Ein Galgen für meinen Vater - Martin Bettinger - E-Book

Ein Galgen für meinen Vater E-Book

Martin Bettinger

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Beschreibung

Zahlreiche Berge haben sie zusammen bestiegen, nun muss der Sohn den Vater auf seiner letzten Reise begleiten, dem Weg hinaus aus der Welt. So unternehmungslustig und froh der Vater durchs Leben ging, so schwer fällt es ihm, Abschied zu nehmen. Als der Tod immer engere Kreise zieht, bündelt er alle verbliebene Kraft, um ihm zu entkommen. Der Sohn soll bei der letzten Flucht helfen."Eine Zumutung" nennt Martin Bettinger seine Geschichte und erzählt von der alten Unerhörtheit: Dass man sterben muss und es nicht will, dass man leben will und es nicht kann, dass man den Vater lieben und ihm doch irgendwann den Tod wünschen kann. Ein Buch von berührender Tiefe und überraschender Komik. So originell das Leben des Vaters verlief, so einfallsreich stellt er sich dem Tod gegenüber. Eine Hymne an das Leben – vor der Aussicht, es zu verlieren.

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Inhalt
Cover
Martin Bettinger - Ein Galgen für meinen Vater
Motto
Wenn es die Arbeit nicht gäbe …
Der Autor
Impressum

In der Kindheit war ich den Vögeln am nächsten, schloss mich rennend ihren Schatten an … Dann stellte ich mir mein Begräbnis vor: Wie die Mehlschwalbe verschwinde ich oben im Lehm, nicht unten.Marian Nakitsch

Wenn es die Arbeit nicht gäbe, müsste man sie erfinden, pflegte Vater zu sagen. Er war Ingenieur. Er ist immer noch Ingenieur. Nur hat er vor einigen Jahren den Stift an den Nagel gehängt. Fauler Hund, sage ich manchmal im Spaß, kaum vierundachtzig und macht den Laden schon dicht. Er ist um Antworten nicht verlegen, doch diese schenkt er sich. Ich kenne sie. Was die Arbeit angeht, holt ihr mich sowieso nicht mehr ein. Außerdem hätte er mit dem Berufsleben nicht aufgehört, wenn sein Sohn nicht aufgehört hätte. Mein älterer Bruder ist auch Ingenieur, nur hat er zu seinem Fünfzigsten seinen Vorsatz verwirklicht und sein Planungsbüro verkauft. Und Vaters jüngster Sohn, das bin ich, hat mit einer Tätigkeit, die Vater mit Arbeit gleichsetzen würde, gar nicht erst angefangen. Bergführer ist kein Beruf. Nicht wenn man eine Tagesreise von den Bergen entfernt wohnt und seinen Unterhalt in Sport- und Kletterhallen verdient.

Mein Name ist Tom, mein Bruder heißt David. Als Ingenieur hat er es zu einem Doktortitel gebracht. »Doc Holiday« nennen ihn die Leute im Dorf. Dabei stimmt es nicht, dass er nur noch Ferien macht. Wenn er nicht mit seinem Camper unterwegs ist, baut er sich ein Haus in Neuseeland. Jeden Winter geht der Bau ein Stück weiter, und was er auf dem neuseeländischen Markt nicht findet, schickt er von Deutschland aus mit dem Schiff. Heute ist er in die Stadt gefahren, um einen Ofen zur Verladung nach Hamburg zu schicken. Ich bin auch mit einer Besorgung unterwegs, doch meine Fahrt geht nur zwei Ortschaften weiter. Und was ich dort abhole, passt in den Kofferraum meines Autos: einen Galgen für Vater.

Wäre Vater im Krankenhaus gestorben, bräuchten wir keinen Galgen. Doch er hat die Intensivstation überlebt. Dabei wollte er sterben. »Jedes Mal«, sagte er, »wenn mein Atem aussetzte, dachte ich, jetzt ist es gut. Atme nicht mehr, hör einfach auf! Doch es ging nicht. Anscheinend kann man nicht sterben, wenn man es will.«

»Sanitätshaus« steht über dem Eingang. Ich war schon einmal hier, um mit Mutter einen Rollator für ihre Schwester zu holen.

