Ein Einzelfall - Emily Maguire - E-Book

Ein Einzelfall E-Book

Emily Maguire

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Beschreibung

Als die 25-jährige Bella Michaels in der australischen Kleinstadt Strathdee brutal ermordet wird, ist die Gesellschaft in Schockstarre. Gleichzeitig stürzt sich die Medien­meute auf die erschütterte Gemeinschaft. Bellas Schwester Chris, eine Kellnerin in einem Pub im Ort, befindet sich mit einem Mal ungewollt im Zentrum der Aufmerksamkeit. Und das im Augenblick ihres größten Leides. Bellas vermeintlich leichtgängiges Verhältnis zu Männern steht bald im Zentrum des Interesses und färbt auf die getötete Schwester ab. Während Chris versucht, Antworten, Begründungen oder Erklärungen für die unbegreifliche Tat zu finden, wird sie von ihren Freunden, Nachbarn und ihrem Ex-Mann tatkräftig unterstützt. Eine Tatsache, die für noch mehr Tratsch, Gerede und Medieninteresse sorgt. Doch Tag für Tag vergeht, ohne dass die Polizei in ihren Ermittlungen vorankommt, und mit jedem Tag versinkt Chris noch ein Stückchen weiter in Selbst­isolation und Paranoia ab. Ebenfalls an Ort und Stelle ist May, eine nicht ganz sattelfeste Reporterin einer Boulevard-Website. Sie wittert ihre Chance, diesen Fall als Sprungbrett zu einer Karriere als Kriminalreporterin nutzen zu können, und betätigt sich lustvoll unverblümt am Medienrummel, der keine ethischen Barrieren zu kennen scheint, bis sie geleakte Fotos der übel zugerichteten Leiche entdeckt und kurz darauf Chris zu einem Exklusivinterview überreden kann. Aus diesem Spannungsfeld entwickelt Emily Maguire ein eindringliches Psychogramm einer Kleinstadt im Schockzustand. Ein Einzelfall ist ein psychologischer Thriller über tägliche Gewalt, die Besessenheit der Medien von hübschen, toten Mädchen und über die schwierige Frage, wie man Geister und Erinnerungen, Monster und Männer auseinanderhalten kann. Der Roman landete 2017 sowohl auf der Shortlist des Ned Kelly Award (bester Kriminalroman Australiens) als auch des Miles Franklin Award (bester Roman Australiens).

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Autorin und Klappentext

Titelseite

Buchanfang

Montag, 6. April

Dienstag, 7. April

Mittwoch, 8. April

Donnerstag, 9. April

Freitag, 10. April

Samstag, 11. April

Sonntag, 12. April

Montag, 13. April

Dienstag, 14. April

Mittwoch, 15. April

Donnerstag, 16. April

Freitag, 17. April

Samstag, 18. April

Sonntag, 19. April

Dienstag, 21. April

Mittwoch 22. April

Samstag, 25. April

Sonntag, 26. April

Montag, 27. April

Dienstag, 28. April

Mittwoch, 29. April

Donnerstag, 30. April

Freitag, 1. Mai

Montag, 4. Mai

Juni

Danach

Originaltitel: An Isolated Incident © Emily Maguire, 2018

© 2023, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten.

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-902711-98-4

Lektorat: Teresa Profanter

Cover: Jürgen Schütz

Coverbild: © i-stock

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag

ISBN: 978-3-99120-018-5

www.septime-verlag.at

www.facebook.com/septimeverlag

www.twitter.com/septimeverlag

Emily Maguire

publizierte bisher sechs Romane, unter ihnen der für den Stella Prize und den Miles Franklin Prize nominierten Roman Ein Einzelfall. Darüber hinaus veröffentlichte sie drei Sachbücher.

Ihre Artikel und Essays über Sex, Feminismus, Kultur und Literatur finden sich in The Sydney Morning Herald, The Australian, The Observer und The Age.

Die australische Autorin arbeitet als Lehrerin und Mentorin für junge, aufstrebende Autor:innen. 2018/2019 war sie Writer-in-Residence am Charles Perkins Centre der Universität von Sydney.

Klappentext:

Als die 25-jährige Bella Michaels in der australischen Kleinstadt Strathdee brutal ermordet wird, ist die Gesellschaft in Schockstarre. Gleichzeitig stürzt sich die Medienmeute auf die erschütterte Gemeinschaft.Bellas Schwester Chris, eine Kellnerin in einem Pub im Ort, befindet sich mit einem Mal ungewollt im Zentrum der Aufmerksamkeit. Und das im Augenblick ihres größten Leides. Bellas vermeintlich leichtgängiges Verhältnis zu Männern steht bald im Zentrum des Interesses und färbt auf die getötete Schwester ab. Während Chris versucht, Antworten, Begründungen oder Erklärungen für die unbegreifliche Tat zu finden, wird sie von ihren Freunden, Nachbarn und ihrem Ex-Mann tatkräftig unterstützt. Eine Tatsache, die für noch mehr Tratsch, Gerede und Medieninteresse sorgt. Doch Tag für Tag vergeht, ohne dass die Polizei in ihren Ermittlungen vorankommt, und mit jedem Tag versinkt Chris noch ein Stückchen weiter in Selbstisolation und Paranoia ab.Ebenfalls an Ort und Stelle ist May, eine nicht ganz sattelfeste Reporterin einer Boulevard-Website. Sie wittert ihre Chance, diesen Fall als Sprungbrett zu einer Karriere als Kriminalreporterin nutzen zu können, und betätigt sich lustvoll unverblümt am Medienrummel, der keine ethischen Barrieren zu kennen scheint, bis sie geleakte Fotos der übel zugerichteten Leiche entdeckt und kurz darauf Chris zu einem Exklusivinterview überreden kann.Aus diesem Spannungsfeld entwickelt Emily Maguire ein eindringliches Psychogramm einer Kleinstadt im Schockzustand. Ein Einzelfall ist ein psychologischer Thriller über tägliche Gewalt, die Besessenheit der Medien von hübschen, toten Mädchen und über die schwierige Frage, wie man Geister und Erinnerungen, Monster und Männer auseinanderhalten kann. Der Roman landete 2017 sowohl auf der Shortlist des Ned Kelly Award (bester Kriminalroman Australiens) als auch des Miles Franklin Award (bester Roman Australiens).

Emily Maguire

Ein Einzelfall

Roman | Septime Verlag

Aus dem australischen Englisch von Roland Freisitzer

Montag, 6. April

Es war der neue Cop, der an meiner Tür klingelte, der junge Kerl, der den Job erst seit ein paar Monaten machte. Ich dachte, dass es ein wenig grausam sei, einen jungen Burschen wie ihn zu schicken, um eine Sache wie diese zu erledigen. Später fand ich heraus, dass man ihn nur geschickt hatte, weil er am Fundort der Leiche zusammengebrochen war. So nennen wir es jetzt alle: den Fundort.

»Miss Rogers?«, fragte er, als ob er gleich gestehen würde, meinen Zaun beim Rückwärtsfahren beschädigt zu haben.

Ich nickte, wartete auf den Hieb, von dem ich wusste, er würde kommen. Ich wusste, dass er kommen würde, weil Bella seit Tagen verschwunden war und kein Cop zu irgendjemandem kommt, um Kuchen oder Wein vorbeizubringen.

Er wippte auf den Fersen und räusperte sich.

»Ihr habt Bella gefunden?«, sagte ich, um ihm den Beginn zu erleichtern. Um ihm zu zeigen, dass es okay sei.

»Ja.« Er blinzelte und ich dachte, Oh Gott, er kennt sie. »Ich meine, man hat eine Leiche gefunden. Auf die die Beschreibung passt. Sie muss identifiziert werden. Hm, wir brauchen Sie, um … um das zu tun. Um die Identität zu bestätigen.«

Wer bereits so viel ertragen musste wie ich, sollte wissen, dass ein Unglück, auch wenn man es kommen sieht oder man gar darum bittet, um keinen Deut weniger weh tut. Vermutlich schmerzt es sogar heftiger, schätze ich, weil du denkst, Ja, ja, bring’s doch endlich hinter dich, und du gleichzeitig denkst, dass du es sowieso längst weißt. Also stand ich nickend da und dachte darüber nach, dass der arme Kerl meine Schwester kennt, und was für eine harte Aufgabe das war, um sie dem neuen Kerl umzubinden, und dann schüttelte es mich so heftig, als ob ein Dämon in mich gefahren wäre.

