@Safeta Obhodjas Sheherazade im Winterland
Übersetzt aus dem Bosnischen von Brigitte
Döbert
Lektorat und Layout: Melitta Depner
Cover: Idee: Safeta Obhodjas / Realisierung:
Melitta Depner
Epubli Verlag Berlin
www.epubli.de
Safeta Obhodjas
Die Zeit des Kometen
Ihre ersten Buchstaben schrieb Nadira auf ein
Brett, das mit feinem Sand bestreut war. Kurz
zuvor hatte sie dieses Brett, wie so oft,
gemeinsam mit Milana, ihrer gleichaltrigen
Freundin, die in derselben Straße wohnte, als
Wippe benutzt. Der Bruder ihrer Mutter, Taib
Karalić, half ihr beim Ziehen der Linien. Er
wischte die falschen Bögen und Striche wieder
weg, erneuerte die Sandschicht und führte
Nadiras kleine, raue Finger mit seiner großen,
zärtlichen Hand, um ihr die Fertigkeit, wie der
Stift
zu
halten
sei, schnellstmöglich
beizubringen. Als das Mädchen den letzten
Buchstaben des Wortes 'Muslim' nach dem
Diktat des Onkels hinmalte, kam ihre Mutter,
Ifeta, mit einem Eimer in den Hof, wie immer
in Eile. Sie rannte zu dem Sandhaufen, schippte
Sand in den Eimer und lief wieder zurück, ohne
auf Bruder und Tochter zu achten. Nadiras
Vater, Dervo, rief schon ungeduldig und
schimpfte, weil das Wasser für den Mörtel
fehlte. In dieser Woche widmete er seine
Maurerkünste dem eignen Haus. Das
Betonfundament für einen Anbau hatte er
unlängst gegossen; nun begann er mit dem
Aufmauern der Ziegel. Seine Frau Ifeta musste
ihm zur Hand gehen, und wie jeder Meister war
er stets unzufrieden mit der Geschwindigkeit
und Geschicklichkeit seiner Helfer.
"Ifeta", sprach der Bruder seine Schwester an,
als sie zum zweiten Mal Sand holte, "habt ihr
das Mädchen in der Schule angemeldet?" Dabei
ignorierte er die Plackerei, die allen Mitgliedern
der großen Familie ein gemütliches Zuhause
bescheren sollte.
"Du hättest dir wirklich keinen besseren
Moment für so eine Frage aussuchen können!"
Noch nie, seit er ihre Gastfreundschaft in
Anspruch nahm, hatte sie ihren Bruder derart
angefahren. Sein mauernder Schwager wurde
weiß vor Zorn, als erschöpfe dieser Unsinn, wie
er nur von einem Stadtmenschen kommen
konnte, endgültig seine Geduld, die durch
dessen mehrmonatigen Aufenthalt schon arg
strapaziert war.
"Du Bücherwurm, hör auf, im Sand
herumzukritzeln, und schaff Ziegel herüber, es
ist langsam an der Zeit, dass du was tust für
dein Abendessen!", brüllte er. Man konnte es
noch drei Häuser weiter hören. Sogar seine
Mutter, die sonst gern über den Bruder der
Schwiegertochter lästerte, ermahnte ihn, dem
Tratsch in der Nachbarschaft keine Nahrung zu
geben.
Taib leistete der Aufforderung Folge, ließ
Nadira allein weiterschreiben und schleppte mit
der Trage Ziegelsteine. Aber am Abend,
während er sein erarbeitetes Abendessen aß,
stellte er die Frage wieder. Ob seine Nichte
diesen Herbst in die erste Klasse käme? Nadira
wartete mit klopfendem Herzen auf die Antwort
der Eltern. Seit ihr der Onkel den Zauber des
Lesens und Schreibens nahegebracht hatte,
hegte sie nur noch einen Wunsch: Sie wollte so
bald wie möglich in die Schule gehen. Die
Mutter massierte mit schmerzverzerrtem
Gesicht ihr Handgelenk mit einer Rheumasalbe
und wies ihren Bruder mit einer Geste auf
Dervos mürrische Miene hin.
"Bei meinem Glauben", beteuerte Taib, "ich
habe noch nie ein verständigeres Kind gesehen.
Sie kann schon alle Buchstaben und liest ganze
Wörter ohne Stottern. Es wäre eine Sünde, sie
nicht umgehend in die Schule zu schicken."
"Was hast du heute nur, warum reitest du so auf
dieser Schule herum?", seufzte Ifeta, "sie ist
doch noch klein, erst fünfeinhalb, und der Weg
zur Schule ist weit. Dieses Jahr müssen wir
Rasim in die erste Klasse schicken, er ist
eineinhalb Jahre älter als sie. Du siehst doch,
dass wir anbauen; wir haben nicht genug Geld,
um beide einzuschulen."
Der Maurer Dervo betrachtete seine Tochter
und sah nichts Besonderes, ein gewöhnliches
Mädchen mit zerzausten Zöpfen, übergroßen
Augen und riesigem Mund in einem langen,
vom Sand verschmutzten Kleid. Wenn sie so
klug war, wie der Schwager sagte, warum
musste er ihr dreimal sagen, dass sie ihm etwas
bringen solle, warum begriff sie oft nicht, was
er von ihr wollte? Ihm bedeutete es nichts, dass
ein kleines Mädchen von fünfeinhalb Jahren
Lesen und Schreiben gelernt hatte. Bildung
hatte seiner Überzeugung nach noch
niemandem Glück gebracht, auch seinem Gast
nicht, der dem Tod gerade noch mal von der
Schippe gesprungen war.
"Komm, werter Schwager, du hast dein ganzes
Leben gelernt und gelesen, das hat dir doch nur
den Verstand verdreht. Deswegen hast du
jahrelang hinter Gittern gelebt, versteckt wie
eine Maus. Ich sag ja nicht, dass du nicht klug
wärst, nur, was hat es dir gebracht? Seit
Monaten verkriechst du dich bei mir, isst mein
Brot und fragst nicht mal, wie ich es verdiene."
In Dervos Worten lag kein Vorwurf, er wollte
auf diese Weise seinem Schwager die
praktische Seite des Lebens erklären. Taib
verstand das auch und fühlte sich angesichts
dieser einfachen Denkweise schuldig und
kleiner als eine Ameise. Ihn schmerzte sein
Leben als 'Kellermaus' ebenso wie die
mehrmonatige
Gastfreundschaft
seines
Schwagers. Er, der ehemalige Zagreber Student,
zu seinem Unglück mit Mitgliedern der 'Jungen
Muslime' befreundet, war dem Mann seiner
Schwester aufrichtig dankbar. Dervo hatte ihn
davor bewahrt, noch länger in den feuchten
Katakomben unter seinem Elternhaus in
Sarajevo gefangenzusitzen, hatte ihn ins Dorf
geholt. Hier wurde er dank der Zuwendung
seiner Schwester und der frischen Luft wieder
gesund und kräftig. Hier fasste er, während er
sich physisch erholte und der Schmerz in den
Lungen nachließ, allmählich wieder Vertrauen
zu sich selbst und zu der Tatsache, dass der
große Besen, der die anderen Mitglieder der
jungmuslimischen Intellektuellenorganisation
ins Gefängnis fegte, ihn offenbar links liegen
ließ. Nun bereitete er sich darauf vor, den
Schutz von Dervos Haus zu verlassen, nach
Sarajevo zurückzukehren und dort Arbeit zu
suchen. Mit ihrem Geplauder hatte das
Mädchen seine Lebensfreude wieder geweckt,
und mit ihrer Bereitschaft, sich von ihm
unterrichten zu lassen, seine langen, leeren Tage
ausgefüllt. Daher verspürte er das Bedürfnis,
etwas für die Kleine zu tun, die ihm den
Frühling
Gesellschaft
und
Frühsommer
geleistet hatte.
hindurch
Die
Aufmerksamkeit und die Aufnahmefähigkeit
dieses Kindes verblüfften ihn; er konnte kaum
glauben, dass sein Unterricht, begonnen aus
purer Langeweile, solche Ergebnisse erzielt
hatte. Gestern hatte er sie in die Speisekammer
geführt und sich die Wörter auf den Tüten und
Schachteln von Dervos Vorräten vorlesen
lassen. "Ich weiß, was das hier ist, in diesem
Sack, hier steht Kleie, hier Zucker, und in
diesem Paket ist Pflanzenfett." Sie hüpfte vor
Begeisterung und genoss sein Lob. Heute hatte
sie ihm bewiesen, dass sie Wörter auch nach
Diktat schreiben konnte, nur bei den längeren
hatte sie ihn um Hilfe gebeten.
