Ein Geheimnis aus Magie und Eis - Emily Bain Murphy - E-Book

Ein Geheimnis aus Magie und Eis E-Book

Emily Bain Murphy

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Beschreibung

Ein Fantasy-Abenteuer über zwei unzertrennliche Freundinnen in einer außergewöhnlichen Welt voller Magie, aufregender Balletttänze, zauberhafter Kleider und gefährlicher Intrigen.

Marit und Eve wachsen in einem Waisenhaus auf, Marit ist wie eine große Schwester für die jüngere Freundin. Sie kann mit ihren magischen Fähigkeiten außergewöhnliche, wunderschöne Kleider schaffen. Doch diese Kräfte haben einen Preis: Wer zu viel Magie anwendet, muss um sein Leben fürchten. Als Eve, eine talentierte Ballerina, von der reichen Tänzerin Helene Vestergaard adoptiert wird, nutzt Marit Magie, um als Schneiderin im Haushalt angestellt zu werden und ihre Freundin beschützen zu können. Denn Marits Vater starb einst in den Minen der Familie Vestergaard – ein Unfall? Und warum legt Helene so viel Wert darauf, dass alle ihre Dienstboten magische Fähigkeiten haben? Marit kommt einer Intrige auf die Spur, die bis hinauf zum König reicht. Nur Magie kann sie retten – oder in tödliche Gefahr bringen.

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Seitenzahl: 460

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Cover

Titel

Emily Bain Murphy

Ein Geheimnis aus Magie und Eis

Aus dem amerikanischen Englisch von Jana Wahrendorff

Insel Verlag

Impressum

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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Splinters of Scarlet bei Houghton Mifflin Harcourt Publishing Company.

eBook Insel Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2023.

© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2023© der Originalausgabe 2020 by Emily Bain MurphyAlle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski

Umschlagabbildungen: Shutterstock, Berlin

eISBN 978-3-458-77496-9

www.suhrkamp.de

Widmung

Für alle, die immer noch nach ihrem Zuhause suchen.

Und für Pete – eine Pflaume.

Motto

Der schmerzhafteste Zustand des Seins ist das Erinnern an die Zukunft, besonders an die, die man niemals haben wird.

Søren Kierkegaard

Die Mutter sagt, daß Alles, was Sie betrachten, zu einem Märchen werden kann, und von Allem, was Sie berühren, können Sie eine Geschichte machen.

Hans Christian Andersen

Etwas ist faul im Staate Dänemarks.

William Shakespeare

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

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Danksagung

Informationen zum Buch

Ein Geheimnis aus Magie und Eis

1

Marit Olsen

7. November 1866

Karlslunde, Dänemark

da ist blut auf eves kostüm.

Ich drehe meine Hand, gerade als sich ein weiterer purpurner Tropfen an der Fingerkuppe bildet. Auch er fällt auf die Spitze und läuft hinab auf die Lagen von Tüll, die ich in der letzten Woche akribisch aufgeschlagen habe, damit sie aussehen wie fluffiges Baiser.

Ich schreie auf, lasse die Nadel fallen und fluche laut.

Morgen Abend hat Eve den wichtigsten Auftritt ihres Lebens, und ich habe nichts Besseres zu tun, als ihr Kostüm mit meinem Blut zu ruinieren. Schnell sauge ich am Finger und sehe mich verstohlen in Thorsens Schneiderei um. Ausnahmsweise bin ich allein, umgeben von aufwendiger Spitze und Wollknäueln in gedeckten Tönen, Seidenschals voll bunter Vögel und einem Nadelkissen mit unzähligen Nadeln und perlmutternen Knöpfen.

Ich könnte noch mehr nehmen, denke ich. Thorsen lagert die unsortierte neue Ware in der zweiten Etage. Er würde nicht mal merken, dass etwas fehlt, bevor ich nächste Woche meinen Lohn dafür beiseitelege. Ich stehe auf. Immerhin wollte ich Eve dabei helfen, morgen Eindruck zu machen. Ich habe mir ein mit Glasperlen besetztes Kostüm vorgestellt, in dem sie funkelt wie ein Eiszapfen in der Sonne. Und nicht eins, in dem sie aussieht, als würde sie ihre Arabesken bei Nilas, dem Schlachterjungen, üben.

Morgen kommen Freja und Tomas Madsen zum Waisenhaus in der Mühle. Das Paar möchte ein Kind adoptieren. Allein bei dem Gedanken daran schnürt sich mir die Kehle zu. Ich habe mich umgehört und versucht, jede noch so winzige Information aus der verschwiegenen Waisenhausdirektorin Ness herauszukitzeln. Habe dem Getuschel der Diener gelauscht, wenn sie Stoffe aus der Schneiderei abgeholt haben. Soweit ich weiß, leben die Madsens zwei Städte weiter – also kann ich es mit der Kutsche an nur einem Vormittag hinschaffen –, und vermutlich sind sie Eves beste Chance auf eine Familie.

Wenn ich mich beeile, kann ich noch zusammensuchen, was ich für ihr Tutu brauche, bevor Agnes zurückkommt. Sonst verrät sie mich, noch ehe ich es die Treppe wieder hinunterschaffe.

Doch gerade als ich die erste Etage erreiche, klingelt die Glocke über der Tür und Agnes wirbelt herein, trockenes Laub im Schlepptau. Ich erstarre, die Hand auf dem Geländer.

»Was machst du da?«, fragt sie und zieht sich den Schal vom Hals. Wir arbeiten gemeinsam in Thorsens Laden und teilen uns die kleine Kammer oben, seit ich die Mühle vor drei Monaten verlassen musste, weil ich zu alt geworden war. Agnes ist kaum älter und trotzdem schon so schrullig und neugierig wie eine alte Jungfer. Eigentlich sogar noch schlimmer, denn sie liebt es, herumzuschnüffeln.

»Ich habe nur …«, setze ich an, doch sie hört mir überhaupt nicht zu.

»Hast du es schon mitbekommen?« Sie schüttelt den Kopf und streicht sich die vom Wind zerzausten Haare glatt. Mein Herz macht einen Satz. Agnes wirkt furchtbar hämisch. So ist sie nur, wenn sie schlechte Nachrichten überbringen darf.

»Was denn?«, frage ich vorsichtig.

»Die Mühle ist in hellem Aufruhr. Das Paar, das sich angekündigt hat, die Madsens – sie kommen doch nicht morgen.« Agnes wirft mir einen Blick zu und verzieht die Lippen zu einem grausamen Grinsen. »Sondern schon heute.«

Mir verschlägt es die Sprache. Eine köstlich selbstsüchtige Stimme in mir flüstert: Vielleicht wählen sie dann doch nicht Eve aus. Sofort verscheuche ich den Gedanken wie eine lästige Fliege, die mir um den Kopf schwirrt.

Agnes beobachtet mich mit wachsendem Vergnügen, und als ich mich umdrehe, folgt sie mir. Ich überlege, wie ich sie loswerde. »Ich glaube, hier oben war letztens eine Maus«, rufe ich über die Schulter. Sie kreischt auf und bleibt für einen Moment unsicher stehen. Bis sie sieht, dass ich nicht in unser Zimmer gehe, sondern weiterlaufe.

»Wo willst du hin, Marit?« Sie steigt hinter mir die Holzstufen hoch. Wir konnten uns noch nie ausstehen, aber ich habe es hoffentlich besser überspielt als sie. Agnes ist schon ein Jahr länger als ich zu alt für die Mühle, und die Verbitterung darüber zerfrisst sie innerlich. Die Art Verbitterung, die einen alle Leute von sich stoßen lässt. Die Art, bei der man niemandem gönnt, was man selbst nicht haben kann. Sei nicht wie Agnes, sage ich mir. Eve verdient eine echte Familie. Auch wenn das bedeutet, dass sie sie mir wegnehmen – den letzten geliebten Menschen, der mir auf dieser Welt noch bleibt.

Vielleicht spinnt mein Hirn die Lügen dieses Mal so gut, dass ich sie selbst glauben kann.

»Ich weiß wirklich nicht, warum du dir solche Sorgen machst«, ruft Agnes hinter mir. »Die Madsens können aus so vielen Mädchen wählen. Da hat Eve sowieso kaum eine Chance.«

»Halt den Mund.« Ich habe die zweite Etage fast erreicht. Agnes irrt sich. Ness scheint Eve sogar große Chancen auszurechnen. Nicht umsonst lässt sie die Mädchen tanzen. Eve ist die beste Tänzerin von allen.

