Scheherazade im Winterland - Safeta Obhodjas - E-Book

Scheherazade im Winterland E-Book

Safeta Obhodjas

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Beschreibung

Thema dieses Romans ist die geistige Entwicklung einer muslimischen Intellektuellen in einem Land, das nicht mehr existiert: Ex-Jugoslawien. Bosnien und Herzegowina gehörte zu diesem Staat auf dem Balkan, und der Balkan ist Teil Europas. Obwohl dieses Buch schon vor etlichen Jahren verfasst und publiziert wurde, ist es gerade jetzt aktueller denn je. Im Mittelpunkt der Entwicklung der Ich-Erzählerin stehen Fragen wie: Wohin gehöre ich? Welchen Platz weist die westliche Kultur den Muslimen zu? Wie kann eine ehrgeizige Frau den Alltagsproblemen Freiräume abtrotzen, um kreativ zu sein? Von dem kleinen Mädchen, das in Windeseile Lesen und Schreiben lernt und die Vorurteile der Umgebung gegenüber Frauen bald schon erfolgreich überwindet, bis hin zum ersten veröffentlichten Buch reicht die Zeitspanne, die der Roman thematisiert – sarkastisch, witzig, bitter und melancholisch. Durch das gesamte Geschehen hindurch zieht sich eine Frage wie ein roter Faden: darf eine Autorin über ihre muslimische Kultur und ihre sozialistische Umgebung offen schreiben, oder muss sie sich biegen und ihre Publikationen den Vorstellungen der herrschenden Ideologien anpassen.

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Seitenzahl: 538

Veröffentlichungsjahr: 2025

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@Safeta Obhodjas Sheherazade im Winterland  
Übersetzt aus dem Bosnischen von Brigitte  
Döbert  
Lektorat und Layout: Melitta Depner  
Cover: Idee: Safeta Obhodjas / Realisierung:  
Melitta Depner  
Epubli Verlag Berlin  
www.epubli.de  
Safeta Obhodjas  
Die Zeit des Kometen  
Ihre ersten Buchstaben schrieb Nadira auf ein  
Brett, das mit feinem Sand bestreut war. Kurz  
zuvor hatte sie dieses Brett, wie so oft,  
gemeinsam mit Milana, ihrer gleichaltrigen  
Freundin, die in derselben Straße wohnte, als  
Wippe benutzt. Der Bruder ihrer Mutter, Taib  
Karalić, half ihr beim Ziehen der Linien. Er  
wischte die falschen Bögen und Striche wieder  
weg, erneuerte die Sandschicht und führte  
Nadiras kleine, raue Finger mit seiner großen,  
zärtlichen Hand, um ihr die Fertigkeit, wie der  
Stift  
zu  
halten  
sei, schnellstmöglich  
beizubringen. Als das Mädchen den letzten  
Buchstaben des Wortes 'Muslim' nach dem  
Diktat des Onkels hinmalte, kam ihre Mutter,  
Ifeta, mit einem Eimer in den Hof, wie immer  
in Eile. Sie rannte zu dem Sandhaufen, schippte  
Sand in den Eimer und lief wieder zurück, ohne  
auf Bruder und Tochter zu achten. Nadiras  
Vater, Dervo, rief schon ungeduldig und  
schimpfte, weil das Wasser für den Mörtel  
fehlte. In dieser Woche widmete er seine  
Maurerkünste dem eignen Haus. Das  
Betonfundament für einen Anbau hatte er  
unlängst gegossen; nun begann er mit dem  
Aufmauern der Ziegel. Seine Frau Ifeta musste  
ihm zur Hand gehen, und wie jeder Meister war  
er stets unzufrieden mit der Geschwindigkeit  
und Geschicklichkeit seiner Helfer.  
"Ifeta", sprach der Bruder seine Schwester an,  
als sie zum zweiten Mal Sand holte, "habt ihr  
das Mädchen in der Schule angemeldet?" Dabei  
ignorierte er die Plackerei, die allen Mitgliedern  
der großen Familie ein gemütliches Zuhause  
bescheren sollte.  
"Du hättest dir wirklich keinen besseren  
Moment für so eine Frage aussuchen können!"  
Noch nie, seit er ihre Gastfreundschaft in  
Anspruch nahm, hatte sie ihren Bruder derart  
angefahren. Sein mauernder Schwager wurde  
weiß vor Zorn, als erschöpfe dieser Unsinn, wie  
er nur von einem Stadtmenschen kommen  
konnte, endgültig seine Geduld, die durch  
dessen mehrmonatigen Aufenthalt schon arg  
strapaziert war.  
"Du Bücherwurm, hör auf, im Sand  
herumzukritzeln, und schaff Ziegel herüber, es  
ist langsam an der Zeit, dass du was tust für  
dein Abendessen!", brüllte er. Man konnte es  
noch drei Häuser weiter hören. Sogar seine  
Mutter, die sonst gern über den Bruder der  
Schwiegertochter lästerte, ermahnte ihn, dem  
Tratsch in der Nachbarschaft keine Nahrung zu  
geben.  
Taib leistete der Aufforderung Folge, ließ  
Nadira allein weiterschreiben und schleppte mit  
der Trage Ziegelsteine. Aber am Abend,  
während er sein erarbeitetes Abendessen aß,  
stellte er die Frage wieder. Ob seine Nichte  
diesen Herbst in die erste Klasse käme? Nadira  
wartete mit klopfendem Herzen auf die Antwort  
der Eltern. Seit ihr der Onkel den Zauber des  
Lesens und Schreibens nahegebracht hatte,  
hegte sie nur noch einen Wunsch: Sie wollte so  
bald wie möglich in die Schule gehen. Die  
Mutter massierte mit schmerzverzerrtem  
Gesicht ihr Handgelenk mit einer Rheumasalbe  
und wies ihren Bruder mit einer Geste auf  
Dervos mürrische Miene hin.  
"Bei meinem Glauben", beteuerte Taib, "ich  
habe noch nie ein verständigeres Kind gesehen.  
Sie kann schon alle Buchstaben und liest ganze  
Wörter ohne Stottern. Es wäre eine Sünde, sie  
nicht umgehend in die Schule zu schicken."  
"Was hast du heute nur, warum reitest du so auf  
dieser Schule herum?", seufzte Ifeta, "sie ist  
doch noch klein, erst fünfeinhalb, und der Weg  
zur Schule ist weit. Dieses Jahr müssen wir  
Rasim in die erste Klasse schicken, er ist  
eineinhalb Jahre älter als sie. Du siehst doch,  
dass wir anbauen; wir haben nicht genug Geld,  
um beide einzuschulen."  
Der Maurer Dervo betrachtete seine Tochter  
und sah nichts Besonderes, ein gewöhnliches  
Mädchen mit zerzausten Zöpfen, übergroßen  
Augen und riesigem Mund in einem langen,  
vom Sand verschmutzten Kleid. Wenn sie so  
klug war, wie der Schwager sagte, warum  
musste er ihr dreimal sagen, dass sie ihm etwas  
bringen solle, warum begriff sie oft nicht, was  
er von ihr wollte? Ihm bedeutete es nichts, dass  
ein kleines Mädchen von fünfeinhalb Jahren  
Lesen und Schreiben gelernt hatte. Bildung  
hatte seiner Überzeugung nach noch  
niemandem Glück gebracht, auch seinem Gast  
nicht, der dem Tod gerade noch mal von der  
Schippe gesprungen war.  
"Komm, werter Schwager, du hast dein ganzes  
Leben gelernt und gelesen, das hat dir doch nur  
den Verstand verdreht. Deswegen hast du  
jahrelang hinter Gittern gelebt, versteckt wie  
eine Maus. Ich sag ja nicht, dass du nicht klug  
wärst, nur, was hat es dir gebracht? Seit  
Monaten verkriechst du dich bei mir, isst mein  
Brot und fragst nicht mal, wie ich es verdiene."  