"Was grübelst du so lange, ich habe doch
recht!", holte ihn der Schwager in die
Gegenwart zurück.
"Mein lieber Herr Dervo, so einfach ist es nicht.
Ich weiß, dass es Leute geben muss, die
Mauern errichten, aber es muss bei Gott auch
solche geben, die ihren Kopf zum Denken
benutzen. Der Verstand regiert, Kraft taugt nur
für grobe Arbeiten."
"Der Verstand regiert! Dass ich nicht lache!
Solche wie du regieren nicht eher, als bis der
Wein an Weiden wächst", feixte der Maurer.
"Du magst recht haben; unter den Muslimen in
Bosnien gibt's nicht viele, die mehr als ihren
persönlichen Gewinn im Blick haben. Du
gehörst auch zu denen, die nicht über den
Tellerrand gucken. Wenn du deine Kinder in die
Schule schickst, damit sie etwas lernen, werden
sie anders denken. Dieses Mädchen wird dir,
wenn sie zwanzig ist, sagen, dass ich im Recht
war."
Maurer Dervo hob seine buschigen, grauen
Augenbrauen. Hätte ihm der Schwager gesagt,
dass sein Sohn Rasim eines Tages klüger sein
würde als er, möglich, dass er das geschluckt
hätte. Aber dass ein Mädchen ihm einst sagen
sollte, was richtig war, eine solche
Hirnverbranntheit ertrug er nicht. Er erwiderte
dem Schwager, er vertraue nur auf seiner Hände
Arbeit, und wenn Taib noch länger unter seinem
Dach weilen wolle, so möge er zunächst mal
Mörtel mischen und Ziegel schleppen lernen.
Wenn nicht, der Weg in die Stadt stehe
sperrangelweit offen, solle er doch dahin gehen,
wo sein Verstand regiere.
Ifeta war vor lauter Müdigkeit auf der Bank
eingedöst; sie hörte nicht, was Dervo zu ihrem
lieben Bruder sagte. Deswegen war sie am
nächsten Morgen ziemlich überrascht, als Taib
seinen Rucksack packte. Er beruhigte sie, er
ginge nicht, weil er beleidigt oder wütend sei,
sondern weil es an der Zeit sei, dass er etwas
arbeite. Sicher hatte ihn keiner seiner Freunde
bei den Verhören verraten, denn sonst hätte die
Regierung schon Himmel und Hölle in
Bewegung gesetzt, um ihn zu finden. Sie hatten
ihn bis jetzt nicht verhaftet, das bedeutete
gewiss, dass er nicht auf ihren Listen stand.
Nadira saß auf dem Brett, auf dem sie am Tag
zuvor geschrieben hatte, und erstickte fast vor
Schluchzen. Er tröstete sie, versprach ihr die
schönsten Bilderbücher, Bleistifte, Mal und
Schreibhefte. Er gab seiner Schwester noch
einmal den Rat, das Mädchen jetzt schon in die
Schule zu schicken. "So ein verständiges Kind
ist selten", bat er, "lass sie lernen, wenn wir sie
richtig anleiten, kann sie ... " Hier hielt er inne
und dachte nach, "sie kann sogar Studienrätin
werden." Eine andere wichtige Beschäftigung
für ein kluges Mädchen fiel ihm nicht ein. Seine
Schwester Ifeta sah ihn verdutzt an, hatte er
nicht mitbekommen, was ihr Mann vom Lernen
und IndieSchuleGehen hielt? Es war ihr recht,
dass der Bruder ging, er hatte schon für genug
Wirbel und Aufruhr in ihrer Familie gesorgt. Sie
gab ihm ihrerseits ein paar Ratschläge, er solle
sich, sobald er sich im elterlichen Haus
eingerichtet habe, eine bescheidene und fleißige
Braut suchen, es sei an der Zeit, für die reifen
Jahre vorzusorgen.
Nadira begleitete den Onkel auf den hohen
Berg bis zu der Stelle, an der die Straße zum
Bahnhof abzweigte, und dort, am Scheideweg,
schrieb sie seinen Namen in den Staub. Und er
versprach ihr, dass sie nach Abschluss der
Grundschule bei ihm in der Stadt wohnen
könne, falls sie das Gymnasium besuchen
wolle. Er wünschte sich, einen Sohn zu haben,
so klug wie Nadira. Ihm fiel gar nicht auf, dass
der Wunsch ein bisschen schief wirkte.
Nadira wurde erst ein Jahr später eingeschult,
lernte zuvor aber noch die kyrillische Schrift,
denn die ersten Bilderbücher, die der Onkel
schickte, waren damit geschrieben. Sie
bestaunte nicht nur die Buchstaben und
enträtselte ihre Bedeutung, auch die
Zeichnungen
mit
hübschen
Häuschen,
fröhlichen Kindern und ihren lachenden Eltern
versetzten sie in Verwunderung. Diese Eltern
wollten offenbar nichts anderes, als ihren
Sprösslingen eine glückliche Kindheit bieten.
Wenn Nadira die Bilderbuchidylle betrachtete,
war sie ganz sicher, dass sie in die falsche
Familie hineingeboren worden war.
Von der Mutter hatte sie früh erfahren, dass die
Ehe ihrer Eltern auf Dummheiten zurückging,
die Mutter war durch kommunistischen Druck,
der Vater durch eine Wette hineingeschlittert.
Deswegen fand Nadira, dass der weißhaarige,
oft jähzornige Maurer und Anstreicher Dervo
nicht ihr Vater und seine griesgrämige Mutter
nicht ihre Oma sein konnten. Wenig hatte sie
mit dem Jungen und dem Mädchen gemein, die
ihr Bruder und ihre Schwester sein sollten. Sie
wollte so anders wie möglich sein. Wenn ihr die
Mutter auftrug, auf die kleine Schwester
aufzupassen, wunderte sie sich jedes Mal, dass
dieses blonde, langweilige, biestige Geschöpf
mit ihr verwandt sein sollte. Wann immer sie
dieser Wirklichkeit entfliehen wollte, versteckte
sie sich im Zimmer und holte ihren 'Schatz' aus
einer Schachtel: die Bilderbücher und Hefte, die
sie von Onkel Taib bekommen hatte. Dort gab
es vielerlei, von Pinocchio über sprechende
Tiere bis zum guten Drachen, der unter seinen
Flügeln
einen
ganzen
Schwarm
Kindergeschichten beherbergte ... Sie lernte die
Märchen auswendig, wiederholte sie für sich
und ergänzte sie bei diesen Wiederholungen mit
eigenen Ideen. Die Märchen veränderten sich
allmählich in ihrem Kopf und verloren den
Bezug zu dem, was in den Bilderbüchern stand.
'Schau, ich kann mir ja Geschichten ausdenken',
dachte Nadira, verwundert und erfreut ob der
neu entdeckten Fähigkeit. Sie erfand immer
wieder Neues, aber es brachte ihr nichts Gutes.
Nicht nur, dass man ihr nicht glaubte, sie habe
auf dem Schulweg eine Python gesehen oder
dass auf dem Bach Boote trieben oder dass sie
einen Schmetterling, größer als eine Schwalbe,
gefangen habe. Man nannte sie vielmehr eine
Lügnerin oder beschränkt und lehrte sie so, ihre
Geschichten für sich zu behalten. Sie durfte
auch über das Gelesene nicht allzu viel reden,
denn Leser wurden in dieser Gegend
misstrauisch beäugt.
Bereits in der dritten Klasse genügte ihr der
'Schatz' nicht mehr, und sie besorgte sich
Bibliotheksbände. Am liebsten mochte sie die
Reihe 'Lastavica'. Auf dem Heimweg las sie das
geliehene Buch an und riskierte dabei blutige
Zehen oder abgeschabte Schuhspitzen, um
herauszufinden, wie interessant es war. Es fiel
ihr sehr schwer, dass sie die Bücher zu Hause
verstecken musste.
