Ein ganzes Leben lang - Rosie Walsh - E-Book
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Ein ganzes Leben lang E-Book

Rosie Walsh

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Beschreibung

Emma und Leo sind seit sieben Jahren glücklich verheiratet. Leo schreibt Nachrufe für eine große Tageszeitung, Emma ist eine brillante Meeresbiologin und ein ehemaliger Fernsehstar. Gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter Ruby genießen sie das Familienidyll in Hampstead, London. Nur eines trübt das Glück – Emma leidet an einer schweren Krankheit. Und so erhält Leo den Auftrag, einen Nachruf auf seine geliebte Frau zu verfassen, falls es zum Schlimmsten kommt. Doch bei den Recherchen über ihr Leben stößt er auf eine schockierende Wahrheit: Alles, was Emma ihm über sich erzählt hat, ist eine Lüge …

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Seitenzahl: 516

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Buch

Emma und Leo sind seit zehn Jahren zusammen und seit sieben Jahren glücklich verheiratet. Leo schreibt Nachrufe für eine große Londoner Tageszeitung, Emma ist eine brillante Meeresbiologin und ein ehemaliger Fernsehstar. Gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter Ruby genießen sie das Familienidyll in ihrem kleinen, chaotischen Haus in Hampstead, das Emma von ihrer Großmutter geerbt hat. Nur eines trübt das Glück – Emma leidet an einer schweren Krankheit, auch wenn die Therapie anzuschlagen scheint. Trotzdem erhält Leo den Auftrag, einen Nachruf auf seine geliebte Frau zu verfassen, falls es zum Schlimmsten kommt. Eine schreckliche Aufgabe, doch niemand kennt Emma so gut wie Leo – und niemandem möchte er es überlassen, seine Emma für die Nachwelt festzuhalten. Doch bei den nächtlichen Recherchen über ihr Leben stößt er auf immer mehr Ungereimtheiten und schließlich auf eine schockierende Wahrheit: Alles, was Emma ihm über sich erzählt hat, ist eine Lüge …

Weitere Informationen zu Rosie Walsh sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Rosie Walsh

________________

Ein ganzes Leben lang

Roman

Aus dem Englischenvon Stefanie Retterbush

Die englische Originalausgabe erscheint 2022 unter dem Titel »The Love of my Life« bei Mantle, an imprint of Pan Macmillan, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © der Originalausgabe by Rosie Walsh

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagmotiv: © Gabor Lajos/shutterstock (Couple)

© Serafima82/shutterstock (Laub/Blätter)

Redaktion: Dr. Ann-Catherine Geuder

MR · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-22259-8V003

www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz:

ERSTER Teil LEO & EMMA

Prolog

Wir spazierten gen Norden, getrennt vom weiten Sandstrand durch Seetangstreifen und Gezeitentümpel, die sich im Wind kräuselten. Schaumkronen tanzten auf dem Meer, und die wenigen Wolken warfen im Vorbeiziehen spiralige Schatten auf den Sand.

Es fühlte sich gut an, zusammen dort zu sein, an diesem Ort zwischen den Welten, wo das Land sich ins Meer neigte. Das waren nicht unsere Gefilde. Sie gehörten den Seesternen und Napfschnecken, den Anemonen und Einsiedlerkrebsen. Niemand nahm Notiz von unserer Zweisamkeit; niemand scherte sich darum.

Es regnete ein Weilchen, und wir hockten uns in eine Hütte inmitten der Dünen und futterten Sandwiches. In den Ecken lagen vertrocknete Schafköttelhäufchen, und der Regen trommelte auf das Dach wie eine Maschinengewehrsalve. Ein Plätzchen ganz für uns allein.

Wir gingen es ganz langsam an, während Wetterfronten weiter unten über den Strand jagten. In meinem Herzen wuchs die Hoffnung.

Nach unserem kleinen Picknick-Lunch entdeckten wir das Krabbenskelett am anderen Ende des Strands. Mittelgroß, tot, allein im Schwemmsaum zwischen Treibholz und eingetrocknetem Spiraltang. Am Hinterleib klebten Scheidenmuschelfragmente, ein ausgeblichenes, verzwirbeltes Stück Schleppnetz hatte sich an einem leblosen Fühler verheddert, und sie hatte eigenartige signalrote Punkte an Rumpf und Scheren.

Erschöpft setzte ich mich, um sie mir genauer anzusehen. Vier ausgeprägte Grate zogen sich über den Panzer. Die Scheren waren mit Borsten überzogen.

Ich schaute in blicklose Augen und versuchte mir auszumalen, woher sie wohl gekommen sein mochte. Ich hatte gelesen, Krabben trieben manchmal über gewaltige Strecken auf Flößen aus Plastikmüll oder Seetangbüscheln, manchmal sogar an einen seepockigen Bootsrumpf geklammert. Was wusste ich schon, vielleicht war dieses eigenartige Geschöpf aus Polynesien hierhergereist und hatte Tausende Meilen auf hoher See überlebt, nur um dann an einem Strand in Northumberland zu verenden.

Ich sollte lieber ein paar Fotos schießen. Meine Tutoren würden sicher wissen, was das war.

Aber als ich in meiner Tasche nach der Kamera kramte, wurde mir mit einem Mal ganz schummerig. Schwindel überkam mich wie plötzlich aufziehender Küstennebel, und ich musste über meine Tasche gebeugt reglos dasitzen und abwarten, bis er wieder verging.

»Niedriger Blutdruck«, erklärte ich, als ich mich schließlich wieder aufrichten konnte. »Hatte ich schon als Kind.«

Wir wandten uns wieder der Krabbe zu. Ich ging auf Hände und Knie, um sie von allen Seiten zu fotografieren.

Gerade als ich die Kamera verstaute, setzte der Schwindel wieder ein, aber diesmal kam und ging er in Wellen, wie das Meer. Ein eigenartiger Schmerz breitete sich in meinem Rücken aus, zusammen mit einem dunkleren, mächtigeren Gefühl, das mir vertraut war, das ich aber nicht zuordnen konnte. Wieder ging ich in die Knie, klemmte meine Hände zwischen die Beine, und der Schwindel übermannte mich.

Ich zählte langsam bis zehn, atmete tief ein und aus. Besorgte Worte, in denen Angst mitschwang, schwirrten mir um den Kopf. Der Wind drehte sich.

Als ich endlich die Augen wieder aufmachte, hatte ich Blut an der Hand.

Ich schaute genauer hin. Tatsächlich, es war Blut, ganz ohne Frage. Frisch, feucht, über meine rechte Handfläche verschmiert.

»Alles bestens«, hörte ich mich sagen. »Kein Grund zur Beunruhigung.«

Panik stieg in mir auf, unaufhaltsam wie die Flut.

Erstes Kapitel

Leo

Beim Aufwachen sind ihre Wimpern oft so feucht, als sei sie im Schlaf in einem Meer aus traurigen Träumen geschwommen. »Muss so ein Augendings sein«, sagt sie dann immer. »Albträume habe ich jedenfalls nie.« Dann gähnt sie wie ein Nilpferd, wischt sich den Schlaf aus den Augen und schlüpft rasch aus dem Bett, um sich zu vergewissern, dass Ruby noch lebt und atmet. Eine Angewohnheit, die sie einfach nicht abschütteln kann, obwohl Ruby inzwischen beinahe drei ist.

»Leo!«, sagt sie, wenn sie wieder zu mir ins Bett schlüpft. »Aufwachen! Küss mich!«

Es vergeht ein Moment, bis ich aus den trüben Untiefen heraufsteige ins Licht des anbrechenden Tages. Von Osten zieht die Morgendämmerung mit bernsteingoldenen Schatten auf, und wir kuscheln uns ganz eng aneinander, während Emma plappert wie ein Wasserfall – nur gelegentlich unterbricht sie sich mitten im Satz, um mich unvermittelt zu küssen. Um Viertel vor sieben schauen wir auf Wikideaths nach, ob über Nacht jemand gestorben ist, und um sieben lässt sie einen fahren und schiebt das Geknatter auf ein zufällig vorbeifahrendes Moped.

Ich weiß nicht mehr, wie lange wir schon zusammen waren, als sie damit angefangen hat. Vermutlich nicht sehr lange. Aber sie muss gewusst haben, dass ich da längst mit im Boot war und es genauso unwahrscheinlich gewesen wäre, dass ich über die Reling ins eiskalte Wasser springe und wieder an Land zurückschwimme, wie mir Flügel wachsen zu lassen und zurückzufliegen.

Wenn unsere Tochter bis dahin nicht zu uns ins Bett gekrabbelt ist, krabbeln wir in ihrs. Die Luft im Kinderzimmer ist süßlich und heiß, und unsere frühmorgendlichen Gespräche, die sich meist um Ente drehen, gehören zu den glücklichsten Momenten, die mein Herz kennt. Ente, die sie im Schlaf immer ganz fest an sich drückt, erlebt nachts die wildesten Abenteuer.

Meistens ziehe ich Ruby dann an, während Emma schon mal nach unten geht und »Frühstück macht«, wobei sie sich allerdings mit schönster Regelmäßigkeit von den Meeresdaten ablenken lässt, die sich über Nacht in ihrem Labor angesammelt haben, weshalb Ruby und ich uns dann meistens ums Essen kümmern. Meine Frau kam gut zwanzig Minuten zu spät zu ihrer eigenen Hochzeit, weil sie unterwegs unbedingt anhalten musste, um im Brautkleid die Gezeitenzonen am Restronguet Creek zu fotografieren. Und niemanden, außer den Standesbeamten vielleicht, hat das gewundert.