»Es sei denn …«, beginnt Agnes, »Eve hilft ihrem Glück ein wenig auf die Sprünge.«

Auf der letzten Stufe halte ich inne. Sie knarzt laut unter meinem Gewicht.

»Was willst du damit sagen?«, frage ich tonlos.

»Ach, gar nichts. Bloß, dass man so einiges hört.« Sie schnalzt mit der Zunge. »Über Magie.«

Mir wird heiß, und das Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich gehe weiter, bis ich vor dem Stoffschrank stehe.

»Sie konnte schon immer gut tanzen«, fährt Agnes fort. »Ist doch ungewöhnlich. Vielleicht sogar unnatürlich.«

»Eve besitzt keine Magie.«

Magie. Von Geburt an auf einem bestimmten Gebiet herausstechen wie sonst nur Gelehrte. Zu Dingen fähig sein, von denen andere nur träumen. Magie – das Geschenk, für das man einen ungeheuer hohen Preis zahlt. Mir läuft ein Schauer über den Rücken, und ich muss an meine Schwester Ingrid denken. An den blauen Frost, der unter der zarten Haut ihrer Handgelenke entlanggekrochen ist.

Agnes zuckt mit den Schultern. »Mit Magie wird sie vielleicht ausgewählt«, trällert sie fröhlich. »Wenn der Firn ihr Blut nicht vorher zu Eis gefrieren lässt.«

Zähneknirschend knie ich mich hin und durchwühle die Kisten. Agnes ist so eine gehässige Schnepfe.

»Eve besitzt keine Magie«, wiederhole ich deshalb. »Sonst wüsste ich das ja wohl.«

Ich schnappe mir eine Handvoll Stoffe und eine Spule mit goldenem Garn, da begreift Agnes plötzlich, was ich vorhabe. »Hey! Dafür hast du nicht bezahlt!«, kreischt sie.

Ich stehe wieder auf und kann an nichts anderes denken als an Eve. Wie sie in der Mühle auf mich wartet. Wie ihr das Herz vor Aufregung bis zum Hals schlägt, während sie nervös mit den Fingern auf den Tisch trommelt. Wie sehr ich mir wünsche, dass die Madsens sie heute auswählen. Wie sehr ich mir wünsche, dass sie es nicht tun.

»Das sag ich Thorsen.« Agnes verschränkt die Arme, stellt sich vor mich und funkelt mich mit ihren eisblauen Augen herausfordernd an. »Dafür wirft er dich raus, dann habe ich das Zimmer endlich für mich allein.«

»Na, wenn das so ist …« Ich schiebe mich an ihr vorbei und greife nach dem Fläschchen mit den Glasperlen, die ich so unbedingt wollte. »Dann kann ich die hier ja auch noch mitnehmen.«

Ihr entrüstetes Japsen verschafft mir eine gewisse Genugtuung. Ich wirbele herum, sodass wir uns direkt gegenüberstehen. Dieses Mal behalte ich die Oberhand.

»Wie wäre es mit einem Handel, Agnes?«, schlage ich vor. »Was willst du?«

Nachdenklich zieht sie die Brauen zusammen und streicht ihre Schürze glatt. »Ich bekomme für einen Monat jeden Tag deine Mittagspause«, sagt sie. »Und zwar …« – unten schlägt die große Standuhr gerade zwölf – »… ab sofort.«

Ich strecke ihr die Hand entgegen. Sie schürzt die Lippen, ergreift sie dann aber doch. Die Sache ist abgemacht.

»Pass auf, dass du nicht an deinem Mittagessen erstickst!« Ich winke ihr mit meiner Schmuggelware nach. Ohne eine Antwort lässt sie mich oben an der Treppe stehen.

Gut so, denke ich und versuche, ihre Bemerkung von vorhin zu verdrängen. Über Magie und ihre Konsequenzen. Über den Firn, der sich so lange durch die Adern frisst, bis man irgendwann zu Eis erstarrt.

Ich umklammere das Fläschchen mit den Glasperlen.

Für das, was ich jetzt vorhabe, kann ich Agnes sowieso nicht gebrauchen.

2

ich schließe die tür hinter agnes ab, lege das geliehene Material auf meinen Arbeitstisch und ziehe den Stuhl näher an den glühenden Kohleofen in der Ecke. Draußen unter dem Fenster liegen nasse Blätter auf grauem Kopfsteinpflaster, und die stumpfen Enden der Mühlenflügel wandern langsam über die Dächer der Fachwerkhäuser. Die Menschen in Karlslunde eilen mit eingezogenen Köpfen durch den Wind am Laden vorbei, ihre Taschen so grausig geflickt, dass es mir in den Fingern juckt.

Ich betrachte Eves ruiniertes Kostüm und suche die Stellen in der Spitze, die ich nicht mit Blut besudelt habe. Meine Hände zittern, während ich mich durch den Stoff arbeite. Früher hat man in den Straßen immer einen furchtbaren Reim gehört. Sogar junge Mädchen auf dem Markt haben ihn gesungen und dabei fröhlich im Kreis getanzt: Magie fließt wie Wasser, Magie gefriert wie Eis. Gebrauchst du zu viel, musst du bezahlen den Preis.

Ich schaue aus dem Fenster und warte, bis die Straße leer ist. Waisen mit Magie sind genauso gefragt wie gefährdet. Geraten wir in die falschen Hände, werden wir womöglich gezwungen, unsere Magie bis zur Erschöpfung zu nutzen. Bis wir nach einem intensiven Aufleuchten ausbrennen wie Strohfeuer.

Selbst jetzt erschaudere ich bei der Vorstellung, Thorsen könnte herausfinden, wozu ich in der Lage bin.

Obwohl die Straße verlassen ist, zögere ich. Seit fast zwei Jahren habe ich keine Magie mehr genutzt. Nur in Notfällen, das habe ich mir fest vorgenommen und meine Magie wie eine hochexplosive Waffe in eine Kiste gesperrt. Aber das hier ist ja ein Notfall! Schließlich geht es um Eve. Ich atme tief ein, als wollte ich in dunkles Eiswasser tauchen. Magie zu nutzen ist erschreckend einfach – als würde ich meinen Lungen befehlen, sich mit Luft zu füllen. Es bedarf nur einer kleinen Anweisung, bloß ein wenig Aufmerksamkeit.

Ich schließe die Augen. Ist schon gut, rede ich mir ein und balle die Fäuste. So ein winziges, unbedeutendes bisschen Magie macht doch keinen Unterschied.

Ich öffne die Fäuste und in meinen Fingern spüre ich sofort das Kribbeln und Singen der Magie, die ich so lange unterdrückt hatte. Ich streiche über jedes unbefleckte Stück Spitze und klopfe sanft auf jeden Knoten. Aufregung erfasst mich, als etwas aus mir heraus und in die Knöpfe hineinströmt. Ich versuche, ruhig zu bleiben – als würde nicht gerade etwas Unglaubliches aus mir herausfließen. Oder als würde ich nicht die Zündschnur eines riesigen Feuerwerks entfachen. Ehrlich gesagt habe ich sogar vergessen, wie schnell und einfach es ist. Wie betörend gut Magie sich anfühlt. Die leichteste Berührung reicht aus, und schon lösen die Knoten sich wie von selbst.

Die unversehrte Spitze fällt mir in die Hände, so zart wie Glasseide und so verschnörkelt wie eine Schneeflocke.

Ohne Agnes im Nacken dauert es nur ein paar Minuten, die Tülllagen wieder in das aufwendige Wabenmuster zu verwandeln, für das ich mit bloßen Händen sicher Stunden gebraucht hätte. Ich arbeite flink und mit pochendem Herzen, befestige die Spitzenflicken auf dem Korsett, als würde ich ein Buntglasfenster zusammensetzen.

Dann schaue ich auf die Uhr. Vielleicht suchen die Madsens sich ja ein anderes Mädchen aus. Ich öffne das Fläschchen, das ich mitgenommen habe, und lege die goldenen und weißen Perlen auf den Stoff. Augenblicklich wickeln sich Fäden hindurch und halten sie fest. Ganz einfach, als würde ich pralle Beeren in eine Kuchenglasur drücken. Vielleicht kann ich genug Geld sparen, um Eve eines Tages selbst zu adoptieren.

Diesem Gedanken gehe ich niemals zu lang oder zu intensiv nach. Mit dem letzten Knoten auf dem Korsett schnürt sich auch mein Herz zusammen. Heute, sage ich mir entschieden, heute ist es das Beste für Eve, wenn die Madsens sich für sie entscheiden. Also tue ich alles für sie, was ich tun kann – ich gebe ihr dieses mit Magie gewobene Tutu.