Während des ganzen Wegs ins Krankenhaus wollte ich ihn fragen, was passiert war. Ich hoffte, dass sie ein Auto überfahren, sie eine Gehirnembolie oder sonst was gehabt hätte. Ich wollte all die Fragen stellen, die ich gestellt hatte, als Mutter gestorben war: »Ist es schnell gegangen? Hat sie gelitten?« Doch ich konnte nicht sprechen. Das war mir noch nie passiert, egal, in welches Drama man mich gestoßen hatte. Aber da, in diesem Auto, war es wie … Es war so, wie wenn du so krank von irgendeiner verdammten Magenscheiße bist, dass du nicht einmal »Nein« sagen kannst, wenn dir Eiswürfel zum Lutschen angeboten werden, nicht einmal nicken magst, weil die kleinste Bewegung dich wieder kotzen lässt. So war das, aber ich wollte nicht kotzen. Ich fühlte, dass jedes Geräusch oder jede Bewegung etwas auslösen würde, das wehtun und nicht mehr zu stoppen wäre.

Der Cop, sein Name war Matt, erzählte mir, dass er sie von der Schule kannte. »Sie war zwei Jahre über mir, aber es ist ja eine kleine Schule, wie Sie wissen?«

Ich wusste es. Ich war auf dieselbe Schule gegangen. Bella war zwölf Jahre jünger als ich, der Junge musste daher dreiundzwanzig sein – technisch gesehen war er also gar kein Junge mehr, auch wenn sein zusammengebissener Kiefer mit Pickeln gesprenkelt und seine Hände am Lenkrad weich und noch ohne Narben waren. Ich fragte ihn, ob er sie seit der Schule gesehen hatte, und er nickte, lächelte wie ein von der Liebe überwältigter Narr und sagte, dass er sie ein paarmal im Pflegeheim, in dem sie arbeitete, gesehen hatte. »Wir werden da manchmal hingerufen«, sagte er und es war klar, dass es ihn nicht gestört hatte, von meiner Schwester, die selbst in ihrer blauen Polyesteruniform und den klobigen Holzpantoffeln das hübscheste Ding war, das jemand in diesem Loch von einer Stadt jemals zu Gesicht bekommen würde, an diesen stinkenden Ort gerufen zu werden.

In der Schule verwendeten wir den Ausdruck: Strathdee-gut. Das bedeutete, dass irgendetwas zwar für Strathdee-Verhältnisse top war, aber gemessen daran, was es außerhalb der Stadt gab, nicht viel Gewicht hatte. Wenn man also einen wirklich guten Kuchen oder sonst was bekam, sagte man, Mann, ist das gut. Strathdee-gut, klar, aber immerhin. Das wandten wir auch bei Menschen an. Keiner der Burschen an unserer Schule konnte mit den Jungs aus Sydney oder Melbourne mithalten, natürlich, aber es gab ein paar, die definitiv Strathdee-heiß waren, und das waren diejenigen, an die wir uns ranschmissen.

Bella war, wenn ich ehrlich bin, Strathdee-hübsch. Ich habe ihr immer gesagt, dass sie, wenn sie es gewollt hätte, ein Model sein hätte können, und ich denke noch immer, dass das stimmt, aber sie wäre ein Model in einem Kwart-Katalog gewesen und nicht eines in der Vogue oder so. Ich mache sie nicht runter. Wie gesagt, sie war das schönste Ding, das irgendjemand hier je in echt gesehen hatte, obwohl sie nicht viel größer als eineinhalb Meter war und einen L-Arsch an einem S-Körper hatte. Ihre Haut war wie frische Milch, und ihre hellblauen Augen waren so gottverdammt schön, dass ich, als wir jünger waren, höllisch eifersüchtig auf sie gewesen war. Sie hätte Werbung für Kosmetik machen können, bestimmt, nur hätte man irgendetwas mit ihren Haaren, die dick und kraus waren und zur Seite statt abwärtswuchsen, tun müssen. Ich zog sie früher gerne auf, indem ich ihr sagte, dass sie in Wahrheit eine Albinoafrikanerin sei, die Mutter adoptiert hatte, weil sie Mitleid mit dem armen Kind hatte, das in Afrika alle für einen Freak hielten. Als sie ungefähr zwölf war, begann sie, möglichst früh aufzustehen, um das ganze Gedöns des Einölens und Glättens der Haare rechtzeitig vor der Schule zu schaffen. Da fühlte ich mich dann wirklich lausig, weil ich sie damit so gequält hatte. Ich sagte ihr, dass ihre Haare toll aussehen würden, dass sie viel hübscher als mein durchschnittlicher, mausbrauner Mopp seien, doch sie glaubte mir nie.

Eine angenehme Begleiterscheinung des Älterwerdens ist, dass man mit den Dingen Frieden schließt, die man an sich nicht ändern kann. Nicht dass Bella alt geworden wäre, sie war nur sehr reif für ihr Alter. Mit neunzehn oder zwanzig hörte sie auf, ihre Haare täglich zu glätten, und ließ es einfach zu, dass sie sich über ihre Schultern kräuselten. Für die Arbeit musste sie sie sowieso zusammenbinden, und so gefiel es mir am besten; vorne ganz glatt und hinten ein großer blonder Krausball.

Mit meinen Haaren musste ich nie Frieden schließen – die waren nie mein Problem. Mein Problem waren meine Titten. Als sie zu wachsen begannen, war ich zu jung, und dann wuchsen sie so schnell. Ich war elf, zwölf, dreizehn und lernte, damit umzugehen, mich nackt zu fühlen, mich zu ärgern über die Art, wie Jungs und Männer – alte Männer, Lehrermänner, Familienmänner, komische Männer, freundliche Männer – mich anschauten und Gründe dafür fanden, mich zu berühren, sich an mich zu drücken und mich hie und da auch heimlich zu begrapschen. Das unterschied mich von den anderen Mädchen und führte dazu, dass ihre Mütter die Augen zusammenkniffen und mir nahelegten, ich möge doch bitte einen Pullover anziehen, auch wenn es gar nicht kalt war, und es brachte die Jungs in meinem Alter dazu, zu lachen und Schlampe und Zeigmirdeinetitten zu rufen, wenn ich an ihnen vorbeilief. Diese Riesentitten, die allen suggerierten, dass ich ein Flittchen, leichte Beute und Abschaum sei.

Die ersten paar Jahre bemühte ich mich, das zu ignorieren. Ich meine, den Effekt, den sie auf Leute hatten, zu ignorieren. Die Dinger selbst verstaute ich in den Büstenhaltern, die mir meine Mutter widerwillig kaufte (weil ich so schnell aus ihnen rauswuchs und der Stoff so rasch kaputtging). Einmal, als sie eine Target-Einkaufstüte aufs Bett warf, sagte sie, »Versuch, langsamer zu wachsen, Chris. Ich bin nicht aus Geld gemacht«, und obwohl ich wusste, dass sie scherzte, fühlte ich mich verletzt und beschämt, als ob an ihrer Andeutung, dass ich das Wachsen dieser Dinger absichtlich beschleunigte, etwas dran sein könnte.

Mit ungefähr vierzehn kam ich auf die Idee, dass ich sie mit einer Diät wegkriegen könnte, aber ein kleinerer Arsch ließ sie umso größer wirken. Ich gab mir Mühe, sie zu kaschieren, aber, weißt du, ein schneebedecktes Gebirge ist immer noch ein Gebirge. Dann gab ich es auf. Nicht gegenüber Männern, die mich in eine Ecke drängten, aber denjenigen gegenüber, die mich beschimpften oder hinter meinem Rücken flüsterten. Ich tat so, als wäre ich das, wofür sie mich hielten.

Und jetzt, na ja, jetzt trage ich tief ausgeschnittene Tops und beuge mich weiter vor als notwendig, wenn das Trinkgeld am Abend zu spärlich fließt, und ich nehme fast gar nicht mehr wahr, wenn Männer mit meiner Oberweite reden, Frauen meinen Titten tödliche Blicke zuwerfen und Menschen beiderlei Geschlechts mich behandeln, als ob ich einen Hirnschaden hätte. Ich hab gelernt, mit der Tatsache zu leben, dass die meisten Kerle, die ich mit nach Hause nehme, Tittenmänner sind, und dass sie, sobald wir im Bett sind, mehr Zeit mit Nuckeln und Drücken verbringen wollen als damit, sich mit dem da unten zu beschäftigen. Ich gebe viel Geld für gute Büstenhalter aus und halte meine Oberschenkelmuskulatur fit, sodass ich ewig auf ihnen reiten kann. Ich gebe ihnen, was sie wollen.

Ich hab mir den riesigen Vorbau nicht ausgesucht, aber man muss akzeptieren, dass man manche Dinge nicht ändern kann, nicht wahr? Also mache ich das. Ich akzeptiere, dass mich mein riesiger Busen zu einer beliebten Barfrau und einem ausgezeichneten Aufriss macht. Wahrscheinlich nicht ausgezeichnet-ausgezeichnet, aber sicherlich Strathdee-ausgezeichnet.