Emma ist Gezeitenforscherin, das heißt, sie erforscht Orte und Kreaturen, die bei Flut unter Wasser liegen und bei Ebbe trockenfallen. Der wundersamste und aufregendste Lebensraum überhaupt auf unserem Planeten, findet sie. Schon als kleines Mädchen war sie fasziniert von Gezeitentümpeln. Es liegt ihr einfach im Blut. Ihr ­Spezialgebiet sind Krabben, aber ich glaube, ihr ist eigentlich ­jedes Krustentier recht. Derzeit hält sie im Institut vor allem kleine Krabbler mit dem klingenden Namen Hemigrapsus takanoi in riesigen Aquarien. Ich weiß, dass das eine invasive Art ist und dass Emma sich vor allem für gewisse morphologische Eigenheiten interessiert, die sie schon seit Jahren zuzuordnen versucht, aber das ist eigentlich auch schon alles, was ich von ihrer Arbeit verstehe. Der Durchschnittsmensch kennt nicht einmal ein Drittel der Wörter, die Biologen so verwenden. Bei einer Party versehentlich in einen Trupp von Biologen zu geraten ist der reinste Albtraum.

Als Ruby und ich an diesem Morgen in die Küche kommen, singt sie gerade John Keats etwas vor. Gezackte Sonnenstrahlen fallen auf die Arbeitsflächen, und unsere aufgeweichten Frühstücksflocken sind dabei, in ihren Schälchen zu Beton auszuhärten. Ihr Laptop, darauf eine dicht beschriebene Seite voller schwindelerregender Wörter und Schnörkel, spielt gerade einen Track mit dem klingenden Titel »Killermuffin«. Als wir John Keats aus dem Tierheim geholt haben, wurde uns erklärt, leiser Jungle wirke beruhigend auf ihn, und unversehens ist das zum Soundtrack unseres Lebens geworden.

Ruby auf dem Arm bleibe ich in der Tür stehen und sehe zu, wie meine Frau den Hund schief ansingt. Trotz einer beachtlichen Ahnenreihe von Musikern in ihrem Stammbaum kann Emma nicht mal die Melodie von »Happy Birthday« singen, was sie allerdings nicht davon abhält, es trotzdem zu tun, laut und schräg. Eines der vielen Dinge, die ich an meiner Frau so liebe.

Sie sieht uns beide in der Tür und tanzt zu uns herüber, während sie haarsträubend falsch weiterträllert. »Meine Lieblingsmenschen«, flötet sie, gibt uns beiden einen Kuss und pflückt Ruby aus meinen Armen. Dann wirbelt sie mit ihr davon, und das schiefe Gesinge wird immer lauter.

Ruby weiß, dass Mummy krank war. Sie hat mitbekommen, wie ihr die Haare ausfielen, wegen der Medizin, die sie im Krankenhaus bekommen hat, aber sie denkt, dass Emma jetzt wieder ganz die Alte ist. Dabei wissen wir selbst nicht so genau, wie es um sie steht. Gestern war ihr Abschluss-PET-Scan, und nächste Woche haben wir einen Termin zur Befundbesprechung. Wir hoffen. Wir bangen. Wir schlafen schlecht.

Meine Zeitung liegt auf dem Tisch, aufgeschlagen auf der Seite mit den Nachrufen. Nach einem kurzen Tänzchen mit ihrer Mutter, bei dem Ente schwungvoll über ihren Köpfen herumgeschleudert wurde, schwänzelt Ruby davon, weil sie Wichtigeres zu tun hat.

»Komm zurück!«, ruft Emma. »Ich will kuscheln!«

»Zu viel zu tun«, sagt Ruby bedauernd.

Dann flüstert sie der Pflanze, um die sie sich kümmern soll – ihr Kindergartenprojekt –, ein lautes »Hey Ho« zu. »Ich gebe dir jetzt was zu trinken.«

»Was Neues?«, frage ich und nicke Richtung Computer. Emma hat vor ein paar Jahren mal eine Dokuserie der BBC über die heimische Fauna moderiert und bekommt seitdem immer wieder Nachrichten von irgendwelchen komischen Käuzen, obwohl sie seitdem nicht mehr im Fernsehen zu sehen war. Aber die Serie ist erst kürzlich wiederholt worden, und infolgedessen sind auch die Nachrichten wieder mehr geworden. Sonst lachen wir eigentlich darüber, aber gestern Abend hat sie mir gestanden, dass in letzter Zeit einige dabei waren, die ihr Angst gemacht haben.

»Zwei Stück. Eine ganz brav, eine obszön. Aber ich hab den Typen schon blockiert.«

Ich sehe ihr zu, wie sie unsere Wassergläser füllt, aber sie scheint unbesorgt. Ich glaube, man kann mit Fug und Recht behaupten, dass diese Nachrichten mir mehr zu schaffen machen als ihr. Immer wieder habe ich sie gedrängt, ihre öffentliche Facebook-Seite zu löschen, aber sie weigert sich standhaft. Die Leute posten wohl immer noch ihre Wildtierbeobachtungen, und sie möchte die Seite nicht »bloß wegen ein paar einsamer Männer« aus dem Netz nehmen.

Ich hoffe inständig, dass sie wirklich bloß einsam sind.

»Dein Text über Kenneth Delwych gefällt mir«, sagt Emma zu mir, ein Auge auf Ruby, die gerade mit der Gießkanne in der Hand an der Spüle hochkraxelt.

Ich gehe rüber zu John Keats und wickele mir eins seiner seidenweichen Ohren um den Finger, warte auf das Aber. Der Hund riecht nach Keksen und verbranntem Fell, Folge eines kleinen Zwischenfalls mit dem Bügeleisen.

»Aber?«, helfe ich ihr auf die Sprünge.

Sie verstummt, wie auf frischer Tat ertappt. »Kein Aber.«

»Ach, Emma. Hör schon auf.«

Nach kurzem innerem Kampf muss sie lachen. »Also gut. Ich finde ihn gut, aber der Artikel über die Geistliche ist um Klassen besser. Hey, Ruby, genug gegossen.«

John Keats seufzt tief, und ich beuge mich vor, um einen Blick auf meine Artikel zu werfen. Kenneth Delwych, ein Altersgenosse, berühmt-berüchtigt für die barocken Saufgelage, die er in seinem Weingut in Sussex zu veranstalten pflegte, teilt sich die Nachrufseite mit einem Bomberflottennavigator aus dem Zweiten Weltkrieg und einer Geistlichen, die letzte Woche während einer Trauung einem Herzinfarkt erlag. »Am besten bist du, wenn du tod­ernst bleibst«, stellt Emma fest und steckt zwei Brot­schei­ben in den Toaster. »Dieser Schauspieler von letzter Woche – der Schotte, wie hieß er noch? Ruby, könntest du bitte das arme Pflänzchen nicht ertränken …«

»David Baillie?«

»David Baillie. Ja. Besser geht’s nicht.«

Ich lese mir den Nachruf auf Kenneth Delwych noch mal durch, während Emma die unvermeid­liche Überschwemmung rund um Rubys Pflanze aufwischt. Sie hat natürlich recht – die Geistliche, deren Nachruf merklich kürzer ausgefallen ist, liest sich deutlich besser. Emma hat immer recht. Leider. Mein Ressortleiter, der, wie ich vermute, heimlich in meine Frau verschossen ist, scherzt oft, sollte sie die Meeresforschung irgendwann an den Nagel hängen, würde er mich vor die Tür setzen und stattdessen sie einstellen. Was ich eine ziemliche Unverschämtheit finde, denn wenn er nicht zufällig ein paar ihrer wissenschaftlichen Aufsätze gelesen hat, stützt sich seine Meinung zur Gänze auf einen einzigen veröffentlichten Artikel von ihr, den sie irgendwann mal für die Huffington Post geschrieben hat.

Emma ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Marine Biological Association in Plymouth, wo sie zwei Tage die Woche arbeitet. Die restliche Zeit verbringt sie bei uns in London, wo sie an der UCL Mündungsgewässerschutz lehrt. Und sie ist tatsächlich eine begnadete Schreiberin – ihre Intuition ist viel verlässlicher als meine. Außerdem liebt sie es, sich durch Wikideaths zu scrollen. Das hat allerdings mehr mit ihrem Hang zu guten Geschichten zu tun, als dass sie mir meinen Job abspenstig machen wollte. Als so ein neunmalkluger Dreikäsehoch mir damals die Stelle als stellvertretender Ressortleiter vor der Nase wegschnappen wollte, schlug Emma vor, doch einfach Kugelfischgift zu besorgen, um ihn beiseitezuschaffen, und ich glaube nicht, dass es ein Scherz war. Jedenfalls bin ich mir sicher, dass sie nicht vorhat, sich meinen Job unter den Nagel zu reißen.

Emma lässt Ruby und John Keats in den Garten, wo die Sonne sich durch die Lücken im Astwerk der Nachbarsplatane stiehlt und unsere winzige Rasenfläche mit goldenen Flecken sprenkelt. Durch die Tür wehen die Düfte der frühsommerlichen Stadt herein: noch sattgrün glänzendes Gras, Geißblatt, sich langsam erwärmender Asphalt.

Ich versuche, unsere Frühstücksflocken zu rehydrieren, während der Hund draußen um unseren Gartenteich jagt und aufgeregt bellt. Darin wimmelt es derzeit von klitzekleinen Fröschchen, was er allem Anschein nach als unerträgliche Zumutung empfindet. »John Keats, still jetzt!«, ruft Emma durch die offene Tür. Der Hund überhört sie. »Die armen Nachbarn.«

»JOHN!«, brüllt Ruby. »WIRHABENNACHBARN!«

»Nicht so laut, Ruby …«

Ich krame Löffel aus der Schublade und trage unser Frühstück raus auf die Terrasse.

