Ein Grab für zwei - Anne Holt - E-Book + Hörbuch

Ein Grab für zwei Hörbuch

Anne Holt

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Beschreibung

Selma Falck hat in ihrem Privatleben und ihrer Karriere als Rechtsanwältin den Tiefpunkt erreicht. Genau in diesem Moment bittet Jan Morell, der Vater von Norwegens bester Skifahrerin, sie um Hilfe. Seine Tochter sieht sich Doping-Vorwürfen ausgesetzt, aber er ist von ihrer Unschuld überzeugt. Zwei Monate vor den Olympischen Winterspielen steht Selma vor der scheinbar unmöglichen Aufgabe, Morells Namen reinzuwaschen. Als jedoch ein anderer Skifahrer tot aufgefunden wird, wird Selma klar, dass etwas noch viel Ernsteres auf dem Spiel steht. Stück für Stück kommt sie einem Netz aus verborgenen Feindschaften, zwielichtigen Verbindungen und alten Sünden auf die Spur. Doch es wird ein Wettlauf gegen die Zeit, denn es stehen noch mehr Leben auf dem Spiel …

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Zeit:13 Std. 26 min

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Anne Holt

Ein Grab für zwei

Der erste Fall für Selma Falck

Kriminalroman

Übersetzt von Gabriele Haefs

Donnerstag, 7. Dezember 2017

Selma Falck

Wenn Oslo ein Körper war, dann war das hier der Anus der Stadt.

Genau diese Wohnung.

Dieses Arschloch von Wohnzimmer.

Das Zimmer war klein und eiskalt. Die graubraune Sisaltapete hatte sich in den Ecken gelöst, und der billige Laminatboden war von Flecken übersät. Vor allem unter den Fenstern. Selma Falck ging in die Hocke und berührte vorsichtig den einen dunklen Halbmond. Der Bodenbelag gab mit einem ekelhaften, schmatzenden Geräusch ganz leicht nach.

Seit sie angefangen hatte, die Kartons hereinzutragen, war alle vier Minuten eine Straßenbahn vorübergescheppert. Irgendjemand hatte die Fenster mit Folie beklebt, möglicherweise, um den Blick in die Wohnung zu versperren. Oder, ebenso gut möglich, damit die Fensterscheiben nicht herausfielen; unter dem Kunststoff zeichneten sich deutliche Risse ab. Das Zimmer wurde immer noch dunkler, wenn draußen Straßenbahnen oder Lastzüge vorüberfuhren. Es war schon spät. Obwohl jemand nicht nur die Folie angebracht, sondern auch die Risse in den Fensterrahmen mit Klebeband abgedichtet hatte, quälte ein zunehmend unangenehmer Abgasgeruch Selmas Nase.

Sie stapelte die Kartons vor der Wand zum Schlafzimmer zu zwei Türmen. Oben auf dem einen lag kurze Zeit später Darius, zusammengekauert wie zum Sprung, schaute argwöhnisch zu ihr herüber, und sein Schwanz strich langsam von einer Seite zur anderen.

Selma Falck setzte sich auf das einzige Möbelstück im Raum, ein rotes Sofa aus den Sechzigerjahren. Es hatte schon dort gestanden und roch vage nach Heizöl und Käseflips. Sie hoffte jedenfalls, dass es Käseflips waren. Darius machte plötzlich einen Buckel und fauchte wütend, blieb aber oben auf dem wackligen Stapel auf der anderen Seite des Zimmers.

Drei Wochen und drei Tage waren vergangen. Seit damals ertappte Selma sich immer wieder dabei, dass sie ohne Grund auf die Uhr schaute, als ob sie diese mit einem Blick anhalten könnte. Oder besser noch, zum Umkehren bewegen. Am kommenden Montag, genau vier Wochen nachdem Jan Morell mit ungewohntem Ernst ihre Kanzlei betreten hatte, lief die Frist aus.

Bis dahin waren es nur noch vier Tage.