An diese Zeit, in der sie lesend die Welt
entdeckte, dachte sie auch später noch gern
zurück. Eine Woche war sie mit Kindern vom
anderen Ende der Welt zusammen, die nächste
verbrachte sie irgendwo in Europa oder
Russland, in der dritten rannte sie mit dem
'Schwarzen Nobi' durch die afrikanische
Savanne. Damals erfuhr sie, dass es Sklaverei
gegeben, dass man Menschen gefangen und wie
halbwilde Tiere verkauft hatte. Mit der 'Grauen
Möwe' segelte sie über die Ozeane zum fernen
Amerika, kehrte aber nicht sofort zurück,
sondern schipperte bis zu den Eiswüsten der
Eskimos. Sie verschlang Geschichten von
kleinen und großen Partisanen, ergötzte sich an
diesen Helden, dachte sich selbst einen kleinen
Partisanenkurier aus, einen, der Unglücklichen
half,
verwundete
ganze
Partisaneneinheiten
Kämpfer rettete
oder
und
Flüchtlingskindern etwas zu essen brachte. Sie
bedauerte sehr, in diesem winzigen Dorf bei
Pale zu wohnen, in dem das ganze Jahr über
nichts passierte außer ein paar Hochzeiten, dem
Gezeter streitender Frauen oder dem Radau von
halbwüchsigen Burschen, die beweisen wollten,
dass sie der Fuchtel ihrer Eltern entronnen
waren. Sie hatte keine Ahnung, was
sozialistischer Realismus oder Idealismus
waren, welche blühenden Lügen sich die
kommunistischen Gauner ausdachten, über die
ihr Papa so oft schimpfte. Ihr tat es nur leid,
dass sie nicht solche Kumpel hatte wie das
Mädchen aus dem russischen Buch 'Timur und
seine Schar'. "Wäre mein Bruder Rasim
wenigstens ein bisschen wie Timur", bedauerte
sie; schade, dass er gar kein Interesse
aufbrachte für den fünfzackigen Stern, die
Spielerei der Pioniere oder gar für ihre
Versuche, ihm die Wunder der Bücher
schmackhaft zu machen.
So verlief ihre Kindheit zwischen Phantasie und
der Langeweile der Provinz. In der siebten
Klasse war sie körperlich ausgewachsen, aber
immer noch verträumt wie ein kleines
Mädchen, das nicht begriff, warum ihr die
Mutter verbot, kurze Röcke und enge Blusen zu
tragen. Die Großmutter erklärte ihr, sie müsse
sich nun schämen, dem Vater, dem Bruder und
den Nachbarn ihre nackten Beine und ihre
Oberweite zu zeigen. Da sie für diese
Ermahnung keinerlei Verständnis erkennen ließ,
vertiefte die Oma ihre Erklärung und sagte, dass
Frauen immer auf der Hut sein müssten, man
wisse nie, was in den Köpfen der Männer
vorginge. Nadira fand den Hinweis komisch
und letztlich sinnlos; sie konnte sich nicht
vorstellen, was ein männliches Geschöpf an
ihren stämmigen Beinen und den mickrigen
Brüsten finden könne. Aber sie trug gehorsam
lange Röcke und zugeknöpfte Blusen, wollte sie
doch diesen Moralpredigten entgehen.
Kurz nach Beginn des siebten Schuljahres
halste
ihr
Draginja
Milunović,
die
Muttersprache unterrichtete, eine große Arbeit
auf. Die 'Lastavica'Bibliothek ließ großmütig
verkünden, ein Preis solle den treuesten
'Lastavica' Lesern zuerkannt und damit zugleich
die Kreativität der Jüngsten angeregt werden.
Nadira ahnte allenfalls, was Kreativität sein
könnte, aber dass man diesen Preis nicht wie in
einer Lotterie gewann, sondern sich erarbeiten
musste, erkannte sie ohne viel Phantasie. Er lag
so außerhalb aller Wahrscheinlichkeit, dass sie
die Augen aufriss und die Lehrerin angaffte, als
diese vor der ganzen Klasse mit dem Finger auf
sie zeigte.
"Komm, Literatin", wandte sich die Lehrerin
Draginja zum ersten Mal mit dem Spitznamen
an sie, unter dem sie an der Schule bekannt war.
"Wenn du dich ein bisschen anstrengst, kriegst
du den Preis. Du musst den Inhalt von fünf
Bänden aus der 'Lastavica'Bibliothek mit
eigenen Worten wiedergeben und bis zum 30.
Mai an die Adresse ... schicken. Wenn du gute
Nacherzählungen ablieferst, kannst du fünfzehn
Tage Sommerurlaub bei Split gewinnen, für
nicht ganz so gute erhältst du 50, für passable
25 Bücher aus der Bibliothek ... "
Nadira wurde erst rot und dann weiß und fühlte,
wie Schweiß ihre Baumwollbluse durchtränkte.
Warum gerade sie? Woher sollte sie wissen, wie
man Bücher nacherzählt? Es stimmte ja, dass
sie
immer
etwas
schrieb,
abschrieb,
hinzuschrieb, aber das war doch nur Spaß.
Nadira fand es schade, dass sie nie ein Gedicht
zustande brachte, so hübsche kleine Reime, die
einem aus der Feder flossen. Wenn sie eine
Erleuchtung behelligte, manche nannten das
eine Inspiration, schabte ihr Stift über die
Seiten der Hefte, bis eine lange Geschichte von
einem Morgen in ihrem Dorf, über diesen
Satansbraten von Bruder oder Omas stets
verschlossene Brauttruhe herauskam. Die
Lehrerin heftete ihre Arbeiten oft ans Schwarze
Brett im Schulflur, manche waren, auf die
Hälfte zusammengekürzt, in der 'Kleinen
Zeitung' erschienen. Aber einen Preis hatte sie
bisher für keinen ihrer Texte bekommen. Nur
das Etikett einer Verrückten hatten sie ihr
eingebrockt, man lachte sie auch dann aus,
wenn sie die Geschichte nicht erfunden hatte.
Sie hatte schon mitbekommen, wie schwer es
war, in der Provinz, zwanzig Kilometer
außerhalb von Sarajevo, nicht den Erwartungen
zu entsprechen.
"Nein, Frau Lehrerin, ich bin sicher, da hat euch
jemand angelogen, für das Schreiben bekommt
man doch keine Preise. Ich weiß nicht, fünf
Bücher, was soll ich machen, wenn mich der
Papa plötzlich mit fünf Büchern erwischt",
lamentierte Nadira, böse auf die Lehrerin, weil
sie ausgerechnet auf sie verfallen war.
Die Lehrerin Draginja lachte, und ihr Lachen
hallte durch die Betonmauern der Schule.
"Halt, Nadira, halt, du fasst die Bücher
zusammen wie sonst die Schullektüre. Ich weiß,
dass du es kannst, ich werde es dir nicht
verzeihen, wenn du kneifst; du kriegst dann
ganz sicher eine schlechtere Note am Ende des
Schuljahres."
Natürlich konnte Nadira es nicht riskieren, im
muttersprachlichen Unterricht eine schlechtere
Note zu bekommen, und die Lehrerin Draginja
war für sie eine Respektsperson. Sie war die
erste Frau aus der Umgebung, die in der
Großstadt ihr Abitur geschafft und danach
studiert hatte. Man erzählte sich, dass sie
nebenher weiter studierte und Studienrätin
werden wollte, nach des Onkels Überzeugung
auch Nadiras zukünftiger Beruf.
Es blieb nichts anderes übrig, als die Aufgabe
zu übernehmen. Schließlich sollte ihr die
Lehrerin dabei helfen, sich ins Gymnasium oder
die Lehrerschule einzuschreiben. Den ersten
Preis schrieb sie sofort ab; ihre Eltern hatten ihr
nicht mal erlaubt, an dem Klassenausflug nach
Sarajevo teilzunehmen, und würden ihr sicher
keine Reise ans ferne Meer gestatten. Überdies
konnte sie weder schwimmen, noch hatte sie
einen Badeanzug. Aber der zweite oder dritte
Preis, 50 oder 25 Bücher... Das durfte man sich
nicht entgehen lassen, dafür hätte sie auch fünf
mal fünf Bücher zusammengefasst. Was für ein
Glück, in die Sommerferien zu gehen, während
derer die Schulbibliothek geschlossen war, und
einen Berg eigener Bücher zu haben! Sie vergaß
ganz, dass das Lesen nie ohne Geschimpfe und
Striemen abging, denn vertieft ins Lesen
überhörte sie, dass die Mutter nach ihr rief, eine
durstige Kuh brüllte oder die Hühner im Garten
scharrten.
Sie begann unverzüglich mit der Arbeit und
fand fünf Bücher, drei in der Schulbücherei,
zwei besorgte ihr die Lehrerin aus Sarajevo.
Manche Bände hatte sie zuvor schon in Händen
gehalten, aber das Lesen war die einzige
Tätigkeit, bei der sie Wiederholungen nicht
störten. Zu Hause versteckte sie alle unter ihrem
Bett, denn ihr Papa würde einen Wutanfall
bekommen, wenn er fünf Bücher auf einmal sah
– ihm würde bestimmt übel davon.