***

Jetzt bin ich abgeschweift. Ich mache das. Ich muss es, weißt du? Es ist kein einfacher Weg, den ich hier entlangstapfe.

Es war eine kurze Fahrt. Ich meine, in dieser Stadt gibt es so etwas wie eine lange Fahrt gar nicht – von der Highwayabfahrt bis zur Highwayauffahrt schafft man es durch die Stadt in der Zeit, die man braucht, um einen großen Takeaway-Kaffee zu trinken –, doch die Fahrt von meinem Haus bis zu Bellas Leiche schien mir übernatürlich kurz. Als wir aus meiner Einfahrt fuhren, fiel mir auf, dass in Carries Garten ein weiteres ausgeweidetes Auto stand, was bedeutete, dass sie nun vier davon hatte. Dann waren wir plötzlich an der Drei-Kirchen-Kreuzung im Zentrum und eine Sekunde später schwangen wir uns auf den Mitarbeiterparkplatz hinter dem Krankenhaus.

Matt führte mich durch eine Tür, die ich früher nie bemerkt hatte, und zu einem Aufzug, in dem die Fahrt vermutlich ähnlich lange wie die Fahrt hierher dauerte. Als die Tür des Aufzugs aufging, starrte uns ein anderer Polizist an. Ich erkannte Senior Constable Tomas Riley, weil er beinahe so viel Zeit im Pub, in dem ich arbeitete, verbrachte wie ich. Er sagte mir, dass es ihm leidtue, mich unter diesen Umständen wiederzusehen. Er führte mich und Matt zu einer Empfangszone, wo er der Frau hinter dem Schalter etwas mitteilte, das ich nicht verstand. Die Frau bat mich um eine Art von Identitätsnachweis, und ich war eine Minute lang verwirrt und sagte, dass ich es noch nicht getan hätte, das mit dem Identifizieren.

»Nein, nein«, sagte Riley. »Hast du irgendeinen Ausweis? Einen Führerschein?«

»Ich fahre nicht«, sagte ich, während ich in meiner Tasche nach der Geldbörse kramte. »Ich hab eine Sozialversicherungskarte. Bankkarten. Den Ausweis, der mir die Vertrauenswürdigkeit beim Ausschank von Alkohol bestätigt.« Ich stapelte das ganze Plastik am Tresen. Die Frau grinste und schnappte sich ein paar Karten, scannte sie ein und gab sie mir zurück. Sie druckte ein Formular aus und händigte es Riley aus, der es unterschrieb und dann meinen Arm berührte und mich einen anderen Korridor entlangführte.

Als die Klimaanlage meinen Schweiß trocknete, kribbelte meine Haut. Mir war bis dahin gar nicht bewusst gewesen, dass ich schwitzte. Ich glaube nicht, dass es an dem Tag heiß war. Draußen war es grau, daran erinnere ich mich, aber wir haben ja manchmal diese schwülen grauen Tage, an denen wir es kaum aushalten, auch nur einen Faden am Leib zu tragen, oder? Es könnte einer von diesen Tagen gewesen sein. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass meine Haut zu kühlen und trocknen begann, während ich die leeren Gänge entlangschritt, einen Polizisten an jeder Seite. Ich täuschte eine Dehnung vor und roch kurz an meinen Achseln. Ich konnte keinen Mief ausmachen, das war schon mal was.

»Rogers ist dein Ehename?«, fragte Riley, aber eher Smalltalk-mäßig, ohne seinen Stift oder das Notizbuch zu zücken.

»Nein.«

»Oh. Deine Schwester –«

»Bella hat einen anderen Vater.«

Bellas Vater war ein Klassekerl, was der Grund dafür ist, dass sie so einen hübschen Namen hatte. Meinen Namen hingegen hat mir meine Mutter verpasst, die zu dem Zeitpunkt nicht ganz zurechnungsfähig war, was wohl daran lag, dass sie achtzehn war und soeben ein riesiges Kind zur Welt gebracht hatte, dessen Vater sie nicht gesehen hatte, seit er nach Tasmanien geflüchtet war, weil er gehört hatte, dass er die Tussi von Kassiererin ohnmächtig geschlagen hatte, die er hinter dem Rücken seiner Frau gevögelt hatte. Mutter war so sauer, dass sie mir seinen Nachnamen nicht geben konnte, deswegen gab sie mir zumindest seinen Vornamen – Chris. Als ich jünger war, habe ich so getan, als sei es die Abkürzung von Christina, aber jetzt ist es mir egal. Einfach Chris, das ist alles.

Wir hielten vor einer matten Doppelschiebetür. »Chris, hast du schon mal eine Leiche gesehen?«

Ich schüttelte den Kopf. Er sagte irgendeinen Scheiß, an den ich mich nicht erinnere. Ich konnte nicht zuhören. Ich war mir nur mit einem Mal sicher, dass das tote Mädchen hinter dieser Tür nicht Bella war. Ich war mir sicher. Ich begann in meinem Kopf zu üben, mitleidsvoll und traurig zu klingen beim Anblick derjenigen, die da drinnen lag, während ich vor Freude glühte, weil sie nicht meine Schwester war.

»Bist du bereit?«

Ich nickte. Bald würde es vorbei sein und ich würde am Weg nach Hause sein, würde ihre Nummer wählen, ihr noch eine verärgerte Nachricht auf der Mailbox hinterlassen, weil sie uns alle vor Sorge in den Wahnsinn trieb.

Das Witzige ist, dass ich, sogar noch während sie das Leintuch wegzogen, wirklich einen Augenblick lang dachte, dass sie es nicht war. Ich dachte, Gott, was ist mit diesem armen Ding passiert, das arme Mädchen, jemandes Liebling, wie kann man jemandem nur so was antun, jemandes kostbares, wunderschönes Mädchen, das arme kleine Ding mit Haaren wie Bella.

Und ich dachte nicht gleich daran, aber später realisierte ich, welch glückliche Fügung es war, dass ich auf der Fahrt dahin nicht sprechen konnte. Stell dir vor, ich hätte den armen jungen Cop gefragt, ob Bella gelitten hatte? Ich meine, Gott im Himmel. Kannst du dir das vorstellen?

***

Matt fuhr mich vom Spital zur Polizeidienststelle im Zentrum. Er bemühte sich nicht um Konversation, sagte mir nur, dass sich die Taschentücher im Handschuhfach befänden, und fragte ein paarmal, ob ich einen kurzen Halt machen wolle, um einen Tee oder Kaffee oder sonst was zu holen.

Ich weinte nicht, fühlte auch keine Wut oder so, aber ich bibberte und schlotterte so heftig, dass es mich kichern ließ, woraufhin Matt mich ansah, als ob ich geschrien hätte. Ehrlich, es war wie auf einem dieser vibrierenden Stühle im Einkaufszentrum. Als wäre ich der vibrierende Stuhl.

Auf der Dienststelle boten sie mir wieder Tee an. Ich sagte Nein und ließ mich in einen Raum mit einem weißen Resopaltisch und ein paar abgenützten Vinylstühlen führen. Riley war da, zusammen mit zwei Männern in Anzügen, Ermittler aus Wagga, wie sie sagten. Sie wollten wissen, wann ich Bella zuletzt gesehen hatte. Ich musste eine Minute nachdenken und dann brauchte ich eine weitere Minute, um es herauszubringen.

»Mittwochabend. Sie schaute kurz im Pub vorbei –«

»Dem Pub, in dem Sie arbeiten?«

»Ja, im Royal. Sie kam vorbei, als wir gerade schlossen. Sie hatte bis spät gearbeitet, war für einen kranken Kollegen eingesprungen, und weil sie wusste, dass ich bald Feierabend hatte, hatte sie daran gedacht, kurz mal reinzuschauen, um mir anzubieten, mich nach Hause zu fahren, vielleicht eine heiße Schokolade zu trinken und vor dem Schlafengehen ein wenig zu plaudern.«

»Und wie lang blieb sie bei Ihnen?«

»Gar nicht … Ich sagte ihr, dass ich länger bleiben und einigen organisatorischen Krempel erledigen müsse. Sagte ihr, dass wir das am Wochenende nachholen würden.«

»Na gut, Chris. Tief einatmen. Es tut mir leid, aber wir brauchen ein wenig mehr Infos von Ihnen, bevor wir Sie heimbringen können. Tief einatmen. Braves Mädchen.«

Sie wollten noch einen Haufen Dinge wissen, die sie auch aus dem Telefonbuch erfahren hätten, und dann Sachen über meine Familie. Bellas Familie. Sie wollten von den Männern in Bellas Leben hören, nur gab es da keine. Ich meine, es gab die Männer, die mit ihr im Pflegeheim arbeiteten, und dann gab es den siebenundachtzigjährigen Nachbarn, mit dessen Hund sie spazieren ging, und es gab ihren Vater, den sie seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr nicht mehr gesehen hatte, aber mit dem sie hin und wieder E-Mails schrieb. Nur keinen Freund, schon länger nicht.