In Dervos Worten lag kein Vorwurf, er wollte  
auf diese Weise seinem Schwager die  
praktische Seite des Lebens erklären. Taib  
verstand das auch und fühlte sich angesichts  
dieser einfachen Denkweise schuldig und  
kleiner als eine Ameise. Ihn schmerzte sein  
Leben als 'Kellermaus' ebenso wie die  
mehrmonatige  
Gastfreundschaft  
seines  
Schwagers. Er, der ehemalige Zagreber Student,  
zu seinem Unglück mit Mitgliedern der 'Jungen  
Muslime' befreundet, war dem Mann seiner  
Schwester aufrichtig dankbar. Dervo hatte ihn  
davor bewahrt, noch länger in den feuchten  
Katakomben unter seinem Elternhaus in  
Sarajevo gefangenzusitzen, hatte ihn ins Dorf  
geholt. Hier wurde er dank der Zuwendung  
seiner Schwester und der frischen Luft wieder  
gesund und kräftig. Hier fasste er, während er  
sich physisch erholte und der Schmerz in den  
Lungen nachließ, allmählich wieder Vertrauen  
zu sich selbst und zu der Tatsache, dass der  
große Besen, der die anderen Mitglieder der  
jungmuslimischen Intellektuellenorganisation  
ins Gefängnis fegte, ihn offenbar links liegen  
ließ. Nun bereitete er sich darauf vor, den  
Schutz von Dervos Haus zu verlassen, nach  
Sarajevo zurückzukehren und dort Arbeit zu  
suchen. Mit ihrem Geplauder hatte das  
Mädchen seine Lebensfreude wieder geweckt,  
und mit ihrer Bereitschaft, sich von ihm  
unterrichten zu lassen, seine langen, leeren Tage  
ausgefüllt. Daher verspürte er das Bedürfnis,  
etwas für die Kleine zu tun, die ihm den  
Frühling  
Gesellschaft  
und  
Frühsommer  
geleistet hatte.  
hindurch  
Die  
Aufmerksamkeit und die Aufnahmefähigkeit  
dieses Kindes verblüfften ihn; er konnte kaum  
glauben, dass sein Unterricht, begonnen aus  
purer Langeweile, solche Ergebnisse erzielt  
hatte. Gestern hatte er sie in die Speisekammer  
geführt und sich die Wörter auf den Tüten und  
Schachteln von Dervos Vorräten vorlesen  
lassen. "Ich weiß, was das hier ist, in diesem  
Sack, hier steht Kleie, hier Zucker, und in  
diesem Paket ist Pflanzenfett." Sie hüpfte vor  
Begeisterung und genoss sein Lob. Heute hatte  
sie ihm bewiesen, dass sie Wörter auch nach  
Diktat schreiben konnte, nur bei den längeren  
hatte sie ihn um Hilfe gebeten.  
"Was grübelst du so lange, ich habe doch  
recht!", holte ihn der Schwager in die  
Gegenwart zurück.  
"Mein lieber Herr Dervo, so einfach ist es nicht.  
Ich weiß, dass es Leute geben muss, die  
Mauern errichten, aber es muss bei Gott auch  
solche geben, die ihren Kopf zum Denken  
benutzen. Der Verstand regiert, Kraft taugt nur  
für grobe Arbeiten."  
"Der Verstand regiert! Dass ich nicht lache!  
Solche wie du regieren nicht eher, als bis der  
Wein an Weiden wächst", feixte der Maurer.  
"Du magst recht haben; unter den Muslimen in  
Bosnien gibt's nicht viele, die mehr als ihren  
persönlichen Gewinn im Blick haben. Du  
gehörst auch zu denen, die nicht über den  
Tellerrand gucken. Wenn du deine Kinder in die  
Schule schickst, damit sie etwas lernen, werden  
sie anders denken. Dieses Mädchen wird dir,  
wenn sie zwanzig ist, sagen, dass ich im Recht  
war."  
Maurer Dervo hob seine buschigen, grauen  
Augenbrauen. Hätte ihm der Schwager gesagt,  
dass sein Sohn Rasim eines Tages klüger sein  
würde als er, möglich, dass er das geschluckt  
hätte. Aber dass ein Mädchen ihm einst sagen  
sollte, was richtig war, eine solche  
Hirnverbranntheit ertrug er nicht. Er erwiderte  
dem Schwager, er vertraue nur auf seiner Hände  
Arbeit, und wenn Taib noch länger unter seinem  
Dach weilen wolle, so möge er zunächst mal  
Mörtel mischen und Ziegel schleppen lernen.  
Wenn nicht, der Weg in die Stadt stehe  
sperrangelweit offen, solle er doch dahin gehen,  
wo sein Verstand regiere.  
Ifeta war vor lauter Müdigkeit auf der Bank  
eingedöst; sie hörte nicht, was Dervo zu ihrem  
lieben Bruder sagte. Deswegen war sie am  
nächsten Morgen ziemlich überrascht, als Taib  
seinen Rucksack packte. Er beruhigte sie, er  
ginge nicht, weil er beleidigt oder wütend sei,  
sondern weil es an der Zeit sei, dass er etwas  
arbeite. Sicher hatte ihn keiner seiner Freunde  
bei den Verhören verraten, denn sonst hätte die  
Regierung schon Himmel und Hölle in  
Bewegung gesetzt, um ihn zu finden. Sie hatten  
ihn bis jetzt nicht verhaftet, das bedeutete  
gewiss, dass er nicht auf ihren Listen stand.  
Nadira saß auf dem Brett, auf dem sie am Tag  
zuvor geschrieben hatte, und erstickte fast vor  
Schluchzen. Er tröstete sie, versprach ihr die  
schönsten Bilderbücher, Bleistifte, Mal und  
Schreibhefte. Er gab seiner Schwester noch  
einmal den Rat, das Mädchen jetzt schon in die  
Schule zu schicken. "So ein verständiges Kind  
ist selten", bat er, "lass sie lernen, wenn wir sie  
richtig anleiten, kann sie ... " Hier hielt er inne  
und dachte nach, "sie kann sogar Studienrätin  
werden." Eine andere wichtige Beschäftigung  
für ein kluges Mädchen fiel ihm nicht ein. Seine  
Schwester Ifeta sah ihn verdutzt an, hatte er  
nicht mitbekommen, was ihr Mann vom Lernen  
und IndieSchuleGehen hielt? Es war ihr recht,  
dass der Bruder ging, er hatte schon für genug  
Wirbel und Aufruhr in ihrer Familie gesorgt. Sie  
gab ihm ihrerseits ein paar Ratschläge, er solle  
sich, sobald er sich im elterlichen Haus  
eingerichtet habe, eine bescheidene und fleißige  
Braut suchen, es sei an der Zeit, für die reifen  
Jahre vorzusorgen.  
Nadira begleitete den Onkel auf den hohen  
Berg bis zu der Stelle, an der die Straße zum  
Bahnhof abzweigte, und dort, am Scheideweg,  
schrieb sie seinen Namen in den Staub. Und er  
versprach ihr, dass sie nach Abschluss der  
Grundschule bei ihm in der Stadt wohnen  
könne, falls sie das Gymnasium besuchen  
wolle. Er wünschte sich, einen Sohn zu haben,  
so klug wie Nadira. Ihm fiel gar nicht auf, dass  
der Wunsch ein bisschen schief wirkte.  
Nadira wurde erst ein Jahr später eingeschult,  
lernte zuvor aber noch die kyrillische Schrift,  
denn die ersten Bilderbücher, die der Onkel  
schickte, waren damit geschrieben. Sie  
bestaunte nicht nur die Buchstaben und  
enträtselte ihre Bedeutung, auch die  
Zeichnungen  
mit  
hübschen  
Häuschen,  
fröhlichen Kindern und ihren lachenden Eltern  
versetzten sie in Verwunderung. Diese Eltern  
wollten offenbar nichts anderes, als ihren  
Sprösslingen eine glückliche Kindheit bieten.  
Wenn Nadira die Bilderbuchidylle betrachtete,  
war sie ganz sicher, dass sie in die falsche  
Familie hineingeboren worden war.  
Von der Mutter hatte sie früh erfahren, dass die  
Ehe ihrer Eltern auf Dummheiten zurückging,  
die Mutter war durch kommunistischen Druck,  
der Vater durch eine Wette hineingeschlittert.  
Deswegen fand Nadira, dass der weißhaarige,  
oft jähzornige Maurer und Anstreicher Dervo  
nicht ihr Vater und seine griesgrämige Mutter  
nicht ihre Oma sein konnten. Wenig hatte sie  
mit dem Jungen und dem Mädchen gemein, die  
ihr Bruder und ihre Schwester sein sollten. Sie  
wollte so anders wie möglich sein. Wenn ihr die  
Mutter auftrug, auf die kleine Schwester  
aufzupassen, wunderte sie sich jedes Mal, dass  
dieses blonde, langweilige, biestige Geschöpf  
mit ihr verwandt sein sollte. Wann immer sie  
dieser Wirklichkeit entfliehen wollte, versteckte  
sie sich im Zimmer und holte ihren 'Schatz' aus  
einer Schachtel: die Bilderbücher und Hefte, die  
sie von Onkel Taib bekommen hatte. Dort gab  
es vielerlei, von Pinocchio über sprechende  
Tiere bis zum guten Drachen, der unter seinen  
Flügeln  
einen  
ganzen  
Schwarm  
Kindergeschichten beherbergte ... Sie lernte die  
Märchen auswendig, wiederholte sie für sich  
und ergänzte sie bei diesen Wiederholungen mit  
eigenen Ideen. Die Märchen veränderten sich  
allmählich in ihrem Kopf und verloren den  
Bezug zu dem, was in den Bilderbüchern stand.  
'Schau, ich kann mir ja Geschichten ausdenken',  
dachte Nadira, verwundert und erfreut ob der  
neu entdeckten Fähigkeit. Sie erfand immer  
wieder Neues, aber es brachte ihr nichts Gutes.  
Nicht nur, dass man ihr nicht glaubte, sie habe  
auf dem Schulweg eine Python gesehen oder  
dass auf dem Bach Boote trieben oder dass sie  
einen Schmetterling, größer als eine Schwalbe,  
gefangen habe. Man nannte sie vielmehr eine  
Lügnerin oder beschränkt und lehrte sie so, ihre  
Geschichten für sich zu behalten. Sie durfte  
auch über das Gelesene nicht allzu viel reden,  
denn Leser wurden in dieser Gegend  
misstrauisch beäugt.  
