu der Stadt. Das sei ein Ghetto geworden, weil alle anständigen Leute weggezogen seien. Sie hatte einmal sogar Flugblätter gegen die Schließung der Bezirksbibliothek verteilt. Nur Suna hatte sie dabei unterstützt. Ihr Protest blieb wirkungslos. Es wurden nacheinander Heimatmuseum, Volkshochschule und Jugendtheater geschlossen. An der pensionierten Lehrerin blieb aber der Spitzname 'Bezirksbibliothek' hängen. Kaum jemand hatte Zeit und Lust, ihren ewigen Ermahnungen zuzuhören. "Wenn es so weiter geht, wird unsere Stadt bald eine geistige Wüste werden. Hier tummeln sich nur Ausländer, die nicht Deutsch reden wollen, sondern die mit Spielhallen und Internetcafés zufrieden sind."

Mert mochte es nicht, die 'Bezirksbibliothek' auf der Straße zu treffen. Vor einigen Tagen hatte sie ihn wieder angequatscht.

"Junge, Junge, du sprichst ein gutes Deutsch. Du musst die Sprache weiter entwickeln. Lesen, immer wieder, unsere Klassiker, unsere Dichter. Du sollst auch stolz auf sie sein, weil du auch ein Deutscher bist. Bringe noch zwei, drei Freunde mit. Ich werde euch Deutsch unterrichten. Kostenlos."

Meist ignorierten die Schüler ihr Angebot. "Die Bezirksbibliothek spinnt". Die alte Dame erntete nur ein müdes Lächeln. Aber das "Urgestein" gab nicht auf und korrigierte hartnäckig jeden, der sich mit ihr unterhalten wollte. Mert hatte von Suna erfahren, dass Enisa ihr gutes Deutsch ihr zu verdanken hatte. "Ja, vielleicht spricht sie richtig, aber ihren Akzent konnte ihr sogar die Expertin nicht ausradieren. Der beleidigt meine Ohren", hatte Mert damals kommentiert. Er vermied, sich selbst einzugestehen, wie sehr ihn Enisas Ablehnung schmerzte, und er hoffte, sie würde jetzt wegen seiner Erfolge als Kicker ihre Meinung ändern.

Bei diesem unerwarteten Treffen reagierte der Junge ganz spontan. Er war überzeugt, an diesem Tag gäbe es keine Menschen, die ihn nicht mochten. Deshalb entschied er sich, sein Glück erneut zu versuchen. Mert wartete hinter einer Säule, bis sich die 'Bezirksbibliothek' entfernt hatte. Dann sprang er auf die Treppe und versperrte dem Mädchen den Weg in den Salon. Enisa zuckte zusammen und versuchte, ihn zu umgehen. Er breitete seine Arme aus, kein Entkommen.

"Hej, Süße, hast du die neuen Plakate gesehen?" Eine Sekunde hielt das Mädchen inne. Gespannt wartete er auf ihr Lächeln, das ihn damals verführt hatte – ein Lächeln, das er auf seinem Handy immer bei sich trug. Er sehnte sich danach, es auf ihren Lippen live zu sehen. Sie schaute ihn ratlos an. Wie? Was? Seine Star-Ausstrahlung ließ Enisa kalt?

"Hej, meine Schöne, ich vermisse dich in der Sporthalle. Viele Mädchen kommen zu unserem Training. Echte Fans, weißt du. Möchtest du das nicht auch erleben? Warum kommst du nicht mit?", setzte er seinen ganzen Charme ein. Wieder null Wirkung.

"Verschwinde! Du weißt, dass ich mit dir nicht reden darf. Mein Vater wird das nicht gut finden. Lass mich in Ruhe!", zischte sie.

"Dein Vater hat mir nichts zu sagen! Ich bin jetzt in der Stadt berühmt. Hast du die Plakate dort nicht gesehen?"

"Ach, Blödmann! Lass mich in Ruhe!", murmelte sie, drückte seinen ausgestreckten Arm beiseite und verschwand in Marinas Friseursalon. Auf dem Weg zu seiner Haustür begegnete er dem Vater von Enisa. Wieder dieser Blick, als ob der Junge durchsichtig wäre. "Du, Möchtegerndoktor, dir werde ich schon zeigen, wer ich bin. Mich kennt jetzt jeder in diesem Stadtteil. Du bist nur ein arrogantes Arschloch geblieben."

Hinter dem Rücken des Mannes kickte er einen imaginären Ball. Aber das beruhigte ihn nicht. Er musste noch eine Runde durch den Park drehen, um seine wiederentflammte Wut unter Kontrolle zu bringen. Die alte Wunde war von neuem aufgerissen. Obwohl sie schmerzte, fühlte er sich nun stark genug, dieses Mal nicht aufzugeben.