Tagsüber heimlich und nachts mit einer
Gaslampe flogen ihre Augen über die Seiten.
Innerhalb von fünfzehn Tagen hatte sie alle
Geheimnisse der Helden entdeckt, sich mit
ihnen ausgetobt, mit ihnen gelacht und geweint,
und am Schluss war sie ihrer überdrüssig. Sie
sehnte sich nach eigenem Spielen und Lachen,
und in der Schule wurden noch andere Dinge
als die Muttersprache geprüft. Sie verstaute die
Bücher wieder unter dem Bett und vergaß sie.
Aber die Lehrerin vergaß sie nicht.
"Literatin, wie geht die Arbeit voran, was hast
du schon geschrieben?" fragte sie eines
Morgens vor dem Unterricht.
"Naja, so, ich, hm, ich hab schon alle gelesen",
stotterte Nadira und machte sich so klein wie
möglich. Am liebsten wäre sie unter die Bank
gekrochen.
"Falsch. Du musst dir Buch für Buch
vornehmen, das hab' ich vergessen, dir zu
sagen. Wenn du die ersten zwei fertig hast, gib
sie mir, ich will sie durchsehen."
Nadira stöhnte den ganzen Tag. Ja, sie hatte
sich Geschichten ausgedacht, manchmal die
Mutter belogen, vor allem, wenn diese sich mit
der Rute in der Hand vor ihr aufbaute, aber sie
hatte noch nie ein Versprechen gebrochen. Sie
hatte es versprochen und musste ihr
Versprechen halten, basta. Das Lesen konnte sie
zu Hause verheimlichen, aber das Schreiben?
Noch am selben Nachmittag setzte sie sich hin.
Das erste Buch handelte von einer fliegenden
Karawane, genauer von einem Schwarm
Wildgänse, die auf ihrem Flug nach Süden
verzweifelt um ihr Leben kämpften. Unterwegs
rangen sie mit Sturmwinden, Schnee, Hunger,
Jagdlust ... Die erste Nacherzählung machte ihr
Spaß, dank der Ruhe im Haus schrieb sie sie in
einem Zug. Der Vater saß mit ein paar Kumpel
in einem Lokal, die Mutter besuchte mit der
jüngeren Schwester Verwandte, der Bruder
spielte mit seinen Freunden, dem Fohlen und
ihrem struppigen Hund, auf der Wiese beim
Fluss. Die Großmutter hatte Kopfschmerzen
und blieb in ihrem Zimmer.
Als alle wieder zu Hause waren, lagen die
vollgeschriebenen Blätter in einer Kiste. Die
Mutter war böse auf den Vater, weil er das Geld
in der Kneipe gelassen hatte und direkt nach
seiner Heimkehr, besoffen lallend, auf der
Küchenbank eingeschlafen war. Wahrscheinlich
vergaß sie darüber, Nadira wegen des nicht
gespülten Geschirrs zu schelten. Es war ein
ruhiger Abend in ihrer Familie, aber aus
Erfahrung wusste sie, dass dann immer etwas
im Busch war. Diesmal kam es erst am nächsten
Tag heraus, als der Vater wieder nüchtern war
und die Mutter die Gelegenheit nutzte, ihm
alles an den Kopf zu werfen, was er in letzter
Zeit verbrochen hatte. In ihrer Gegend gab es
wenig Frauen, die sich mit ihrem Gatten
brüsten konnten; man konnte den Eindruck
haben, dass ihr Vater noch einer der besten war.
Überall hieß es, Dervo sei ein Mann, der Wort
hielt, ein ehrbarer Hausherr, der sich kein Geld
lieh oder in den Geschäften anschreiben ließ, im
Gegenteil, er borgte anderen. Man sagte, er
habe ein gutes Gemüt, denn er schlage oder
beleidige seine Frau nicht und habe keinen
Streit mit seinen Freunden. Dass er einmal in
drei Monaten sturzbesoffen war und keinem
gestattete, ihn zu beleidigen, das nahm ihm
niemand übel, das gehörte zur Ehre eines
Mannes, und daran konnte keiner etwas
Schlechtes finden. Der Vater genoss ungeheure
Autorität in der Familie, verbreitete Furcht und
Zittern, so dass Nadira seine Anwesenheit als
Bedrohung empfand. Er züchtigte die Kinder
nur selten; sie wussten, was sie nicht tun
durften. Wenn irgend etwas ohne sein Wissen
gekauft wurde, dann musste es gut versteckt
werden. Er wusste natürlich nicht, was sie
tagsüber in seiner Abwesenheit trieben, und er
schnüffelte auch nicht im Haus, in den
Schränken und Truhen herum. Aber seiner
Mutter entging nichts. Sobald einer etwas
anstellte oder ihr nicht gehorchte, drohte sie:
"Wartet nur, sobald Dervo nach Hause kommt,
sag ich's ihm. Wer nicht hören will, muss
fühlen." Selten machte sie die Drohung wahr,
aber sie wirkte immer. Mehrmals hatte jedes der
Kinder des Vaters Zorn und seine Prügel zu
spüren bekommen, und die Angst vor
neuerlichen Schlägen saß ihnen in den
Knochen.
Die Mutter hatte den Vater geheiratet, weil zwei
Jahre nach der Befreiung ein Erlass herauskam,
nach dem alle Mädchen in Arbeitsbrigaden
organisiert
und
zu
Arbeitseinsätzen
herangezogen werden sollten. Sie stammte aus
einer strenggläubigen Familie, die fünfmal am
Tag betete, jeden Ramadan fastete und zu
Kurban Bajram den größten Schafbock
schlachtete. Man erzählte sich, dass im Hof der
Karalićs einst Derwische zusammengekommen
waren und Ifetas Vater, Nadiras Großvater, in
seinen besten Jahren ihren Kreis angeführt hatte
und mit bloßen Füßen über glühende Kohlen
lief. Die Frauen, ihre Mutter und die
Schwestern, hatten bis vor kurzem noch den
Umhang, der den ganzen Körper verhüllte, und
einen Gesichtsschleier getragen, da kam die
Anordnung der Kommunisten heraus, dass sich
die achtzehnjährige Ifeta, Nadiras Mutter, und
die zwanzigjährige Munira, Mutters ältere
Schwester, freiwillig zu Aufschüttarbeiten für
einen Bahndamm melden mussten. Eine
Eisenbahnlinie sollte durch Zentralbosnien
gebaut werden. Zum Glück war Muniras
Verlobter mit einem früheren Hochzeitstermin
einverstanden, und auch für Ifeta wurde ein
Bewerber gefunden, der Witwer Dervo aus
einem Dorf bei Pale. Er gab später zu, dass er
sich auf diese Brautschau nur eingelassen hatte,
weil er, ein wenig angetrunken, mit seinen
Zechkumpanen gewettet hatte, er könne trotz
seiner beinah vierzig Jahre und obwohl er
Witwer war, ein Mädchen aus einer der besten
städtischen Familien heiraten.
Ifeta war so erzogen, dass sie schon den
Gedanken kaum ertrug, einen ganzen Sommer
lang außerhalb ihres Geburtshauses, praktisch
in der Fremde, zu leben und mit Männern
fremden Glaubens und fremder Sitten in
Baracken zu hausen. Später sagte sie oft, sie
habe von zwei Übeln das schlimmere gewählt,
die Ehe mit einem Menschen, mit dem sie vor
der Hochzeit keine drei Worte gewechselt hatte.