»Oh je«, sagte sie, als wir wieder nach Hause kamen. »Was da alles rumsteht! Was die alles haben. Wenn man das nur nicht mal braucht.«

»Uninteressant«, hatte Vater gesagt. »Koch Kaffee.«

Sanitätshäuser gehörten nicht zu den Orten, die Vater interessierten. Das Wort gehörte nicht einmal zu seinem Vokabular. So wenig wie »Altenbetreuung« oder »Pflegebedarf«. Friedhof gehörte zu seinem Vokabular, doch er machte einen Bogen drumherum. Und wenn sich seine Anwesenheit bei einer Beerdigung nicht vermeiden ließ, schaute er sich die Hinterbliebenen an. Was er bei jungen Witwen dachte, behielt er für sich. Und was er bei älteren Witwen dachte, sagte er regelmäßig auf der Heimfahrt: »Was macht die jetzt mit dem Auto? Verkauft sie es? Fährt sie es selbst? Hat die ’nen Führerschein?«

Vater kümmerte sich gerne um die praktischen Belange des Lebens. Und Autos waren nicht nur praktisch, sie gehörten zu den erfreulichsten Errungenschaften des Alltags. Außerdem gehörten sie zu den Eckdaten seiner Biografie.

Sein erster Wagen war ein VW in den fünfziger Jahren. Er brachte Vater und Mutter über den Gotthard. Der zweite Wagen war wieder ein Käfer, und er brachte die Eltern hinauf auf den Großen Sankt Bernhard. Allerdings gerieten sie bei der Abfahrt in eine Kuhherde, und als Vater sich hupend und blinkend zwischen die Tiere schob, setzte sich eine Kuh auf die Haube und zerdrückte sie wie das Blech einer Keksdose.

Ein Peugeot 404 brachte meinen Bruder. Und einen neuen Beifahrersitz. »Eure Mutter! Ich sag noch, mach langsam. Aber zehn Meter vorm Krankenhaus geht ihr das Fruchtwasser ab. Das Polster war hin.«

Dann kam ein Volvo, und dann begann die Reihe der Marke Mercedes. »Grande classe«, pflegte Vater zu sagen. Ob er je gedacht hätte, dass sein letztes Fahrzeug ein Rollstuhl sein würde? Und sein letztes Möbel ein Galgen?

Vaters Weg vom jugendlichen Kriegsheimkehrer über den technischen Zeichner zum Ingenieur im Planungsbüro dauerte ein halbes Jahrhundert. Sein Absturz zum Pflegefall geschah in einer einzigen Nacht. Es begann damit, dass er seinen Fuß nicht mehr spürte. Mittags hatte er noch den Garten geharkt, abends saß er vorm Fernseher und verspürte heftige Schmerzen im Bein. Er nahm Tabletten ein und ging schlafen. Doch am nächsten Morgen stürzte er im Bad und zerbrach den Toilettensitz. Dazu kehrten die Schmerzen zurück. Der Fuß war inzwischen kalt und geschwollen, eine Thrombose stellte man im Krankenhaus fest. Ein Gerinnsel hatte die Blutbahn verstopft, und der Fuß begann abzusterben.

Vater blieb im Krankenhaus, wurde operiert und mittels eines Stents gelang es, die verstopfte Blutbahn wieder zu öffnen. Als Vater aus der Narkose erwachte, war er verwirrt und benommen, doch der Fuß war wieder durchblutet, und von Stunde zu Stunde wurde er wärmer.

»Es wird!«, sagte Vater. »Und ich dachte schon, den müssen wir amputieren.«

In seine Augen kehrte das alte Leuchten zurück. Er machte bereits wieder Pläne. »Vielleicht gehe ich nachher besser als vorher. Vielleicht kann ich sogar wieder wandern.«

Auch sein Humor kam zurück. »Schwester«, rief er. »Sagen Sie ab!«

»Bitte?«

»Na, im Himmel wird doch Fußball gespielt. Die hatten mich für Sonntag schon aufgestellt. Sagen Sie, die haben meinen Vertrag hier verlängert!«

Und zu uns sagte er: »Bringt mir morgen den Stern mit. Und was anderes zu trinken, nicht diesen Tee.«

Am nächsten Morgen brachten wir ihm Orangensaft und den Stern, doch aus dem stationären Patienten war über Nacht ein Intensivfall geworden. Kanülen und Schläuche hingen aus seinem Körper, im Gesicht trug er eine Plastikmaske zum Atmen, darüber starrten seine Augen blicklos zur Decke. An Füßen und Handgelenken war Vater gefesselt, unter den Bändern hatten sich Blutergüsse gebildet.

Ein Durchgangssyndrom, erklärte der Arzt. In der Nacht war Vater aggressiv und ohne Orientierung erwacht. Er hatte versucht, sich die Infusionen aus den Armen zu reißen, er hatte die Pfleger beschimpft, und immer wieder hatte er versucht, das Bett zu verlassen. Man habe ihn fixieren und mit starken Medikamenten ruhigstellen müssen. Schlimmer als diese Panikattacke sei jedoch der Zustand von Lunge und Herz. Das Herz sei zu schwach, die Lunge zu entwässern.