Und dann lasse ich den Dingen ihren Lauf.

Hastig werfe ich mir das Kostüm über den Arm, schließe die Ladentür hinter mir ab und eile die Straße hinauf zum Waisenhaus. Ich gehe hier ein großes Risiko ein. Wenn Thorsen den leeren Laden entdeckt, schmeißt er sowohl mich als auch Agnes raus. Ich laufe vorbei am Metzgerladen, wo es nach Eisen riecht, an den rußverschmierten Fenstern des Schmieds und an der Gerberei mit dem durchhängenden Dach. Seit den Choleraepidemien und den beiden Kriegen zwischen Dänemark und Schleswig-Holstein gibt es viele Menschen wie mich – Waisenkinder, die hart für ihren Lohn schuften müssen. Wir betreiben die Läden und geben unseren geringen Lohn aus, um in den oberen Etagen zu wohnen. Meist verbringen wir das ganze Leben, halb verhungert und hoch verschuldet, innerhalb eines Häuserblocks. Als das runde Dach der Mühle vor mir auftaucht, beschleunige ich meine Schritte. Vor zehn Jahren hat mein Vater unter Tage in einem Kalksteinbergwerk gearbeitet, bis er und zwölf andere beim größten Minenunfall Dänemarks verschüttet worden sind. Nicht mal einen Monat später hat der Firn mir auch meine Schwester genommen, und von jetzt auf gleich war ich völlig allein auf der Welt.

Eve wünsche ich das nicht. Mit elf hat sie noch eine winzige Chance, adoptiert zu werden. Aber die heute ist vielleicht ihre letzte.

Ich schlüpfe durch die Küchentür ins Waisenhaus, schleiche am krummen Rücken von Silas, dem Koch, vorbei und husche die Seitentreppe hinauf. Es riecht nach Nelken und Kardamom. Silas macht also Kanelstænger – Zimtstangen. Eve und Gitte, eine andere Waise, hocken oben in dem zugigen Schlafsaal vor einem Spiegel und binden sich die Haare zu hohen Dutts zusammen.

Ich atme erleichtert aus. Ich bin nicht zu spät.

Meine Fingerspitzen kribbeln immer noch, als wären sie taub vor Kälte.

Gitte ist zuerst mit ihrer Frisur fertig und stupst Eve an. »Kommst du?«

Eve sieht mich im Spiegel. »Ja, gleich.« Sie zerrt an dem verblichenen pinken Kostüm, das Ness vermutlich irgendwo erbettelt hat. An manchen Stellen sitzt es viel zu locker, an anderen spannt es zu sehr.

Gitte nickt mir zu, als sie den Raum verlässt. »Ness sagt, die Madsens sind jeden Moment da.«

Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem Eve in der Mühle ankam. Die meisten Jüngeren haben in den ersten Tagen entweder gejammert wie weinerliche Kätzchen oder mit gesenktem Blick vor sich hingemurmelt. Eve hat geschwiegen, mit ihren dunklen Haaren, der dunklen Haut und ihren funkelnden dunkelbraunen Augen. Ein halbes Jahr lang hat sie kaum ein Wort herausgebracht. Bis ihr geliebter Wuschel eines Morgens an einer Sprungfeder hängen geblieben und einmal in der Mitte durchgerissen ist. Wuschel ist ein fürchterlicher Fetzen Stoff, der wohl mal wie ein Hase ausgesehen hat. Inzwischen fehlt ihm allerdings ein Auge, und die Füllung rutscht immer an die seltsamsten Stellen. Eve ist mit Tränen in den Augen zu mir gekommen, hat ihn hochgehalten und gefragt: »Kannst du ihn nähen?« Ich war die erste – die einzige – Person, die sie je um Hilfe gebeten hat.

Jetzt, klein, wie sie ist, mit ihren elf Jahren, reicht sie mir trotzdem bis ans Herz.

»Marit!« Sie dreht sich zu mir um. Als unsere Blicke sich treffen, schenkt sie mir ein zuckersüßes Lächeln. »Woher wusstest du, dass du kommen sollst?«

»Agnes war endlich mal zu etwas gut«, antworte ich und halte ihr das Tutu hin. »Natürlich nicht mit Absicht. Hier.«

Eve hüpft vor Freude auf und ab. »Wahnsinn!«, jubelt sie und fährt mit den Fingern ganz behutsam über den Stoff. »Du willst mich wohl unbedingt loswerden!«

Mein Magen krampft sich zusammen, und ich wende mich ab. »Los, beeil dich.«

Sie zieht sich um, und ich starre auf einen kleinen Fleck grauen Himmels. In der ersten Woche, in der ich nicht mehr in der Mühle wohnen durfte, habe ich mich jede Nacht aus Thorsens Schneiderei geschlichen und zum Schlafsaal hinaufgeschaut. Ich habe nicht damit gerechnet, dass mir Ness, Eve und mein Bett so fehlen würden. In der vierten Nacht habe ich entdeckt, wie Eve im flimmernden Licht der Straßenlaterne Pirouetten übte, während alle anderen schliefen. Eine ganze Stunde lang habe ich ihr zugesehen und als ich schließlich wieder zu Thorsens Laden zurückgegangen bin, glühte die Hoffnung in mir wie ein helles Kohlenstück.

Der Blüte einer Nachtkerze gleich verschließe ich mein Herz und frage mich, wie lange es wohl dauert, bis einem jemand, den man liebt, wieder fremd wird.

Ich schüttele den Gedanken ab. »Brauchst du Hilfe mit den Knöpfen?«

Statt einer Antwort entfährt Eve ein freudiges Quietschen. »Sehe ich jetzt aus wie Helene Vestergaard?« Sie wirbelt vor dem Spiegel im Kreis. Helene Vestergaard ist ein Waisenkind aus der Mühle, aus dem eine der meistgefeierten Ballerinas in ganz Dänemark geworden ist. Während die jüngeren Kinder nach Märchen von Hans Christian Andersen und die älteren nach Gruselgeschichten über Nachtalben verlangten, wollte Eve immer nur Geschichten von Helene Vestergaard hören.

»Sogar besser als sie«, erwidere ich, obwohl bei ihrem Namen plötzlich ein tiefer Groll in mir aufflackert. Helene hat sich in ein Leben getanzt, von dem niemand von uns auch nur zu träumen gewagt hat – bis hinauf auf die Bühnen der berühmtesten Theater Dänemarks. Hinein in eine Heirat, die ihr sogar einen Platz in den glanzvollen Reihen der wohlhabenden Vestergaards verschafft hat. Ich habe Eve nie erzählt, was für eine schmerzvolle Verbindung ich selbst zu den Vestergaards habe. Dass mein Vater in einer ihrer Minen gestorben ist. Dass die Entschädigung kaum gereicht hat, um seine Beerdigung zu bezahlen. Geschweige denn die meiner Schwester einen Monat später. Stattdessen habe ich ihr von Helene Vestergaards legendärer Karriere erzählt und mir dann auf die Zunge gebissen, noch lange, nachdem Eve eingeschlafen war. Ich habe darüber nachgedacht, auf welch merkwürdige Weise Helenes Leben doch mit meinem verwoben ist. Sie hat die Mühle für eine Zukunft mit den Vestergaards und ihren Minen verlassen. Mir hingegen haben die Minen der Vestergaards die Zukunft genommen, wodurch ich überhaupt erst in der Mühle gelandet bin. So schließt sich der Kreis. Ihre helle Seite der Medaille ist zugleich meine dunkle, und diese seltsame Verbindung werde ich niemals wieder los.

»Marit.« Eve zupft an ihrem Träger und ist vor Aufregung ganz zappelig. »Heute könnte es wirklich klappen.«

»Das stimmt«, sage ich fröhlich. Versuche, nicht mehr daran zu denken, wie sie mit vier aussah, als sie nachts in mein Bett geklettert ist, weil das Heulen des Windes ihr Angst eingejagt hat.

»Das heißt, wir sehen uns heute vielleicht zum letzten Mal …«, fährt sie fort.

Ich wende mich ab, denn ich weiß genau, worauf sie hinauswill. Nervös nestle ich an den Schnüren meiner Schürze herum.

»Bitte«, fleht sie. »Ich verdiene die Wahrheit, oder nicht? Du hast versprochen, dass du es mir eines Tages erzählst.« Ihre ausgetretenen Schuhe sind auf dem Holzboden kaum zu hören.