»In dem Fall, vielleicht eine Freundin?«, fragte einer der Anzugtypen.

»Sie ist keine Lesbe, wenn es das ist, was Sie wissen wollen. Natürlich hat sie Freundinnen. Die Mädchen in der Arbeit zum Beispiel. Da gibt es eine Gruppe, die miteinander ausgeht, wenn ihre Dienstpläne das zufällig mal erlauben. Und sie hat noch Kontakt zu ein paar Schulkumpels.«

»Alles Frauen?«

»Vermutlich.«

»Mochte sie keine Männer?«

»Bella mochte alle Menschen. Es war nur so, dass sie Männern nicht besonders vertraute. Sie mussten sich zuerst beweisen, verstehen Sie?«

»Wieso, denken Sie, vertraute sie ihnen nicht?«

»Weil sie wusste, wozu sie fähig sind«, sagte ich, und dann brauchte einer der Anzugträger eine Pause.

Weißt du, man hat mir oft gesagt, dass ich zu vertrauensselig bin, zu großzügig, zu offen. Früher hielt ich das für Komplimente, doch vor Kurzem schwante mir, dass das keine sind. Sie sagen »vertrauensselig« und meinen doch »dumm«, »großzügig«, aber meinen »leicht zu haben«, »offen« und meinen »schamlos«. Alle diese Dinge sind wahr und nicht wahr. Es kommt drauf an, wen du fragst, oder etwa nicht? Frag den alten Bert im Pub, ob ich leicht zu haben, großzügig oder so bin, und er wird Nein sagen. Er wird sagen, »Die kleine Zicke schlägt meine Hand, wenn ich auch nur einen Hauch an ihr anstreife«. Frag meinen Ex, Nate. Er wird dir etwas anderes erzählen.

Was ich damit sagen will, ist: Manchmal bin ich vertrauensselig und großzügig und offen und dumm und leicht zu haben und schamlos. Was ich damit sagen will, ist: Wer ist das nicht?

Bella. Bella war es nicht. Von dem Moment an, als sie dreizehn wurde, war sie älter als ich. Ich weiß nicht, was da mit ihr passiert ist, vielleicht nichts Wichtiges, aber ich erinnere mich, wie die Veränderung eintrat. Sie hörte auf, Kind zu sein, und wurde eine richtige Erwachsene. Sie kam nach der Schule zu mir, nur um mich noch im Bett vorzufinden, meistens auch noch höllisch verkatert. Sie zog mich da raus, machte mir Kaffee und Eier und hielt mir eine Standpauke. Mit sechzehn zog sie wegen eines Konflikts mit Mums Freund bei mir ein. Ich beschwerte mich darüber, was für eine nörgelnde kleine Arschkuh sie doch war, aber als sie sich mit achtzehn auf und davon machte, vermisste ich sie so sehr, wie du dir das gar nicht vorstellen kannst.

***

Sally Perkins, deren Vater an dem Tag, an dem sein kleines Mädchen die Polizeischule erfolgreich abschloss, im Pub gesessen und sich beinahe ins Koma gesoffen hatte, brachte mir unaufgefordert einen Tee und ein paar extrem süße Kekse. Die Anzugträger betrachteten mein Nichttrinken und Nichtessen ein paar Minuten lang und fragten mich dann, ob ich weitermachen könne. Ich stimmte zu, weil ich mich beim Anstarren des Teebechers an diesen einen Typen erinnerte, den Bella vor ein paar Wochen erwähnt hatte. Es war mein freier Abend und ich wollte gerade ins Bett gehen, als sie auftauchte. Es war schon nach elf. Ungewöhnlich, dass sie so spät vorbeikam, ohne zuerst eine Nachricht zu schicken, ob ich daheim und wach sei. Ich öffnete die Tür und da war sie, mit glänzenden Augen und so, also dachte ich zuerst, dass einer ihrer Lieblinge im Heim gestorben war – sie sollen es ja nicht persönlich nehmen, aber so war Bella einfach. Dann sah ich, dass sie sich schick gemacht hatte, süße kleine Stiefeletten und ein wenig Eyeliner und so, und ich zog sie rasch hinein, ein wenig besorgt, was wohl passiert sein mochte.

Eigentlich war es nichts. Sie war mit ein paar Freunden bei einem Quizabend gewesen, und als am Ende die Preise verkündet wurden, rief man ihre Nummer auf. Also lief sie nach vorne, um ihren Preis abzuholen – einen Korb mit Schokotrüffeln, kandierten Früchten und so Zeugs –, und da begann dieser Typ, der einen anderen Preis gewonnen hatte, sie anzubaggern. Er fragte sie, wie sie so einen großen, schweren Korb allein nach Hause bringen wolle, und sie antwortete, das sei nicht notwendig, weil sie sowieso mit dem Auto hier sei. Daraufhin erzählte er ihr eine rührselige Geschichte, wie er zu Fuß quer durch die ganze Stadt laufen hätte müssen, um den Abend hier verbringen zu können, und dass er nun diesen riesigen, schweren Korb habe, den er nach Hause bringen müsse, und dass die Taxis nach zweiundzwanzig Uhr so teuer seien, dass es ihn beinahe sein komplettes Wochengeld kosten würde, nur um nach Hause zu kommen. Bella hatte sich gewundert, wieso er für einen Quizabend so weit weg von zu Hause gekommen war, wo doch jede Kneipe und alle Vereine in der Stadt offensichtlich jede verdammte Woche ihre eigenen Quizabende veranstalteten, doch das sagte sie nicht, sie sagte »Oh je« oder so ähnlich und wollte ihren Preis wegbringen. Doch er stoppte sie, legte ihr seine Hand auf den Arm und fragte sie, in welche Richtung sie unterwegs sei. Das habe ihr ein wenig Angst gemacht, erzählte sie mir, weshalb sie ihn anlog, dass sie direkt zu ihrer Schwester fahre, die quasi ums Eck wohne. »Ich könnte die Mitfahrgelegenheit richtig gut brauchen, zumindest bis zur Hauptstraße vor«, sagte er, während er ihren Arm nicht losließ. »Ach, frag doch irgendeinen der Typen hier. Ich bin mir sicher, dass dich einer mitnehmen wird«, sagte sie und dann – ihre Stimme konnte es noch immer nicht glauben, als sie mir das erzählte –, dann versuchte sie, sich von ihm zu entfernen, aber er bewegte sich einfach mit ihr mit. Sie musste ihren Arm von ihm richtiggehend wegziehen.

Als sie ihr Auto erreicht hatte, versperrte sie alle Türen und weinte ein wenig. »Dumm, ich weiß«, sagte sie an dem Abend (obwohl sie es nicht vorgehabt hatte, tat sie das, was sie dem Mann erzählt hatte, und kam direkt zu mir, gleich ums Eck). »Er war einfach ein unguter Typ, der nicht wusste, wie man mit einem Wink umgehen sollte, und es ist ja nichts passiert, aber ich habe mich dabei so unhöflich gefühlt und das hasse ich.«

Ich machte ihr eine heiße Schokolade und wir redeten über andere Dinge und gerade, als ich dachte, dass die Sache bereits vergessen war, sagte sie, »Weißt du, wenn es eine Frau gewesen wäre, hätte ich ihr sicherlich angeboten, sie nach Hause zu bringen«. Das machte ihr zu schaffen, denke ich.

Der ältere Anzugtyp fragte mich, ob Bella den Kerl irgendwie beschrieben habe, aber das hatte sie nicht. Der jüngere fragte mich, ob ich dachte, dass sie sich über eine Nichtigkeit aufgeregt habe, und ich weiß nicht wieso, aber da wollte ich ihn schlagen. Nein, ich weiß schon wieso. Es war, weil ich eben wirklich gedacht hatte, dass sie überreagierte, und ich ihr das auch gesagt hatte. Sanft, aber doch. Was, wenn sie es sich zu Herzen genommen hatte? Was, wenn sie bei der nächsten Gelegenheit gegen ihr Bauchgefühl entschieden hatte?

»Ich meine«, fuhr der jüngere Anzugträger fort, »was ich so höre, sind Sie selbst ein vertrauensseliger Typ Frau. Was Männer betrifft, meine ich.«

»Genau«, sagte der ältere.

Ich konnte in dem Moment keine Worte herausbringen. Ich konnte es einfach nicht.