Bereits in der dritten Klasse genügte ihr der  
'Schatz' nicht mehr, und sie besorgte sich  
Bibliotheksbände. Am liebsten mochte sie die  
Reihe 'Lastavica'. Auf dem Heimweg las sie das  
geliehene Buch an und riskierte dabei blutige  
Zehen oder abgeschabte Schuhspitzen, um  
herauszufinden, wie interessant es war. Es fiel  
ihr sehr schwer, dass sie die Bücher zu Hause  
verstecken musste.  
An diese Zeit, in der sie lesend die Welt  
entdeckte, dachte sie auch später noch gern  
zurück. Eine Woche war sie mit Kindern vom  
anderen Ende der Welt zusammen, die nächste  
verbrachte sie irgendwo in Europa oder  
Russland, in der dritten rannte sie mit dem  
'Schwarzen Nobi' durch die afrikanische  
Savanne. Damals erfuhr sie, dass es Sklaverei  
gegeben, dass man Menschen gefangen und wie  
halbwilde Tiere verkauft hatte. Mit der 'Grauen  
Möwe' segelte sie über die Ozeane zum fernen  
Amerika, kehrte aber nicht sofort zurück,  
sondern schipperte bis zu den Eiswüsten der  
Eskimos. Sie verschlang Geschichten von  
kleinen und großen Partisanen, ergötzte sich an  
diesen Helden, dachte sich selbst einen kleinen  
Partisanenkurier aus, einen, der Unglücklichen  
half,  
verwundete  
ganze  
Partisaneneinheiten  
Kämpfer rettete  
oder  
und  
Flüchtlingskindern etwas zu essen brachte. Sie  
bedauerte sehr, in diesem winzigen Dorf bei  
Pale zu wohnen, in dem das ganze Jahr über  
nichts passierte außer ein paar Hochzeiten, dem  
Gezeter streitender Frauen oder dem Radau von  
halbwüchsigen Burschen, die beweisen wollten,  
dass sie der Fuchtel ihrer Eltern entronnen  
waren. Sie hatte keine Ahnung, was  
sozialistischer Realismus oder Idealismus  
waren, welche blühenden Lügen sich die  
kommunistischen Gauner ausdachten, über die  
ihr Papa so oft schimpfte. Ihr tat es nur leid,  
dass sie nicht solche Kumpel hatte wie das  
Mädchen aus dem russischen Buch 'Timur und  
seine Schar'. "Wäre mein Bruder Rasim  
wenigstens ein bisschen wie Timur", bedauerte  
sie; schade, dass er gar kein Interesse  
aufbrachte für den fünfzackigen Stern, die  
Spielerei der Pioniere oder gar für ihre  
Versuche, ihm die Wunder der Bücher  
schmackhaft zu machen.  
So verlief ihre Kindheit zwischen Phantasie und  
der Langeweile der Provinz. In der siebten  
Klasse war sie körperlich ausgewachsen, aber  
immer noch verträumt wie ein kleines  
Mädchen, das nicht begriff, warum ihr die  
Mutter verbot, kurze Röcke und enge Blusen zu  
tragen. Die Großmutter erklärte ihr, sie müsse  
sich nun schämen, dem Vater, dem Bruder und  
den Nachbarn ihre nackten Beine und ihre  
Oberweite zu zeigen. Da sie für diese  
Ermahnung keinerlei Verständnis erkennen ließ,  
vertiefte die Oma ihre Erklärung und sagte, dass  
Frauen immer auf der Hut sein müssten, man  
wisse nie, was in den Köpfen der Männer  
vorginge. Nadira fand den Hinweis komisch  
und letztlich sinnlos; sie konnte sich nicht  
vorstellen, was ein männliches Geschöpf an  
ihren stämmigen Beinen und den mickrigen  
Brüsten finden könne. Aber sie trug gehorsam  
lange Röcke und zugeknöpfte Blusen, wollte sie  
doch diesen Moralpredigten entgehen.  
Kurz nach Beginn des siebten Schuljahres  
halste  
ihr  
Draginja  
Milunović,  
die  
Muttersprache unterrichtete, eine große Arbeit  
auf. Die 'Lastavica'Bibliothek ließ großmütig  
verkünden, ein Preis solle den treuesten  
'Lastavica' Lesern zuerkannt und damit zugleich  
die Kreativität der Jüngsten angeregt werden.  
Nadira ahnte allenfalls, was Kreativität sein  
könnte, aber dass man diesen Preis nicht wie in  
einer Lotterie gewann, sondern sich erarbeiten  
musste, erkannte sie ohne viel Phantasie. Er lag  
so außerhalb aller Wahrscheinlichkeit, dass sie  
die Augen aufriss und die Lehrerin angaffte, als  
diese vor der ganzen Klasse mit dem Finger auf  
sie zeigte.  
"Komm, Literatin", wandte sich die Lehrerin  
Draginja zum ersten Mal mit dem Spitznamen  
an sie, unter dem sie an der Schule bekannt war.  
"Wenn du dich ein bisschen anstrengst, kriegst  
du den Preis. Du musst den Inhalt von fünf  
Bänden aus der 'Lastavica'Bibliothek mit  
eigenen Worten wiedergeben und bis zum 30.  
Mai an die Adresse ... schicken. Wenn du gute  
Nacherzählungen ablieferst, kannst du fünfzehn  
Tage Sommerurlaub bei Split gewinnen, für  
nicht ganz so gute erhältst du 50, für passable  
25 Bücher aus der Bibliothek ... "  
Nadira wurde erst rot und dann weiß und fühlte,  
wie Schweiß ihre Baumwollbluse durchtränkte.  
Warum gerade sie? Woher sollte sie wissen, wie  
man Bücher nacherzählt? Es stimmte ja, dass  
sie  
immer  
etwas  
schrieb,  
abschrieb,  
hinzuschrieb, aber das war doch nur Spaß.  
Nadira fand es schade, dass sie nie ein Gedicht  
zustande brachte, so hübsche kleine Reime, die  
einem aus der Feder flossen. Wenn sie eine  
Erleuchtung behelligte, manche nannten das  
eine Inspiration, schabte ihr Stift über die  
Seiten der Hefte, bis eine lange Geschichte von  
einem Morgen in ihrem Dorf, über diesen  
Satansbraten von Bruder oder Omas stets  
verschlossene Brauttruhe herauskam. Die  
Lehrerin heftete ihre Arbeiten oft ans Schwarze  
Brett im Schulflur, manche waren, auf die  
Hälfte zusammengekürzt, in der 'Kleinen  
Zeitung' erschienen. Aber einen Preis hatte sie  
bisher für keinen ihrer Texte bekommen. Nur  
das Etikett einer Verrückten hatten sie ihr  
eingebrockt, man lachte sie auch dann aus,  
wenn sie die Geschichte nicht erfunden hatte.  
Sie hatte schon mitbekommen, wie schwer es  
war, in der Provinz, zwanzig Kilometer  
außerhalb von Sarajevo, nicht den Erwartungen  
zu entsprechen.  
"Nein, Frau Lehrerin, ich bin sicher, da hat euch  
jemand angelogen, für das Schreiben bekommt  
man doch keine Preise. Ich weiß nicht, fünf  
Bücher, was soll ich machen, wenn mich der  
Papa plötzlich mit fünf Büchern erwischt",  
lamentierte Nadira, böse auf die Lehrerin, weil  
sie ausgerechnet auf sie verfallen war.  
Die Lehrerin Draginja lachte, und ihr Lachen  
hallte durch die Betonmauern der Schule.  
"Halt, Nadira, halt, du fasst die Bücher  
zusammen wie sonst die Schullektüre. Ich weiß,  
dass du es kannst, ich werde es dir nicht  
verzeihen, wenn du kneifst; du kriegst dann  
ganz sicher eine schlechtere Note am Ende des  
Schuljahres."  
Natürlich konnte Nadira es nicht riskieren, im  
muttersprachlichen Unterricht eine schlechtere  
Note zu bekommen, und die Lehrerin Draginja  
war für sie eine Respektsperson. Sie war die  
erste Frau aus der Umgebung, die in der  
Großstadt ihr Abitur geschafft und danach  
studiert hatte. Man erzählte sich, dass sie  
nebenher weiter studierte und Studienrätin  
werden wollte, nach des Onkels Überzeugung  
auch Nadiras zukünftiger Beruf.  
Es blieb nichts anderes übrig, als die Aufgabe  
zu übernehmen. Schließlich sollte ihr die  
Lehrerin dabei helfen, sich ins Gymnasium oder  
die Lehrerschule einzuschreiben. Den ersten  
Preis schrieb sie sofort ab; ihre Eltern hatten ihr  
nicht mal erlaubt, an dem Klassenausflug nach  
Sarajevo teilzunehmen, und würden ihr sicher  
keine Reise ans ferne Meer gestatten. Überdies  
konnte sie weder schwimmen, noch hatte sie  
einen Badeanzug. Aber der zweite oder dritte  
Preis, 50 oder 25 Bücher... Das durfte man sich  
nicht entgehen lassen, dafür hätte sie auch fünf  
mal fünf Bücher zusammengefasst. Was für ein  
Glück, in die Sommerferien zu gehen, während  
derer die Schulbibliothek geschlossen war, und  
einen Berg eigener Bücher zu haben! Sie vergaß  
ganz, dass das Lesen nie ohne Geschimpfe und  
Striemen abging, denn vertieft ins Lesen  
überhörte sie, dass die Mutter nach ihr rief, eine  
durstige Kuh brüllte oder die Hühner im Garten  
scharrten.  