»Entschuldige«, sagt Emma und hält mir die Tür auf. »Muss echt nervig sein, dir ständig ungefragt meine Meinung zu deiner Arbeit anhören zu müssen.«

»Ist es.« Wir setzen uns draußen an den Gartentisch, an dem noch die Tautropfen hängen. »Aber du bist meistens sehr taktvoll. Dumm ist nur, dass du fast immer recht hast.«

Sie lächelt. »Ich finde, du bist ein großartiger Autor, Leo. Ich lese deine Nachrufe, noch ehe ich morgens meine E-Mails abrufe. Und ich bin jedes Mal so stolz auf dich.«

Mit hochgezogener Augenbraue schaue ich sie an. »Hmm.« Ich lasse Ruby nicht aus den Augen, die sich ein kleines bisschen zu dicht am Teich herumdrückt.

»Wirklich wahr! Deine Texte machen dich nur noch sexyer.«

»Ach, Emma, jetzt reicht es aber.«

Emma schaufelt sich einen Löffel Frühstücksflocken in den Mund. »Ich meine das todernst. Du bist der beste Autor in eurer Redaktion. Punkt.«

Peinlich, aber ich kann mir das breite Grinsen einfach nicht verkneifen. »Danke«, murmele ich schließlich, weil ich weiß, dass sie das wirklich so meint. »Aber nervig bist du trotzdem.«

Sie seufzt. »Ich weiß.«

»Und das aus einer ganzen Reihe von Gründen«, setze ich hinterher, und sie muss lachen. »Du hast einfach zu allem eine Meinung.«

Emma greift über den Tisch und drückt meinen Daumen und sagt mir, dass ich ihr Lieblingsmensch bin, und ich muss einfach mitlachen. So ist das bei uns. Das sind wir. Seit sieben Jahren sind wir verheiratet, seit beinahe zehn Jahren zusammen, und ich kenne sie in- und auswendig.

Ich glaube, es war Kennedy, der gesagt hat, wir alle sind ans Meer gebunden – und wenn wir zurückkehren, zum Sport oder Vergnügen oder was auch immer, kehren wir zurück an den Ort, von dem wir einst gekommen sind. So geht es mir mit uns. Meiner Frau Emma nahe zu sein ist, wie an den Ursprung allen Seins zurückzukehren.

Weshalb ich, als ich in den Tagen nach diesem Morgen – diesem unschuldigen, ganz gewöhnlichen Morgen mit Hunden und Fröschen und Kaffee und toten Geistlichen – einsehen muss, dass ich rein gar nichts weiß über diese Frau, beinahe daran kaputtgehen werde.

Zweites Kapitel

Eine Woche später

Emma

»Alles wird gut«, wiederhole ich in die Dunkelheit unseres Schlafzimmers hinein. Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren. Die Stunden sind verschmolzen, ineinandergelaufen und -getropft, und erst als ich von Leo keine Antwort bekomme, geht mir auf, dass er gar nicht neben mir im Bett liegt. Ich muss eingenickt sein.

Ein Blick auf die Uhr: 3:47 Uhr. Heute ist mein Arzt­termin.

Ich warte auf das Rauschen der Klospülung und das Kreischen unserer knarzenden Dielen, aber alles bleibt still. Bestimmt ist Leo unten und schiebt sich im gelben Schein des Kühlschranks stehend irgendwas in den Schlund. Eine Notration Schinken vermutlich: Er hat versprochen, vegan zu werden, sollte die Chemo nicht anschlagen. Um mich zu unterstützen. Ich habe meine Ernährung nach der Erstdiagnose vor vier Jahren umgestellt, obwohl ich gestehen muss, mir mehr als einmal auf dem Sainsbury-Parkplatz in Camden den Cheddar gierig gleich aus der Packung in den Mund gestopft zu haben.

Ich stehe auf. Vor Leo habe ich nie gesteigerten Wert auf Kuscheln im Bett gelegt, aber wenn er nicht da ist, sehnt sich mein ganzer Körper nach ihm.

Auf dem Klo ist er nicht, also gehe ich nach unten in die Küche. Im Hinuntergehen streiche ich mit der Hand über die Wand, die uneben und knubbelig ist von den unzähligen, immer wieder überstrichenen Farbschichten. »I’m a survivor«, singe ich leise vor mich hin.

Ich drücke mich an dem hohen Bücherstapel vorbei. Darauf steht eine emaillierte Schale voller Krimskrams, den wir nie benutzen – Schlüssel für unbekannte Schlösser, Büroklammern, eine Vorratspackung Nähvlies. Leo stellt den Stapel beharrlich immer wieder mitten in die Diele, damit ich mich endlich um den Plunder kümmere, und ich schiebe ihn jedes Mal beharrlich zurück an seinen Platz. Die Lösung wären mehr Regale, aber Möbel zusammenbauen ist einfach nicht meins.

Dummerweise ist das auch für Leo nichts, und so drehen wir uns endlos im Kreis.

»Leo?«, flüstere ich.

Nichts. Nur das fast schon theatralische Knarzen der Treppenstufen, das unsere Babysitter allesamt so gruselig finden, dass sie nach dem ersten Besuch nie wiederkommen.

Ich habe das Häuschen von meiner Großmutter geerbt. Die ist nicht nur Mitglied des Unterhauses und Hobbyviolinistin gewesen, sondern hat sich im Alter auch zu einer mehr oder minder schlimmen Hamsterin entwickelt, die in den letzten zehn Jahren ihres Lebens rein gar nichts mehr weggeschmissen hat. Leo behauptet, ich zeige ernst zu nehmende Anzeichen, ihr kleines Problem geerbt zu haben, und meine Therapeutin ist, sehr zu meinem Verdruss, ganz seiner Meinung. Wenn wir einen unerträglichen Verlust erleiden, so sagt sie, klammern wir uns selbst an die belanglosesten Kleinigkeiten.

Unser Häuschen gehört zu einem Ensemble putziger kleiner Reihenhäuschen aus der Zeit von King George, ganz am Ende der Heath Street, wo Hampstead Village in die weitläufige Parklandschaft von Hampstead Heath übergeht. Es ist ziemlich he­run­ter­ge­kom­men und unglaublich beengt, und bestimmt würden wir ein kleines Vermögen dafür bekommen, wenn wir es verkaufen würden, – oder zumindest mehr als genug, um irgendwo in einer weniger gefragten Wohngegend ein wesentlich großzügigeres Haus zu kaufen –, aber diese vier Wände sind so sehr Teil meiner Geschichte, Teil meines Über­le­bens­kampfs, dass ich es einfach nicht über mich bringe, sie zu verlassen.

Erst letzte Woche hat Leo mir eine Anzeige für ein geräumiges Reihenhäuschen mit drei Schlafzimmern in Tufnell Park gezeigt. »Schau dir nur mal an, wie groß die Schlafzimmer sind!«, hat er mit hoffnungsvoll strahlendem Gesicht geflüstert. »Wir hätten ein Gästezimmer! Eine Toilette im Erdgeschoss!«

Ich habe ihm zwar mit meiner Bemerkung, dass Hampstead mein Biom und dieses Haus mein Ökosystem sei, ein Lächeln abgerungen, doch er ist sicht­lich enttäuscht gewesen. Ich kam mir richtig mies vor. Ich würde fast alles tun, um Leo glücklich zu machen, aber das kann ich nicht. Dieses Haus ist mein einziger sicherer Hafen.

Leo ist nicht in der Küche. Und er ist auch nicht in unserem winzig kleinen Büro, sehr zu meiner Erleichterung. Einen schrecklichen Augenblick lang hatte ich befürchtet, er könne womöglich gerade einen Nachruf auf mich schreiben. Den Gedanken könnte ich nicht ertragen. Sämtliche Zeitungen haben vorgeschriebene Nachrufe auf alle möglichen Prominenten in der Schublade. Nachrufschreiber leben in der ständigen Angst, ein ganz großer Todes­fall könne sie eiskalt erwischen. Ich bin zwar kein Promi, aber seine Zeitung würde vermutlich einen Nachruf auf mich bringen.

Ich singe weiter leise »I’m a survivor« vor mich hin, weil das der einzige Textfetzen ist, an den ich mich erinnern kann, und versuche es im kleinen Esszimmerchen, in das wir uns eigentlich nie verirren. Es ist beinahe unbenutzbar, überall türmen sich Grannys Krempel und Geigennoten zu wackeligen Stapeln, aber ich habe Leo versprochen, mich bald darum zu kümmern. Sobald ich die Abschlussarbeiten des diesjährigen Masterstudiengangs korrigiert habe.

»Leo?« Meine Stimme klingt wie immer. Von Krebs keine Spur. Ich frage mich, ob womöglich noch immer etwas Bösartiges durch meinen Körper kreist wie billiger Wein, aber irgendwie kommt mir das ziemlich unwahrscheinlich vor.

Aus dem Nichts überfällt mich eine bodenlose Angst: Was, wenn Ruby ebenfalls verschwunden ist? Ich hechte die Treppe hinauf, so schnell, dass ich stolpere und hinfalle und auf Händen und Knien lande, aber sie ist da.

Natürlich ist sie da. Und natürlich atmet sie noch.