»Genau«, sagte der ältere noch einmal. »Danke für Ihre Zeit, Chris. Wir halten Sie auf dem Laufenden. Und Sie rufen mich an, wenn Ihnen etwas einfällt, okay?«

Sally Perkins fuhr mich nach Hause und warnte mich, dass die Geschichte bald überall in den Nachrichten sein würde.

»Dann werde ich die Kiste wohl ausgeschaltet lassen.«

»Wenn es irgendjemanden gibt, der es deiner Meinung nach wissen sollte … Ich meine, so was aus den Nachrichten zu erfahren, ist schon ziemlich hart.«

»Ihr Vater. Ich schätze, ich sollte ihren Vater anrufen.«

»Die Ermittler haben seine Daten, die werden sich direkt mit ihm in Verbindung setzen. Sie waren auch schon an ihrem Arbeitsplatz. Aber vielleicht gibt es andere Freunde, entfernte Verwandte …«

»In Ordnung«, sagte ich. »Ich werde darüber nachdenken. Ein paar Anrufe machen.«

»Schreiberlinge werden wahrscheinlich versuchen, mit dir zu sprechen. Vermutlich nicht heute. Ihr habt ja unterschiedliche Nachnamen, also werden sie mit etwas Glück eine Weile brauchen, um dich aufzuspüren. Wie auch immer, du musst dich nicht mit ihnen abgeben, in Ordnung? Wir haben Leute, die diese Dinge für dich erledigen können.« Ohne ihre Augen von der Straße abzuwenden, zog sie eine Karte aus ihrer rechten Oberschenkeltasche und gab sie mir.

Wir fuhren an dem Park vorbei, in den ich Bella immer mitgenommen hatte, als sie noch ein winziges Ding war. Heute würde ich da nicht mehr mit ihr hingehen. Ich meine, ich würde da heute mit keinem kleinen Kind hingehen. Die alte Burg, über die sie immer geklettert war, war komplett mit Graffiti und bewusst gesetzten Splittern aus scharfem Holz übersät. Die Schaukel, auf der ich vor Jahren saß und sie beobachtete, ist längst verschwunden, nur das Gestell steht noch da, BESCHISSENE FOTZEN war seitlich darauf geschmiert, das struppige Gras darunter längst mit alten Chipspackungen und Zigarettenstummeln verwachsen. An den meisten Nachmittagen und Abenden ging ich daran vorbei, aber ich hatte dabei noch nie an Bella und mich gedacht.

Das ist jetzt mein Leben, realisierte ich. Dieses … Weißt du, mich überall daran zu erinnern, wo Bella gewesen war und niemals wieder sein würde. Ich dachte daran, wie sogar dieser seltsame Tag, an dem ich ein Leichenschauhaus von innen und den hinteren Bereich des Polizeireviers gesehen hatte, dadurch noch seltsamer wurde, dass Bella es nie erfahren würde.

»Chris? Das ist es, oder?«

Wir waren vor meinem Haus angelangt. Es ist eines der gepflegteren in der Straße. Ich mähe den Rasen und halte meinen Postkasten geleert und die Einfahrt von Ölflecken sauber. Nur Frank an der Ecke, der seinen Rasen mit der Nagelschere trimmt und seine Dachrinnen täglich reinigt, hat eine gepflegtere Straßenfront als ich.

»Chris?«

Ich bedankte mich fürs Herbringen und stieg aus dem Wagen. »Pass auf dich auf«, sagte ich und sie lächelte. Sie war kein hübsches Mädchen, aber ihr Lächeln war entzückend.

***

Ich tat, wie Sally gesagt hatte, rief ein paar von Bellas Freundinnen an und fragte jede von ihnen, ob es ihr was ausmachen würde, ein paar andere anzurufen. Es war so merkwürdig. Ich hatte gedacht, dass sie schreien und weinen und »Nein, das ist doch nicht möglich« sagen würden, aber alle akzeptierten es einfach irgendwie. Alle sagten, dass es ihnen leidtat. Alle fragten, was sie tun konnten. Es war, als ob sie mehr Sorgen um mich hatten als um Bella, was natürlich logisch ist, ich weiß, aber auch schrecklich. Vielleicht klang ich auch nur so schrecklich.

Am späten Nachmittag klingelte mein Telefon sofort wieder, wenn ich einen Anruf beendet hatte. Die Nachrichten hatten es gebracht und die Leute wollten wissen, ob es wahr sei und ob sie etwas tun konnten. Ich sagte, dass es so sei und dass es nichts zu tun gäbe.

Gegen achtzehn Uhr klopfte es an der Tür und sofort zitterte ich wieder am ganzen Körper. Ich sagte mir, dass es nichts mehr gebe, wovor ich Angst haben könnte, das Schlimmste sei bereits geschehen, aber meine Nerven wollten nicht auf mich hören. Ich wappnete mich für das nächste Unheil, öffnete die Tür.

Nate. Liebe meines Lebens, Zertrümmerer meines Herzens. Da stand er, mein mächtiger Baum von einem Mann, dem die Tränen nur so in seinen Buschrangerbart flossen.

»Babe«, sagte er.

»Ja.«

»Oh, Babe.« Sein Körper drängte sich mir entgegen. Er umschlang mich mit seinen riesigen Armen und drückte das ganze Zittern aus mir raus. Er trug mich hinein und setzte mich auf einen Küchenstuhl. Kniete vor mir und umarmte mich noch mehr, während er sein nasses, kratziges Gesicht an meinem Hals rieb.

»Ich hab’s in den Mittagsnachrichten gehört, keine Details, nur dass man eine Frau in der Nähe von Strathdee gefunden hatte. Beim nächsten Update sagten sie, dass es sich um eine Altenpflegerin handle. Ich musste in der Zentrale anrufen, brachte sie dazu, einen Ersatzfahrer für mich zu schicken. Nahm ein Taxi zurück zu meinem Auto und fuhr direkt hierher.«

»Danke.«

»Du hättest mich anrufen sollen.«

»Ich hatte es vor. Alle rufen mich an.« Wie um meine Aussage zu bestätigen, klingelte das Telefon wieder.

»Oh, Babe.«

»Ja.«

»Arme Bella. Das arme kleine Ding.«

Und da verlor ich die Fassung, weil das bisher noch niemand gesagt hatte. Nicht einer.

***

Ich hatte Nate im Pub kennengelernt, klar. Wo sonst sollte ich jemanden kennenlernen? Ich war fünfundzwanzig und es mangelte nicht an Angeboten, aber ich war das alles langsam leid. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, dass es vielleicht doch nett sein könnte, mit jemandem wirklich zusammen zu sein, vielleicht sogar ein Baby zu haben. Die meisten Mädchen, mit denen ich zur Schule gegangen war, hatten da bereits ein paar Kinder, und obwohl ich nicht eifersüchtig auf ihr Leben war, fühlte ich ein tiefes Ziehen in mir, wenn ich sie in der Hauptstraße mit einem vor ihre Brust gebundenen pastellfarbenen Bündel oder einem lockigen Zwerg an ihrer Hand sah.

Man könnte also sagen, dass ich mich in einem beeinflussbaren Zustand befand, doch ich weiß, dass ich Nate auch verfallen wäre, selbst wenn ich mit Prinz Harry verheiratet gewesen und rothaarige Zwillinge im Ofen gehabt hätte. Ehrlich. Ich wäre ihm verfallen, egal was.

Das war vor der Fertigstellung der Umfahrung, als Strathdee noch die zentrale Truck-Stop-Stadt zwischen Sydney und Melbourne war. Ich war also daran gewöhnt, dass ich Typen bediente, die aussahen, als ob sie ihre Kisten mit einer Hand aufheben konnten, aber ich hatte die Bude noch nie als klein empfunden. Bis Nate reinspazierte. Sofort wirkte es, als ob es nicht mehr genug Raum für irgendjemanden anderen hier gebe. All die anderen Dummköpfe wurden von ihm in die Ecken gedrängt, und obwohl ich aus dem hinteren Teil der Küche durch das kleine Fenster der Durchreiche zusah, hatte ich das Gefühl, als ob er sich direkt an mich drücken würde. Es war, als ob seine Masse auch den Sauerstoff verdrängt hatte, weil ich plötzlich kaum mehr atmen konnte.

Er bestellte einen Burger mit Chips und einen Orangensaft. Ich hatte noch nie einen Mann Orangensaft bestellen sehen. Bin mir auch nicht sicher, ob ich je gesehen hatte, dass irgendjemand einen Orangensaft ohne Wodka bestellt hatte. Aber es ist ja nicht so, dass der alte Grey hinter der Bar, oder irgendjemand sonst, diesen Berg dafür attackiert hätte, dass er so sanft war. Oh Gott.