Aber daran ließ sich nichts mehr ändern, und so
schickte sich Ifeta mit der Anpassungsfähigkeit
bosnischer Frauen drein, bekam Kinder mit
Dervo,
zog
sie
groß,
ertrug
die
Schwiegermutter, hielt ihr neues Zuhause in
Ordnung und pflegte sorgfältig die
Beziehungen zu ihrer eigenen Familie. Sie
übernahm die Überzeugung ihrer Schwester
und ihres Bruders, dass die Kinder zur Schule
gehen müssten, und sie war stolz auf ihre
Tochter,
in
deren
Zeugnissen
stets
ausgezeichnete Zensuren prangten. Aber sie war
auch unglücklich wegen ihres Sohnes Rasim,
der sich mit Ach und Krach von Klasse zu
Klasse hangelte. Sie wünschte, er wäre wie ihr
Bruder Taib, nicht wie ihr Mann Dervo. Sie
achtete darauf, dies nicht zu oft vor der
Schwiegermutter und ihrem Gatten zu äußern,
weil die immer mit den Worten reagierten:
"Und warum hast du nicht einen feinen Herrn
geheiratet, sondern dich auf den Witwer Dervo
gestürzt? Fehlt dir was in unserm Haus, auch
wenn es kein Herrenhaus ist?" Nadira wuchs
zwischen diesen beiden Extremen auf, zwischen
den Sitten der Stadt und denen des Dorfes, und
sie wusste nicht, wohin sie gehörte. Hätte
jemand sie um ihre Meinung gefragt, sie hätte
geantwortet: 'Gibt es nicht ein Drittes? Mir
gefällt weder die väterliche noch die
mütterliche Seite.' Die Bücher zeigten ihr, dass
es dieses Dritte gab, aber die den Bedürfnissen
der sozialistischen Demagogie angepasste
Erziehung war der Entfaltung eigenständigen
Denkens nicht eben förderlich. Sie verstand
damals noch nicht, was um sie herum wirklich
vorging, bemerkte nicht, dass zwischen den
Schösslingen des europäischen Bürgergeistes
trübe, schwere Traditionen, Religionen,
versteckte
Nationalismen
angeschwemmt
wurden. Die Schösslinge konnten sich nicht so
recht entwickeln, denn über diese ganze
balkanische Mischung stülpte sich die große
Glocke der Ideologie, der es trotz zahlreicher
Experimente und Reformen dann doch nicht
gelang, die Welt zu verbessern.
Nadira folgte trotz der übermächtigen Autorität
des Vaters ihrem Instinkt, ihren innersten
Bedürfnissen. Den Inhalt der 'Lastavica'-Bände
nachzuerzählen, bedeutete ihr ungeheuer viel;
sie lebte darin auf. Am folgenden Tag nahm sie
keine Rücksicht auf die Atmosphäre im Haus,
und die Angst vor dem Vater trat zurück. Sie
setzte sich an den Tisch, der in einer nicht ganz
so hellen Ecke stand, und fasste das zweite
Buch zusammen.
Draußen war schlechtes Wetter, mitten im
Frühling fiel Schnee, und die ganze Familie war
zu Hause, der Vater verkatert und mürrisch, die
Mutter finster wie eine Gewitterwolke. Nur in
diesem Zustand ertrug der Vater Schelte, und
die Mutter ließ sich die Chance nicht entgehen,
ihren über Monate hin angesammelten Unmut
loszuwerden. Da sie jedes Mal bei Adam und
Eva anfing, mussten alle zum wer weiß
wievielten Male anhören, wie sie nur so blöd
gewesen sein konnte, nicht zum Arbeitseinsatz
zu gehen, hatte doch die Hochzeit mit ihm ihr
Leben zerstört. Er schnaubte bloß und sah
finster zu ihr hin.
Nadira war ganz in ihre Nacherzählung vertieft;
das Buch handelte von mutigen Pionieren. Wie
viele andere Kinder ihrer Generation verschlang
sie gierig die bunten Lügen von Branko Ćopić
und glaubte, auf der Welt lebten nur
Märchenonkel und Helden mit Taubenherzen,
Mädchen mit großen, dunklen Augen und
Jungen, die in diese Mädchen verliebt waren. In
der Schule brachte man ihnen bei, wenigstens
den besseren Schülern, dass sie den
Kommunisten dankbar sein müssten, weil diese
sie aus der Finsternis der Vergangenheit befreit
und ihnen die Tür zum Paradies aufgestoßen
hätten, in dem Brüderlichkeit und Einheit
blühten, Mittel gegen die balkanische Seuche
des Nationalismus. Nadira war Branko Ćopićs
Geschichte nicht üppig genug, und sie dichtete
seinen Helden noch ein paar gute Eigenschaften
an, lobte sie in den Himmel, wie ihre Oma es
nannte. Die fertigen Blätter legte sie neben sich
und übersah, dass ihr Bruder sich in die dunkle
Ecke geschlichen und unter dem Tisch versteckt
hatte. Und plötzlich, wupps, grabschte er die
Seiten, kreischte aufgeregt und kletterte auf
einen Stuhl, damit sie ihn nicht zu fassen
bekam. Sie heulte halblaut auf und hüpfte ein
paarmal hoch, aber seine langen Arme waren
außer ihrer Reichweite.
"Lasst mich euch vorlesen, was unsere Literatin
zierlich verfasst hat." Der Bruder konnte vor
Lachen kaum reden.
"Gib ihr das zurück!" fauchte ihn die Mutter an.
Der Vater erhob sich und spitzte die Ohren,
damit ihm nur ja nichts entging.
Der Bruder begann, ihre Sätze laut vorzulesen,
und sie wäre am liebsten im Boden versunken.
Dabei störte sie weniger, dass sie es mit der
Heimatliebe arg übertrieben hatte, denn das fiel
ihr gar nicht auf, vielmehr fürchtete sie sich vor
dem verzerrten Gesicht des Vaters, das nichts
Gutes verhieß. Je länger ihr Bruder las, desto
wütender wurde dessen Miene, als würde er
persönlich aufs Schlimmste beleidigt.
"So einen Dreck bringen die euch in der Schule
bei! Das merkst du dir alles und wiederholst es
auch noch!" Der Vater griff sich an den Kopf.
"Dervo, du bist ein Idiot, warum lässt du solche
Narren aus ihnen machen. Wo graben die bloß
die ganzen Partisanen und Kommunisten aus?
Das war doch nicht mehr als eine Handvoll, und
die lagen immer im Hinterhalt. Schau dir doch
an, wie sie herrschen. Keiner traut mehr seinem
eigenen Bruder, dass der ihn nicht bei der
Staatssicherheit anzeigt. Uns nehmen sie den
Lohn weg und bereichern sich übler als jeder
Patron vor dem Krieg."
Zwischen seinem Zorn und dem Gestotter ihres
Bruders konnte sie ihm nicht klarmachen, dass
sie in der Schule noch was anderes als die
Pionier und Partisanengeschichten lernte, auch
Geographie und Mathematik, Fremdsprachen ...
"Ungezogener Bengel, gib ihr das zurück, es ist
doch ihre Lektüre", bettelte die Mutter mit
furchtsamer Stimme; sie ahnte, dass die
Situation eskalieren konnte.
"Ich pfeif' auf ihre Lektüre, auf sie und dich!"
brüllte der Vater. "Im Haushalt hat sie noch rein
gar nichts gelernt, ich hab' sie nie beim
Ausziehen von Strudelteig gesehen. Schau dir
mein Hemd an, ein Riesenloch ist auf dem
Rücken, das hat sie beim Bügeln
hineingebrannt ... Du mit deiner Schule, immer
nur Schule, als würde sie die Schule heiraten!
Bücher, Bücher, die schnappt ja über bei all den
Lügen!"
"Und dir hat der Schnaps den Verstand
geraubt!" Diesmal gab die Mutter nicht klein
bei, mit aller Kraft verteidigte sie die Zukunft
ihrer Tochter. "Wenn der liebe Allah es will,
wird sie eines Tages Lehrerin wie Frau
Draginja, vielleicht sogar am Gymnasium. Sie
wird nicht wie ich immer nur bedienen
müssen."
Daraufhin kam die Großmutter – die Nana, wie
die Mutter des Vaters von der Schwiegertochter
und den Kindern in dieser Gegend meist
genannt wird – aus ihrem Zimmer und
widersprach der Mutter gewohnheitsmäßig.
"Warum sorgst du nicht für Ruhe, immerzu
brütest du ein Unglück aus ... Schämt ihr euch
nicht, die ganze Nachbarschaft hört euch. Du
schwätzt schlimmer als jede Klatschbase. Was
soll's, wenn mein Sohn trinkt, er hat nicht dein
Geld versoffen, es ist nicht deine Mitgift. Wenn
du Käse verkaufst, dann weil er eine Kuh hat,
und er sorgt für ihr Futter. Es gehört ihm, und er
kann's ausgeben, wie er will. Du sollst auf die
Kinder aufpassen und für ihn sorgen. Er arbeitet
viel, er muss sich mal zerstreuen."
"Und ich, was ist mit meiner Zerstreuung?"
seufzte die Mutter und wischte sich mit dem
Zipfel ihres Kopftuches die Augen.