Sie begann unverzüglich mit der Arbeit und  
fand fünf Bücher, drei in der Schulbücherei,  
zwei besorgte ihr die Lehrerin aus Sarajevo.  
Manche Bände hatte sie zuvor schon in Händen  
gehalten, aber das Lesen war die einzige  
Tätigkeit, bei der sie Wiederholungen nicht  
störten. Zu Hause versteckte sie alle unter ihrem  
Bett, denn ihr Papa würde einen Wutanfall  
bekommen, wenn er fünf Bücher auf einmal sah  
– ihm würde bestimmt übel davon.  
Tagsüber heimlich und nachts mit einer  
Gaslampe flogen ihre Augen über die Seiten.  
Innerhalb von fünfzehn Tagen hatte sie alle  
Geheimnisse der Helden entdeckt, sich mit  
ihnen ausgetobt, mit ihnen gelacht und geweint,  
und am Schluss war sie ihrer überdrüssig. Sie  
sehnte sich nach eigenem Spielen und Lachen,  
und in der Schule wurden noch andere Dinge  
als die Muttersprache geprüft. Sie verstaute die  
Bücher wieder unter dem Bett und vergaß sie.  
Aber die Lehrerin vergaß sie nicht.  
"Literatin, wie geht die Arbeit voran, was hast  
du schon geschrieben?" fragte sie eines  
Morgens vor dem Unterricht.  
"Naja, so, ich, hm, ich hab schon alle gelesen",  
stotterte Nadira und machte sich so klein wie  
möglich. Am liebsten wäre sie unter die Bank  
gekrochen.  
"Falsch. Du musst dir Buch für Buch  
vornehmen, das hab' ich vergessen, dir zu  
sagen. Wenn du die ersten zwei fertig hast, gib  
sie mir, ich will sie durchsehen."  
Nadira stöhnte den ganzen Tag. Ja, sie hatte  
sich Geschichten ausgedacht, manchmal die  
Mutter belogen, vor allem, wenn diese sich mit  
der Rute in der Hand vor ihr aufbaute, aber sie  
hatte noch nie ein Versprechen gebrochen. Sie  
hatte es versprochen und musste ihr  
Versprechen halten, basta. Das Lesen konnte sie  
zu Hause verheimlichen, aber das Schreiben?  
Noch am selben Nachmittag setzte sie sich hin.  
Das erste Buch handelte von einer fliegenden  
Karawane, genauer von einem Schwarm  
Wildgänse, die auf ihrem Flug nach Süden  
verzweifelt um ihr Leben kämpften. Unterwegs  
rangen sie mit Sturmwinden, Schnee, Hunger,  
Jagdlust ... Die erste Nacherzählung machte ihr  
Spaß, dank der Ruhe im Haus schrieb sie sie in  
einem Zug. Der Vater saß mit ein paar Kumpel  
in einem Lokal, die Mutter besuchte mit der  
jüngeren Schwester Verwandte, der Bruder  
spielte mit seinen Freunden, dem Fohlen und  
ihrem struppigen Hund, auf der Wiese beim  
Fluss. Die Großmutter hatte Kopfschmerzen  
und blieb in ihrem Zimmer.  
Als alle wieder zu Hause waren, lagen die  
vollgeschriebenen Blätter in einer Kiste. Die  
Mutter war böse auf den Vater, weil er das Geld  
in der Kneipe gelassen hatte und direkt nach  
seiner Heimkehr, besoffen lallend, auf der  
Küchenbank eingeschlafen war. Wahrscheinlich  
vergaß sie darüber, Nadira wegen des nicht  
gespülten Geschirrs zu schelten. Es war ein  
ruhiger Abend in ihrer Familie, aber aus  
Erfahrung wusste sie, dass dann immer etwas  
im Busch war. Diesmal kam es erst am nächsten  
Tag heraus, als der Vater wieder nüchtern war  
und die Mutter die Gelegenheit nutzte, ihm  
alles an den Kopf zu werfen, was er in letzter  
Zeit verbrochen hatte. In ihrer Gegend gab es  
wenig Frauen, die sich mit ihrem Gatten  
brüsten konnten; man konnte den Eindruck  
haben, dass ihr Vater noch einer der besten war.  
Überall hieß es, Dervo sei ein Mann, der Wort  
hielt, ein ehrbarer Hausherr, der sich kein Geld  
lieh oder in den Geschäften anschreiben ließ, im  
Gegenteil, er borgte anderen. Man sagte, er  
habe ein gutes Gemüt, denn er schlage oder  
beleidige seine Frau nicht und habe keinen  
Streit mit seinen Freunden. Dass er einmal in  
drei Monaten sturzbesoffen war und keinem  
gestattete, ihn zu beleidigen, das nahm ihm  
niemand übel, das gehörte zur Ehre eines  
Mannes, und daran konnte keiner etwas  
Schlechtes finden. Der Vater genoss ungeheure  
Autorität in der Familie, verbreitete Furcht und  
Zittern, so dass Nadira seine Anwesenheit als  
Bedrohung empfand. Er züchtigte die Kinder  
nur selten; sie wussten, was sie nicht tun  
durften. Wenn irgend etwas ohne sein Wissen  
gekauft wurde, dann musste es gut versteckt  
werden. Er wusste natürlich nicht, was sie  
tagsüber in seiner Abwesenheit trieben, und er  
schnüffelte auch nicht im Haus, in den  
Schränken und Truhen herum. Aber seiner  
Mutter entging nichts. Sobald einer etwas  
anstellte oder ihr nicht gehorchte, drohte sie:  
"Wartet nur, sobald Dervo nach Hause kommt,  
sag ich's ihm. Wer nicht hören will, muss  
fühlen." Selten machte sie die Drohung wahr,  
aber sie wirkte immer. Mehrmals hatte jedes der  
Kinder des Vaters Zorn und seine Prügel zu  
spüren bekommen, und die Angst vor  
neuerlichen Schlägen saß ihnen in den  
Knochen.  
Die Mutter hatte den Vater geheiratet, weil zwei  
Jahre nach der Befreiung ein Erlass herauskam,  
nach dem alle Mädchen in Arbeitsbrigaden  
organisiert  
und  
zu  
Arbeitseinsätzen  
herangezogen werden sollten. Sie stammte aus  
einer strenggläubigen Familie, die fünfmal am  
Tag betete, jeden Ramadan fastete und zu  
Kurban Bajram den größten Schafbock  
schlachtete. Man erzählte sich, dass im Hof der  
Karalićs einst Derwische zusammengekommen  
waren und Ifetas Vater, Nadiras Großvater, in  
seinen besten Jahren ihren Kreis angeführt hatte  
und mit bloßen Füßen über glühende Kohlen  
lief. Die Frauen, ihre Mutter und die  
Schwestern, hatten bis vor kurzem noch den  
Umhang, der den ganzen Körper verhüllte, und  
einen Gesichtsschleier getragen, da kam die  
Anordnung der Kommunisten heraus, dass sich  
die achtzehnjährige Ifeta, Nadiras Mutter, und  
die zwanzigjährige Munira, Mutters ältere  
Schwester, freiwillig zu Aufschüttarbeiten für  
einen Bahndamm melden mussten. Eine  
Eisenbahnlinie sollte durch Zentralbosnien  
gebaut werden. Zum Glück war Muniras  
Verlobter mit einem früheren Hochzeitstermin  
einverstanden, und auch für Ifeta wurde ein  
Bewerber gefunden, der Witwer Dervo aus  
einem Dorf bei Pale. Er gab später zu, dass er  
sich auf diese Brautschau nur eingelassen hatte,  
weil er, ein wenig angetrunken, mit seinen  
Zechkumpanen gewettet hatte, er könne trotz  
seiner beinah vierzig Jahre und obwohl er  
Witwer war, ein Mädchen aus einer der besten  
städtischen Familien heiraten.  
Ifeta war so erzogen, dass sie schon den  
Gedanken kaum ertrug, einen ganzen Sommer  
lang außerhalb ihres Geburtshauses, praktisch  
in der Fremde, zu leben und mit Männern  
fremden Glaubens und fremder Sitten in  
Baracken zu hausen. Später sagte sie oft, sie  
habe von zwei Übeln das schlimmere gewählt,  
die Ehe mit einem Menschen, mit dem sie vor  
der Hochzeit keine drei Worte gewechselt hatte.  