Als ich seine Nummer aufrief und er kam und sich seinen Burger holte, kam mir der schmutzige Gedanke, ob diese riesigen Pfoten meine Titten zur Gänze umfassen könnten, und es schüttelte mich am ganzen Körper und ich war mir sicher, dass er wusste, was ich dachte.

Ich lehnte mich zurück und sah zu, wie er sich eine Handvoll Chips in seinen riesigen Mund stopfte und sich daraufhin die Lippen leckte. Es war einfach unanständig, wie diese nasse rosa Zunge zwischen diesen dicken roten Lippen herauslugte und sich im Gewirr seines schwarzen Bartes versteckte.

Gut, dass ich da gerade zum Braten einiger Steaks gerufen wurde, bevor er sich dem Burger zuwandte, weil ich mich, wenn ich da bereits gesehen hätte, wie weit sich dieser Mund öffnen konnte, wahrscheinlich nass gemacht hätte.

Damals verschwand er gleich nach dem Burger und das Pub füllte sich wieder mit Platz und Luft und ich beruhigte mich, und ich lachte sogar ein wenig über mich, dafür, dass ich mich so an einem Orangensaft-trinkenden Affenmann aufgegeilt hatte.

Und dann kam er in der Woche darauf wieder und es war wieder genau dasselbe: Die Wände näherten sich einander und mein Hirn war von schmutzigen Gedanken über seine Hände und seinen Mund benebelt. Aber diesmal blieb er bei der Durchreiche und quatschte zwischen Bestellungen mit mir. Gott weiß, was ich alles zu ihm gesagt habe. Wenn ich daran zurückdenke, stelle ich mir einen heißen Sprühregen voller Verzweiflung vor, der ihm jedes Mal entgegenkam, wenn ich den Mund aufmachte. Doch ich vermute, dass es genau das war, was er suchte, weil er anbot, mich heimzubringen, und er mein Höschen abgestreift und meine Titten zum Hüpfen gebracht hatte, bevor die Windschutzscheibe seines Reisebusses auch nur zur Hälfte angelaufen war.

Nate war davor Truckie, aber als ich ihn traf, fuhr er bereits Touristenbusse die Ostküste rauf und runter. Hauptsächlich ältere Leute, die das Land sehen wollten, aber zu verängstigt oder zu gebrechlich waren, um die Entfernungen selbst zu schaffen. Nate war wie der freche, aber doch verlässliche Enkelsohn, den sie sich alle wünschten. Er konnte dabei auf der Straße sein, ohne dem Druck ausgesetzt zu sein, der die meisten Truckies zu Tablettenjunkies macht. »Australien im gemächlichen Tempo« war der Werbeslogan der Gauner, für die er arbeitete.

Doch nachdem wir zusammengekommen waren, gab er die Langstreckenroute auf und nahm nur mehr die Tagesausflüge von hier zu den kleineren Orten weiter westlich an. Ich hatte ihn nicht darum gebeten. Er wollte jede Nacht zu Hause bei mir sein. Unglaublich. Ein Mann wie er, ein Mädchen wie ich … Ich wusste, wie viel Glück da mit im Spiel war, das kannst du mir glauben. Es hinderte mich jedoch nicht daran, alles zu verkacken.

Aber ich hatte offenbar nicht den letzten Rest seiner Liebe für mich verbrannt, weil er da in meiner Küche war und sich um mich kümmerte, als ob das vergangene Jahrzehnt nie stattgefunden hätte. Er achtete drauf, dass ich alle notwendigen Anrufe tätigte, und schaltete dann mein Telefon ab. Er machte mir ein Käse-Sandwich, von dem ich sofort die Hälfte aß, eine Tasse Tee, die ich trank. Dann dosierte er mir, was er seine »Zehn-Stunden-Garantie« nannte. Ich sagte, dass ich mir nicht vorstellen konnte, je wieder zu schlafen, erlaubte ihm aber trotzdem, dass er mich ins Bett brachte. Er legte sich zu mir, und es gab keinen Grund, daraus eine große Sache zu machen. Ich drückte mich gegen die Planke, die seine Brust war, und seine Arme umschlossen mich und ich sank in den Schlaf, so wie es fünf Jahre zuvor war, und es gab nichts mehr zu befürchten, außer, ob er am nächsten Morgen noch hier sein würde.

Dienstag, 7. April

AustraliaToday.com / May Norman, 7. April 2015

»SCHÖNE BELLA« BÖSARTIG ZUGERICHTET

Die »übel zugerichtete« Leiche, die gestern von einem Reisenden während einer Rauchpause am Straßenrand gefunden wurde, konnte als die von Bella Michaels, 25-jährige Altenpflegerin aus Strathdee im südwestlichen New South Wales, identifiziert werden. Ms. Michaels war beinahe 48 Stunden vermisst, als die Einsatzkräfte den Anruf des verstörten Mannes aus Melbourne erhielten, der von seinem grausigen Fund berichtete.

»Der Herr hatte gleich nach der südlichen Ausfahrt von Strathdee am Straßenrand neben Gebüsch und Gras gehalten. Er hatte sich die Beine vertreten und wollte eine Zigarette rauchen, während seine Kinder im Auto schliefen. Was für ein Glück, dass die Kinder nicht aufwachten und ihren Vater suchten«, sagte ein Polizeisprecher heute Morgen.

Als die örtliche Polizei am Fundort eintraf, fand sie eine Leiche vor, die ein Polizeibeamter als jene von Ms. Michaels erkannte. Die offizielle Identifizierung durch Ms. Michaels Schwester erfolgte zu einem späteren Zeitpunkt.

Bisher hüllt sich die Polizei über die Hintergründe des Ablebens von Ms. Michaels oder ob sie davor sexuell missbraucht wurde, in Schweigen, wenngleich unbestätigte Aussagen von Personen am Tatort darauf hindeuten, dass sie nach den Worten des Mannes, der die Leiche fand, »schrecklich zugerichtet« war. Detective Sergeant John Brandis, der die Ermittlungen leitet, wollte dazu keine Angaben machen, auch nicht darüber, ob die Misshandlungen der Toten erst post mortem erfolgt seien, während Einheimische auf die unzähligen wilden Hunde und Katzen in der Gegend hinweisen und die Leiche möglicherweise bereits seit Freitagnacht im Freien lag.

Ms. Michaels wurde zuletzt gegen 17 Uhr gesehen, als sie Strathdee Haven, das Pflegeheim, in dem sie arbeitete, verließ. Ihr Auto hatte sie drei Gehminuten entfernt geparkt, doch sie sollte es nicht mehr erreichen. Das Personal und die Patienten des Pflegeheims sind laut Aussage der Heimleiterin Cathryn Charles »schockiert und betäubt. Sie war ein unverzichtbarer Teil unseres Teams, eine Gebende, immer mit einem Lächeln im Gesicht. Es ist unfassbar, dass ihr das zugestoßen ist, und das anscheinend auch noch direkt vor unserer Haustür.«

Laut Detective Brandis sei die Befragung der Anrainer in der Gegend, in der Ms. Michaels verschwand, bisher ergebnislos verlaufen, doch die Ermittlungen würden fortgesetzt werden. »Es war nur ein kurzer Fußweg, bei Tageslicht, in einer ruhigen Wohnstraße. Wenn es einen Kampf oder irgendeine Art von Aufruhr gab, muss das jemand gesehen oder gehört haben.«

Die Polizei bittet auch Autofahrer, die zwischen Freitag 18 Uhr und Samstag 6 Uhr haltende Autos oder sonstiges verdächtiges Verhalten zwischen Gundagai und Holbrook auf dem Hume Highway bemerkt haben, sich an die Polizei von Strathdee oder die Crime Stoppers zu wenden.

*** *** ***

Ich schlief zwar nicht die versprochenen zehn Stunden, aber doch fast sieben, was in Anbetracht der Umstände schon ein verdammtes Beinahewunder war. Sobald ich wieder bei Bewusstsein war, dachte ich über Bella und was sie ihr alles angetan hatten, nach. Ja, genau, sie. Daran zweifelte ich nie. Nicht nachdem ich sie gesehen hatte, verstehst du?

Als meine Mutter starb, dauerte es Monate, bis ich mit dem Bewusstsein aufwachte, dass sie tot war. Jeden Morgen gab es diesen süßen, schläfrigen Moment, in dem die Welt so zu sein schien, wie sie davor gewesen war, bevor die Wahrheit dazwischengefahren war und alles zerstört hatte. So war es auch, nachdem mich Nate verlassen hatte. Ich wachte auf und meinte ihn neben mir zu finden. Aber mit Bella war es nicht so. Ich wachte auf und sah sofort ihr Gesicht vor mir, genau so, wie ich es im Leichenschauhaus gesehen hatte.