"Deine Zerstreuung sind die Kinder und das
Haus. Wenn's dir nicht passt ... "
"Ach, Mutti, hör auf", meinte der Vater
versöhnlich; vielleicht fühlte er sich schuldig,
weil er das Geld ausgegeben hatte, das er sonst
seiner Lebensgefährtin für ihre weiblichen
Bedürfnisse überließ. Es gehörte zu ihren
Aufgaben, das Ansehen seines Hauses zu
fördern; deswegen kaufte sie von dem Geld
Geschenke für Wöchnerinnen, Bräute und
Bräutigame unter den weiteren Verwandten
oder Kleinigkeiten, wie Lippenstift oder Creme,
für sich selbst. "Und du, Schulmädchen, holst
mir zur Strafe ein Bier, aber plötzlich!"
"Nein, sie geht nicht für dich Bier kaufen",
trumpfte die Mutter auf und umarmte die
Tochter. "Soll dein Sohn gehen, der ist wie du,
Schulversager ... Sie ist mein Goldstück. –
Mein Herzchen, lern fleißig in der Schule,
damit du nicht an so Nichtsnutze gerätst wie
ich", flüsterte sie ihr ins Ohr.
Nadira riss sich von der Mutter los, sprang hoch
um dem Bruder den Text zu entreißen, und
schubste ihn unglücklich vom Stuhl. Er prellte
sich die Schulter, sie wurde dafür von der Nana
geschlagen, und der Vater warf ihre
Nacherzählung von den mutigen Pionieren in
den Herd. Dieser Vorfall verleidete ihr die
Sache, tagelang mochte sie sich nicht wieder
daran setzen.
Sie wäre ohnehin nicht dazu gekommen, denn
um diese Jahreszeit gab es viel Arbeit im
Garten, und Mutter und Großmutter
wetteiferten darin, wer sie zuerst rief. "Lass uns
Zwiebeln setzen, Furchen für die Gurken
ziehen, die Küche ist seit drei Tagen nicht
gewischt worden." Großmutter verfiel auf die
Idee,
mit
ihrer
alten,
wackeligen
SingerMaschine Pyjamas zu nähen, und Nadira
musste daneben stehen und den Faden ins
Nadelöhr bugsieren. Dann bekam die Schwester
die Masern, und man befahl ihr, bei ihr zu
bleiben. Als das ausgestanden war, stieg ihr die
Frühlingssonne zu Kopf, und sie konnte den
Rufen der Freundin vor dem Hoftor nicht
widerstehen. Die Tage schmolzen dahin wie der
Schnee im Südwind, zehn Tage vor Ablauf der
Frist hatte sie erst drei Nacherzählungen fertig.
Am liebsten hätte sie sich versteckt und die
Schule geschwänzt. Der Preis war nicht mehr
wichtig, nur, wie konnte sie die Lehrerin so
enttäuschen? Hätte Frau Draginja doch nur die
Aufgabe, die sie ihr anvertraut hatte, vergessen!
Aber nein, Frau Draginja fragte nach, wo die
Nacherzählungen denn blieben? Nadira konnte
nicht ausweichen, sie gab ihr die verknitterten
Seiten,
"Nur drei!" zürnte sie und überflog rasch die
schrägen Buchstaben von Nadiras Handschrift.
"Aber das ist gut, ausgezeichnet, es wäre
schade, wenn du es nicht wegschickst. Ich
schließe dich in der Bibliothek ein und lasse
dich erst heim, wenn du das nächste Buch fertig
hast. Und morgen nimmst du dir das letzte vor!"
Zum ersten Mal allein in der Bibliothek! Sie
sog den wunderlichen Geruch von Leim und
altem Papier ein und betrachtete die Bücher. Sie
geriet in Versuchung, zwei zu stehlen,
'Robinson Crusoe' und 'Heidi', steckte sie sogar
in ihren Ranzen, stellte sie aber wieder an ihren
Platz, weil sie Gewissensbisse plagten.
Eine Stunde verlor sie mit dem Durchstöbern
der Regale, dann erst setzte sie sich hin, um zu
schreiben. Sie kritzelte drei Blumen an den
Rand des Papiers, und nun kamen die Sätze
ganz von allein. Aber sie war nicht zufrieden,
weil es ihr nicht gelungen war, jene hübschen
Sätze über die Kriegserlebnisse von Titos
Pionieren zu wiederholen, die sie zu Hause
schon geschrieben und die ihr Vater in den Herd
geworfen hatte. Jetzt noch hörte sie sein
Geschrei: 'Ha, komische Lügen, ha, wie die
euch anlügen!'
Als sie nach dem letzten Punkt wieder zu sich
kam, merkte sie, dass ihre Beine und ihr
Rücken in dem kalten Raum halb erfroren
waren und die Sonne tief im Westen stand.
Schon längst hätte sie zu Hause sein müssen.
Draußen lehnte sie sich an eine Säule, um sich
ein bisschen aufzuwärmen und in die
Wirklichkeit zurückzufinden. Aber wenig später
winkte ihr der Bruder schon aus der Ferne zu
und brüllte:
"Was machst du? Mutter ist außer sich vor
Sorge!"
Leider verpuffte die Sorge, kaum dass man
ihrer zu Hause ansichtig wurde, stattdessen
zischte die Rute, und Mutters Zorn ergoss sich
über sie. Zum Glück kam die Nana angelaufen
und zog die Mutter weg, so dass sie mit zwei
Hieben und einer Ohrfeige davonkam.
Natürlich musste sie lügen, um ihren langen
Aufenthalt in der Schule zu rechtfertigen. Sie
erzählte, sie habe der Lehrerin beim Ordnen der
Bücher helfen müssen. Mutter und Großmutter
übertrugen ihren Zorn auf die Lehrerin, aber
dieser hielt nicht lange an, denn Draginja
genoss in ihrem Haus hohes Ansehen.
Schließlich bildeten ihre Nacherzählungen
einen beachtlichen Berg Papier. Wieder wusste
sie nicht weiter, denn er passte nicht in die
Kuverts, die es auf der Post zu kaufen gab. Sie
drehte und wendete, faltete und knautschte die
Blätter ... Es gelang ihr, den Haufen in den
Umschlag zu stopfen, aber nicht, die Lasche
zuzukleben.
Zwei Tage verstrichen, die Frist für das
Versenden der Arbeiten war abgelaufen, und sie
schleppte noch immer den offenen Umschlag in
ihrem Ranzen herum und hätte ihn sicher
niemals abgeschickt, hätte die Lehrerin nicht
nachgefragt, ob sie ihn per Einschreiben
aufgegeben habe. Sie zog ihn aus der
Schultasche, legte ihn auf den Tisch und brach
in Tränen aus.
"Es geht nicht", schluchzte sie, "ich kriege ihn
nicht zu."
"Ach, Nadira, Nadira, wie kannst du nur so
dumm sein!" fuhr die Lehrerin sie an, nahm die
Blätter und rauschte aus der Klasse.
Glücklich, dieser Sorge ledig zu sein, vergaß
Nadira augenblicklich die ganze Angelegenheit.
Es war die Zeit vor den großen Ferien, und
selbst die eifrigsten Schüler erfasste die
Sehnsucht nach dem Sommer und dem
Faulenzen. Die guten Zensuren im Klassenbuch
waren noch nicht sicher, die schlechten lauerten
unter dem Katheder und drohten, sich auch auf
Nadiras Seite zu heften. Diesen Frühling hatte
sie sich ziemlich mit Landkarten gequält, Indien
mit Indonesien, China und Indochina
verwechselt, und die japanische Insel Kiuschu
oder so ähnlich verfolgte sie bis in den Schlaf.
Tagelang bemühte sie sich vergebens um eine
gute Geographienote.
In der letzten Woche vor den Ferien rief man sie
ins Büro des stellvertretenden Direktors. Als sie
die Nachricht erhielt, schlotterten ihr die Knie,
sie schaffte es kaum die Treppe hinunter. Sofort
dachte sie an ihren Bruder. "Du Satansbraten!",
schimpfte sie vor sich hin, "was hast du jetzt
wieder angestellt? Ein Fenster zerbrochen, dich
mit den Kerlen aus der Siebten geklopft oder
wieder mal der Geschichtslehrerin bewiesen,
dass das im Lehrbuch nicht stimmt, sondern
das, was der Papa erzählt?"
Sie pochte zaghaft an die Tür, steckte die Nase
ins Büro und stand vor dem versammelten
Kollegium. So schlimm war es? In ihrer Angst
sah sie nicht, dass alle sie anlächelten und ihr
die Hand hinhielten, um zu gratulieren. "Der
erste Preis, zum ersten Mal in der Geschichte
der Schule bekommt jemand so einen Preis.
Herzlichen Glückwunsch zu dieser angenehmen
Überraschung."