Ich suche Leo im Wäscheschrank, hinter der Falltür zu unserer gemeingefährlichen Dachterrasse. Keine Spur.

Langsam wird mir mulmig. Was, wenn einer dieser durchgeknallten Typen aus dem Netz die Nase gestrichen voll davon hat, dass ich seine Nachrichten geflissentlich ignoriere, und sich jetzt meinen Mann vorknöpft?

Lächerlich, sage ich streng zu mir, aber diese Horrorvorstellung lässt sich nicht mehr abschütteln. Ich sehe Leo, wie er die Haustür aufmacht und niedergeknüppelt wird. Leo, wie er John Keats vor dem Schlafengehen noch mal in den Garten lässt und von einem einsamen Irren erschlagen wird, der glaubt, ich gehörte ihm, weil er mir so gerne dabei zuschaut, wie ich im Fernsehen über Lappentaucher rede.

Ganz so schlimm ist es natürlich nicht, aber ein bisschen schlimmer, als ich Leo bisher eingestanden habe. Manche von diesen Typen werden wütend, wenn ich nicht auf ihre Nachrichten reagiere. Natürlich blockiere ich sie alle, aber ein paar erfinden einfach neue Profilnamen, lassen sich partout nicht abwimmeln. Für eine Weile habe ich das mit einem Achselzucken abgetan, aber so langsam macht es mir doch zu schaffen. Angst habe ich eigentlich keine, ich habe es bloß satt.

Obwohl, ganz sicher bin ich mir nicht, aber ich glaube, letzte Woche hat jemand auf mich gewartet, als ich aus dem Labor in Plymouth gekommen bin. Da saß ein Mann auf der grasbewachsenen Böschung gleich neben der Auffahrt. Ungewöhnlich daran war nur, dass er mit dem Rücken zum Meer saß. Wer setzt sich denn bitte an einem sonnigen Nachmittag auf eine Böschung, um eine Auffahrt anzustarren, wenn gleich hinter ihm der atemberaubende Blick auf den glitzernden Plymouth Sound lockt? Und wie er die Baseballkappe ins Gesicht gezogen hat, als ich die Auffahrt entlanggelaufen bin, und sich dann weggedreht hat, fand ich auch eigenartig.

Ich bin runtergegangen an den steinigen Strand, um mich ein bisschen umzuschauen, und ein paar Minuten später ist er ebenfalls aufgetaucht. Normalerweise ermuntere ich ja alle und jeden, sich die Gezeitentümpel doch einmal etwas genauer anzuschauen, aber ich glaube nicht, dass dieser Typ sich auch nur im Entferntesten für marine Ökosysteme interessierte. Kurz darauf kam Nin, meine wissenschaftliche Mitarbeiterin, dazu, und kaum war sie da, war er plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Bestimmt ganz harmlos, aber es gefiel mir nicht.

Ich setze mich auf das Bett und versuche, mich zu konzentrieren. Meinen verschwundenen Ehemann zu finden hat jetzt oberste Priorität.

Ich schaue aufs Handy. Selten, sehr selten, wenn jemand wirklich Wichtiges gestorben ist, muss Leo mitunter auch mal mitten in der Nacht an den Laptop. Vielleicht ist eine echte Bombe eingeschlagen, vielleicht ist die Queen gestorben oder der Premierminister. Vielleicht musste er in die Redaktion.

Keine Nachrichten von ihm auf dem Handy. Nur meine Google-Suche nach einem Mann, den ich nicht hätte suchen sollen. Das Letzte, was ich getan habe, ehe ich einschlief.

Die Erinnerung an das morgendliche Telefongespräch sickert in mein Bewusstsein wie Hochwasser unter einer Tür hindurch. Ich will doch bloß mit dir reden, hatte er zu mir gesagt. Bitte, können wir uns nicht irgendwo treffen, unter vier Augen?

Ich hatte wortlos aufgelegt.

»Leo?«, flüstere ich. Nichts. »Leo?«, flüstere ich, lauter diesmal. »Ich könnte immer noch Krebs haben! Du kannst mich jetzt nicht verlassen!«

Dann, nach einer kurzen Pause: »Ich liebe dich. Wo bist du?«

Noch immer keine Antwort. Mein Mann ist spurlos verschwunden.

Ich finde ihn schließlich im Gartenschuppen. Vor ungefähr fünf Jahren hat er sich so über den unzumutbaren Zustand des Hauses geärgert, dass ich jemanden dafür bezahlt habe, den Schuppen zu entrümpeln. Anschließend haben wir ihn gedämmt und ein wetterfestes Kabel nach draußen verlegt, damit er dort arbeiten kann. Ich habe ein Sofa und einen Teppich und ein Bücherregal hineingestellt und ihm hoch und heilig versprochen, nichts von meinem Kram »zum Aussortieren« hier zwischenzulagern. Leo ist hin und weg gewesen und hat dann prompt wieder vergessen, dass der Schuppen überhaupt exis­tiert.

Nun sitzt er in einer Wolke Zigarettenrauch in seinem vergessenen Heiligtum und hustet.

»Ach herrje«, sage ich und bleibe in der Tür stehen. »Was machst du denn da?«

Kleinlaut guckt er mich an. »Ich rauche eine Notfallzigarette.« Neben ihm liegt eine Schachtel Zigaretten, hastig aufgerissen. Daneben das lange Plastikdings, das wir immer benutzen, um den Gasherd anzuzünden.

Der Hund, der mir nach draußen gefolgt ist, schaut erst Leo an und dann mich, als wolle er sagen: Aber er raucht doch gar nicht. »Aber du rauchst doch gar nicht«, sage ich.

»Ich weiß.« Er nimmt den Herdanzünder und drückt auf das Zündknöpfchen. Eine blau-orange Flamme beleuchtet sein Gesicht, müde und verängstigt, und obwohl das Bild mir beinahe das Herz bricht, muss ich lachen. Mein Mann sitzt in seinem Schuppen und raucht eine Notfallzigarette, angezündet mit einem Hausfrauenflammenwerfer.

»Lach nicht«, brummt er und muss selbst ein bisschen lachen. »Ich habe Angst.«

Ich höre auf zu lachen. Wie oft habe ich während meiner Krankheit daran denken müssen, was wohl wäre, wenn ich diesem Mann wegsterben würde, dessen gesamte emotionale Landschaft geformt ist von Verlust. Klar habe ich Angst um mich gehabt, selbstredend, und mir Rubys Kummer vorzustellen ist schier unerträglich, aber in gewisser Hinsicht bereitet Leo mir die größten Sorgen. Die meisten Menschen sehen meinen Mann vermutlich als stillen, in sich selbst ruhenden Menschen; einen schlagfertigen Kerl, ein helles Köpfchen. Aber das ist nur die eine Seite.

Unsere kleine Familie ist der erste Ort, an dem er sich wirklich zu Hause fühlt.

»Ach, Leo …«, sage ich. »Liebling, kannst du nicht einfach einen Whiskey trinken oder so was?«

Er schüttelt den Kopf. »Ich habe dir versprochen, keinen Alkohol mehr zu trinken. Und daran halte ich mich.«

Ich setze mich zu ihm aufs Sofa, aus dem eine kleine Staubwolke aufsteigt, und halte seine Hand, während er mir kleinlaut gesteht, mit John Keats eine Alibigassirunde zum Kiosk gedreht zu haben, um heimlich Zigaretten zu besorgen. Und Schokolade ohne Kuhmilch habe er auch mitgebracht.

»Ekelhaft war die«, gesteht er mit jämmerlicher Miene.

Ich hake mich bei ihm unter. Er ist so angespannt, als rechne er jeden Augenblick mit einem tödlichen Angriff. »Du brauchst meinetwegen nicht auf Alkohol zu verzichten«, sage ich. »Oder auf Fleisch oder Milchprodukte.« Seine Haare stehen wirr in alle Richtungen ab, außerdem hat er tiefe Ringe unter den Augen und müsste sich dringend mal wieder rasieren, aber, Himmel, er sieht einfach umwerfend aus, dieser Mann.

Ich betrachte ihn und wünschte, ich könnte ihm irgendwie zeigen, wie sehr ich ihn liebe. Wie sehr ich ihn vor dem beschützen möchte, was womöglich mit mir geschieht.

John Keats lässt sich brummend zu Leos Füßen nieder.

»Alles wird gut«, sage ich. »Wir spazieren morgen zu diesem Termin in die Praxis, und Dr. Moru gibt uns die Entwarnung, während du wieder dasitzt und ihn wortlos bezichtigst, in mich verknallt zu sein …«

»… weil es stimmt«, brummt Leo.

»Ist er nicht. Jedenfalls wird er mir sagen, dass der Krebs weg ist, und dann können wir endlich weitermachen mit unserem Leben. Wir holen Ruby aus der Kita und gehen mit ihr schaukeln, und dann fahren wir nach Hause und bringen sie ins Bett, und danach gibt es ein schönes Essen und Wein und vielleicht ein bisschen Beischlaf. Alles wird gut.«

Schweigen. »Vielleicht entrümpele ich sogar das Haus«, füge ich hinzu. »Wobei ich mich an deiner Stelle da besser nicht zu früh freuen würde.«

Er betätigt abermals den Anzünder und leuchtet mir mit der Flamme ins Gesicht. Ich streiche ihm mit dem Finger über die Wange, und er zieht mich an sich.

»Es tut mir leid«, sagt er. »Eigentlich war ich ganz zuversichtlich, was deinen Termin morgen angeht, aber dann bist du ins Bett gegangen, und ich …« Er bricht ab.

