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Studienarbeit aus dem Jahr 2009 im Fachbereich Geschichte Europas - Mittelalter, Frühe Neuzeit, Note: 6, Universität Luzern (Historisches Seminar), Sprache: Deutsch, Abstract: Stadens „historia“ war ein Bestseller des 16. Jahrhunderts. Der anhaltende Erfolg der „historia“ wäre aber nicht möglich gewesen wäre, wenn das Publikum nicht von der Glaubwürdigkeit des Berichts als authentischer Bericht eines Augenzeugen überzeugt worden wäre. Um möglichst viele Rezipienten von der Authentizität der „historia“ zu überzeugen, stand Staden vor der Herausforderung beide grundsätzlichen Wissenschaftskonzeptionen zu bedienen, die in dieser Zeit gegeneinander und gleichzeitig für Glaubwürdigkeit standen: dem Anspruch auf Wahrheit qua Rückbezug auf Autorität und Tradition einerseits, der Abstützung des Wahrheitsanspruches auf Empirie und eigener Augenzeugenschaft andererseits. Der Erfolg der „historia“ gründet sich darauf, dass es Staden gelingt, das Spektakuläre, das Wunderbare, das schier Unglaubliche, wovon er berichtet, für die Rezipienten in authentische und glaubwürdige Tatsachen zu verwandeln.Eine wichtige Rolle in diesem Beglaubigungsprogramm nahm der Humanist und Professor für Anatomie Johannes Eichmann, genannt Dryander, ein. Er bürgt in seiner Vorrede für die Zuverlässigkeit von Staden qua verlässlicher Herkunft und agiert quasi als „wissenschaftliche Absicherung“ des Werks. Staden gelang es, seine in der Neuen Welt gemachten Erfahrungen und Beobachtungen mit seinen von der klassischen Tradition geprägten imaginären Bildern zu vereinbaren und sich mit seinem Bericht in bereits bekannte semiotische Zusammenhänge einzuschreiben. Dadurch, dass das Berichtete zwar grundsätzlich den Anspruch auf Neuheit hatte, aber dennoch in einem Gewand aus bestens bekannten und populären Textstrukturen daherkam und zahlreiche Anleihen an verbreitete erzählerische Motive und Topoi machte, wurde zum einen die Glaubwürdigkeit des Berichts gesteigert, zum andern aber auch dessen Popularität. Die starke Fokussierung auf sein eigenes Gefangenenschicksal und die Tatsache, dass er den Leser an seinem Innenleben Anteil nehmen lässt, macht die „historia“ zu einem Sonderfall innerhalb der deutschsprachigen Amerikaliteratur des 16. Jahrhunderts und lässt seinen Bericht deutlich aus den rein historiographisch ausgerichteten Berichten eines Philipp von Hutten, Nikolaus Federmann und Ulrich Schmidl heraustreten. Besser als diese verstand es Staden, mit der Erwartungshaltung der Rezipienten zu spielen und in bis dahin ungewohntem Ausmass mit bekannten Erzählmotiven, etwa mit der anthropophagen Sitte, zu jonglieren und diese in seinen Bericht einfliessen zu lassen.
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Veröffentlichungsjahr: 2009
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Hans Stadens „Wahrhaftig historia“ von 1557 im Kontext der deutschen Südamerikaliteratur der Zeit
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Einleitung
Hans Staden, um 1525 in der Nähe von Marburg im heutigen Bundesland Hessen geboren, war ein deutscher Söldner in portugiesischen Diensten. Zwischen April 1547 und Oktober 1548 unternahm er als Büchsenschütze eine erste Brasilienreise. Dieser ersten Reise räumt Staden in seinem Bericht allerdings nur wenige Seiten ein.