Sie begriff noch immer nicht, was sie von ihr
wollten, der Groschen fiel erst, als die Lehrerin
Draginja 'Lastavica' sagte und ihre guten
Arbeiten erwähnte. "Bücher, ich kriege
Bücher!", schoss ihr durch den Kopf, nur um
einen Moment später in heftige Enttäuschung
umzuschlagen. Keine Bücher – fünfzehn Tage
Sommerurlaub in Split mit Kindern aus allen
Gegenden ihres Landes, die ebenfalls einen
ersten Preis gewonnen hatten. Das war kein
Vergnügen für sie. In die ferne Stadt dürfte sie
ohnehin nicht, die Bücher hingegen wären zu
ihr gekommen und hätten ihr die Sommerferien
verschönt. Sie durfte dem Vater nichts vom
Preis erzählen, weil sie sich ohne seine
Erlaubnis darum beworben hatte. Wenn sie
gewusst hätte, dass man den ersten Preis
ausgerechnet ihr geben würde!
Die Benachrichtigung über den Preis steckte im
Ranzen, und die Schultasche wog schwer wie
ein Stein. Sie hatte Magenschmerzen, als hätte
sie unreifes Obst gegessen. Zu Hause bekam sie
keinen Bissen hinunter. Um zu vergessen, was
passiert war, stürzte sie sich in die Arbeit, fegte
den Hof, jätete das Zwiebelbeet, und die
Großmutter wunderte sich sehr, warum ihre
Enkelin plötzlich so fleißig war, dass sie sogar
Dinge tat, die man ihr nicht aufgetragen hatte.
Nachdem der erste Schock abgeklungen war,
erschien ihr dieses Split und dieses Meer immer
verlockender. Wie konnte sie die väterliche
Unnachgiebigkeit überlisten? Ihn jetzt fragen,
ob sie die Nacherzählungen wegschicken dürfe,
und ihm zehn Tage später sagen, dass sie den
ersten Preis bekommen habe? Nur wenn er
gutgelaunt und ein wenig verkatert nach Hause
kam, konnte man etwas bei ihm erreichen. Sie
beschloss, eine Gelegenheit abzupassen,
vielleicht hatte er in zwei, drei Tagen gute
Laune.
In der Dämmerung, gerade als sie den
Glaszylinder reinigte und die Lampe anzündete,
kam die Mutter in die Küche, außer Atem und
verschreckt.
"Dein Bruder sagt, du hättest einen Preis
bekommen", wisperte sie, damit die Großmutter
auf der Veranda nichts hörte.
"Hab ich", heulte Nadira los, holte den Zettel
aus der Schultasche und hielt ihn der Mutter
hin. Diese überflog die Zeilen mehrmals, legte
dann die Hand auf den Mund, und ihre Augen
wurden vor Angst rund und groß. "Mein Kind,
was hast du da wieder angestellt? Erzähl bloß
dem Vater nichts, der bringt uns beide um.
Hundert Mal hab ich dir schon gesagt, du sollst
nichts tun, ohne zu fragen, du weißt doch, wie
er ist. Wenn's die Nana hört, die erzählt es ihm
bestimmt, und ich muss es ausbaden."
Nadira versteckte den Zettel unter der Matratze
und verabschiedete sich von ihrem Preis. Sie
wusste aus Erfahrung, dass Vaters Zorn, egal
was die Kinder anstellten, immer zuerst auf
Mutters Haupt niederging, und sie wollte nicht,
dass es diesmal aufgrund ihrer Unüberlegtheit
passierte.
Und dennoch kam es genau so. Ein Bursche
kam in die Schule und ein Mädchen, und sie
unterhielten sich mit ihr; sie hatte schon von
Journalisten gehört, verstand aber nicht, warum
sie sie über ihr Schreiben ausfragten und ein
Bild von ihr aufnahmen. Das begriff sie erst, als
jemand das Lokalblatt mit in die Schule
brachte, und ihr Foto darin prangte. Damit war
das Versteckspiel vorbei. Es war unvermeidlich,
dass der Vater diese Seite unter die Nase
gehalten bekommen würde.
Im Großen und Ganzen sorgte dieser Preis für
ziemliche Aufregung in ihrer Familie, sie und
die Mutter mussten dafür bezahlen, aber später
war es doch zu ihrem Nutzen. Der Vater sah das
Bild und reagierte genau so, wie es die Mutter
vorhergesehen hatte. Er kam am frühen Abend
nach Hause und riss bereits auf der Veranda den
Gürtel aus der Hose.
"Nadira, Tochter, komm her zu deinem Vater
und erkläre mir, wer dich fotografiert und ohne
meine Erlaubnis ans Meer schickt? " Er ließ den
Gürtel gegen die Zarge schnalzen und trat
gegen den Wassereimer, dass es durch die ganze
Gasse hallte. Seine Mutter beruhigte ihn, bat,
keinen Lärm vor den Nachbarn zu veranstalten
und rügte nebenher die Schwiegertochter, die
Kinder mit ihrem dauernden Gerede von der
Schule zum Ungehorsam gegen den Vater zu
erziehen.
Nadira und ihre Mutter retteten sich auf den
überdachten Balkon und verbrachten dort
mehrere Stunden, bis sich der Vater beruhigte
und einschlief und ihnen der Bruder die Tür
öffnete, damit sie hereinkonnten. Die Mutter
zitterte und wiederholte in einem fort: "Oh,
Nadira, Nadira, das ist deine Schuld. Ich hab dir
doch gesagt, dass du nichts tun sollst, ohne
vorher zu fragen."
Vielleicht hatte einer der Nachbarn etwas der
Lehrerin Draginja zugetragen oder diese kam
von selbst drauf, jedenfalls redete sie mit dem
Vater und dämpfte seinen Zorn. Sie erzählte
ihm, was für eine kluge und begabte Tochter er
habe, dass er auf sie sehr stolz sein könne und
dass er mit seiner Tochter der Stolz der ganzen
Schule und der Gemeinde sei. Er konnte gar
nicht anders, er musste seine Zustimmung
geben, dass sein Wunderkind ans Meer fuhr.
Und wirklich entwickelte ihr jähzorniger Papa
Stolz auf sie. Er zeigte sogar seinen Kollegen
jenes Bild in der Zeitung und lobte sich, weil er
ihr die Bücher gekauft habe. Klar, dass keiner
sagen durfte, dass er sich das aus den Fingern
sog.
Am Abend betrachtete er sie von allen Seiten,
befühlte ihr Haar und ihre Wangen, musterte
ihre Gesichtszüge, als wolle er sich
vergewissern, dass das tatsächlich sein Kind
war.
"Du meine Güte." Er musste sich wirklich
wundem. "Was es nicht alles gibt auf der Welt.
Für diese Lügenmärchen, die ich in den Herd
geworfen habe, hast du einen Preis bekommen?
Wer kann so abgedreht sein, ihn dir zu geben,
lieber Gott."
"Sie wird Studienrätin." Mutters Gesicht
glänzte vor Stolz, obwohl sie hustete und
schwitzte, weil sie sich auf dem Balkon erkältet
hatte. "Sie soll ruhig lernen, Gott hat's ihr
gegeben. Hätt' mein Vater mich doch in die
Schule gehen lassen."
"Bei Gott, dann hätt' ich dich bestimmt nicht
geheiratet", warf der Vater ein, "was soll ich mit
einer gebildeten Frau?"
Die Mutter sah ihn nur an und nähte weiter an
dem Kleiderbesatz.
Nadira fuhr ans Meer, mit dem Schiff von Ploče
nach Split, lernte schwimmen, sah das erste
Aquarium ihres Lebens, bewunderte Meštrovićs
Skulpturen in dessen Galerie ... Sie erkannte
etwas sehr Wesentliches in diesen Ferien,
etwas, das ihr ganzes späteres Leben begleiten
sollte: Sie verstand, was Kunst bedeutete. Die
ganze Zeit betreute eine Frau aus Belgrad die
Gruppe von fünfzehn Jugendlichen aus allen
Teilen
Jugoslawiens.
Sie
schrieb
Kindergedichte und trug diese vor. Danach
erklärte sie sehr geistreich und lebhaft, was
Talent, Eingebung, Schreiben hieß, warum
diese abgedrehten Schriftsteller, Maler und
Bildhauer für die Kultur eines Landes wichtig
waren. Nadira stand mehrfach im Zentrum der
Aufmerksamkeit, weil zwei ihrer Geschichten,
bei denen das Thema frei gewählt werden
konnte, zu den besten gekürt wurden. Langsam,
ganz allmählich verstand sie, was ihr da
widerfuhr, begriff endlich, was Schöpfertum ist,
und viele Dinge, die sie von der Lehrerin
Draginja gehört hatte, wurden ihr nun klar. Sie
schwor sich, nie wieder für dieses Bedürfnis zu
schreiben ein schlechtes Gewissen zu haben,
selbst wenn alle sie in der Schule und ihrem
Viertel für verrückt erklären sollten.