(Als ich Bellas Gesicht zum ersten Mal sah, sagte ich zu meiner Mutter, dass es danach aussehe, als ob sie jemand geschlagen hätte, weil ihr Kopf so schief war und sie Kratzer auf den Wangen und blaue Flecken über ihren eigenartigen, nackten Brauen hatte. Mutter lachte und sagte, dass die Geburt die brutalste Angelegenheit sei, durch die wir im Leben durchmüssten.)

Ich schleppte mich in die Küche. Nate saß am Küchentisch, trank Kaffee und las etwas auf seinem Smartphone. Er wischte die Seite weg, steckte das Telefon in die Vordertasche seiner Jeans, kam zu mir und küsste mich am Hinterkopf und wiegte mich so für einen langen, süßen Moment. Ohne zu fragen, ob ich einen wollte, machte er mir einen Kaffee und er hatte genau die richtige Temperatur, genau die richtige milchige Süße.

Er wartete, bis ich ungefähr die Hälfte getrunken hatte, und nahm meine Hände in seine. »Also, was ist passiert? Was sagt die Polizei?«

Die Berührung seiner Hände schien die Trauer und das Grauen ein wenig zu dämpfen. Es fühlte sich an, als ob das Gewicht seiner Hände auf meinen diesen furchtbaren, mich beutelnden Dämon davon abhalten könnte, wieder Besitz von mir zu ergreifen.

»Sie verließ die Arbeit kurz nach fünf. Verabschiedete sich von allen und weg war sie, so wie sonst auch. Drei Stunden später fiel einer Pflegerin, die zur Schicht kam, Bellas Auto auf der Straße auf. Sie fand das etwas seltsam und versuchte sie zu erreichen, erhielt aber keine Antwort. In ihrer Pause, gegen dreiundzwanzig Uhr, ging die Schwester zu ihrem eigenen Auto, um etwas zu holen, und bemerkte, dass Bellas Auto noch immer dastand. Sie probierte es noch einmal vergeblich bei Bella und hatte da schon eine böse Vorahnung, weshalb sie auch gleich Bellas Notfallkontakt ausfindig machte, also mich, und mich anschrieb, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung sei. Ich war in der Arbeit und hatte keinen Bock darauf, meine Nachrichten zu checken, bevor ich dann abstürzte – und – und –«

»Hey, hey.« Nate streichelte mit dem Daumen über meine Hand. »Atmen, Baby. Komm schon, tief durchatmen. Braves Mädchen, so ist es gut.«

»Ich erhielt die Nachricht also erst am nächsten Morgen. Da gab es dann schon eine weitere – von ihrem Dienstgeber –, weil Bel nicht zur Arbeit erschienen war. Ich schaute bei ihr vorbei, aber niemand öffnete. Ich rief die Polizei an. Ich solle warten, sagten sie. Ich wartete. Ich rief sie den ganzen Tag über an. Rief ihren ganzen Freundeskreis an. Am Ende des Tages meldete ich mich erneut bei der Polizei. Da nahmen sie die Anzeige auf. Sagten mir, dass sie sicherlich auftauchen würde, beschämt wegen all den Sorgen, die sie mir bereitet hatte, nur weil sie ein Wochenende mit ihrem Typen blaugemacht hatte.«

»Wer ist dieser Typ?«, fragte Nate und es war nur der Bruchteil einer Sekunde, aber da sah ich sie, die Gewaltbereitschaft. Es tat gut, daran erinnert zu werden. Ich zog meine Hände aus seinen. Ich tat es beiläufig, nahm meine Kaffeetasse, trank einen Schluck und klammerte meine Hände um die wohlige Wärme der Tasse.

»Sie hat keinen. Das nahmen die nur an. Redeten über sie, als ob sie irgendein anderes Mädchen sei. Irgendeine Idiotin, die einfach nicht zur Arbeit erscheinen würde, ohne Bescheid zu geben. Als ob sie das tun würde.«

»Die jüngste Großmutter der Welt«, sagte er lächelnd.

Früher nannten wir sie so, Nate und ich, früher, als wir uns noch die Kante gaben und alles versauten und sie antanzte, alles sauber machte und uns einen Vortrag über Verantwortung hielt.

Nate berührte meine Hand. »Und dann?«

»Dann war gestern Vormittag dieser Cop an meiner Tür … Die sagten, dass sie wahrscheinlich seit Freitagnacht da draußen gelegen war. Während des Wochenendes hat es ja ununterbrochen geregnet, deswegen war niemand am Straßenrand zum Pissen oder Picknickmachen stehen geblieben.«

Nate holte tief Luft. Ich wusste, dass er sie sich vorstellte, da draußen im Regen liegend, wusste, dass er sich darüber sorgte, wie kalt und bange ihr gewesen sein musste, und wie er sich dann erinnerte, dass sie da bereits nichts mehr gefühlt haben konnte. Der schnelle Doppelschlag von Horror und Dankbarkeit.

»Weißt du wie … In den Nachrichten sagten sie, dass sie …« Er streckte seine Hände hilflos nach mir aus.

Ich erzählte ihm, was ich von der Polizei erfahren hatte. Ich ersparte ihm keine Details, weil sie mir auch nicht erspart geblieben waren, und ich vermute, dass ich einfach den Schmerz teilen wollte. Aber jetzt, na ja, um ehrlich zu sein, überkommt mich der Widerwille, es zu wiederholen. Schlimm genug, dass ich alles an jenem Morgen aus meinem eigenen Mund noch einmal gehört hatte. Schlimm genug, dass ich gesehen hatte, was von ihr übrig war und was der Gerichtsmediziner aus der Sauerei gemacht hatte. Schlimm genug, die Schlagzeilen in den Zeitungen zu sehen, während ich durch das Einkaufszentrum zum Supermarkt eile. Schlimm genug, zu erraten, was die Typen im Pub zwischen ihrem lauten »Wie geht’s dir, meine Liebe?« flüstern. Schlimm genug, dass die Bilder jedes Mal, wenn ich versuche einzuschlafen, so heftig und mit derartiger Wucht kommen, dass sie sich wie Erinnerungen anfühlen. Schlimm genug, dass ich keine Nacht verbringe, ohne zumindest ein wenig davon zu träumen, alles davon, die ganzen Dinge, die sie ihr angetan haben, und dabei auch die Männer, die es tun, die fast, fast, fast ihre Gesichter zeigen, sodass ich mir diese Horrorshows zurückwünsche, weil ich dieses Mal vielleicht einen genauen Blick auf diejenigen erhaschen könnte, deren Fäuste und Schwänze und Knie und Arme es sind. Grausamer, grausamer, grausamer als schlimm, diese gottverdammt lebhaften Vorstellungen meines Verstands, der bereits zu viele Stunden damit verbracht hat, Krimis zu schauen, zu viele Nächte damit verbracht hat, True-Crime-Bücher zu lesen. Schlimm genug, dass in meinem Kopf Bilder des Leidens auftauchen, die ausschauen, als würden sie aus einer beschissenen Folge von Navy CIS stammen und wie die beschissenen Hintergrundgeräusche aus Underbelly klingen, oder die sich wie ein Stiefel anfühlen, der auf meine Brust drückt. Und falls das für dich gut klingt, dann mach nur und lies den Bericht des Gerichtsmediziners und schau dir die obszönen Fotos selbst an. Ich bin doch nicht deine Pornografin.

Nate war während der schlimmsten Schilderungen davon ruhig und still, aber als ich ihm sagte, dass die Polizei keine Verdächtigen hatte, knackte er mit den Fingerknöcheln, ließ seinen Nacken vor- und zurückkippen. »Ich hoffe, dass ich diese Dreckschweine zuerst finde«, sagte er. »Denen werde ich schlimmere Dinge antun, als sie ihr angetan haben.«

»Bitte nicht.«

Wieder knackte er mit den Fingerknöcheln. »Denkst du, die verdienen es, zu leben?«

»Ich denke, dass ich es nicht verdiene, meinen Mann wegen Mordes im Gefängnis zu sehen.«

Er sah mich ernst an. »Babe«, sagte er, »ich bin nicht dein Mann.«

»Du weißt, was ich meine«, sagte ich. »Du weißt, dass es wichtig für mich ist … Dass du okay bist.«

Er sah mich lange an. Ich weiß nicht, ob er an die Vergangenheit dachte oder an Bella oder an seine Frau da oben in Sydney. »Es tut mir leid«, sagte er. »Mit mir ist alles in Ordnung.«

***

Am ersten Tag hatte ich eine Menge Besuch. Am ersten vollen Tag, an dem ich wusste, dass sie tot war. Alle saßen mit mir am Küchentisch, den Blick durchs Fenster auf die Einfahrt gerichtet, und sagten Auf Wiedersehen und pass auf dich auf und ruf an, wenn du was brauchst, wenn das nächste Auto in die Einfahrt bog. Ich denke nicht, dass sie sich abgesprochen hatten; es passierte einfach so. Ein wenig schockierte mich, wie viele Leute kamen. Heute sehe ich das differenzierter als damals. Ich denke, dass die Hälfte von ihnen als Gaffer kamen, bemüht, irgendwas von der Tragödie abzustauben. Schon schräg, wie viele Menschen das tun. Es macht mich krank, dass ich das weiß, dass ich rückblickend annehmen muss, dass es genau das war. Damals dachte ich nur, Was für eine Prinzessin der Herzen du doch bist, Bella! Schau dir all diese Leute an, die vorbeikommen. Hör dir all die netten Dinge an, die sie über dich sagen. Ich erinnere mich, wie ich zu Nate sagte, ich hoffte, sie wüsste, für wie viele Menschen sie einfach der Wahnsinn war.