In der folgenden Nacht setzte Vaters Atem aus, doch mit einem Beatmungsbeutel brachten sie seine Lungen wieder in Gang. Auch in der nächsten Nacht mussten sie den Beutel ansetzen, dann wurden seine Nächte stabiler. Manchmal war Vater vollkommen klar, fragte nach Mutter, nach seinem Enkelkind, dann war er wieder verwirrt, fragte nach seinem Bruder, der zehn Jahre tot war, sprach von »Räubern«, die seine Uhr und den Rasierer gestohlen hätten.

Schließlich kam ich auf die Station, und Vater war nicht mehr da. Man habe ihn von Intensiv auf die Innere verlegt.

»Dann geht es ihm besser?«

Der Arzt hielt sich mit Prognosen zurück. Vater sei ein schwerkranker Mann. Sein Herz erbringe noch eine Leistung von dreißig Prozent. Sie hätten ihn im Rahmen der Mög­lichkeiten stabilisiert, alles Weitere müsse man abwarten.

Was meinte er mit der Auskunft? Hatten sie ihn verlegt, weil er die Intensivmedizin nicht mehr brauchte, oder hatten sie ihn verlegt, weil die Medizin nichts mehr nutzte? Auf der Inneren fand ich Vater gar nicht. Man teilte mir mit, er liege auf einer Station, die sich Komfortstation nannte. Das habe mit seinem Anspruch auf Einzelzimmer zu tun. Das mochte zutreffen, doch ich konnte mir für seinen Komfort auch andere Gründe vorstellen.

Ich lief zu dieser Abteilung, und meine Befürchtungen wuchsen. In diesem Stock waren nur wenige Zimmer belegt. Das Licht war gedämpft, und zwei Schwestern hockten in ihrer Glasbox, als bestehe ihre Hauptaufgabe darin, zu warten. Ich fragte nach Vater, und die Frau, die mich zu ihm führte, sprach so behutsam und leise, als trüge ich den Trauerflor schon am Arm.

Vater lag in einem frischen Schlafanzug in einem freundlichen Zimmer. Im gedämpften Licht hatte sein Gesicht eine seltsame Farbe. Wie gebräunt sah es aus. Doch es war nicht das Sommerbraun, das ich an ihm kannte, es war nicht das Braun, das er aus den Bergen mitbrachte, es war ein Braun wie aus Ton, wie aus Lehm, als trüge seine Haut schon die Farbe aufgeworfener Erde.

Sie hatten ihn rasiert und gekämmt, und den Fernseher unter der Decke hatten sie eingeschaltet. Jetzt lief ein Fußballspiel, ohne Ton.

»Vorhin hat er die Arme gehoben und Tor gerufen«, sagte die Schwester.

Ich nahm mir einen Stuhl und rückte ans Bett. Die Schwester ließ uns allein.

»Wie geht’s?«, fragte ich.

Ein winziger Blick unter schwer gewordenen Lidern, dann schaute er wieder ins Leere.

»Hast du Hunger?«

Er schüttelte den Kopf.

»Willst du was trinken?«

Er reagierte nicht.

Ich nahm eine mit Tee gefüllte Schnabeltasse vom Nachtschrank und führte sie an seine Lippen. Er trank ein Schlückchen, dann schloss er den Mund. Ab und zu schaute er zum Fernseher hoch, dann wieder nur vor sich hin. Einmal, als der Ball zu einem Freistoß zurechtgelegt wurde, nahm er meine Hand und hielt sie. Jetzt schauten wir uns beide den Freistoß an. Er prallte von der Mauer zurück, und der Nachschuss verfehlte das Tor. Vaters Blick blieb jetzt auf dem Bildschirm.

Sollte sein letztes Bild dieser Erde ein Fußballspiel sein? Warum nicht, dachte ich. Vater hatte Fußballspiele gemocht. Als Zuschauer vor dem Fernseher, als junger Mann auf dem Platz, als Großvater mit seiner Enkelin.