Aber daran ließ sich nichts mehr ändern, und so  
schickte sich Ifeta mit der Anpassungsfähigkeit  
bosnischer Frauen drein, bekam Kinder mit  
Dervo,  
zog  
sie  
groß,  
ertrug  
die  
Schwiegermutter, hielt ihr neues Zuhause in  
Ordnung und pflegte sorgfältig die  
Beziehungen zu ihrer eigenen Familie. Sie  
übernahm die Überzeugung ihrer Schwester  
und ihres Bruders, dass die Kinder zur Schule  
gehen müssten, und sie war stolz auf ihre  
Tochter,  
in  
deren  
Zeugnissen  
stets  
ausgezeichnete Zensuren prangten. Aber sie war  
auch unglücklich wegen ihres Sohnes Rasim,  
der sich mit Ach und Krach von Klasse zu  
Klasse hangelte. Sie wünschte, er wäre wie ihr  
Bruder Taib, nicht wie ihr Mann Dervo. Sie  
achtete darauf, dies nicht zu oft vor der  
Schwiegermutter und ihrem Gatten zu äußern,  
weil die immer mit den Worten reagierten:  
"Und warum hast du nicht einen feinen Herrn  
geheiratet, sondern dich auf den Witwer Dervo  
gestürzt? Fehlt dir was in unserm Haus, auch  
wenn es kein Herrenhaus ist?" Nadira wuchs  
zwischen diesen beiden Extremen auf, zwischen  
den Sitten der Stadt und denen des Dorfes, und  
sie wusste nicht, wohin sie gehörte. Hätte  
jemand sie um ihre Meinung gefragt, sie hätte  
geantwortet: 'Gibt es nicht ein Drittes? Mir  
gefällt weder die väterliche noch die  
mütterliche Seite.' Die Bücher zeigten ihr, dass  
es dieses Dritte gab, aber die den Bedürfnissen  
der sozialistischen Demagogie angepasste  
Erziehung war der Entfaltung eigenständigen  
Denkens nicht eben förderlich. Sie verstand  
damals noch nicht, was um sie herum wirklich  
vorging, bemerkte nicht, dass zwischen den  
Schösslingen des europäischen Bürgergeistes  
trübe, schwere Traditionen, Religionen,  
versteckte  
Nationalismen  
angeschwemmt  
wurden. Die Schösslinge konnten sich nicht so  
recht entwickeln, denn über diese ganze  
balkanische Mischung stülpte sich die große  
Glocke der Ideologie, der es trotz zahlreicher  
Experimente und Reformen dann doch nicht  
gelang, die Welt zu verbessern.  
Nadira folgte trotz der übermächtigen Autorität  
des Vaters ihrem Instinkt, ihren innersten  
Bedürfnissen. Den Inhalt der 'Lastavica'-Bände  
nachzuerzählen, bedeutete ihr ungeheuer viel;  
sie lebte darin auf. Am folgenden Tag nahm sie  
keine Rücksicht auf die Atmosphäre im Haus,  
und die Angst vor dem Vater trat zurück. Sie  
setzte sich an den Tisch, der in einer nicht ganz  
so hellen Ecke stand, und fasste das zweite  
Buch zusammen.  
Draußen war schlechtes Wetter, mitten im  
Frühling fiel Schnee, und die ganze Familie war  
zu Hause, der Vater verkatert und mürrisch, die  
Mutter finster wie eine Gewitterwolke. Nur in  
diesem Zustand ertrug der Vater Schelte, und  
die Mutter ließ sich die Chance nicht entgehen,  
ihren über Monate hin angesammelten Unmut  
loszuwerden. Da sie jedes Mal bei Adam und  
Eva anfing, mussten alle zum wer weiß  
wievielten Male anhören, wie sie nur so blöd  
gewesen sein konnte, nicht zum Arbeitseinsatz  
zu gehen, hatte doch die Hochzeit mit ihm ihr  
Leben zerstört. Er schnaubte bloß und sah  
finster zu ihr hin.  
Nadira war ganz in ihre Nacherzählung vertieft;  
das Buch handelte von mutigen Pionieren. Wie  
viele andere Kinder ihrer Generation verschlang  
sie gierig die bunten Lügen von Branko Ćopić  
und glaubte, auf der Welt lebten nur  
Märchenonkel und Helden mit Taubenherzen,  
Mädchen mit großen, dunklen Augen und  
Jungen, die in diese Mädchen verliebt waren. In  
der Schule brachte man ihnen bei, wenigstens  
den besseren Schülern, dass sie den  
Kommunisten dankbar sein müssten, weil diese  
sie aus der Finsternis der Vergangenheit befreit  
und ihnen die Tür zum Paradies aufgestoßen  
hätten, in dem Brüderlichkeit und Einheit  
blühten, Mittel gegen die balkanische Seuche  
des Nationalismus. Nadira war Branko Ćopićs  
Geschichte nicht üppig genug, und sie dichtete  
seinen Helden noch ein paar gute Eigenschaften  
an, lobte sie in den Himmel, wie ihre Oma es  
nannte. Die fertigen Blätter legte sie neben sich  
und übersah, dass ihr Bruder sich in die dunkle  
Ecke geschlichen und unter dem Tisch versteckt  
hatte. Und plötzlich, wupps, grabschte er die  
Seiten, kreischte aufgeregt und kletterte auf  
einen Stuhl, damit sie ihn nicht zu fassen  
bekam. Sie heulte halblaut auf und hüpfte ein  
paarmal hoch, aber seine langen Arme waren  
außer ihrer Reichweite.  
"Lasst mich euch vorlesen, was unsere Literatin  
zierlich verfasst hat." Der Bruder konnte vor  
Lachen kaum reden.  
"Gib ihr das zurück!" fauchte ihn die Mutter an.  
Der Vater erhob sich und spitzte die Ohren,  
damit ihm nur ja nichts entging.  
Der Bruder begann, ihre Sätze laut vorzulesen,  
und sie wäre am liebsten im Boden versunken.  
Dabei störte sie weniger, dass sie es mit der  
Heimatliebe arg übertrieben hatte, denn das fiel  
ihr gar nicht auf, vielmehr fürchtete sie sich vor  
dem verzerrten Gesicht des Vaters, das nichts  
Gutes verhieß. Je länger ihr Bruder las, desto  
wütender wurde dessen Miene, als würde er  
persönlich aufs Schlimmste beleidigt.  
"So einen Dreck bringen die euch in der Schule  
bei! Das merkst du dir alles und wiederholst es  
auch noch!" Der Vater griff sich an den Kopf.  
"Dervo, du bist ein Idiot, warum lässt du solche  
Narren aus ihnen machen. Wo graben die bloß  
die ganzen Partisanen und Kommunisten aus?  
Das war doch nicht mehr als eine Handvoll, und  
die lagen immer im Hinterhalt. Schau dir doch  
an, wie sie herrschen. Keiner traut mehr seinem  
eigenen Bruder, dass der ihn nicht bei der  
Staatssicherheit anzeigt. Uns nehmen sie den  
Lohn weg und bereichern sich übler als jeder  
Patron vor dem Krieg."  
Zwischen seinem Zorn und dem Gestotter ihres  
Bruders konnte sie ihm nicht klarmachen, dass  
sie in der Schule noch was anderes als die  
Pionier und Partisanengeschichten lernte, auch  
Geographie und Mathematik, Fremdsprachen ...  
"Ungezogener Bengel, gib ihr das zurück, es ist  
doch ihre Lektüre", bettelte die Mutter mit  
furchtsamer Stimme; sie ahnte, dass die  
Situation eskalieren konnte.  
"Ich pfeif' auf ihre Lektüre, auf sie und dich!"  
brüllte der Vater. "Im Haushalt hat sie noch rein  
gar nichts gelernt, ich hab' sie nie beim  
Ausziehen von Strudelteig gesehen. Schau dir  
mein Hemd an, ein Riesenloch ist auf dem  
Rücken, das hat sie beim Bügeln  
hineingebrannt ... Du mit deiner Schule, immer  
nur Schule, als würde sie die Schule heiraten!  
Bücher, Bücher, die schnappt ja über bei all den  
Lügen!"  
"Und dir hat der Schnaps den Verstand  
geraubt!" Diesmal gab die Mutter nicht klein  
bei, mit aller Kraft verteidigte sie die Zukunft  
ihrer Tochter. "Wenn der liebe Allah es will,  
wird sie eines Tages Lehrerin wie Frau  
Draginja, vielleicht sogar am Gymnasium. Sie  
wird nicht wie ich immer nur bedienen  
müssen."  
Daraufhin kam die Großmutter – die Nana, wie  
die Mutter des Vaters von der Schwiegertochter  
und den Kindern in dieser Gegend meist  
genannt wird – aus ihrem Zimmer und  
widersprach der Mutter gewohnheitsmäßig.  
"Warum sorgst du nicht für Ruhe, immerzu  
brütest du ein Unglück aus ... Schämt ihr euch  
nicht, die ganze Nachbarschaft hört euch. Du  
schwätzt schlimmer als jede Klatschbase. Was  
soll's, wenn mein Sohn trinkt, er hat nicht dein  
Geld versoffen, es ist nicht deine Mitgift. Wenn  
du Käse verkaufst, dann weil er eine Kuh hat,  
und er sorgt für ihr Futter. Es gehört ihm, und er  
kann's ausgeben, wie er will. Du sollst auf die  
Kinder aufpassen und für ihn sorgen. Er arbeitet  
viel, er muss sich mal zerstreuen."  