»Und irgendwie schien es mir grundfalsch, mich mit Milchprodukten oder Whiskey zu trösten«, sagt er schließlich. »Ich habe es dir schließlich versprochen.«

»Vegane Schokolade und Nikotin und sonst gar nichts«, pflichte ich ihm bei. »Wobei du ja nur gesagt hast, dass du darauf verzichtest, wenn es morgen nicht so gut läuft. Heißt das, du weißt was, was ich nicht weiß?«

Er schüttelt den Kopf und lächelt schief. »Nein, Emma, das heißt es nicht. Es heißt, ich mache das … ich weiß auch nicht. Um deiner würdig zu sein.«

Eine Weile sieht er mich nur an, dann küsst er mich. Sein Atem stinkt abscheulich nach Zigarette, aber in diesem kalten Schuppen, unsere Zukunft in den Akten des NHS verschlüsselt, ist mir das gerade schnuppe. Mein Mann ist ein Meisterküsser. Zehn Jahre, und es kribbelt immer noch.

»Ich liebe dich«, sagt er. »Und es tut mir leid, dass ich ausgetickt bin. Das ist nicht gerade hilfreich.«

Ich lehne den Kopf an seine Schulter und merke da erst, wie müde ich bin. Hundemüde, todmüde, so müde, wie ich es zuletzt gewesen bin, als ich in der achten Woche schwanger war und auch mit dem Gesicht auf einer Käsereibe eingeschlafen wäre.

Extreme Erschöpfung, stelle ich fest. Seit ein Assistenzarzt mir vor vier Jahren bedauernd mitteilte, ich hätte da etwas, das sich extranodales MALT-Lymphom nennt, habe ich jede noch so kleine Regung meines Körpers so akribisch wie argwöhnisch beäugt, als sei es einer meiner Meeresorganismen im Labor. Und immer wenn mir etwas Neues oder Ungewöhnliches auffiel, spürte ich, wie sich in meinem Bauch ein kleines klaffendes Loch purer Angst auftat.

Zuerst wurde ich als niedriggradig eingestuft, so niedrig sogar, dass sich aus einer Behandlung keine »klinischen Vorteile« ergäben. Damals standen Leo und ich gerade am Anfang unserer dritten Kinderwunschbehandlung, und vonseiten der behandelnden Ärzte gab es keinerlei Einwände, diese Behandlung fortzusetzen. In einem Jahr würden sie sich alles noch einmal anschauen und dann neu entscheiden.

Ich vertraute den Ärzten, als sie sagten, es gebe keinen Grund, mich gleich zu behandeln. Dass es noch Jahre dauern würde, bis eine Chemotherapie notwendig würde, und eine vierteljährliche Mammografie würde jede noch so kleine Veränderung rechtzeitig erfassen. Aber die Angst saß mir wie ein Betäubungsbolzen im Gehirn. Es kam mir vor, als stünde ich neben mir.

Längst vergessene Gedanken und Gefühle überfielen mich rücklings aus dem Hinterhalt. Nachts lag ich wach, und in meinem Kopf spukten wirre Bilder und Schuldgefühle herum. Unablässig musste ich an meine Zeit an der Uni denken, damals, in meinen Zwanzigern.

Und natürlich an ihn.

Ich träumte lebensechte, fotorealistische Träume über unser Wiedersehen, das Gefühl seiner Haut an meiner, den Duft seiner Haare. Und als mir dann der Gedanke kam: Ich will ihn anrufen, verwarf ich ihn nicht gleich wieder.

Diesen Gedanken wurde ich einfach nicht mehr los. Ich muss ihm sagen, dass ich krank bin. Ich muss ihn sehen.

Ein paar Tage nach der Diagnose knickte ich ein und rief ihn an.

Die ersten beiden Male trafen wir uns in einem Hotel meilenweit außerhalb Londons, das dritte Mal in einem billigen Schnellrestaurant unweit von Oxford Circus. Zitternd saß ich da, umwabert von einem undurchdringlichen Nebel aus emotionaler Bedürftigkeit und Fruchtbarkeitshormonen, die ich mir jeden Tag selbst spritzen musste. Und jedes Mal versuchte ich mir einzureden, es ginge schon in Ordnung und es käme dabei ja niemand zu Schaden. Es war schlicht und einfach dasselbe Gespräch, das ich schon seit neunzehn Jahren mit mir führte. Aber natürlich ging es nicht in Ordnung. Es gab keine Lösung für uns, bei der wir nicht eine Familie zerstören würden.

Am Ende willigte ich ein, den Kontakt ein weiteres Mal abzubrechen.

Sechs Wochen später hielt ich einen positiven Schwangerschaftstest in der Hand. Ich zeigte ihn Leo, wir waren beide sprachlos. Am nächsten Tag machte ich noch einen Test und dann noch einen und noch einen, bis ich irgendwann darauf kam, dass so viele Tests unmöglich alle falsch sein konnten. Es ist schon schwer genug, den Kreislauf des Lebens zu begreifen, wenn man jahrelang vergeblich versucht hat, schwanger zu werden, aber mit der Krebsangst im Nacken schien es schier unmöglich.

Das war vor vier Jahren.

Der Krebs blieb eine ganze Weile unverändert, die gesamte Schwangerschaft und die harte erste Zeit als junge Mutter hindurch. Die Röntgenaufnahmen meiner Brust waren unauffällig, und alles andere war, wie es sein sollte. Leo und ich hatten alle Hände voll damit zu tun, ein Neugeborenes zu versorgen, da vergaßen wir gelegentlich, dass ich Blutkrebs hatte.

Aber so konnte es nicht ewig weitergehen. Letztes Jahr dann, Ruby war gerade zwei, fing ich plötzlich an, ganz unerklärlich an Gewicht zu verlieren, und bekam Bauchschmerzen, und nach einer massiven Magenblutung machten sie eine Magenspiegelung. Ein paar Tage später präsentierten sie mir ein Bild eines bösartigen Geschwürs, das sich in meinem Magen eingenistet hatte. »Es ist leider gewachsen«, erklärte Dr. Moru, mein Hämatologe, mir. Sein sonst so sonniges Lächeln war verschwunden, als er mir erklärte, wir hätten es mit einer aggressiven Form eines Non-Hodgkin-Lymphoms zu tun und keine Zeit mehr zu verschwenden. Ich müsse mich unverzüglich in Behandlung begeben.

»Aber wir wollen doch noch ein zweites Kind«, versuchte ich einzuwenden. Er hob bloß die Hand.

»Über ein Geschwisterchen für Ruby können Sie sich Gedanken machen, wenn Sie dem Tod nicht mehr ins Gesicht starren.«

Er ist normalerweise sonst nicht so streng.

Nun, Monate später, ist die Behandlung endlich abgeschlossen. Wir haben gebetet, gehofft und gebangt, dass ich wieder gesund werde, aber diese elende Müdigkeit … Die macht mir am meisten Angst. Dieser Zug ins Bodenlose, diese stille, tiefe, undurchdringliche Dunkelheit darunter.

Vielleicht bin ich doch kein Survivor.

Leo verriegelt den Schuppen, und wir gehen langsam zurück zum Haus. Der Rasen unter unseren Füßen schmatzt vor Nässe, obwohl es seit Tagen nicht mehr geregnet hat. Es wird bald dämmern.

Wir schließen die Küchentür gegen die Düfte unse­res nächtlichen Gartens, und Leo wirft seine Notfallzigaretten in den Mülleimer.

»Versprichst du mir eins?«, frage ich. Er steht vor dem offenen Kühlschrank und beäugt neugierig den Inhalt, auch wenn er längst weiß, was er eigentlich will. Mein Mann würde als Veganer keine Woche überleben.

»Alles.«

»Ach Mensch, Leo, jetzt iss schon den verdammten Schinken!«

Er verzieht das Gesicht und öffnet die Gemüseschublade. »Was soll ich dir versprechen?«, fragt er und kramt dickköpfig im verwelkenden Grünzeug.

»Sollten wir morgen wider Erwarten wirklich schlechte Nachrichten bekommen, fängst du auf keinen Fall an, an meinem Nachruf zu schrei­ben.«

Er richtet sich auf und zieht hastig eine Scheibe Schinken heraus. »Natürlich nicht.« Er dreht den Schinken zu einer labbrigen Zigarre zusammen und fängt an zu mümmeln.

»Womöglich hast ja du das Gefühl, mir das schuldig zu sein. Ich weiß nicht – professionell, persönlich, beides. Aber ich möchte nicht, dass irgendwer über meinen Tod schreibt, solange ich noch am Leben bin. Und du am allerwenigsten.«

»Emma. Darauf würde ich im Traum nicht kommen.«

Ich beobachte ihn eine Weile. »Ganz sicher nicht?«

»Nein!«

Er wirkt ziemlich angefasst. »Entschuldige, Schatz.« Ich setze mich. »Entschuldige. Ich kann mir nur nichts Schlimmeres vorstellen als dich, wie du leise in deine Tastatur heulst und dir ausmalst, ich sei schon hinüber. Das ertrage ich nicht.«

Leo schließt die Kühlschranktür ein wenig zu heftig. »Schon klar«, sagt er. Er kniet sich vor mich. »Schon klar.«

John Keats guckt uns verunsichert an. Leo streicht mir über die Haare. Er weiß, es ist besser, nichts zu sagen.

Und ich ertappe mich, wie schon so oft in den vergangenen Jahren, bei der Frage, wie er wohl ist, dieser Moment, in dem man stirbt. Wie viel wissen wir darüber; und sollte man dann einfach loslassen? Ich glaube nicht, dass man durch einen Tunnel in ein helles Licht geht, aber ich glaube schon, dass es den Moment gibt, in dem wir wissen, dass es vorbei ist, in dem wir aufhören zu kämpfen.