Bald würde sie ihr Ziel erreicht haben, fast alles zu verlieren, was sie jemals besessen hatte.

Abgesehen von dem Auto, das sie niemals hergeben würde, und dem Kater, den sie auf Jessos Befehl hin hatte mitnehmen müssen. Darius sprang vom Kartonturm und verschwand lautlos im Schlafzimmer. Dort kippte etwas um. Irgendein Gegenstand zerbrach.

Selma schloss die Augen. Ein Rettungswagen jagte vorüber. Die Sirene schien die Wände zu zerfetzen. Selma hielt sich die Ohren zu, aber das half nicht im Geringsten. Als sie Augen und Ohren wieder öffnete, stand Darius mitten im Wohnzimmer.

Seine Augen funkelten. Sein Schwanz peitschte noch immer feindselig hin und her. Im Maul hielt der Kater eine Maus, die noch so weit am Leben war, dass ihr nackter Schwanz krampfhaft zuckte. Der Kater gähnte, die Maus fiel auf den Boden und blieb dort zappelnd liegen.

Selma Falck hatte seit Samstag, dem 13. Dezember 1986, nicht mehr geweint. In sechs Tagen wären das genau einunddreißig Jahre, und deshalb staunte sie sehr, als sie glaubte, auf der linken Wange eine Andeutung von Tränen zu verspüren. Eigentlich für sie eine physiologische Unmöglichkeit. Vor Überraschung sprang sie auf und suchte nach einem Spiegel.

Die Medaille von damals hatte sie vor zwei Wochen auf eBay angeboten. Niemand hatte auch nur einen Hauch von Interesse gezeigt. Die olympische Medaille, die sie zwei Jahre später errungen hatte, wäre vielleicht attraktiver, aber bis auf Weiteres mochte sie sich noch nicht davon trennen.

Sie weinte nicht, berichtete der kleine Spiegel, den sie in ihrer Handtasche fand.

Hier konnte sie einfach nicht wohnen.

Hier musste sie wohnen. In diesem Rattenloch. Oder Mäuseloch, das war ja schon bewiesen, und als sie zum ersten Mal zur Decke hinaufblickte, sah sie einen so riesigen und graublauen Fleck, dass sie einen Brechreiz verspürte.

Und kotzte.

Das Erbrochene passte farblich zum Wohnzimmerteppich.

Innerhalb der Frist, die Jan Morell ihr gesetzt hatte, hatte sie Werte von etwas über dreizehn Millionen Kronen realisiert. Davon blieben ihr 23876 Kronen und 32 Öre, und sie hatte nicht die geringste Ahnung, wann sie jemals wieder Geld verdienen könnte.

Zum Glück ahnte niemand auch nur, wo sie war. Nicht Jesso, dem es vermutlich ohnehin restlos egal gewesen wäre. Nicht die Kinder, die beide klar zum Ausdruck gebracht hatten, dass sie sie nicht mehr sehen wollten, nie wieder, als sie einige Sachen abgeholt und in Kartons von Clas Ohlson gepackt hatte, ehe sie mit einem vom Pokertürken geliehenen Lieferwagen ihrer Wege gefahren war. Niemand aus ihrem Freundeskreis ahnte, wo sie wohnte, auch wenn sich die Gerüchte über ihre Krankheit offenbar schnell verbreitet und allein in den vergangenen zwei Tagen zu zweiundfünfzig SMS und unbeantworteten Anrufen geführt hatten. Selma Falck hatte keinen Krebs. Nicht, dass sie wüsste jedenfalls. Ohne genauer darüber nachzudenken, oder eigentlich vor allem aus Verzweiflung, hatte sie ein wenig übertrieben, als ungläubige Partner nicht begreifen konnten, warum sie ihre Anteile verkaufen musste. Sie hatte das K-Wort nicht benutzt, aber aus dem, was sie mit traurigen Augen und zitternder Unterlippe erzählte, konnten die anderen durchaus falsche Schlüsse ziehen. Bei diesem Gedanken wurde ihr schon wieder schlecht. Sie schüttelte heftig den Kopf, schluckte und beschloss, den Spiegel zu vergessen und lieber etwas zu suchen, mit dem sie die Maus und die Kotze auf dem Teppich entfernen könnte.