Sofort als er die Wohnungstür aufmachte, begann Suna mit ihrer Predigt. "Mert, bist du von allen guten Geistern verlassen? Das darf nicht wahr sein! Du hast das Mädchen wieder angequatscht! Mein Junge, wie oft muss ich dir noch sagen: Lass die Finger davon!"

"Und ich habe dir auch gesagt, wie mich dein Nachspionieren nervt!"

Er schmiss den Rucksack samt den Plakaten in die Dielenecke. Seine Ankunft zuhause hatte er sich anders vorgestellt. Statt seiner Mutter über ihre Erfolge zu berichten, musste er sich ihre Vorwürfe anhören.

"Keine Unterstellungen! Ich habe dir nie nachspioniert. Enisa hat sich über dich bei Marina beklagt. Und Marina rief mich an. Das Mädchen hat Angst vor dir, verstehst du das nicht?"

"Wovor soll sie Angst haben? Bin ich ein Vampir, oder was? Ich habe nicht vor, sie aufzufressen! Du redest mit mir, als wäre ich ein Idiot!"

"In diesem Sinne bist du ziemlich dickköpfig. Aber du musst begreifen, dass dieses Mädchen für dich tabu ist. Erinnerst du dich nicht daran, was ihr Vater gesagt hat? Er würde zuschlagen! Ich kann dich nicht beschützen. Und ich will auch nicht, dass sich mein Sohn in einen Stalker verwandelt. Finde dir eine andere Freundin und basta! Sonst suche ich uns eine Wohnung weit weg von hier! Ich muss das arme Mädchen vor dir retten!"

"Halt den Mund!", dachte Mert und flüchtete sich in sein Zimmer. Er legte sich aufs Bett und nahm sein Handy aus der Tasche.

"Diese aufgeblasenen Kreaturen machen mir meinen schönen Tag kaputt. Das ist ein freies Land! Hier kann mir niemand etwas verbieten."

Er hasste Enisa und sehnte sich gleichzeitig nach ihr. Aber er hatte nur ein paar Fotos, um seine Sehnsucht zu stillen.

"Warum bist du so stur?", fragte er ihr Bild auf dem Display. Mit dem Zeigefinger streichelte er ihre phantasievolle Frisur und die beiden Grübchen in den Wangen. Dieses Lächeln gehörte ihm, und niemand konnte es ihm stehlen.

Noch vor einem Jahr kannte er Enisa kaum, obwohl sie im Haus nebenan wohnte. Ein paar Mal traf er sie in Marinas Haarstudio "Glamour". Während des Wartens oder wenn die Meisterin ihm eine angesagte Frisur zauberte, beobachtete er heimlich ihre Helferinnen und Angestellten im Salon. Für Mädchen interessierte er sich schon, aber nicht für solche grauen Mäuse wie diese Schülerin. Er bekam ihr Hin- und Herhasten durch den Laden mit, immer schien sie schwer beschäftigt zu sein. Das Mädchen nahm die Telefonate entgegen, redete mit Marina und trug die Termine in ein großes Heft ein. Enisa kümmerte sich um alle Kunden und redete ihnen gut zu: "Möchten Sie das oder jenes, eine Erfrischung? Frau Schmitz, setzen Sie sich bitte! Hier, nur eine Minute, Sie kommen sofort an die Reihe."

Mert wurde von ihr ignoriert, was ihn gar nicht störte, weil ihr Akzent ihn nervte. Er bemühte sich nicht einmal zu verstehen, worüber sie sich mit der Meisterin unterhielt und warum die beiden so oft lachten. Ohnehin redeten sie oft in einer anderen Sprache. "Zwei blöde Hühner, was ist daran so lustig", war der einzige Gedanke, den er an diese zwei Frauen verschwendete.

Bis eines Tages ...

Es fand eine Party statt, deren Star Enisa war. Jemand hatte die graue Maus in ein gestyltes Model verwandelt. Die erste Anregung war von seiner Mutter gekommen. Suna bewunderte Marinas Geschick mit den Haaren und überredete sie, am Wettbewerb "Frisur als Kunstwerk" teilzunehmen. Als Model nahm die Meisterin ihre Helferin Enisa, weil man aus ihrer dichten Mähne richtige künstlerische Kreationen zaubern konnte. Die beiden gingen zusammen als Außerseiterinnen zum Wettbewerb. Am Ende hielten sie den Siegespokal in Händen. Seine Mutter war vor Freude aus dem Häuschen. Sie verbreitete diese Nachricht in der ganzen Nachbarschaft.

"Unsere Mädchen haben verdient, ein bisschen gefeiert zu werden", meinte sie. "Mert, wirst du mir helfen, eine Party zu organisieren?"

"Weiberkram, total langweilig!"