"Und ich, was ist mit meiner Zerstreuung?"  
seufzte die Mutter und wischte sich mit dem  
Zipfel ihres Kopftuches die Augen.  
"Deine Zerstreuung sind die Kinder und das  
Haus. Wenn's dir nicht passt ... "  
"Ach, Mutti, hör auf", meinte der Vater  
versöhnlich; vielleicht fühlte er sich schuldig,  
weil er das Geld ausgegeben hatte, das er sonst  
seiner Lebensgefährtin für ihre weiblichen  
Bedürfnisse überließ. Es gehörte zu ihren  
Aufgaben, das Ansehen seines Hauses zu  
fördern; deswegen kaufte sie von dem Geld  
Geschenke für Wöchnerinnen, Bräute und  
Bräutigame unter den weiteren Verwandten  
oder Kleinigkeiten, wie Lippenstift oder Creme,  
für sich selbst. "Und du, Schulmädchen, holst  
mir zur Strafe ein Bier, aber plötzlich!"  
"Nein, sie geht nicht für dich Bier kaufen",  
trumpfte die Mutter auf und umarmte die  
Tochter. "Soll dein Sohn gehen, der ist wie du,  
Schulversager ... Sie ist mein Goldstück. –  
Mein Herzchen, lern fleißig in der Schule,  
damit du nicht an so Nichtsnutze gerätst wie  
ich", flüsterte sie ihr ins Ohr.  
Nadira riss sich von der Mutter los, sprang hoch  
um dem Bruder den Text zu entreißen, und  
schubste ihn unglücklich vom Stuhl. Er prellte  
sich die Schulter, sie wurde dafür von der Nana  
geschlagen, und der Vater warf ihre  
Nacherzählung von den mutigen Pionieren in  
den Herd. Dieser Vorfall verleidete ihr die  
Sache, tagelang mochte sie sich nicht wieder  
daran setzen.  
Sie wäre ohnehin nicht dazu gekommen, denn  
um diese Jahreszeit gab es viel Arbeit im  
Garten, und Mutter und Großmutter  
wetteiferten darin, wer sie zuerst rief. "Lass uns  
Zwiebeln setzen, Furchen für die Gurken  
ziehen, die Küche ist seit drei Tagen nicht  
gewischt worden." Großmutter verfiel auf die  
Idee,  
mit  
ihrer  
alten,  
wackeligen  
SingerMaschine Pyjamas zu nähen, und Nadira  
musste daneben stehen und den Faden ins  
Nadelöhr bugsieren. Dann bekam die Schwester  
die Masern, und man befahl ihr, bei ihr zu  
bleiben. Als das ausgestanden war, stieg ihr die  
Frühlingssonne zu Kopf, und sie konnte den  
Rufen der Freundin vor dem Hoftor nicht  
widerstehen. Die Tage schmolzen dahin wie der  
Schnee im Südwind, zehn Tage vor Ablauf der  
Frist hatte sie erst drei Nacherzählungen fertig.  
Am liebsten hätte sie sich versteckt und die  
Schule geschwänzt. Der Preis war nicht mehr  
wichtig, nur, wie konnte sie die Lehrerin so  
enttäuschen? Hätte Frau Draginja doch nur die  
Aufgabe, die sie ihr anvertraut hatte, vergessen!  
Aber nein, Frau Draginja fragte nach, wo die  
Nacherzählungen denn blieben? Nadira konnte  
nicht ausweichen, sie gab ihr die verknitterten  
Seiten,  
"Nur drei!" zürnte sie und überflog rasch die  
schrägen Buchstaben von Nadiras Handschrift.  
"Aber das ist gut, ausgezeichnet, es wäre  
schade, wenn du es nicht wegschickst. Ich  
schließe dich in der Bibliothek ein und lasse  
dich erst heim, wenn du das nächste Buch fertig  
hast. Und morgen nimmst du dir das letzte vor!"  
Zum ersten Mal allein in der Bibliothek! Sie  
sog den wunderlichen Geruch von Leim und  
altem Papier ein und betrachtete die Bücher. Sie  
geriet in Versuchung, zwei zu stehlen,  
'Robinson Crusoe' und 'Heidi', steckte sie sogar  
in ihren Ranzen, stellte sie aber wieder an ihren  
Platz, weil sie Gewissensbisse plagten.  
Eine Stunde verlor sie mit dem Durchstöbern  
der Regale, dann erst setzte sie sich hin, um zu  
schreiben. Sie kritzelte drei Blumen an den  
Rand des Papiers, und nun kamen die Sätze  
ganz von allein. Aber sie war nicht zufrieden,  
weil es ihr nicht gelungen war, jene hübschen  
Sätze über die Kriegserlebnisse von Titos  
Pionieren zu wiederholen, die sie zu Hause  
schon geschrieben und die ihr Vater in den Herd  
geworfen hatte. Jetzt noch hörte sie sein  
Geschrei: 'Ha, komische Lügen, ha, wie die  
euch anlügen!'  
Als sie nach dem letzten Punkt wieder zu sich  
kam, merkte sie, dass ihre Beine und ihr  
Rücken in dem kalten Raum halb erfroren  
waren und die Sonne tief im Westen stand.  
Schon längst hätte sie zu Hause sein müssen.  
Draußen lehnte sie sich an eine Säule, um sich  
ein bisschen aufzuwärmen und in die  
Wirklichkeit zurückzufinden. Aber wenig später  
winkte ihr der Bruder schon aus der Ferne zu  
und brüllte:  
"Was machst du? Mutter ist außer sich vor  
Sorge!"  
Leider verpuffte die Sorge, kaum dass man  
ihrer zu Hause ansichtig wurde, stattdessen  
zischte die Rute, und Mutters Zorn ergoss sich  
über sie. Zum Glück kam die Nana angelaufen  
und zog die Mutter weg, so dass sie mit zwei  
Hieben und einer Ohrfeige davonkam.  
Natürlich musste sie lügen, um ihren langen  
Aufenthalt in der Schule zu rechtfertigen. Sie  
erzählte, sie habe der Lehrerin beim Ordnen der  
Bücher helfen müssen. Mutter und Großmutter  
übertrugen ihren Zorn auf die Lehrerin, aber  
dieser hielt nicht lange an, denn Draginja  
genoss in ihrem Haus hohes Ansehen.  
Schließlich bildeten ihre Nacherzählungen  
einen beachtlichen Berg Papier. Wieder wusste  
sie nicht weiter, denn er passte nicht in die  
Kuverts, die es auf der Post zu kaufen gab. Sie  
drehte und wendete, faltete und knautschte die  
Blätter ... Es gelang ihr, den Haufen in den  
Umschlag zu stopfen, aber nicht, die Lasche  
zuzukleben.  
Zwei Tage verstrichen, die Frist für das  
Versenden der Arbeiten war abgelaufen, und sie  
schleppte noch immer den offenen Umschlag in  
ihrem Ranzen herum und hätte ihn sicher  
niemals abgeschickt, hätte die Lehrerin nicht  
nachgefragt, ob sie ihn per Einschreiben  
aufgegeben habe. Sie zog ihn aus der  
Schultasche, legte ihn auf den Tisch und brach  
in Tränen aus.  
"Es geht nicht", schluchzte sie, "ich kriege ihn  
nicht zu."  
"Ach, Nadira, Nadira, wie kannst du nur so  
dumm sein!" fuhr die Lehrerin sie an, nahm die  
Blätter und rauschte aus der Klasse.  
Glücklich, dieser Sorge ledig zu sein, vergaß  
Nadira augenblicklich die ganze Angelegenheit.  
Es war die Zeit vor den großen Ferien, und  
selbst die eifrigsten Schüler erfasste die  
Sehnsucht nach dem Sommer und dem  
Faulenzen. Die guten Zensuren im Klassenbuch  
waren noch nicht sicher, die schlechten lauerten  
unter dem Katheder und drohten, sich auch auf  
Nadiras Seite zu heften. Diesen Frühling hatte  
sie sich ziemlich mit Landkarten gequält, Indien  
mit Indonesien, China und Indochina  
verwechselt, und die japanische Insel Kiuschu  
oder so ähnlich verfolgte sie bis in den Schlaf.  
Tagelang bemühte sie sich vergebens um eine  
gute Geographienote.  
In der letzten Woche vor den Ferien rief man sie  
ins Büro des stellvertretenden Direktors. Als sie  
die Nachricht erhielt, schlotterten ihr die Knie,  
sie schaffte es kaum die Treppe hinunter. Sofort  
dachte sie an ihren Bruder. "Du Satansbraten!",  
schimpfte sie vor sich hin, "was hast du jetzt  
wieder angestellt? Ein Fenster zerbrochen, dich  
mit den Kerlen aus der Siebten geklopft oder  
wieder mal der Geschichtslehrerin bewiesen,  
dass das im Lehrbuch nicht stimmt, sondern  
das, was der Papa erzählt?"  