Vor Jahren – als sie fast alt genug war, es zu verstehen – hat sie mitbekommen, wie ein paar ältere Mädchen über gewisse Dinge getuschelt haben. Darüber, dass ihre Mutter Magie besessen hat. Dass sie daran gestorben ist. Ich habe Eve nie belogen, was meine eigene Magie betrifft. Trotzdem ist es ein Geheimnis, das ich noch niemandem anvertraut habe. Ich hüte es gewissenhaft seit der Nacht, in der meine Schwester starb. Und immer, wenn jemand über den Firn spricht, habe ich Angst, dass irgendwann Fragen gestellt werden, die ich unter keinen Umständen beantworten will.

»In Ordnung«, sage ich schließlich und fixiere eine Strähne, die sich aus Eves Dutt gelöst hat. »Du bist wohl wirklich alt genug, um es zu erfahren. Ich vermute, dass deine Mutter den Firn hatte. Ich habe mal aufgeschnappt, wie Ness darüber gesprochen hat.«

Eve zieht die Schultern hoch. »Meine Mutter war also zu unvorsichtig mit ihrer Magie?« Sie schluckt, als hätte ich etwas bestätigt, das sie schon immer befürchtet hat. »Als ich ein Baby war? Ihr war die Magie wichtiger … als ich?«

»So einfach ist das nicht.« Ich stecke die widerspenstige Strähne mit einer Nadel fest. »Du musst dir Magie wie ein Spiel vorstellen, bei dem der Einsatz sehr, sehr hoch ist.« Ich seufze. »Und manchmal … ist es das Risiko wert. Manchmal ist es die bessere Wahl, selbst wenn sie schwerfällt.«

»Ein Spiel.« Trauer verschleiert ihren Blick, als hätte sie sich irgendwo tief in ihrem Inneren angesammelt. Dabei wollte ich doch genau das immer verhindern. »Und sie hat verloren«, flüstert Eve.

Ich nicke knapp. Wie meine Schwester Ingrid.

»Eve?«, brüllt Ness plötzlich von unten.

»Komme sofort!« Auf einmal sieht Eve mich durchdringend an, ihre dunklen Augen funkeln im grauen Zwielicht des Schlafsaals. »Aber bist du dir wirklich sicher, Marit? Ich besitze nämlich keine Magie.«

Obwohl ich mir das schon gedacht habe, durchflutet mich ein so starkes Gefühl der Erleichterung, dass ich fast zusammenbreche. »Das ist gut«, sage ich sanft. Sie schlingt die Arme um mich. Ich erwidere die Umarmung und spüre ihre zarten Knochen.

»Warte mal. Du doch auch nicht … oder?«, fragt sie und entzieht sich mir ruckartig.

Ich weiß noch genau, was für ein Gesicht sie gemacht hat, als ich ihr vor Jahren ihren Wuschel zurückgegeben habe, der auf wundersame Weise geheilt war. Das magische Kribbeln in meinen Händen ist endlich verklungen, die angenehme Kälte schwindet. Ich widerstehe dem Drang, schnell einen prüfenden Blick auf meine Finger oder die dünne Haut an den Handgelenken zu werfen.

»Natürlich nicht.« Ich schiebe sie zur Tür.

Sie ist schon im Flur, als sie sich noch einmal zu mir umdreht. Sie scheint zu funkeln. Das Licht bricht sich in den Perlen auf ihrem Kleid.

»Das ist gut«, meint sie und lächelt. »Dann haben wir beide ja nichts zu befürchten.«

3

unten in der wohnstube der mühle hat jemand den Läufer vom abgenutzten Boden vor dem Kamin weggeräumt, um Platz für eine behelfsmäßige Bühne zu schaffen. Davor stehen wackelige Stühle im Halbkreis, rechts und links neben den beiden Ehrenplätzen: zwei prachtvolle Ohrensessel mit Teeflecken und von der Sonne ausgeblichenen Armlehnen. Immer, wenn Ness Wind vom Besuch möglicher Eltern bekommt, wird ein richtiges Theater veranstaltet. Um auch ja ein perfektes Bild zu erschaffen: Für die Frau, die Gärtnern liebt, haben wir im Dreck gesessen und den faden Abklatsch eines Gemüsebeets gejätet. Wenn ein Wissenschaftler kam, sollten wir mit dicken Büchern auf dem Schoß um die Feuerstelle hocken. Meistens mussten ein paar Mädchen mit engelsgleicher Stimme vorsingen, während wir anderen nur unseren dünnen Tee geschlürft und mit Zimt bestreute Kanelstænger genascht haben. Den Kindern mit Gesangstalent war eine Adoption jedes Mal so gut wie sicher.

Doch heute kann endlich Eve einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Denn heute lässt Ness sie tanzen.

Die Mädchen, die nicht auftreten, nehmen im Publikum Platz. Das Feuer knistert, und durch ein undichtes Fenster pfeift der Wind. Niemand spricht mit mir, obwohl ich erst seit drei Monaten weg bin. Ich weiß genau, warum. Mein Anblick erinnert sie an eine Zukunft, an die sie nicht denken wollen.

Ness sieht auf die Uhr.

Der Tee wird kalt.

Thorsens Laden ist schon seit einer Stunde zu, und die Ehrenplätze sind immer noch leer. Jede Minute, die ich länger bleibe, ist leichtsinnig – dumm sogar. Eve hat sich einen langen Pullover übergeworfen, damit noch niemand das Kostüm sieht, und harrt erwartungsvoll in perfekter Pose aus. Selbst, als die anderen Tänzerinnen gegen die Wand sacken oder auf die Stühle rutschen. Mit sieben hat sie stundenlang ein Buch mit Zeichnungen von Balletttänzerinnen studiert und sich jedes noch so kleine Fingerbeugen eingeprägt. Bis irgendwann die Seiten aus der Bindung gefallen sind.

Helene Vestergaard hat dieses Buch der Mühle geschickt.

Jetzt dehnt Eve sich, damit die Muskeln warm bleiben. Als sie mit den Fingern nervös gegen die Wand klopft, kann ich nicht anders, als an die ganzen Löhne zu denken, die ich für das Tutu verschwendet habe.

»Vielleicht kommen sie heute doch nicht …«, meint Ness. Da klopft es krachend an der Tür, und Eve reißt den Kopf hoch. Ein Paar im mittleren Alter tritt mit leuchtenden Augen ein. Der Mann mit graumeliertem Schnäuzer entschuldigt sich für die Verspätung. Ness winkt ab und führt die beiden in die Wohnstube, wo ein hübsches Mädchen namens Tenna sie mit heißem Tee und einem Knicks begrüßt. Zugegeben, das Lächeln der Frau ist herzerwärmend. Mir schnürt sich die Kehle zu, als sie auf den Ohrensesseln Platz nehmen. Wieder schaue ich auf die Uhr. Drei Mädchen mit hohen, klaren Stimmen singen eine einfache Melodie, Tenna liest eine Passage aus der abgegriffenen Mühlenbibel vor, dann winkt Ness endlich den Tänzerinnen zu.

In einer Reihe trippeln sie der Größe nach auf die Bühne. Die Kleinsten tragen mottenzerfressenen Tüll mit winzigen Röschen im Haar. Ich weiß, Ness tut ihr Bestes, doch wer will schon wie eine Süßigkeit im Schaufenster dargeboten und so verziert werden, wie ein bestimmter Kunde es wünscht? Nur um dann darauf zu hoffen, dass dieser Kunde auch ein schönes Leben zu bieten hat und sich nicht als Albtraum entpuppt. Eve kommt mit großen Schritten auf die Bühne, ihr Kostüm versteckt sie immer noch unter dem Pullover. Unvermittelt muss ich daran denken, wann ich das letzte Mal Magie benutzt habe, und Hitze steigt mir in die Wangen. Das war vor zwei Jahren. Ich wusste, dass ich wohl nicht mehr adoptiert werden würde. Dafür war ich schon zu alt. Doch in einem letzten Anflug von Verzweiflung habe ich mir mit Magie ein neues Kleid genäht. Nie werde ich Eves Blick vergessen, als sie mich an diesem Morgen gesehen und verstanden hat, wie unbedingt ich ausgewählt werden wollte – selbst wenn das hieße, sie zurückzulassen. Letztendlich hat es keine Rolle gespielt. Die Familie hat sich für Anja entschieden, mit ihrem engelsgleichen Lächeln und der entsetzlichen Neigung zu Wutausbrüchen. In dieser Nacht sind heiße Tränen in mein Kissen gesickert. Völlig umsonst hatte ich meine kostbare Magie genutzt und Eve verletzt. Das Kleid habe ich direkt am nächsten Morgen weggegeben, zusammen mit dem Traum, jemals adoptiert zu werden.