Ein halbes Jahr später unternahm Staden eine zweite Reise nach Südamerika. Sein Ziel war„das Goltreiche landt Pirau“(Peru), das er allerdings nie erreichte. Das Schiff, zu deren Besatzung er gehörte, sank vor der Küste Brasiliens und Staden strandete im Hafen von Santa Catarina. Ganze zwei Jahre will Staden mit den restlichen Überlebenden dort festgesessen und sich von Ratten, Eidechsen und„andere seltzame getier“ernährt haben, bevor sie sich entschlossen, den Versuch zu wagen mit einem Boot zur nahe am Festland gelegenen Insel San Vicente zu gelangen. Dort wurden sie von den Portugiesen, die die Insel kontrollierten, freundlich aufgenommen. Der erfahrene Büchsenschütze Staden beschloss darauf, gegen guten Sold den Kommandantenposten einer gegen die Ureinwohner errichteten Festung im nahe gelegenen Bertioga anzutreten. Nach rund zweijähriger Dienstzeit wird Staden eines Tages auf der Jagd von Indianern aus dem Stamm der Tupinambà überwältigt und verschleppt. Seine Beschreibung der Gefangennahme liest sich wie das Drehbuch zu einem schlechten Hollywood-Film aus den 1950er Jahren:„Wie ich nun so durch den waldt gieng/ erhuob sich uff beyden seiten des wegs eyn gross geschrey auff der wilden leut gebrauch/ unn kamen zuo mir ingelauffen/ da erkante ich sie/ und sie hatten mich alle rund umbher bezirckt/
und ire bogen uff mich mit pfeilen gehalten.“1
Neun Monate lebte Staden nach eigener Aussage als Gefangener unter den Tupinambàs, die er als „nacktegrimmige Menschenfresser Leuthe“beschreibt. Dabei will er mehrmals beobachtet haben wie andere europäische Gefangene erschlagen, zerteilt, geröstet und schliesslich„unter gar grossem geschrey“aufgefressenen wurden. Durch die„hilff Gottes“gelingt es Staden zu überleben und schliesslich an Bord eines französischen Handelsschiffes in seine Heimat zurückkehren zu können, wo er im Frühjahr 1555 nach sechsjähriger Abwesenheit eintrifft.2Nur zwei Jahre später erscheint 1557 sein Erlebnisbericht, die
1Staden (1978), Buch I Kap. XVIII. Zitate aus der „historia“ folgen dem Faksimiledruck von Günther Bezzenberger (1978), online verfügbar unterhttp://www.obrasraras.usp.br/obras/000152/.
2Die europäische Expansion nach Brasilien ist im 16. Jahrhundert stark geprägt durch die Rivalität zwischen Frankreich und Portugal. Das Ausnützen von Feindschaften zwischen verschiedenen Indianerstämmen und das Pflegen von Handelsbeziehungen zur indigenen Bevölkerung waren dabei entscheidende Faktoren der französischen und portugiesischen Expansionspolitik. Zwei der wichtigsten indianischen Stämme an der brasilianischen Küste waren die Tupinambàs und die Tupiniquins. Während die Tupinambàs Handelsbeziehungen zu den Franzosen unterhielten, hatten die verfeindeteten Tupiniquins ein Bündnis mit den Portugiesen. Für eine breiteren historischen Kontext der europäischen Expansionsgeschichte nach Amerika: Urs Bitterli: „Die Entdeckung Amerikas“
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Einleitung
„Wahrhaftig historia“.3Der Bericht ist in zwei Bücher aufgeteilt. Das narrative erste Buch, in dem Staden vor allem von den Schrecknissen aus den neun Monaten seiner Gefangenschaft erzählt, umfasst 53 Kapitel, das deskriptiv-ethnographische zweite Buch, in dem Staden über Flora und Fauna Brasiliens, sowie über Lebensgewohnheiten, Religion und kannibalistische Praktiken der Ureinwohner berichtet, 36 Kapitel.
Die „Wahrhaftig historia“ gilt als „Klassiker der Reiseliteratur“. Er fehlt weder in „Kindlers Literaturlexikon“4, noch haben ihn Film und Fernsehen übersehen.5Bereits im Erscheinungsjahr 1557 erlebte das Original zwei Auflagen zur Fasten- und Herbstmesse. Stadens „historia“ hat eine breite Rezeption erfahren. Im 16. Jahrhundert wurde der Augenzeugenbericht europaweit nachgedruckt. Bis heute sind zahlreiche weitere Auflagen in acht verschiedenen Sprachen und über 80 Ausgaben - vom Faksimile bis zur jugendgerechten Nacherzählung - erschienen.6