Und genau da liegt des Pudels Kern: Ich will nicht aufhören. Ich will nicht, dass es vorbei ist.

Irgendwann steht Leo auf und legt die ruhige Musik auf, die wir nachts für John laufen lassen. »Und denk nicht mal dran, vor sechs aufzuwachen«, ermahnt er John und gibt ihm seinen Gutenachtkeks.

Dann richtet er sich auf und schaut mich an. »Würde tanzen helfen?«, fragt er.

Leo und ich hatten uns gerade erst kennengelernt, als wir das erste Mal zusammen tanzen gingen. Eigentlich wollten wir bloß im Pub was trinken. Aber aus einem Drink wurden mehrere und daraus dann spätabendliche Spaghetti mit Hackbällchen in einem winzigen italienischen Restaurant gleich um die Ecke von Leos alter Wohnung in Stepney Green und daraus ein paar Gläser Rum in einer Bar voller Zahnmedizinstudenten, die gerade ihr Examen gemacht hatten. Schnell freundeten wir uns mit ihnen an, und die Studenten waren nur allzu bereit, uns ins East End in einen Club in Whitechapel mitzunehmen, wo alle tanzten, als sei das Ende der Welt nahe.

»Ist das okay für dich?«, brüllte er mir ins Ohr. Leo. Fünfunddreißig Jahre alt, bildhübsch und so witzig, auf seine ruhige, treffsichere Art. »Wir können auch irgendwohin gehen, wo es nicht so laut und voll ist, wenn du …?«

»Auf keinen Fall!«, brüllte ich zurück. »Ich bin happy!«

Und das war ich auch. Alles war so unkompliziert mit Leo. Er war so unkompliziert. Wachsam vielleicht, weil er in der Vergangenheit verletzt worden war, aber so geradeheraus, dass ich all die anstrengenden Männer bereute, mit denen ich in den Jahren davor angebandelt hatte, mit ihrer Gier nach Aufmerksamkeit, nach Bewunderung, so raumgreifend und laut. Leo schien nichts von mir zu brauchen, nur mich selbst. Ich hielt seine Hand ganz fest. Sie war kühl und verlässlich, sogar in diesem völlig überhitzten Kellergebäude.

Und dann sagte er: Na schön, tanzen wir.

»Ich bin ziemlich gut«, warnte er mich, was ich als »Ich bin eine Niete« auffasste. Aber, Himmel, konnte der Mann tanzen! Ich fand immer schon, dass es kaum etwas Anziehenderes gibt als einen Mann, der tanzen kann, und Leo, in schmaler Jeans und T-Shirt, mit Brille und undefinierbarer Frisur, war der Stoff, aus dem Mädchenträume sind. Er bewegte sich durch den Raum, durch die dicht gedrängten Menschen um uns herum, wie ein Fisch im Wasser. Mit offenem Mund schaute ich ihm zu, bis er mich um die Taille fasste, sehr sachlich und bestimmt, und mich über die klebrige Tanzfläche bugsierte, als sei ich ebenfalls eine derart begnadete Tänzerin, dass die Leute alles stehen und liegen ließen, um ihr zuzusehen.

»Ich bin mir sicher, es wird alles gut«, sagt er nun, während wir ganz langsam, ganz leise, in unserer dunklen Küche tanzen. Er klingt müde, aber wild entschlossen. »Was anderes kommt nicht in die Tüte.«

Ehe wir ins Bett gehen, husche ich rasch ins Kinderzimmer und schaue nach Ruby. Zusammengeringelt liegt sie in einer Ecke ihres Bettes, mit dem Gesicht nach unten, einen Arm um Ente gelegt. Ich atmete den Duft meines schlafenden kleinen Mädchens ein, meines Wunderkindes.

Wir hatten die Hoffnung schon aufgegeben, noch ein eigenes Kind zu bekommen. Drei Jahre des Hoffens und Bangens, unzählige Termine bei Schulmedizinern, Quacksalbern und allem dazwischen. Wir hatten uns jedem nur erdenklichen Test unterzogen, aber niemand konnte mir sagen, warum es nicht klappen wollte mit dem Schwangerwerden. Das Einzige, worauf sich letzten Endes alle irgendwie einigen konnten, war, dass es höchst unwahrscheinlich, wenn nicht gar gänzlich unmöglich für mich war, auf natürlichem Wege ein Kind zu empfangen.

Schließlich nahmen wir eine neue Hypothek auf das Haus auf und zahlten die unverschämt teure neue »Wundermethode«, die Leos Schwägerin bekommen hatte. Und es funktionierte. In einem ande­ren Teil meines Körpers wuchs ein Krebstumor, aber in meinem Schoß entwickelte sich ein Kind.

Eine zweite Chance, denke ich jetzt und strecke die Hand nach der sachte sich hebenden und senkenden Brust meiner Tochter aus. Bitte, Dr. Moru, bitte geben Sie mir morgen noch eine zweite Chance, damit ich meinen Mann und meine Tochter lieben kann, wie ich es versprochen habe.

Wenn alles gut ist, werde ich ihn loslassen. Ganz gleich, wie schwer es auch sein mag, ich werde ihn loslassen.

Drittes Kapitel

Leo

Als Emma endlich schläft, schleiche ich mich zurück in den Schuppen. Ich nehme das Notizbüchlein und halte es zwischen zwei Fingern wie ein schmutziges Wäschestück.

Sie lag goldrichtig: Ich schreibe tatsächlich ihren Nachruf. Sitze in der U-Bahn und kritzele vor mich hin, während wildfremde Menschen mir neugierig über die Schulter spähen. Spätabends, wenn Emma längst im Bett liegt und nur noch ich und John Keats und ein schwarzes Loch nackter Angst übrig sind.

Natürlich kann ich nur zu gut verstehen, warum sie das nicht wollen würde, aber diese Worte sind alles andere als ein Verrat. Sie sind etwas Wunderschönes. Eine Lobpreisung dieser Frau, die ich so sehr und aus ganzem Herzen liebe.

Ich muss dafür sorgen, dass die Welt sie so in Erinnerung behält wie ich. Das ist mir wichtig.

Tu, was immer dir guttut, hatte sie gesagt, als sie damals die Diagnose bekam. Such dir eine Selbst­hilfe­gruppe, geh zu einem Therapeuten. Das wird für dich genauso schwer wie für mich.

Also habe ich getan, was ich konnte, und es hat geholfen.

Oben in unserem Bett hat sie im Schlaf eine Hand nach meiner Seite ausgestreckt, als wüsste sie insgeheim längst, was ich im Schilde führe, hätte mir aber schon verziehen.

Viertes Kapitel

Leo

Der nächste Tag

Die Nachricht von Janice Rothschilds Verschwinden kommt als Eilmeldung, kurz nachdem ich die Redaktion betreten habe. Ich schaue mir gerade die Nachrufseiten der Konkurrenz an, als meine Kollegin Sheila die Empfangsklingel auf ihrem Schreibtisch läutet. Ding! Das macht sie immer, wenn jemand gestorben ist. Offiziell sind wir selbstredend der einhelligen Meinung, wie furchtbar geschmacklos das doch eigentlich ist, aber insgeheim finden wir es alle irgendwie auch witzig.

Ding! Alle schauen auf. »O nein«, sagt Sheila. Sie starrt auf ihren Monitor. Ganz kurz blickt sie hoch. »Entschuldigt, bitte ignoriert die Bimmel. War ein Reflex. Ach – o Gott.« Sie greift nach ihrem Handy, schaut irgendwas nach, dann wendet sie sich wieder dem Monitor zu.

Wir warten. Sheila macht grundsätzlich alles mit Ruhe und Bedacht.

Schließlich lehnt sie sich zurück und fährt sich mit den Händen übers Gesicht. »Janice Rothschild ist verschwunden. Ist einfach aus der Probe für ein Theaterstück marschiert. Vor drei Tagen. Niemand weiß, wo sie ist.«

Kelvin, der Ressortleiter, fragt: »Was, wirklich? Was für ein Stück denn?«

Selbst Kelvin mit seiner etwas eingeschränkten Gefühlswelt lässt das nicht kalt. Janice Rothschild und ihr Mann Jeremy gehören zu Sheilas engsten Freunden. Kelvin weiß das. Wir alle wissen das.

Jonty, ein ande­rer Kollege mit einer viel zu überbordenden Gefühlswelt, beantwortet Kelvins Frage. »Sie probt gerade für Alle meine Söhne«, sagt er. »Ich habe Tickets für die Vorstellung im Juli. O Gott, ich halte das nicht aus – Sheila, sag mir bitte, dass das ein Witz ist?«

Sheila reibt sich die Schläfen und überhört sie beide.

»Wie furchtbar«, sage ich leise. »Sheila, das tut mir wirklich leid.«

Sie überhört auch mich. »Ich … o Gott«, murmelt sie. »Der arme Jeremy. In der Meldung steht, sie habe in letzter Zeit depressiv gewirkt, aber … ich kann das einfach nicht glauben. Sie schien immer so … so okay.«

Kelvin fällt wieder ein, wieso wir eigentlich da sind. »Wirklich sehr beunruhigend. Aber – ähm … Haben wir da was auf Halde?«

Soll heißen, einen vorbereiteten Nachruf. Wir haben Tausende davon in unseren Aktenschränken, aber Janice Rothschild, die gerade einmal fünfzig ist und bisher keinerlei Anzeichen für ein baldiges Ableben gezeigt hat, hat es nicht einmal auf unsere »Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste«-Liste geschafft. Sie ist gerade in einer BBC-Verfilmung von Madame ­Bovary zu sehen gewesen, verdammt noch mal – die habe ich mir am Sonntagabend selbst noch angeschaut. Emma ist nach ein paar Minuten unter Protest ins Bett gegangen und hat irgendwas gemurmelt, sie könne Janice Rothschild nicht ausstehen, aber ich finde sie großartig.