Tatsächlich entdecke ich das Kleid genau jetzt an einem der älteren Mädchen, die in der ersten Reihe Kekse anrichten. Der bestickte hohe Kragen wirkt etwas abgegriffen.

Dann lässt Eve den Pullover fallen, und alle im Raum atmen erstaunt auf.

Ich lehne mich im Schutz der Schatten zurück. Stolz und Freude wärmen mir das Gesicht, so sehr strahlt sie in ihrem Kostüm. Doch sie scheint die Reaktion des Publikums nicht mal zu bemerken. Sie reckt das Kinn, findet ihre Pose und wartet – jeder Muskel ihres Körpers steht unter Spannung.

Elin sitzt am Kinderklavier und stimmt etwas Seichtes, Fröhliches an. Eve wartet in der Reihe hinter den kleineren Mädchen. Während die Musik immer schneller und schneller wird, wippt mein Fuß ohne mein Zutun im Takt. Als schließlich Eves Einsatz kommt, ist es, als hätte sie die Musik all die Jahre in sich aufgesogen, für genau diesen Augenblick.

Jetzt öffnet sie den Riegel und lässt sie endlich heraus.

Ihr Körper biegt und streckt sich, fließend, anmutig. Eine leichte Brise weht durch den Raum, weil die Fensterscheibe es nicht ganz bis zum Sims hinunterschafft. Nicht mal der heiße Tee kann den leichten Geruch von Mottenschutzmittel überdecken, und trotzdem scheint es, als stünde Eve auf einer Bühne fernab von alldem hier. Oh, ich liebe sie. Neben ihr wirken die anderen Mädchen, als wären ihre Glieder aus Holz geschnitzt und bloß durch rostige Scharniere verbunden.

Ich will Frau Madsen am Arm packen und ihr zuflüstern, dass Eve in ihrem Leben noch keine echte Stunde Unterricht hatte. Dass sie die Musik einfach fühlt und in einen Tanz übersetzt. So, wie manche ganz natürlich eine andere Sprache sprechen.

Stellen Sie sich nur vor, will ich rufen, was mit einem echten Zuhause aus ihr werden kann, wenn man ihr eine Chance gibt. Was mit Ihnen aus ihr werden kann.

Eve tanzt, als wäre ihr Herz geschmolzen und würde ihr jetzt golden lodernd durch die Adern strömen. Ich kann kaum den Blick von ihr lösen, um die Madsens zu beobachten, die ihr ebenfalls gebannt zuschauen. Stränge aus Hoffnung und Angst verknoten mir das Herz, als ich den Ausdruck auf ihren Gesichtern sehe. Als wüssten sie, dass sie gerade zum ersten Mal ihre Tochter sehen.

Die Musik erreicht ihren Höhepunkt, und Eve schmeißt die Beine mühelos in einen improvisierten Jeté. Mit rotem Gesicht und außer Atem beendet sie die Vorstellung, schaut uns mit loderndem Blick an.

Die Madsens applaudieren, die Mädchen verbeugen sich und huschen in das Speisezimmer, um den Tisch zu decken. Es gibt Fleischbällchen, Essiggurken, Schwarzbrot, Hühnchen in brauner Sauce, Rhabarber-Kompott und Glögg – Glühwein – mit goldenen Rosinen. Mir rutscht das Herz in die Kniekehlen, als die Madsens Ness zu sich winken.

»Wir möchten mit einem der Mädchen sprechen«, sagt Frau Madsen. Mit dem Blick folge ich ihrem langen dünnen Finger zur anderen Ecke des Raumes, in der Eve steht, und hole zitternd Luft.

»Eve?«, fragt Ness. Eve macht einen Knicks.

»Nein«, meint Frau Madsen. »Die Blonde daneben.«

Ich stoße die Luft wieder aus. Sie meint Gitte. Gitte, die nicht so gut war wie Eve, nicht mal annähernd. Sie hat sich dieses Lächeln aufs Gesicht getackert, das mich sie alle hassen lässt. Mich selbst auch, denn, wenn ich ehrlich bin, bin ich überglücklich.

»Gitte! Komm her! Los, sprich mit den Madsens. Hier, in der Diele habt ihr eure Ruhe. Und dann … wird gefeiert!« Ness strahlt.

Ich mache einen Schritt auf Eve zu. Ich werde ihr von meinem Plan erzählen, jetzt sofort. Dass ich genug Geld sparen werde, damit wir uns irgendwann unsere eigene Zukunft aufbauen können. Dass, wenn uns niemand auswählt, wir uns immer noch gegenseitig wählen können. Ich bin schon halb bei ihr, als plötzlich die Stimme einer anderen Frau ertönt.

»Ness«, sagt sie sanft, bloß ein Flüstern aus den Schatten hinter uns. Erschrocken wirbeln alle im Raum herum. Sie muss sich beim Vortanzen hineingeschlichen haben.

Mit wild pochendem Herzen recke ich den Hals, um sie zu sehen. Die Frau tritt ins Licht.

»Wenn möglich, würde ich ebenfalls gerne mit einem der Mädchen allein sprechen.«

Als Erstes fallen mir ihre langen Ballerinabeine und die glitzernde Spange im Haar auf. Licht bricht sich in ihrer gläsernen Halskette und lenkt meinen Blick auf zwei gekreuzte Werkzeuge, Schlägel und Eisen. Das Wappen der Vestergaard-Minen.

Eve erstarrt hinter mir zur Salzsäule, als sie begreift, wer da vor ihr steht.

Helene Vestergaard.

Die Frau lässt den Blick durch den Raum schweifen, bis er an Eve hängen bleibt.

Sie setzt ein zartes Lächeln auf, streckt die anmutige Hand aus und sagt: »Mit dir.«

4

helene vestergaards augen ziert ein schwarzer, geschwungener Lidstrich. Die walnussbraunen Haare sind mit einer Spange hochgesteckt, auf der eine Glasblume funkelt. Ihr opulenter tiefschwarzer Samtmantel ist mit goldenen und pinkfarbenen Blüten bestickt und sicher mehr wert, als ich in zwei Jahren verdiene. Früher war sie auch eine Mühlenwaise, hat oben in einem der zugigen Zimmer geschlafen. Heute nimmt sie mit ihrer umwerfend souveränen Art den gesamten Raum ein. Sie ist die wohlhabendste Person, die ich je getroffen habe. Letztes Jahr, als Aleksander Vestergaard nach ihrer siebenjährigen Ehe gestorben ist, hat er seiner Frau alles vermacht – auch das gewaltige Minenimperium.

Bei ihrem Anblick kommt in mir der ganze Groll wieder hoch, den ich über die Zeit mit aller Macht unterdrückt habe. Er sickert durch meine Poren wie Rauch durch die Fugen einer Stahltür.

Ich stolpere vorwärts, als Helene Eve in einen ruhigen Raum nahe der Küche führt. Doch sie verschwinden darin, und die Tür fällt hinter ihnen ins Schloss.

Blut pocht mir erbittert und heiß in den Ohren, ich schmecke Eisen im Mund. Die Madsens zu akzeptieren war schon schwer genug.

Eve an die Vestergaards zu verlieren, wäre unerträglich.

Ich folge Ness in das kleine Büro, das sie unter einem Treppenabsatz eingerichtet hat, stürme ihr hinterher.

»Du hast den Besuch der Madsens auf heute gelegt, oder?« Anklagend stemme ich die Hände in die Hüften. »Du hast sie gebeten, früher zu kommen.«

Ness zuckt mit den Schultern und wühlt einen Stapel Papiere durch. »Ich habe alle eingeladen«, sagt sie abweisend. »Hatte so eine Ahnung, dass Helene vielleicht Interesse an Eve hat. Sie sind sich sehr ähnlich. Und ja, ich habe gedacht, ein kleiner Wettkampf kann nicht schaden, wenn so eine von euch adoptiert wird.« Ness ist gerissen, und ich bin mir sicher, dass sie sich auf ihre Art um uns sorgt. »Alles läuft genau, wie ich es mir vorgestellt habe.« Sie sieht mich mit wachsamem Blick an. »Freu dich lieber für sie.«

»Wo lebt Helene?« Meine Stimme trieft nur so vor Verzweiflung.