Sie pochte zaghaft an die Tür, steckte die Nase  
ins Büro und stand vor dem versammelten  
Kollegium. So schlimm war es? In ihrer Angst  
sah sie nicht, dass alle sie anlächelten und ihr  
die Hand hinhielten, um zu gratulieren. "Der  
erste Preis, zum ersten Mal in der Geschichte  
der Schule bekommt jemand so einen Preis.  
Herzlichen Glückwunsch zu dieser angenehmen  
Überraschung."  
Sie begriff noch immer nicht, was sie von ihr  
wollten, der Groschen fiel erst, als die Lehrerin  
Draginja 'Lastavica' sagte und ihre guten  
Arbeiten erwähnte. "Bücher, ich kriege  
Bücher!", schoss ihr durch den Kopf, nur um  
einen Moment später in heftige Enttäuschung  
umzuschlagen. Keine Bücher – fünfzehn Tage  
Sommerurlaub in Split mit Kindern aus allen  
Gegenden ihres Landes, die ebenfalls einen  
ersten Preis gewonnen hatten. Das war kein  
Vergnügen für sie. In die ferne Stadt dürfte sie  
ohnehin nicht, die Bücher hingegen wären zu  
ihr gekommen und hätten ihr die Sommerferien  
verschönt. Sie durfte dem Vater nichts vom  
Preis erzählen, weil sie sich ohne seine  
Erlaubnis darum beworben hatte. Wenn sie  
gewusst hätte, dass man den ersten Preis  
ausgerechnet ihr geben würde!  
Die Benachrichtigung über den Preis steckte im  
Ranzen, und die Schultasche wog schwer wie  
ein Stein. Sie hatte Magenschmerzen, als hätte  
sie unreifes Obst gegessen. Zu Hause bekam sie  
keinen Bissen hinunter. Um zu vergessen, was  
passiert war, stürzte sie sich in die Arbeit, fegte  
den Hof, jätete das Zwiebelbeet, und die  
Großmutter wunderte sich sehr, warum ihre  
Enkelin plötzlich so fleißig war, dass sie sogar  
Dinge tat, die man ihr nicht aufgetragen hatte.  
Nachdem der erste Schock abgeklungen war,  
erschien ihr dieses Split und dieses Meer immer  
verlockender. Wie konnte sie die väterliche  
Unnachgiebigkeit überlisten? Ihn jetzt fragen,  
ob sie die Nacherzählungen wegschicken dürfe,  
und ihm zehn Tage später sagen, dass sie den  
ersten Preis bekommen habe? Nur wenn er  
gutgelaunt und ein wenig verkatert nach Hause  
kam, konnte man etwas bei ihm erreichen. Sie  
beschloss, eine Gelegenheit abzupassen,  
vielleicht hatte er in zwei, drei Tagen gute  
Laune.  
In der Dämmerung, gerade als sie den  
Glaszylinder reinigte und die Lampe anzündete,  
kam die Mutter in die Küche, außer Atem und  
verschreckt.  
"Dein Bruder sagt, du hättest einen Preis  
bekommen", wisperte sie, damit die Großmutter  
auf der Veranda nichts hörte.  
"Hab ich", heulte Nadira los, holte den Zettel  
aus der Schultasche und hielt ihn der Mutter  
hin. Diese überflog die Zeilen mehrmals, legte  
dann die Hand auf den Mund, und ihre Augen  
wurden vor Angst rund und groß. "Mein Kind,  
was hast du da wieder angestellt? Erzähl bloß  
dem Vater nichts, der bringt uns beide um.  
Hundert Mal hab ich dir schon gesagt, du sollst  
nichts tun, ohne zu fragen, du weißt doch, wie  
er ist. Wenn's die Nana hört, die erzählt es ihm  
bestimmt, und ich muss es ausbaden."  
Nadira versteckte den Zettel unter der Matratze  
und verabschiedete sich von ihrem Preis. Sie  
wusste aus Erfahrung, dass Vaters Zorn, egal  
was die Kinder anstellten, immer zuerst auf  
Mutters Haupt niederging, und sie wollte nicht,  
dass es diesmal aufgrund ihrer Unüberlegtheit  
passierte.  
Und dennoch kam es genau so. Ein Bursche  
kam in die Schule und ein Mädchen, und sie  
unterhielten sich mit ihr; sie hatte schon von  
Journalisten gehört, verstand aber nicht, warum  
sie sie über ihr Schreiben ausfragten und ein  
Bild von ihr aufnahmen. Das begriff sie erst, als  
jemand das Lokalblatt mit in die Schule  
brachte, und ihr Foto darin prangte. Damit war  
das Versteckspiel vorbei. Es war unvermeidlich,  
dass der Vater diese Seite unter die Nase  
gehalten bekommen würde.  
Im Großen und Ganzen sorgte dieser Preis für  
ziemliche Aufregung in ihrer Familie, sie und  
die Mutter mussten dafür bezahlen, aber später  
war es doch zu ihrem Nutzen. Der Vater sah das  
Bild und reagierte genau so, wie es die Mutter  
vorhergesehen hatte. Er kam am frühen Abend  
nach Hause und riss bereits auf der Veranda den  
Gürtel aus der Hose.  
"Nadira, Tochter, komm her zu deinem Vater  
und erkläre mir, wer dich fotografiert und ohne  
meine Erlaubnis ans Meer schickt? " Er ließ den  
Gürtel gegen die Zarge schnalzen und trat  
gegen den Wassereimer, dass es durch die ganze  
Gasse hallte. Seine Mutter beruhigte ihn, bat,  
keinen Lärm vor den Nachbarn zu veranstalten  
und rügte nebenher die Schwiegertochter, die  
Kinder mit ihrem dauernden Gerede von der  
Schule zum Ungehorsam gegen den Vater zu  
erziehen.  
Nadira und ihre Mutter retteten sich auf den  
überdachten Balkon und verbrachten dort  
mehrere Stunden, bis sich der Vater beruhigte  
und einschlief und ihnen der Bruder die Tür  
öffnete, damit sie hereinkonnten. Die Mutter  
zitterte und wiederholte in einem fort: "Oh,  
Nadira, Nadira, das ist deine Schuld. Ich hab dir  
doch gesagt, dass du nichts tun sollst, ohne  
vorher zu fragen."  
Vielleicht hatte einer der Nachbarn etwas der  
Lehrerin Draginja zugetragen oder diese kam  
von selbst drauf, jedenfalls redete sie mit dem  
Vater und dämpfte seinen Zorn. Sie erzählte  
ihm, was für eine kluge und begabte Tochter er  
habe, dass er auf sie sehr stolz sein könne und  
dass er mit seiner Tochter der Stolz der ganzen  
Schule und der Gemeinde sei. Er konnte gar  
nicht anders, er musste seine Zustimmung  
geben, dass sein Wunderkind ans Meer fuhr.  
Und wirklich entwickelte ihr jähzorniger Papa  
Stolz auf sie. Er zeigte sogar seinen Kollegen  
jenes Bild in der Zeitung und lobte sich, weil er  
ihr die Bücher gekauft habe. Klar, dass keiner  
sagen durfte, dass er sich das aus den Fingern  
sog.  
Am Abend betrachtete er sie von allen Seiten,  
befühlte ihr Haar und ihre Wangen, musterte  
ihre Gesichtszüge, als wolle er sich  
vergewissern, dass das tatsächlich sein Kind  
war.  
"Du meine Güte." Er musste sich wirklich  
wundem. "Was es nicht alles gibt auf der Welt.  
Für diese Lügenmärchen, die ich in den Herd  
geworfen habe, hast du einen Preis bekommen?  
Wer kann so abgedreht sein, ihn dir zu geben,  
lieber Gott."  
"Sie wird Studienrätin." Mutters Gesicht  
glänzte vor Stolz, obwohl sie hustete und  
schwitzte, weil sie sich auf dem Balkon erkältet  
hatte. "Sie soll ruhig lernen, Gott hat's ihr  
gegeben. Hätt' mein Vater mich doch in die  
Schule gehen lassen."  
"Bei Gott, dann hätt' ich dich bestimmt nicht  
geheiratet", warf der Vater ein, "was soll ich mit  
einer gebildeten Frau?"  
Die Mutter sah ihn nur an und nähte weiter an  
dem Kleiderbesatz.  
Nadira fuhr ans Meer, mit dem Schiff von Ploče  
nach Split, lernte schwimmen, sah das erste  
Aquarium ihres Lebens, bewunderte Meštrovićs  
Skulpturen in dessen Galerie ... Sie erkannte  
etwas sehr Wesentliches in diesen Ferien,  
etwas, das ihr ganzes späteres Leben begleiten  
sollte: Sie verstand, was Kunst bedeutete. Die  
ganze Zeit betreute eine Frau aus Belgrad die  
Gruppe von fünfzehn Jugendlichen aus allen  
Teilen  
Jugoslawiens.  