Sheila steht auf, um Jeremy anzurufen.

»Das klingt nicht gut«, meint Kelvin. Er ruft in der Bildredaktion an. »Könnten wir bitte eine Fotoauswahl zu Janice Rothschild haben? Vielleicht auch ein paar Fotos von ihr in Madame Bovary … Was? Ach Entschuldigung – wir haben gerade erfahren, dass sie verschwunden ist. Ich weiß … furchtbar. Wir wissen auch nicht, warum. Wie dem auch sei, könnten wir auch welche mit ihrem Mann bekommen? Nur für den Fall der Fälle?«

Jeremy Rothschild moderiert die Sendung Today auf Radio 4. Er und Janice Rothschild sind seit Urzeiten miteinander verheiratet. Ich gehe auf seinen Twitter-Account, aber in den vergangenen zweiundsiebzig Stunden hat er rein gar nichts gepostet. Alle ande­ren Kollegen in der Nachrufredaktion machen genau dasselbe. Wie auf Kommando gehen wir auf Janice’ Twitter-Account, auf dem seit drei Wochen Schweigen im Walde herrscht, und Jonty steht auf und stapft in die Küche, um Tee zu kochen. »Sie ist einfach großartig«, brummt er aufgebracht. »Ich ertrage es nicht, wenn sie sich etwas angetan hat.«

Ich setze mir die Kopfhörer auf, weil ich das Gerede der Kollegen nicht mehr aushalte, und lese ein paar Minuten alles unter dem Hashtag #JaniceRothschild – die Meldung ist wirklich brandaktuell, gerade einmal fünf Minuten sind die ersten Tweets alt. Ich sehe mir einen fast schon schmerzlich komischen Clip von ihr als Gaststar bei Ab Fab an und einen sehr rührenden Beitrag, wie sie für Sport Relief ihre schreckliche Höhenangst überwindet und für den guten Zweck eine steile Felswand hinaufklettert. Oben angekommen sind alle in Tränen aufgelöst, einschließlich des Kameramanns.

Keiner dieser frühen Tweeter scheint auch nur die leiseste Ahnung zu haben, was wohl hinter ihrem Verschwinden stecken könnte. Rasch überfliege ich unser Archiv und finde nur einen einzigen möglichen Anhaltspunkt: ein Foto, neunzehn Jahre alt, aufgenommen, als sie wenige Wochen nach der Geburt ihres Sohnes gerade im Begriff war, eine psychiatrische Klinik zu verlassen. Seitdem nichts mehr. Sie ist eine dieser gnadenlos witzigen, gut gelaunten Frohnaturen, wie man sie sich als beste Freundin wünscht, wenn man im Fernsehen sieht, wie sie sich mit Graham Norton kabbelt. Aber ich schätze, heutzutage wissen wir, dass psychische Probleme sich auch hinter der sonnigsten Fassade verbergen können.

Sheila kehrt mit einer großen Tüte Weingummis an ihren Schreibtisch zurück. Sie sagt, sie hat Jere­my noch nicht erreichen können. Sie bietet niemandem etwas von den Weingummis an, sondern stopft sie sich nur mechanisch in den Mund.

»Bittet mich bloß nicht, einen Nachruf auf sie zu schrei­ben«, sagt sie nach einer Weile. »Ich glaube nicht an einen Suizid. Ich will damit nichts zu schaffen haben.«

»Aber du kennst sie doch so gut«, hakt ­Kelvin nach kurzem Schweigen vorsichtig nach. »Das würde si­cher ein schöner persönlicher Artikel.«

»Und genau deshalb will ich es nicht machen«, gibt Sheila spitz zurück. »Ich möchte eine kerngesunde, sehr liebe Freundin nicht zum Tode verurteilen.«

Kelvin nickt zustimmend. Er ist der Ressortleiter, und ich bin sein Stellvertreter, aber wir alle wissen, dass in dieser Redaktion eigentlich alles nach Sheilas Pfeife tanzt.

Kelvin gibt mir den Nachruf, und ich fange an zu schrei­ben. Ich weiß, meine Kollegen bei den ande­ren Zeitungen machen gerade genau dasselbe. Wir arbeiten alle gegen die Zeit und vergewissern uns zwischendurch immer wieder, ob die Leiche schon gefunden wurde.

Ich versuche, nicht daran zu denken, was Sheila damit gemeint hat, ihre Freundin nicht zum Tode »verurteilen« zu wollen. Habe ich das getan, mit Emmas Nachruf?

In der Nachrichtenredaktion läuft der Fernseher, ein Sprecher der Metropolitan Police bestätigt, dass sie nach einer Frau Mitte fünfzig fahnden. Dann kommt ein Schauspieler, der keinen Schimmer hat, wo Janice steckt, und weitschweifig erklärt, dass er keinen Schimmer hat, wo Janice steckt.

Sheila stopft sich weiter ununterbrochen Weingummis in den Mund und verschickt dabei eine Textnachricht nach der ande­ren, bis sie schließlich erklärt, sie müsse kurz raus. »Ich muss irgendwohin, wo ich um diese Zeit schon einen Brandy bekomme«, erklärt sie. »Die ersten Bekloppten mailen schon ihre Amateurnachrufe auf Janice.«

Die Leute wollen mir meist nicht glauben, wenn ich ihnen sage, dass unsere Redaktion die lustigste im ganzen Haus ist und unsere Nachbarn sich regelmäßig über das laute Gelächter beschweren. Aber wenn man mal kurz darüber nachdenkt, ist es eigentlich ganz logisch. Nachrichten und Politik sind beständig ernsthafte, eher deprimierende Gebiete, wohingegen wir unseren Tag damit verbringen, außergewöhn­liche Persönlichkeiten zu feiern. Das Geschäft eines Nachrufschreibers ist das Leben, nicht der Tod. Ich konzentriere mich immer auf das Porträt, das ich zu zeichnen versuche: Farben, Licht und Schatten, Strukturen. Natürlich ist es eine traurige Angelegenheit, aber es hat eben auch etwas Tröstliches. Selbst einen Nachruf auf Halde zu schreiben hat etwas Fried­liches, wenn der Betreffende auf ein langes Leben zurückblicken kann.

Aber ein Vorabnachruf wie dieser – ein tragischer Verkehrsunfall mit einem Heer an Pressevertretern, die vor dem Krankenhaus ihr Lager aufschlagen, eine unerwartete Krebsdiagnose oder ein unerklärtes Verschwinden wie jetzt im Fall von ­Janice Rothschild –, diese Vorbereitung auf einen Tod, der noch lange nicht hätte sein sollen, das ist das Schlimmste an meinem Job. Vor allem wenn man gleich mit der eigenen Frau zum Termin beim Häma­to­lo­gen muss.

Gegen Mittag endlich meldet Jeremy sich bei Sheila. Rasch springt sie vom Schreibtisch auf und bleibt eine ganze Weile verschwunden.

»Nichts Neues«, sagt sie, als sie schließlich wiederkommt. »Einer ihrer Schauspielkollegen hat die Geschichte ausgeplaudert. Sich im Pub verplappert – als hätte er sich nicht denken können, dass sich das wie ein Lauffeuer in ganz London verbreitet. Die Presse lauert wie die Aasgeier vor Jeremys Haustür. Er ist außer sich.«

Ich persönlich würde mich lieber vor einen Bus werfen, als es mir mit Jeremy Rothschild zu verscherzen. Er ist so etwas wie ein Nationalheiligtum, das stimmt schon, aber seine Fähigkeit, Politiker unbarmherzig auszuweiden, ist echt zum Gruseln. Außerdem hat er einmal einem Paparazzo einen Kopfstoß verpasst – wobei ich das durchaus nachvollziehen kann.

»Es gibt nichts Neues«, muss Sheila gestehen, als sie sich hinsetzt. »Vor drei Tagen ist Janice wie immer aus dem Haus und dann zur Arbeit gegangen. Sie proben wohl im Cecil Sharp House in Camden, und sonst wird sie immer von einem Wagen abgeholt, aber an dem Tag wollte sie unbedingt selbst mit dem Auto fahren. Die Probe lief bestens, es schien ihr gut zu gehen – und dann ist sie aufs Klo gegangen und nicht mehr wiedergekommen. Das Auto hat wohl erst eine Parkkralle verpasst bekommen und ist dann abgeschleppt worden. Keinerlei Bilder von ihr in der U-Bahn.«

»Aber wir reden hier von Camden«, wirft Jonty ein. »Da muss es doch von Überwachungskameras nur so wimmeln?«

»Das war in Primrose Hill, nicht weit von Regent’s Park. Da gibt’s so was nicht.«

Kelvin bedenkt mich mit einem vielsagenden Blick, um sich zu vergewissern, dass der Nachruf in der Schublade liegt. Widerstrebend nicke ich. Sheila entgeht das alles nicht, aber sie sagt keinen Ton. Sie weiß, was wir zu tun haben.