»Im Norden von Kopenhagen.«

»Das ist eine ganze Tagesreise von hier!« Vor Hilflosigkeit wird meine Stimme sogar noch höher. »Da werde ich Eve doch nie wiedersehen!«

Ness seufzt genervt auf. »Beruhig dich, Marit.« Sie klimpert mit einem Schlüssel und geht vor einer Schublade mit Unterlagen in die Hocke. »Sei nicht naiv. Du weißt so gut wie ich, dass die meisten Eltern Eve bisher nach einem einzigen Blick ausgeschlossen haben.«

Natürlich ist mir das aufgefallen. Bloß habe ich mir eingeredet, dass es nicht daran liegt, wie sehr sie in dem Meer aus weißen Kindern auffällt. Dass es nichts damit zu tun hat, dass ihre Mutter von den Westindischen Inseln kommt und niemand ihren Vater kennt.

»Ich habe dich nie für so selbstsüchtig gehalten«, spricht Ness weiter. »Versuch doch wenigstens, die Sache vernünftig zu betrachten.«

»Vielleicht kann ich das nicht, wenn es um die Vestergaards geht«, zische ich durch zusammengebissene Zähne. Diesen Ton hätte ich mir nie erlaubt, solange ich noch unter Ness' Dach gewohnt habe. »Mein Vater ist in ihren Minen gestorben, schon vergessen?«

Ihre Stimme klingt kalt. »Nein, das war ein furchtbarer Unfall. Aber was glaubst du denn, woher die Bettwäsche unterm Weihnachtsbaum letztes Jahr gekommen ist? Was denkst du, wer regelmäßig Geld für neue Schuhe schickt – der König von Dänemark?« Sie fixiert mich mit diesem eisigen Blick, bei dem selbst die fast erwachsenen Waisen noch zurückschrecken. »Marit«, sagt sie langsam und unnachgiebig, »kannst du Eve was Besseres bieten?«

Ich schnappe nach Luft.

Ness findet Eves Papiere und scheucht mich aus dem Raum.

Im selben Augenblick kommen Eve und Helene von ihrer Unterhaltung zurück, Eves Miene ist ein Wechselspiel zwischen Glück und Grauen. Als Helene Ness kurz zunickt, entdecke ich etwas Gläsernes an Eves Hals.

Nein.

Schlägel und Eisen.

Das Wappen der Vestergaards.

Ness klatscht in die Hände. »Es gibt was zu feiern!«

Eve sucht meinen Blick, als sie und Helene auf mich zukommen, und ich sehe in ihren Augen, dass sie Bescheid weiß: Das hier ist ein Abschied, ein schmerzhafter, aber sauberer Schnitt zwischen unserem alten Leben und dem neuen. Ich schlucke meine Tränen hinunter. Konzentriere mich stattdessen auf Helenes Mantel. Wie sie ihn hinter sich herzieht, wie die gestickten, goldenen Ranken und Blumen über den Boden gleiten, und ein tiefer, kehliger Schrei kriecht mir den Hals hinauf.

Sei nicht selbstsüchtig, fleht etwas in mir. Sei nicht wie Agnes. Doch ich bin so verzweifelt, dass es mir mittlerweile egal ist. Warum nehmen mir die Vestergaards immer die Menschen weg, die ich liebe?

Im nächsten Moment rutscht der Saum ihres Mantels neben dem Treppenabsatz über ein vorstehendes, rostiges Stück Rohr, und mir kommt eine furchtbar geniale Idee.

Schnell stelle ich einen Fuß auf den Mantel und verlagere das ganze Gewicht darauf.

Der Stoff bleibt hängen und reißt mit einem schrecklichen Geräusch.

»Oh«, ruft Helene und dreht sich um.

Ich verschwinde wieder im Hintergrund.

»Du liebe Güte!«, kreischt Ness. Sie lässt sich vor dem Riss auf die Knie sinken und schlägt die faltigen Hände zusammen. »Oh je, er ist bestimmt am Rohr hängen geblieben. Was für ein Unglück.« Ich ernte einen vernichtenden Blick. »Es tut mir schrecklich leid, Helene. Das Rohr wollte ich schon längst reparieren lassen.«

Ich schaue in Eves entsetztes Gesicht. Ihr kurzer Augenblick des Glücks scheint genauso zerrissen zu sein wie der Mantel, also gehe ich zu ihr und stelle mich neben sie. Meine Gefühle wirbeln herum wie die Fragmente in einem Kaleidoskop. Trauer, Angst, Verzweiflung.

»Entschuldigen Sie«, sage ich zu Helene und ringe mir einen untergebenen Knicks ab, »ich bin Schneiderin. Dürfte ich den Mantel für Sie flicken?«

»Ja – Marit kann helfen!«, ruft Eve eindringlich, als könnte der Unfall Helenes Entscheidung wieder ändern. »Marit ist die Beste. Sie hat auch mein Kostüm gemacht.« Die Locke, die ich vorhin festgesteckt habe, hat sich wieder gelöst und streift jetzt die dunklen Sommersprossen auf ihrer rechten Wange.

»Ich weiß nicht …« Helene mustert mich. »Das ist kaum zu schaffen. Ich fürchte, der Mantel ist ruiniert.«

»Dann haben Sie doch sicher nichts dagegen, wenn ich es versuche«, erwidere ich und strecke ihr mutig die Hand entgegen.

Helene wechselt einen Blick mit Ness, die knapp nickt.

»Na gut«, gibt Helene nach. »Danke. Gib dein Bestes und lass mich wissen, was es kosten wird.« Sie streift den Mantel ab. Darunter kommt ein cremefarbenes Jakonettkleid zum Vorschein. Es wird im Nacken gebunden, und von Helenes schmaler Taille fallen die Stofflagen wie Fontänen aus einem Springbrunnen. »Wir übernachten im Vindmølle Kro.« Sie reicht mir den Mantel. Für den Bruchteil einer Sekunde sieht sie mir herausfordernd in die Augen. »Und wir reisen morgen sehr früh ab.«

»Ich bringe ihn vorbei«, versichere ich selbstbewusst und nehme ihr den Mantel ab.

Was ich heute getan habe, kostet mich womöglich meine Arbeit, meinen Schlafplatz bei Thorsen und jegliches Wohlwollen von Ness – aber immerhin habe ich die Möglichkeit, Eve noch ein weiteres Mal zu sehen. Ich blicke ihr direkt in die Augen. »Ich komme zum Kro.« Dann schlinge ich die Arme so fest um den Mantel, dass das Herz mir nicht aus der Brust springen kann, und renne los.

* * *

Thorsen war vor mir wieder im Laden.

Schon als ich um die Ecke komme, sehe ich durch das Fenster, wie er Agnes mit knallrotem Gesicht anbrüllt und auf meinen leeren Arbeitsplatz deutet. Fluchend verstecke ich mich in einer Nebenstraße und presse mir den Mantel an die Brust. Ich könnte lügen. Behaupten, dass ich gerufen wurde, um diesen Auftrag von Frau Vestergaard abzuholen. Doch auf einmal fühle ich mich zu ausgelaugt und verletzlich, um mich ihnen zu stellen. Ich mache auf dem Absatz kehrt und schleiche durch die Seitengasse, hocke mich in den saubersten Aufgang, den ich finden kann, und lasse mir die Kälte der Stufen unter die Haut kriechen. Im besten Fall streicht Thorsen mir den Lohn der nächsten Wochen – was schlecht wäre, weil ich ihn schon für den Stoff von Eves Kostüm ausgegeben habe. Im schlimmsten Fall setzt er mich sofort ohne einen einzigen Rigsdaler in der Tasche vor die Tür. Und so, wie ich mich eben bei Ness aufgeführt habe, bin ich in der Mühle heute Nacht vermutlich auch nicht willkommen.

Doch eins nach dem anderen. Ich bin allein in dieser engen Gasse. Prüfend schaue ich zu den Fenstern hinauf: Die Läden sind alle geschlossen, die Jalousien fast komplett heruntergelassen. Über meinem Kopf kreisen gemächlich die Mühlenflügel. Bis jetzt habe ich mir noch nie erlaubt, so viel Magie zu nutzen. Nicht mal versteckt in meinem Zimmer, und schon gar nicht so kurz hintereinander.

Ich atme tief durch und streiche Helenes Mantel glatt, untersuche das Durcheinander von Rissen und losen Fäden. Mit den Fingerkuppen fahre ich über jeden Makel und rufe mir vor Augen, wie die Stickerei aus goldenen Ranken und Reben vorher ausgesehen hat. Die Magie in mir regt sich, ich spüre, wie mir Funken durch die Adern zucken. Selbst die Furcht vor dem Firn kann das Prickeln der Vorfreude nicht ersticken. Ich lasse die Magie durch mich hindurchfließen, fahre behutsam mit den Fingern über die ausgefransten Stellen des Mantels. Unter meiner Berührung finden die richtigen Fäden zueinander und verknüpfen sich wieder.