Sie  
schrieb  
Kindergedichte und trug diese vor. Danach  
erklärte sie sehr geistreich und lebhaft, was  
Talent, Eingebung, Schreiben hieß, warum  
diese abgedrehten Schriftsteller, Maler und  
Bildhauer für die Kultur eines Landes wichtig  
waren. Nadira stand mehrfach im Zentrum der  
Aufmerksamkeit, weil zwei ihrer Geschichten,  
bei denen das Thema frei gewählt werden  
konnte, zu den besten gekürt wurden. Langsam,  
ganz allmählich verstand sie, was ihr da  
widerfuhr, begriff endlich, was Schöpfertum ist,  
und viele Dinge, die sie von der Lehrerin  
Draginja gehört hatte, wurden ihr nun klar. Sie  
schwor sich, nie wieder für dieses Bedürfnis zu  
schreiben ein schlechtes Gewissen zu haben,  
selbst wenn alle sie in der Schule und ihrem  
Viertel für verrückt erklären sollten.  
Nach dieser Reise vertiefte sich Nadiras Gefühl,  
dass sie nicht in die Familie gehörte, in die sie  
hineingeboren war. Und sie brachte noch ein  
Mitbringsel heim: den Entschluss, eines Tages  
selbst Bücher zu schreiben.  
Die Dichterin sagte damals etwas, was Nadira  
noch nicht verstehen konnte: Sie habe ihre  
Leidenschaft fürs Schreiben mit einem  
einsamen Leben bezahlt. In ihrem Land gebe es  
wenig Frauen, die für die Kunst lebten, denn  
das gesellschaftliche Klima sei dem abträglich,  
und die Tradition ersticke weibliches Talent,  
vernichte es, noch bevor es sich entwickeln  
könne.  
Erst ein Jahrzehnt später wurde Nadira klar,  
was die Dichterin hatte sagen wollen.  
Nadiras geistige Entwicklung verlief völlig  
unabhängig von ihrer Familie, und ihr Gespür  
für Realität litt darunter. Ihr kam gar nicht in  
den Sinn, dass der Malermeister Dervo, von  
dem sie nicht recht glauben mochte, er sei ihr  
Vater, mit Mauern und Kalkbrennen sie und die  
ganze Familie ernährte und sie von dieser  
Arbeit ziemlich gut lebten. Und sie war  
felsenfest davon überzeugt, dass sie auf gar  
keinen Fall wie ihre Mutter Ifeta Stütze einer  
wohlgeordneten muslimischen Familie werden  
wollte.  
Nach dem ersten Literaturpreis veränderte sich  
des Vaters Haltung ihr gegenüber, er erwähnte  
das Heiraten als einzige Zukunftsperspektive  
nicht mehr, gab dem Drängen seiner Frau nach  
und stattete ihrem Bruder Taib einen Besuch ab,  
jenem Onkel, der Nadira Schreiben und Lesen  
beigebracht hatte. Taib Karalić lebte in dem  
Haus, das er von den Eltern geerbt hatte und das  
in einer Straße hinter der Sarajever Baščaršija  
lag. Als Chef der Buchhaltung einer großen  
Fabrik war er weit von dem Beweis entfernt,  
dass die Vernunft regiere, weil er seine Bilanzen  
oft unter Druck von oben frisieren musste. Er  
hatte spät geheiratet, so dass seine Söhne noch  
klein, nicht einmal schulpflichtig waren. Er  
erinnerte sich seines Versprechens, das er seiner  
Nichte einst gegeben hatte, und war bereit, sie  
bei sich aufzunehmen, sobald sie ins  
Gymnasium kam. Dervo nahm das Angebot an,  
stellte aber die Bedingung, dass Nadira in der  
Familie des Onkels streng beaufsichtigt würde.  
Das Mädchen freute sich so sehr, dass man ihm  
den sehnlichen Wunsch, eine höhere Schule zu  
besuchen, erfüllte, dass es nicht so recht  
bedachte, was 'unter strenger Aufsicht'  
bedeutete. Und auch wenn Nadira es erfasst  
hätte, hätte ihr das wenig geholfen, die Regeln  
standen fest, ohne dass sie etwas daran hätte  
ändern können.  
Onkel Taib und Vater Dervo klärten rasch die  
Bezahlung von Unterkunft und Essen und dass  
Nadira übers Wochenende und in den Ferien  
heim nach Pale fahren sollte. Dann wandten sie  
sich an sie, erklärten ihr, dass sie dem Onkel  
gehorchen müsse wie ihrem Vater und des  
Onkels Frau Faketa wie ihrer Mutter.  
"Schwager", verkündete Dervo, "Ihr habt mich  
überzeugt, dass ich meine Tochter in die höhere  
Schule schicken muss, denn sie soll einen  
besonderen Verstand haben. Mir kommt sie  
zwar nicht so klug vor, und ich wundere mich,  
warum sie im Zeugnis lauter Einsen hat. Ihre  
Lehrerin Draginja hat mir in den Ohren  
gelegen, mein Kind habe eine besondere  
Begabung. Keine Ahnung, was das für eine  
Begabung sein soll, sicher sind das  
Hirngespinste von Müßiggängern, aber ich will  
nicht, dass ihr später auf mich schimpft, weil  
ich den Schulbesuch nicht erlaubt habe. Meine  
Frau hat ihr Herz daran gehängt, dass ihre  
Tochter Studienrätin wird. Ich hab's erlaubt, soll  
sie in die Schule gehen, solange sie will, wenn  
sie auf die schiefe Bahn gerät, kommt sie mir  
nicht mehr ins Haus. Ihr, mein lieber Schwager,  
meine liebe Schwägerin, müsst aufpassen, dass  
das nicht passiert."  
Onkel und Tante bekamen noch ein paar  
Anweisungen von ihrem Vater. Es war Nadira  
verboten, im Dunkeln unterwegs zu sein, tabu  
waren 'Hurentreffen', des Vaters Wort für  
Tanzveranstaltungen und sie durfte nicht an  
Schulausflügen teilnehmen. Zum Kino äußerte  
sich der Vater nicht, wahrscheinlich hatte er es  
vergessen. Während er seine Verbote aussprach,  
wandte er sich mehr an Faketa als an den  
Onkel. Er spürte wohl, dass sie der bessere  
Hüter von Tradition und weiblicher Zucht war.  
Von seinem Schwager wusste er, dass er sich  
bei all seinen alten arabischen und türkischen  
Büchern schon längst von der Wirklichkeit  
entfernt hatte.  
Nachdem die Männer das Ihre, das 'Wichtige',  
gesagt hatten, blieb den Frauen noch das  
Besprechen der 'Kleinigkeiten'. Sie äußerten  
nicht klar und deutlich, was sie dachten,  
sondern richteten sich nach dem, was die andere  
ihrer Meinung nach dachte oder denken könnte,  
und deswegen behandelten sie sich mit  
übertriebener Liebenswürdigkeit. Die Tante sah  
auf Nadiras Mutter mit der Verachtung der  
Städterin herab, glaubte, dass sie durch ihre  
Heirat mit einem ungebildeten Arbeiter ihre  
städtischen Wurzeln eingebüßt hätte. Und die  
Mutter wollte unbedingt beweisen, dass sie sich  
im Gegenteil die Vornehmheit ihrer eigenen  
Familie bewahrt und an ihre Tochter  
weitergegeben habe. Die Mutter verlegte sich  
auf die Taktik des Schwächeren, beschwor ihre  
Tochter, dass von ihrem Betragen in des Onkels  
Haus ihr Ansehen bei der ganzen Familie und  
dem Viertel, in dem sie aufgewachsen war,  
abhing. Nicht nur ihr Ansehen, auch ihr Leben,  
denn der Vater würde sie beide umbringen,  
wenn Nadira Schande über sie brächte. Nadira  
spürte, wie sie zwischen Mutters realen und  
Faketas geheuchelten Ängsten eingeklemmt  
wurde.  
Die Frau ihres Onkels hielt alle Fäden ihrer  
Freiheit in der Hand. Wann immer das Mädchen  
versuchte, diese Fäden zu lockern, ergoss sich  
Faketas  
Missmut  
in  
Form  
von  
Gardinenpredigten.  
Mindestens  
einmal  
monatlich musste Nadira sich anhören, dass bei  
allem, was sie falsch mache, sie nicht nur über  
sich selbst, sondern über die ganze Familie  
Unheil bringe. Die Familie des Bruders ihrer  
Mutter habe schließlich die Verantwortung für  
sie, müsse sich um sie kümmern und sie  
erziehen. Nadira wusste ganz genau, dass diese  
Frau ihren ungehobelten Vater verachtete, und  
doch schlug sie die Hände zusammen und  
behauptete: "Ich würde dich auf den Korso  
lassen, ganz bestimmt würde ich das tun. Aber  
wie soll ich dann unserem guten Herrn Dervo  
unter die Augen treten? Du weißt, was er uns  
gesagt hat! Weißt du, was es bedeutet, fremder  
Leute Kinder aufzunehmen und für sie  
verantwortlich zu sein? Wenn ich gewusst hätte,  
dass das so viele Sorgen mit sich bringt, ich  
hätte es um nichts in der Welt getan!"  
Der neugierigen Nadira, die die Stadt für sich  
entdecken wollte, erschienen Haus und Hof des  
Onkels düster, einsam und weit weg von allem  
Aufregenden, das in der Stadt vor sich ging.  
Besonders  
ihre  
in  
Haushaltsdingen  
ungeschickten Hände forderten Faketas Kritik