»Mann«, hatte er letzten Sommer gesagt, »wenn ich nur noch einmal wie früher gegen einen Ball treten könnte!«

Und soweit ich zurückdenken konnte, war eine seiner liebsten Vorstellungen, eine Tarnkappe zu besitzen. Damit würde er sich im Strafraum rumtreiben. »Die würden verrückt werden. Die könnten das gar nicht kapieren. Aber der Ball wäre drin, oder nicht drin, ganz wie ich will.«

Noch vor Ende des Spiels schlief Vater ein. Ich schaltete den Fernseher aus und schaute ihn an. Seine Hände, die stets geschickter waren als meine, seine Schultern, noch immer knochig und stark, sein schmaler Mund, der schweigen konnte, zuverlässig wie eine Gerade, dann wieder übermütig Scherz auf Scherz folgen ließ. Vater, der Fels, und Vater, der Clown. Und jetzt? Vater reglos auf einem fahrbaren Bett.

An seinem Hals sah ich das Pochen des Herzens. Als schlage jemand von innen gegen die Haut. Mal heftig und schnell, dann wieder langsam und schwach. Und ab und zu verebbte das Pochen. Kein Puls mehr, auch die Atmung blieb stehen, doch nach einer Pause, in der ich selbst kaum zu atmen wagte, setzte der Daumen unter seiner Haut wieder ein. Kam so der Tod? Als Daumen an Vaters Hals? Als Däumling, der noch ein wenig trommelte, bevor ihm langweilig wurde?

Ab und zu hob er stöhnend den Arm. Als wolle er fechten oder eine Bedrohung abwehren. Doch schließlich begriff ich, die Geste hatte eine andere Bedeutung. Gedreht wollte er werden. Es schmerzte ihn, zu lange auf der gleichen Stelle zu liegen. Also drehte ich ihn. Und wartete. Gegen elf kam ein Pfleger ins Zimmer.

»Sie bleiben über Nacht? Ich kann Ihnen eine Decke bringen und einen Liegestuhl.«

»Danke, das brauche ich nicht. Aber zeigen Sie mir, wie man ihn dreht.«

Der Pfleger zeigte es mir, und mit den richtigen Hebeln und Vaters Eigengewicht war es weniger schwer, seinen Körper zu wenden. Etwa alle zwanzig Minuten veränderte ich seine Position; um ihm das Liegen zu erleichtern, und vielleicht auch das Sterben. Ich wusste nicht mehr, ob es spät oder früh war, ich wusste auch nicht, ob ich traurig war oder froh, ich spürte nur, hier neben Vater zu sitzen und ihn ab und zu auf die andere Seite zu drehen, war das Sinnvollste, was ich seit Jahren oder überhaupt je getan hatte.

Mir kam es jetzt vor, als sei der Tod schon eine Weile im Zimmer, als sei er ganz nahe zu Vater gerückt, als trenne die beiden nur eine winzige Spanne. Und nur deshalb holte Vater noch Atem, nur deshalb hob er hin und wieder den Arm, um einen letzten, allerletzten Anlauf zu nehmen, hinüber zu ihm.

Vater schaffte es nicht. Er kam nicht an beim Tod, wie er früher nicht ankam beim Schlaf. Zeitlebens war er ein schlechter Schläfer gewesen, zeitlebens blieb irgendetwas in ihm auf dem Posten, wie er es nannte. Der junge Soldat, der Vater, der seine Söhne in die Berge mitnahm, der Ingenieur in seinen Projekten. Und so blieb auch in dieser Nacht ein letzter unmöglicher Rest von ihm auf dem Posten.

Ein anderer gab auf. Der Däumling zog sich zurück. Denn als draußen über den Giebeln der Häuser die Dämmerung aufstieg, hatte der Tod das Krankenzimmer verlassen. Auch er schien einen neuen Anlauf zu brauchen, denn im Hellen konnte er einen wie Vater nicht holen. Nicht Vater, den Schaffer und Macher, am Tag.

In der folgenden Nacht löste mich David an Vaters Krankenbett ab. Dann löste ich ihn wieder ab, und als er am nächsten Morgen ins Krankenhaus kam, waren wir einer Meinung.

»Wir holen Vater nach Haus.«

»Wir hätten ihn gar nicht hinbringen sollen«, sagte David, als wir dem Krankenwagen folgend nach Hause fuhren.

»Was hättest du sonst tun wollen?«

»Ich weiß nicht, aber heute Morgen kam es mir vor, als hätte ihn der alte Witz eingeholt: Operation gelungen, Patient tot.«

»Du übertreibst. Vorhin hat er schon wieder nach Mutter gefragt.«

David schüttelte den Kopf. »Die Fassade steht noch, aber das Haus ist ausgebombt. Wie es aussieht, haben sie sein Herz gerettet und sein Gehirn geopfert. Ich möchte nicht wissen, wie viele Hirnzellen in diesen Tagen abgestorben sind.«