Was mein Vater wohl dazu sagen würde? Als er noch am Leben war, hat er mir verboten, Magie zu benutzen. Er hat sie gefürchtet, und das zu Recht.

Zum Glück hat er nicht lang genug gelebt, um zu erfahren, was sie Ingrid angetan hat.

Noch vor ein paar Jahrzehnten – unter einem anderen König – hätte schon der kleinste Funke Magie gereicht, um auf dem Scheiterhaufen zu landen. Inzwischen hat man im Großen und Ganzen eingesehen, dass wir für uns selbst wohl die größte Gefahr darstellen. Man schaut weg und tut, als würden wir nicht existieren. Denn die Dinge, die hinter vorgehaltener Hand durch Magie entstehen, sind nützlich – abgesehen von dem unangenehmen Nebeneffekt, dass sie uns letzten Endes umbringt. Deshalb war mir schnell klar, dass wohl niemand wirklich Gutes hinter Waisen mit Magie her sein würde. Mir haben sich die Zehennägel aufgerollt bei all den Schauermärchen, die ich mir als Kind anhören musste: Geschichten über Menschen, die entführt und gezwungen wurden, ihre Magie zu nutzen, bis der blaue Frost des Firns sich durch ihre Adern gefressen und sie getötet hat. Manchmal habe ich selbst abends in der Mühle eine Gruselgeschichte erzählt – bloß damit niemand Verdacht schöpft. Doch es hat wehgetan, dort im Dunkeln zu sitzen und den anderen Mädchen zu lauschen. Angeblich hätten wir blaue Knochen und einen unstillbaren Appetit und seien nach dem Tod eifersüchtig auf die Lebenden. Draugar haben sie uns genannt – »Wiedergänger« –, denn manchmal lässt der Firn die Körper der Toten in unnatürlichen Haltungen zurück. Manche Leichen sitzen aufrecht, nachdem das Blut zu Eis gefroren ist, als würden sie eines Tages einfach wieder aufstehen. Eltern verbieten ihren Kindern, darüber zu reden. Es seien bloß alberne Legenden und Geschichten. Doch alte Ängste und Gewohnheiten lassen sich nur schwer ablegen. Auf dem Scheiterhaufen landen wir heute zwar nicht mehr – doch die Furcht vor den Draugar ist immer noch so groß, dass wir nach dem Tod verbrannt werden.

Auf einmal sehe ich Ingrid vor mir stehen, ein Geist meiner Vergangenheit.

»Ich glaube …«, flüstert sie und starrt benommen auf ihre Handgelenke hinab, »ich glaube, ich bin zu weit gegangen.«

Ich beiße die Zähne zusammen. Spüre, wie die Angst vor dem Firn sich immer weiter durch meinen Kiefer bohrt. Für solche Erinnerungen habe ich jetzt keine Zeit.

Stattdessen begutachte ich Helenes Mantel und lasse beim Anblick meiner Arbeit sogar ein kleines Lächeln zu. Der Riss ist verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Als hätten die Fäden ganz genau gewusst, wo sie schon immer hingehört haben. Ich habe kein Geld, um mich mit einem heißen Kaffee aufzuwärmen. Zurück in Thorsens Laden kann ich auch nicht, also lege ich mir den Mantel um die Schultern und lasse mich von seiner Weichheit umschließen. Ein leichter Hauch Parfüm steigt mir in die Nase. Es duftet nach Frühling und Narzissen.

Vielleicht schaffe ich es doch irgendwie nach Kopenhagen.

Ich weiß noch genau, wie Eve mich mit ihren großen, dunklen Augen angeblinzelt und mir Wuschel entgegengestreckt hat. Mit welcher Ernsthaftigkeit sie mich angewiesen hat, nur den Riss zu flicken, nichts sonst. Denn sie hat ihn geliebt, so perfekt und hässlich, wie er war. An dem Tag hat sie angefangen, sich ihren Weg in mein verschlossenes Herz zu sticken, obwohl ich das überhaupt nicht wollte. Weil ich mich vor dem heutigen Tag gefürchtet habe. Und ich will nicht wissen, was morgen passiert, wenn all ihre widerwilligen Stiche mit einem Ruck wieder aufgerissen werden.

Die Nacht färbt den Himmel schwarz. Ich laufe vorbei an Mathies' Bäckerei mit der gold-rot-gestreiften Markise, die nach jedem Schnee ein bisschen weiter durchhängt. In der Weihnachtszeit schenkt Mathies den Waisenkindern immer Honigkuchenherzen mit Schokoglasur. Mal für Mal habe ich meins sofort verschlungen, doch Eve hat ihres eingewickelt und unter dem Bett versteckt, damit sie jeden Tag einen winzigen Bissen nehmen konnte und es bis Neujahr reichte. Vor dem Fenster der Bäckerei bleibe ich stehen, mir weht der Duft von frischem Brot entgegen. Wie die Welt wohl aussehen würde, wenn ich alles durch eine bloße Berührung mit den Fingern reparieren könnte? Jeden Fetzen, jedes durchgewetzte Loch im Hosenbein, jede traurige, alte Markise. Wie viel Gutes könnte ich tun, wenn es mich nicht so viel kosten würde?

Ob es da draußen wohl jemanden gibt, der die Knochen und Tränen der Menschen heilen kann wie ich Stoffe?

Im Schutz der Dämmerung und ermutigt von der Magie, die mir immer noch in den Adern pulsiert, halte ich inne. Dann strecke ich die Hand aus und fahre mit den Fingern rasch über die Markise.

Vielleicht komme ich, wenn mein Plan scheitert und Eve für immer weg ist, morgen wieder und sehe zu, wie Mathies entdeckt, dass sie repariert wurde.

Ich wickle mir Helenes Mantel wieder enger um den Körper und eile weiter.

Das Vindmølle Kro ist ein Gasthof am Stadtrand, die einzelnen Hütten sind in Weiß- und Olivtönen gehalten und mit Strohdächern gedeckt. Aus dem Kamin der zweiten Hütte schießen Rauchschwaden empor, so dick und bleich wie Schlagsahne. Die Luft riecht nach Zimtbirnen und verbrannten Blättern.

Entschlossen klopfe ich an die Tür.

»Wer ist da?«, kommt es von drinnen.

Ich räuspere mich. »Marit Olsen. Mit ihrem Mantel?«

Sobald Helene Vestergaard die Tür öffnet, strecke ich ihn ihr entgegen. Hinter ihr steht Eve. Sie trägt ein neues, purpurnes Kleid mit rosafarbenen Satinbändern und dazu schwarze Stiefel, die glänzen, als hätte jemand sie in Öl getaucht. Zu ihren Füßen liegt ein geöffneter Koffer, aus dessen Innerem mir die goldenen Perlen ihres Kostüms entgegenfunkeln.

Peinlich berührt ignoriere ich das Stechen der Eifersucht in meinem Magen. Wie es sich wohl anfühlt, nach all den Jahren der Sehnsucht endlich ausgewählt zu werden?

Helene nimmt mir den Mantel ab und untersucht ihn. Ihre Miene bleibt unergründlich.

»Und du arbeitest in einer Schneiderei?«, fragt sie schließlich. Ich nicke, und sie winkt mich herein, in den Raum mit den freiliegenden Deckenbalken und dicken Steppdecken, die ordentlich gefaltet auf zwei Strohbetten liegen.

»Marit hat das prima gemacht, oder?«, fragt Eve. Im Ofen knistert das Feuer, und das Vestergaard-Wappen glüht an ihrem Hals. Sie sieht Helene und mich an, ihr Blick hüpft zwischen ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft hin und her. Verzweifelt versuche ich, mir ihre dunklen Sommersprossen einzuprägen, das Muttermal direkt unter ihrem Ohr, ihr Haar, das ihr wie weiche Daunen aus den Schläfen sprießt.

»Ja, Eve«, antwortet Helene. Mit den Fingern streicht sie über die Wirbel. »Die Nähte sind hervorragend.« Während sie einen kleinen, mit Blumen bestickten Geldbeutel hervorholt, wage ich zum ersten Mal, sie genauer anzuschauen. Ihre Augen sind von einem satten Braun – süß, dunkel und intelligent, umrahmt von dichten Wimpern und hohen Wangenknochen. Die Hände wirken so zart wie die Schale eines Vogeleis. Ganz im Gegensatz zu meinen mit den Schwielen und den abgenagten Fingernägeln.