Niemand durfte wissen, wo sie war.

Als sie die Türklingel hörte und schon das halbe Wohnzimmer durchquert hatte, zuckte sie so heftig zusammen, dass Darius abermals einen Buckel machte. Die halb tote Maus kroch hilflos auf die Tür zu, als glaube sie, dort draußen warte die Rettung. Selma ging zögernd hinterher, ohne sich schon richtig zum Öffnen entschlossen zu haben.

Jemand klopfte hart und ungeduldig.

Niemand wusste, dass sie hier war.

Wieder ging die Klingel.

Die Zelle

Die Tage gehörten ihm nicht mehr.

Der Raum hatte keine Fenster. Eine LED-Lampe an der Decke brannte rund um die Uhr. Keine sichtbare Leitung. Nichts, was er hätte losreißen können. Das Bett war aus Beton und an der einen Wand angegossen. Er hatte nicht einmal eine Matratze, nur etwas Stroh, dessen Halme sich bereits miteinander verfilzten und anfingen zu stinken.

Eine Decke hatte er auch nicht bekommen. Nicht einmal Kleider. Er fror nicht, es war warm hier, aber er hatte sich noch nicht daran gewöhnt, ohne Kleidung und ohne Decke zu schlafen. Ab und zu döste er ein.

Schlief nie.

Er war noch immer viel zu verängstigt.

Wasser bekam er aus einem Loch in der Wand. Einem so kleinen, dass er es mit dem Daumen zuhalten konnte. Er tippte auf ein halbzölliges Rohr. Das Wasser sickerte die ganze Zeit heraus. Da er keinen Becher hatte, musste er es von der Wand lecken, wo das ewige Rinnsal eine gelbbraune Spur hinterlassen hatte. Diese Spur fühlte sich inzwischen klebrig an. Gleich unter dem Wasserloch, auf dem Boden, war über einem Abfluss ein Gitter angebracht. Dort pisste er. Und kackte, wenn er es schaffte, etwas aus sich herauszupressen. Die Gitterstäbe saßen in der Mitte weiter auseinander. Bisweilen hatte er Glück und traf dazwischen. Andere Male musste er mit dem Fuß in seinen Exkrementen herumstochern, um sie in den Abfluss zu befördern. Sie schieben, manchmal auch drücken.

Ab und zu bekam er etwas zu essen, durch eine Klappe in der Metalltür. Meistens Brot. Brötchen. Ab und zu belegt. Niemals etwas Warmes, niemals etwas, das auf einem Teller serviert wurde und mit einem Löffel oder einer Gabel verzehrt werden musste.

Die Tage waren verschwunden. Die Nächte gab es nicht mehr.

Das Licht quälte ihn und hatte die Zeit gestohlen. Er mochte seit einer Woche hier sein, seit zwei Wochen, seit einem Jahr.

Nein, nicht seit einem Jahr.

Aber lange. Einige Tage jedenfalls. Er hätte versuchen müssen, Buch über die Zeit zu führen, von dem Moment an, in dem er aufgewacht war und keine Ahnung gehabt hatte, wo er sich befand. Er wusste nicht, warum er hier war. Hatte einfach nicht die geringste Ahnung. Er schrie die Gestalt an, die das Essen brachte. Heulte und schlug sich die Fäuste an dem grauen Stahl der verschlossenen Tür blutig. Draußen war es immer still und stumm, und die Klappe war so klein, dass er auf der anderen Seite nur Schatten erahnen konnte.