Zuerst kam die Nachbarin von rechts, Carrie Smith. Carrie war in meinem Alter und bereits zweifache Großmutter. Sie hatte ihre Älteste, Emma, mit sechzehn bekommen und Emma das Erste mit fünfzehn und das Zweite vor wenigen Monaten. Die Kinder und Enkelkinder und verschiedenen Partner wohnten manchmal bei Carrie und manchmal nicht. Ihr Haus veränderte sich von Woche zu Woche. Während der einen Woche lagen Plastikroller in der Auffahrt, während blendend weiße Windeln auf der Wäscheleine flatterten und Babygeschrei sich mit Kleinkindkichern abwechselte, während in der nächsten Woche Teenager mit geröteten Augen in einer Rauchwolke herumlagen und Hip-Hop aus den Stereoanlagen ihrer geparkten Autos plärrte, deren Motoren ununterbrochen liefen.

Carrie fragte, wie es mir gehe, und ich sagte, dass es gehe, und dann machte sie Tee und zeigte mir Fotos ihrer Enkelkinder auf ihrem Telefon und fragte, ob sie hier drinnen rauchen könne, und fragte, ob ich irgendwas brauche, und fragte, ob das parkende Auto vor dem Haus Nate gehöre, und fragte, ach, ich weiß nicht, noch einen Haufen anderer Dinge, die nichts mit dem zu tun hatten, weshalb sie um neun Uhr früh an einem Dienstagmorgen in meiner Küche herumwuselte, anstatt ihre Rente wie üblich in Spielautomaten zu versenken.

Danach erschien Lisa von gegenüber. Lisa war in ihren Fünfzigern, eine Buchhalterin, die sich wie ein Nordküstenhippie anzog und auch so sprach. Sie hatte eine Tochter in Bellas Alter und einen etwas jüngeren Sohn. Als sie durch die Vordertür fegte, verfing sich ihr grünes, bodenlanges Kleid im Türstock und wir ignorierten beide das wie ein lauter, nasser Furz klingende Geräusch, das zu hören war, als es riss. Lisa brachte mir Kuchen auf einem Glasteller. Sie platzierte ihn in der Mitte des Küchentisches und dann wickelte sie ihre dürren, sonnengegerbten Arme um mich und drückte meinen Kopf auf ihre Schulter.

»Ich wusste nicht, was ich tun sollte«, sagte sie zu mir, nachdem ich mich befreit hatte. »Ich rief meine Freundin Di an – sie ist einfach die ruhigste Person, die du je treffen wirst, und sie hat die Gabe, weißt du, das zweite Gesicht –, und ich fragte sie und sie sagte – hör zu, ich weiß, das klingt weit hergeholt, Chris, ich weiß, aber sie sagte, dass es Menschen, die einen gewaltsamen Tod sterben, schwer haben, Frieden zu finden, und deshalb könntest du –«

»Nicht jetzt.« Nate musste vom Schlafzimmer aus zugehört haben. Er stand in der Tür und füllte die Küche aus. »Chris braucht solche Gespräche jetzt nicht.«

Lisa stand mit gerötetem Gesicht auf, ihre Hände flatterten nach oben um die Perlen, die fünfmal oder öfter um ihren Hals gewickelt waren. »Nate, es ist so beruhigend, dich zu sehen, zu wissen, dass Chris jetzt nicht allein ist.«

»Hast du den gemacht?« Er beugte sich zum Kuchen, roch daran. »Orangenkuchen?«

»Mit heute von meinem Baum gepflückten Früchten.« Sie kam zurück auf meine Seite, tätschelte meine Hand. »Und nur dieses eine Mal habe ich mir gesagt, zur Hölle mit den Giften, und hab ein schön volles Glas weißen Zucker hineingegeben. Die Situation verlangte danach, dachte ich.«

»Möchtest du auch etwas davon?«, fragte Nate, aber sie schüttelte den Kopf.

»Ich lasse ihn euch.«

»Danke«, glaube ich gesagt zu haben.

»Natürlich, und falls du irgendwas brauchst …« Sie warf Nate, der gerade damit beschäftigt war, den Kuchen anzuschneiden, einen Blick zu. »Oder falls du mit Di darüber –«

»Eigentlich gibt es doch etwas, bei dem du behilflich sein könntest. Die Polizisten wollen, dass Chris morgen auf einer Pressekonferenz spricht und –«

»Oh, ich weiß nicht, Chris, bist du sicher, dass du dazu imstande bist?«

»Sie sagen, dass es helfen wird«, sagte ich. »Weil das Menschen dazu bringen könnte, ihre Beobachtungen zu teilen.«

»Es wird helfen. Und sie sagten auch, dass sie eine vorbereitete Aussage vorlesen könnte und sie die Fragen und so übernehmen würden«, sagte Nate. »Es wäre toll, wenn du da beim Aufschreiben helfen könntest, weil ich gar keine Ahnung von so was habe, wenn ich ehrlich bin. Es sollten Dinge über Bel sein – persönliches Zeug, meinten sie –, und dann sollte sie darum bitten, dass die Leute alles, was sie darüber wissen, der Polizei melden.«

»Oh, natürlich. Wird erledigt.« Sie strich mir leicht über den Oberarm. »Ich werde etwas aufsetzen und dann kannst du ja morgen, bevor es losgeht, noch kleine Änderungen vornehmen. Klingt das gut?«

»Ja, danke, ich weiß das sehr zu schätzen.«

»Du bist einfach die Beste, Lis.«

»In Ordnung. Ich kümmere mich darum.« Sie drückte meinen Arm und ging.

Sobald sie außer Sicht war, steckte sich Nate ein Stück Kuchen in den Mund. Er kaute, schluckte. »Er ist gut«, sagte er, aber er versuchte nicht, mich dazu zu bringen, auch ein Stück zu nehmen, was ich ihm hoch anrechnete.

Danach kamen noch ein paar andere Nachbarn. Ich erinnere mich nicht an die Einzelheiten ihrer Besuche, nur dass von allen, oder von der Summe aller, dicke Wellen von Wärme und Sorge und Neugier und Mitleid kamen, sodass es sich bald anfühlte, als ob ich diejenige sei, die misshandelt worden sei.

Am frühen Nachmittag kam Bellas Kollegin Vicky vorbei, und da hielt ich es nicht mehr aus. Ich hatte Vicky nur ein paarmal getroffen: Einmal im Pflegeheim, als ich Bella besuchte, und einmal, als Bella auf dem Weg zu irgendeinem Empfang hier vorbeischaute, und da war Vicky in meinem Wohnzimmer gesessen und hatte mir von ihrer Katze erzählt, während Bella meine Schuhkollektion auf der Suche nach einem Paar durchstöberte, das zu ihrer neuen, schwarzen Caprihose aus Satin passte.

Am Tag, nachdem sie Bellas Leiche gefunden hatten, saß Vicky in meiner Küche und erzählte, dass, als sie sechzehn war, ihr damals neunzehnjähriger Bruder in Melbourne erstochen worden war, als er bei einem Straßenkampf intervenieren wollte. Ich denke nicht, dass sie es so direkt gesagt hat. Ich erinnere mich nicht an die Worte, die sie verwendete, nur an die atmosphärische Veränderung. Viel mehr als das hat sie nicht gesagt. Vielleicht noch, wie sehr sie Bella bei der Arbeit vermisse. Es machte keinen Unterschied. Nichts von ihr machte einen Unterschied, außer der Tatsache, dass sie eine weitere Person war, die wusste, wie es sich anfühlte, sich inmitten eines wahr gewordenen Albtraums zu befinden. Ich hätte einfach dasitzen und sie Tag und Nacht anstarren können – diese schlichte, blasse Dreißigjährige, die das überlebt hatte, die diese Seiten eines Horrorromans wieder verlassen hatte, die lange genug weitergemacht hatte, um wieder ein gewöhnlicher Mensch sein zu können.