»Wie viel verlangst du für deine Arbeit?«, fragt Helene.

»Eigentlich«, setze ich an, »würde ich als Bezahlung gerne etwas anderes vorschlagen.«

Sie zieht eine Augenbraue hoch und mustert mich neugierig.

Eve erstarrt hinter uns und lauscht.

»Ich möchte Sie bitten, mich einem Schneider in Kopenhagen zu empfehlen. Auf Grundlage meiner Arbeit an Ihrem Mantel.«

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Ein Gefallen, von einer Mühlenwaise an eine andere.

Eine Empfehlung von Helene Vestergaard wird in Kopenhagen sicher viel wert sein. Sie hat bestimmt einen bevorzugten Schneider. So hätte ich die Möglichkeit, Eve hin und wieder zu sehen, wenn sie in den Laden kommen. Es ist meine letzte, meine beste Chance.

»Du hast auch Eves Tutu genäht?« Helene mustert mich noch immer. »Hast du viel Erfahrung mit dieser Art Arbeit?«

»Etwas«, lüge ich.

In Helenes Hand klimpert eine beträchtliche Menge Rigsdaler. »Ein interessantes Angebot«, überlegt sie. »Aber ich habe einen Gegenvorschlag. Ich suche schon länger nach jemandem mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten, um meine Kleider nähen zu lassen. Und jetzt auch Eves.« Das Feuer im Kamin knackt laut.

»Vielleicht möchtest du mitkommen und für mich arbeiten.«

Augenblicklich scheint jegliche Luft aus dem Zimmer zu entweichen.

»Diese Arbeit hier ist … außergewöhnlich gut«, fährt Helene fort. »Bedenkt man die kurze Zeit, ist die Qualität wirklich bemerkenswert.« Sie blickt auf den Mantel hinab. »Ich zahle gut und stelle dir Kost und Logis. Doch ich erwarte natürlich, dass deine Arbeit diesen hohen Standard beibehält.«

Sie wirft mir einen vielsagenden Blick zu, und mir läuft ein Schauer über den Rücken.

Sie weiß Bescheid.

Sie weiß von der Magie.

»Natürlich will sie!«, ruft Eve und hüpft auf mich zu. »Marit, du kannst mit uns kommen!«

Mein Herz macht einen Satz. Ich könnte mit ihnen gehen.

Bei Eve sein.

Das ist alles, was ich mir immer gewünscht habe.

Doch es bedeutet auch, ein Arrangement mit ebender Familie einzugehen, die mir meinen Vater genommen hat, und die eine Sache zu tun, die er mich angefleht hat, nicht zu tun.

»Entscheide dich schnell«, meint Helene. »Wir reisen im Morgengrauen ab.«

Ich kann bloß nicken, und sie drückt mir den Haufen Rigsdaler in die Hände. Mehr, als ich in einem Monat bei Thorsen verdiene. »Das ist für deine heutige Arbeit.«

Eve fällt mir um den Hals. »Frau Vestergaard war vorhin mit mir in einem Laden, und ich durfte mitnehmen, was ich will«, flüstert sie und schiebt mir etwas in die Hand. Einen silbernen Fingerhut mit winzigen geknüpften Knoten am Rand. »Den hab ich für dich ausgesucht, damit du mich nicht vergisst. Aber Marit, jetzt …« Sie stockt vor Aufregung. »Jetzt können wir zusammenbleiben!«

Ich schließe die Finger um die eisernen Knoten, in Silber getaucht und für die Ewigkeit erstarrt. Das erste Geschenk ihrer neuen Familie, und sie gibt es mir. Sanft hauche ich Eve einen Kuss auf die Stirn. Spüre, wie die Angst mit ihren Flügeln wild gegen einen Eisenkäfig schlägt.

Dann schiebe ich den Fingerhut in meine Tasche und renne den ganzen Weg zurück bis zu Thorsens Laden.

Ich reiße die Tür auf und stürme an ihm vorbei nach oben. Er und Agnes sind mir direkt auf den Fersen.

»Wo warst du?«, donnert er.

»Ich gehe«, erkläre ich und stopfe hastig Kleider in eine ausgeleierte Reisetasche. Thorsen brüllt mich an, sein Gesicht wird immer röter, und Agnes lehnt mit selbstgefälligem Grinsen an der Wand, die Arme vor der Brust verschränkt. Ich hebe eine lose Diele aus dem Boden und hole die einzigen Dinge hervor, die für mich noch einen sentimentalen Wert haben: ein Buch mit Hans Christian Andersens Märchen, die mein Vater mir vorgelesen, und den letzten Brief, den er je geschrieben hat. Dann fliege ich die Treppen wieder nach unten, ziehe die Hälfte des Geldes von Helene aus der Tasche und knalle es auf den Tisch. Es reicht, um die Perlen und den Stoff zu bezahlen, die ich genommen habe, und eine kleine Wiedergutmachung, weil ich Thorsen so überstürzt verlasse, ist auch noch drin.

»Macht's gut!«, rufe ich, und während mir das Herz prickelnde Aufregung und Furcht durch die Adern pumpt, ziehe ich die Tür von Thorsens Laden ein letztes Mal hinter mir ins Schloss. Wieder renne ich zum Kro. Zur Wärme. Zu Eve. Sicher, Magie für die Vestergaards zu nutzen, könnte mich sehr viel kosten. Sogar mein Leben.

Doch wenn ich hierbleibe … was für ein Leben habe ich dann noch?

Ich hämmere gegen die Tür.

»Ich nehme das Angebot an«, keuche ich, als Helene sie einen Spaltbreit öffnet. Ich sehe an ihr vorbei direkt zu Eve. »Ich komme mit euch.«

Helene tritt beiseite und lässt mich hinein. Eve stürmt auf mich zu und schlingt mir die kleinen, vertrauten Arme um die Taille. »Morgen früh geht es los.« Helene schließt die Tür hinter mir mit einem endgültigen Klicken ab.

5

Philip Vestergaard

1849

Faxe, Dänemark

da ist blut auf meinem ärmel.

Ein Fleck, als hätte jemand die Spitze eines Pinsels in Rost getunkt und damit über die Stelle gestrichen, an der das Hemd auf mein Handgelenk trifft. Ich nehme einen tiefen Zug der rußigen Luft und versuche, den Fleck wegzureiben. Doch meine Finger sind dreckig und das Blut bereits eingetrocknet.

Schnell verstecke ich den schmutzigen Ärmel hinter dem Rücken und verdränge die Erinnerung daran, woher der Blutfleck kommt. Denn heute habe ich etwas Wichtiges vor: Ich will um eine Arbeitsstelle betteln.

Das Holzschild über meinem Kopf schwingt und knarrt. Während ein Wagen mit wackligem Rad auf der Straße vorbeiruckelt, hebe ich die Hand und klopfe an die Tür der Fabrik.

Das hier habe ich mir schon vorgenommen, als mein Vater und mein Bruder letztes Jahr in den Krieg gezogen sind und dabei »Den tapre Landsoldat« – der tapfere Soldat – gesungen haben. Sollte das Schlimmste eintreten – sollten Männer in Schwarz mit Nachrichten aus dem Krieg an unsere Tür klopfen –, würde ich mein bestes Hemd anziehen und mich in der Stofffabrik am Stadtrand vorstellen. Dem Gesetz nach muss ich zwar zur Schule gehen, aber was bringt mir das Lernen, wenn ich dabei verhungere? Ich denke an meine Mutter. Daran, wie ihre schmalen Schultern gezittert haben, als sie heute Morgen fast eine Stunde lang denselben Teller wieder und wieder abgetrocknet hat. Also reiße ich mich zusammen und warne meine Stimme, bloß nicht dünn zu klingen.

Die Tür schwingt auf, ein Mann mit Brille und rußverschmierter Schürze steht vor mir und starrt erwartungsvoll und verärgert zugleich auf mich hinunter. »Ja?«

Ich rutsche mit den Füßen in meinen Schuhen nach hinten. Sie sind eine halbe Nummer zu klein. »Ich würde gerne über eine Arbeitsstelle sprechen.« Meine Stimme klingt nur ein klein wenig dünn. Ich schlucke. Drinnen ist es warm, die Hitze strömt heraus in die schneidende Kälte. Ich habe Geschichten gehört, in denen Menschen gestorben sind oder sich selbst schrecklich verstümmelt haben. Doch auf einmal will ich nichts mehr, als hineinzugehen – hinaus aus der bitteren Kälte und hin zu einer der Maschinen, die laut genug sind, um meine eigenen Gedanken zu übertönen.