Nach dieser Reise vertiefte sich Nadiras Gefühl,
dass sie nicht in die Familie gehörte, in die sie
hineingeboren war. Und sie brachte noch ein
Mitbringsel heim: den Entschluss, eines Tages
selbst Bücher zu schreiben.
Die Dichterin sagte damals etwas, was Nadira
noch nicht verstehen konnte: Sie habe ihre
Leidenschaft fürs Schreiben mit einem
einsamen Leben bezahlt. In ihrem Land gebe es
wenig Frauen, die für die Kunst lebten, denn
das gesellschaftliche Klima sei dem abträglich,
und die Tradition ersticke weibliches Talent,
vernichte es, noch bevor es sich entwickeln
könne.
Erst ein Jahrzehnt später wurde Nadira klar,
was die Dichterin hatte sagen wollen.
Nadiras geistige Entwicklung verlief völlig
unabhängig von ihrer Familie, und ihr Gespür
für Realität litt darunter. Ihr kam gar nicht in
den Sinn, dass der Malermeister Dervo, von
dem sie nicht recht glauben mochte, er sei ihr
Vater, mit Mauern und Kalkbrennen sie und die
ganze Familie ernährte und sie von dieser
Arbeit ziemlich gut lebten. Und sie war
felsenfest davon überzeugt, dass sie auf gar
keinen Fall wie ihre Mutter Ifeta Stütze einer
wohlgeordneten muslimischen Familie werden
wollte.
Nach dem ersten Literaturpreis veränderte sich
des Vaters Haltung ihr gegenüber, er erwähnte
das Heiraten als einzige Zukunftsperspektive
nicht mehr, gab dem Drängen seiner Frau nach
und stattete ihrem Bruder Taib einen Besuch ab,
jenem Onkel, der Nadira Schreiben und Lesen
beigebracht hatte. Taib Karalić lebte in dem
Haus, das er von den Eltern geerbt hatte und das
in einer Straße hinter der Sarajever Baščaršija
lag. Als Chef der Buchhaltung einer großen
Fabrik war er weit von dem Beweis entfernt,
dass die Vernunft regiere, weil er seine Bilanzen
oft unter Druck von oben frisieren musste. Er
hatte spät geheiratet, so dass seine Söhne noch
klein, nicht einmal schulpflichtig waren. Er
erinnerte sich seines Versprechens, das er seiner
Nichte einst gegeben hatte, und war bereit, sie
bei sich aufzunehmen, sobald sie ins
Gymnasium kam. Dervo nahm das Angebot an,
stellte aber die Bedingung, dass Nadira in der
Familie des Onkels streng beaufsichtigt würde.
Das Mädchen freute sich so sehr, dass man ihm
den sehnlichen Wunsch, eine höhere Schule zu
besuchen, erfüllte, dass es nicht so recht
bedachte, was 'unter strenger Aufsicht'
bedeutete. Und auch wenn Nadira es erfasst
hätte, hätte ihr das wenig geholfen, die Regeln
standen fest, ohne dass sie etwas daran hätte
ändern können.
Onkel Taib und Vater Dervo klärten rasch die
Bezahlung von Unterkunft und Essen und dass
Nadira übers Wochenende und in den Ferien
heim nach Pale fahren sollte. Dann wandten sie
sich an sie, erklärten ihr, dass sie dem Onkel
gehorchen müsse wie ihrem Vater und des
Onkels Frau Faketa wie ihrer Mutter.
"Schwager", verkündete Dervo, "Ihr habt mich
überzeugt, dass ich meine Tochter in die höhere
Schule schicken muss, denn sie soll einen
besonderen Verstand haben. Mir kommt sie
zwar nicht so klug vor, und ich wundere mich,
warum sie im Zeugnis lauter Einsen hat. Ihre
Lehrerin Draginja hat mir in den Ohren
gelegen, mein Kind habe eine besondere
Begabung. Keine Ahnung, was das für eine
Begabung sein soll, sicher sind das
Hirngespinste von Müßiggängern, aber ich will
nicht, dass ihr später auf mich schimpft, weil
ich den Schulbesuch nicht erlaubt habe. Meine
Frau hat ihr Herz daran gehängt, dass ihre
Tochter Studienrätin wird. Ich hab's erlaubt, soll
sie in die Schule gehen, solange sie will, wenn
sie auf die schiefe Bahn gerät, kommt sie mir
nicht mehr ins Haus. Ihr, mein lieber Schwager,
meine liebe Schwägerin, müsst aufpassen, dass
das nicht passiert."
Onkel und Tante bekamen noch ein paar
Anweisungen von ihrem Vater. Es war Nadira
verboten, im Dunkeln unterwegs zu sein, tabu
waren 'Hurentreffen', des Vaters Wort für
Tanzveranstaltungen und sie durfte nicht an
Schulausflügen teilnehmen. Zum Kino äußerte
sich der Vater nicht, wahrscheinlich hatte er es
vergessen. Während er seine Verbote aussprach,
wandte er sich mehr an Faketa als an den
Onkel. Er spürte wohl, dass sie der bessere
Hüter von Tradition und weiblicher Zucht war.
Von seinem Schwager wusste er, dass er sich
bei all seinen alten arabischen und türkischen
Büchern schon längst von der Wirklichkeit
entfernt hatte.
Nachdem die Männer das Ihre, das 'Wichtige',
gesagt hatten, blieb den Frauen noch das
Besprechen der 'Kleinigkeiten'. Sie äußerten
nicht klar und deutlich, was sie dachten,
sondern richteten sich nach dem, was die andere
ihrer Meinung nach dachte oder denken könnte,
und deswegen behandelten sie sich mit
übertriebener Liebenswürdigkeit. Die Tante sah
auf Nadiras Mutter mit der Verachtung der
Städterin herab, glaubte, dass sie durch ihre
Heirat mit einem ungebildeten Arbeiter ihre
städtischen Wurzeln eingebüßt hätte. Und die
Mutter wollte unbedingt beweisen, dass sie sich
im Gegenteil die Vornehmheit ihrer eigenen
Familie bewahrt und an ihre Tochter
weitergegeben habe. Die Mutter verlegte sich
auf die Taktik des Schwächeren, beschwor ihre
Tochter, dass von ihrem Betragen in des Onkels
Haus ihr Ansehen bei der ganzen Familie und
dem Viertel, in dem sie aufgewachsen war,
abhing. Nicht nur ihr Ansehen, auch ihr Leben,
denn der Vater würde sie beide umbringen,
wenn Nadira Schande über sie brächte. Nadira
spürte, wie sie zwischen Mutters realen und
Faketas geheuchelten Ängsten eingeklemmt
wurde.
Die Frau ihres Onkels hielt alle Fäden ihrer
Freiheit in der Hand. Wann immer das Mädchen
versuchte, diese Fäden zu lockern, ergoss sich
Faketas
Missmut
in
Form
von
Gardinenpredigten.
Mindestens
einmal
monatlich musste Nadira sich anhören, dass bei
allem, was sie falsch mache, sie nicht nur über
sich selbst, sondern über die ganze Familie
Unheil bringe. Die Familie des Bruders ihrer
Mutter habe schließlich die Verantwortung für
sie, müsse sich um sie kümmern und sie
erziehen. Nadira wusste ganz genau, dass diese
Frau ihren ungehobelten Vater verachtete, und
doch schlug sie die Hände zusammen und
behauptete: "Ich würde dich auf den Korso
lassen, ganz bestimmt würde ich das tun. Aber
wie soll ich dann unserem guten Herrn Dervo
unter die Augen treten? Du weißt, was er uns
gesagt hat! Weißt du, was es bedeutet, fremder
Leute Kinder aufzunehmen und für sie
verantwortlich zu sein? Wenn ich gewusst hätte,
dass das so viele Sorgen mit sich bringt, ich
hätte es um nichts in der Welt getan!"
Der neugierigen Nadira, die die Stadt für sich
entdecken wollte, erschienen Haus und Hof des
Onkels düster, einsam und weit weg von allem
Aufregenden, das in der Stadt vor sich ging.
Besonders
ihre
in
Haushaltsdingen
ungeschickten Hände forderten Faketas Kritik