»Sie finden sie schon«, sagt sie. »Und alles wird wieder gut. Ich glaube nicht an diese Depressionsstory. Vor drei Wochen war ich noch zum Abendessen bei ihnen. Sie hat ein Gläschen zu viel getrunken, genau wie ich. Wir haben bis um zwei Uhr morgens Queen-Songs gegrölt. Es ging ihr blendend.«

»Keine Hinweise auf Probleme in der Partnerschaft?«, erkundigt Jonty sich. »Denkst du nicht, sie hat ihn vielleicht einfach sitzen gelassen?«

»Nein, das denke ich nicht«, erwidert sie, und in ihrer Stimme schwingt eine unmissverständliche Warnung mit.

Die Jonty geflissentlich überhört. »Es gibt also rein gar nichts Ungewöhnliches?«

»Nichts«, antwortet sie kurz angebunden, und damit ist die Sache für sie beendet. Ich sehe zu, wie sie ihren Schreibtisch aufräumt, die restlichen Weingummis in den Abfall wirft und dann die Schultern hochzieht und wieder fallen lässt. Was bedeutet, dass sie sämtliche Gefühle, die sie im Fall Janice womöglich hat, erst einmal beiseiteschiebt, bis sie Genaueres weiß. Sie gehört zu den wenigen Menschen, die ich kenne, die so etwas wirklich können.

Sheila ist zwar bloß rund zehn Jahre älter als ich, hat aber in ihrem Leben bereits hochrangige Posi­tio­nen sowohl beim MI5 als auch im diplomatischen Dienst bekleidet. Zu meiner großen Freude hat sie mich damals, vor ein paar Jahren, als sie zu unserer Redaktion gestoßen ist, zu ihrem Saufkumpan auserkoren, und unsere Mittagspausen im Plumbers Arms sind bis heute das unumstrittene Highlight meines Arbeitstags. Sheila leert drei Pints in einer Stunde und ist immer noch die Redegewandteste weit und breit.

Niemand weiß so recht, wieso, weshalb, warum sie hier bei uns arbeitet, aber irgendwie glaube ich fest daran, dass sie eines schönen Tages genauso klammheimlich und spurlos verschwinden wird, wie sie gekommen ist. Eines Morgens wird jemand anderer an ihrem Schreibtisch sitzen, und ich werde mir immer ausmalen, was sie wohl gerade macht. Ich würde Geld darauf verwetten, dass sie der Kopf eines milliardenschweren Drogenkartells ist. Sich in einem gepanzerten Humvee herumchauffieren lässt, mit Präsidenten und Monarchen im Schlepptau.

»Übrigens, ich habe Emma gesehen«, sagt sie jetzt, als wir wieder an unsere Rechner gehen. »Gestern.«

»Ach ja?« Sheila hat die Angewohnheit, vollkommen zusammenhanglos von einem Thema zum nächsten zu springen. Bei Redaktionssitzungen können wir ihr mit schöner Regelmäßigkeit nach kurzer Zeit schon nicht mehr folgen.

»Sie wirkte ganz aufgewühlt. Es geht mich natürlich nichts an, aber ich hoffe, bei euch ist alles in Ordnung?«

Emma hat das mit keinem Wort erwähnt.

»Bestimmt ist sie ein bisschen nervös wegen der Testergebnisse«, entgegne ich, weil ich nicht will, dass eine meiner Arbeitskolleginnen mehr über meine Frau weiß als ich selbst. »Wir haben heute Nachmittag einen Termin bei ihrem Hämatologen.«

Gerade will ich Emma eine Nachricht schrei­ben, ob alles okay ist, als Sheila sich noch einmal zu Wort meldet: »Das war in Waterloo Station.«

»Ja. Sie ist zwei Tage die Woche in Plymouth«, sage ich, ohne aufzuschauen. Sheila weiß das. Wir haben uns gerade vor ein paar Tagen noch über den langen Arbeitsweg meiner Frau unterhalten.

»Darum habe ich mich auch so gewundert, sie in Waterloo Station zu sehen – die Züge nach Plymouth fahren doch von Paddington?«

Ich höre auf zu tippen und denke kurz nach. »Da hast du wohl recht«, sage ich schließlich. »Gestern ist sie nach Dorset gefahren, Feldforschung. Darum wohl Waterloo.«

Eigenartig, Emma hatte gestern Abend gar nichts davon erzählt, und ich hatte glatt vergessen nachzufragen.

»Ach, wie schön«, sagt Sheila. Ihre Stimme klingt jetzt wieder ganz nett, als säßen wir beide zusammen im Pub. »Wo denn in Dorset? Ich liebe die Küste dort.«

Diese Fragerei ist nicht nur nervig, sie sieht Sheila auch so gar nicht ähnlich. »Wo auch immer dieser Freund von ihr gerade Phytoplanktonproben sammelt«, antworte ich. »Ich weiß nicht mehr, wo genau.«

»Vermutlich Poole Harbour«, sagt Sheila nickend.

Was? Wieso kennt sie sich denn jetzt auch noch mit Phytoplankton aus, verdammt?

»Es war am späteren Vormittag«, fügt sie hinzu. Sie schenkt mir ein eigenartiges – beinah mitleidiges – Lächeln und wendet sich dann wieder ihrem Monitor zu.

Jonty schaut von seinem Schreibtisch auf. Er hat alles mitbekommen.

Worauf will sie hinaus? Sheila und ich haben im Pub schon öfter über Emma geredet, wie man halt über die Familie redet, aber das hier ist anders. Ich habe das Gefühl, gerade einen flüchtigen Eindruck davon zu bekommen, wie sie als Vernehmungsbeamtin gewesen sein muss (auf keinen Fall hat sie beim MI5 einen drögen Schreibtischjob gemacht). Sie ist höflich und ruhig, aber unterschwellig schwingt etwas mit, das mir weder gefällt noch verstehe ich es.

»Bestimmt mussten sie auf die Flut warten«, sage ich schließlich.

Ich erwähne nicht, dass Emma es in letzter Zeit nicht so hat mit der Pünktlichkeit – manchmal ein frühes Warnzeichen ihrer einsetzenden Depressionen –, aber das spielt keine Rolle. Das Gespräch scheint hiermit beendet.

Um drei Uhr stehe ich auf und mache mich auf den Weg ins Krankenhaus, und niemand weiß so recht, was sagen. »Alles Gute«, ruft Sheila mir im Hinausgehen nach.

Fünftes Kapitel

Leo

Ich kann es nicht ausstehen, wenn die Leute immer über das britische Gesundheitssystem meckern, aber während wir vierzig, fünfzig, fünfundsechzig Minuten vor Dr. Morus Sprechzimmer sitzen und warten, warten, warten, endlich hineingerufen zu werden, beginne ich vor Wut langsam zu brodeln wie ein giftiges Gasgemisch. Ich versuche, mich mit dem Nachruf auf einen ehemaligen Abgeordneten zu beschäftigen, eingeschickt von einem unserer Mitarbeiter aus Westminster, aber ich bin viel zu fahrig und fertig, um mich zu konzentrieren. Über den stummen Fernseher, der von der Decke des Wartezimmers hängt, flimmern Aufnahmen vom Haus der Rothschilds, einem hübschen alten Reihenhaus in Highbury, die zeigen, dass dort rein gar nichts geschieht.

Emma sitzt ganz still neben mir und starrt reglos auf ihr Handy.

Inzwischen sind ihre Haare gut sechs Zentimeter lang. Sie hat immer recht kurze Haare gehabt, kurz und lockig umspielten sie ihr Kinn, aber es werden wohl noch Monate vergehen, bis sie wieder so lang sind. Heute trägt sie einen schmalen schwarzen Clip in den Haaren. Selbst nach Monaten hochgiftiger Medikamente und Mörderstrahlen, die auf ihren Körper abgefeuert wurden, nach endlosen Bluttests und Tränen und Telefonanrufen und stiller Todesangst ist sie immer noch bildschön.

Ich beuge mich zu ihr hinüber, um ihr das zu sagen, aber mein Blick bleibt an ihrem Telefon hängen.

»Was zum Teufel?«, flüstere ich aufgebracht.

Sie ist doch tatsächlich gerade auf Amazon und sieht sich Särge an.

»Ich möchte einen geflochtenen Weidensarg«, flüstert sie zurück. »Wenn ich sterbe. Und ein naturnahes Begräbnis.«

Wie gelähmt starre ich auf das Display. Der Weidensarg, den sie sich gerade anschaut, geziert von einem bunten Wildblumenstrauß, kostet knapp fünfhundert Pfund und steht in einem sonnigen Wald voller wild wuchernder Glockenblumen.

»Emma, nein!«, sage ich. »Hör sofort auf damit.«

»Das Futter ist aus Biobaumwolle«, erklärt sie zu ihrer Verteidigung. »Aber es wird alles gut. Ich sehe mich bloß ein bisschen um.«

»Süße«, wispere ich und reibe mir die Stirn. »Bitte nicht.«

»Wir werden alle irgendwann sterben, Leo. Besser, man hat seine Schäfchen im Trockenen.«

»Ich … Okay. Tu, was du tun musst.«

Ein heißes Loch öffnet sich in meiner Brust. Ich könnte sie verlieren. Ich könnte sie wirklich verlieren.

Emma, die vermutlich merkt, was das mit mir macht, legt das Handy beiseite und schiebt ihre Hand in meine, aber ich halte das nicht mehr aus. Erbost marschiere ich zur Anmeldung, und just in dem Moment wird ihr Name aufgerufen.

Sechstes Kapitel

Emma

Das Problem dabei, den eigenen Ehemann anzulügen, ist, dass es alles und gar nichts verändert.