Der Mann musste ihn kennen. Es musste ein Mann sein. Als er zu sich gekommen und eingesperrt gewesen war, hatte er Schmerzen in den Kniekehlen und in den Schultern gehabt, als ob jemand ihn getragen, ihn ein Stück weit geschleift hätte. Seine Hacken waren aufgeschrammt. Es musste ein Mann sein, und dieser Mann musste ihn kennen.

Es gab nichts in dem Raum, womit er sich das Leben nehmen könnte.

Das wünschte er sich mehr als alles andere. Er wollte lieber sterben als das hier, und er hatte mit all seiner Kraft versucht, den Kopf gegen die Mauer zu rammen. Mehrmals. Doch das hatte ihm nur Wunden und Beulen eingebracht. Er hatte sich den Mund mit Stroh vollgestopft, aber immer wieder hatte er alles aus sich herausgehustet. Reflex, nahm er an. Er hatte die verdammten Halme angefeuchtet, hatte sie triefnass gemacht und sich in Nase und Hals gestopft, so fest er konnte. Es war ihm fast gelungen, aber als der Raum rosa geworden war und sein Kopf sich leicht angefühlt hatte und er auf die Pritsche gesunken war, hatte der Husten eingesetzt und alles wieder herausgezwungen.

Jedes Mal.

Der, der ihn gefangen hielt, musste ihn kennen.

Der, der ihn gefangen hielt, musste wissen, dass ihm der Tod lieber wäre als das hier. Und das Schlimmste, das Allerschlimmste war, wenn der Fremde das Essen gebracht hatte, nur ab und zu, setzte nach einem Muster, das unmöglich nachzuvollziehen war, dieses scharrende, mechanische Geräusch hinter der einen Wand ein.

Die dann vorrückte und den Raum immer kleiner machte.

Die Langläuferin

In die lange Reihe von mehr oder weniger belanglosen Geschehnissen, aus denen ein Leben besteht, würde dieser Tag als Bagatelle eingehen, die leicht zu vergessen wäre, dachte Hege Chin Morell. Irgendwann würde sie auf diese Tage, diese Wochen, die jetzt vor ihr lagen, und auf diesen unwirklichen Augenblick zurückblicken und gleichgültig mit den Schultern zucken.

A hump in the road, mehr nicht. Ein störendes, aber überwindbares Hindernis auf dem Weg zu einer strahlenden Olympiade in Pyeongchang.

Sie war vierundzwanzig Jahre alt und hatte beschlossen, dass alles, was hier ablief, eigentlich gar nicht passierte. Es war zu absurd. Zu offenbar falsch. Etwas war schiefgegangen, und dieses Etwas würde identifiziert werden. Der Irrtum würde korrigiert werden. Es war nur eine Frage der Zeit, das hatte sie sich in den über drei Tagen einzureden versucht, die vergangen waren, seit sie die unbegreifliche Nachricht erhalten hatte.

Jede Minute in dieser Hölle waren sechzig Sekunden zu viel.

Die Menschen vor ihr verschwammen zu einer graublauen, lärmenden Masse. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf das Bild eines siegreichen Finishs. Auf das eines Weihnachtsbaums, eines eleganten Sprungs ins Meerwasser. Auf das Gesicht ihrer Mutter, im Laufe der Jahre verblasst, auf das Lächeln, das Hege jetzt nur noch in kurzen Erinnerungsmomenten sehen konnte. Auf Mamas blaue Augen und die langen, blassblonden Locken, so anders als Heges struppige schwarze Haare. Darauf, dass Mutter und Tochter sich gemeinsam einen Zebrazopf geflochten hatten, als Hege noch klein war und im Arm der Mutter schlafen durfte, wenn die Nächte zu dunkel wurden.

Es gab auch große Augenblicke zwischen den vielen kleinen im Leben.

Die Siege. Die Medaillen.

An den allergrößten Augenblick konnte sie sich natürlich nicht erinnern. Jemand, vermutlich ihre biologische Mutter, hatte sie vor genau dem richtigen Waisenhaus ausgesetzt. Es gab ein Bild der knapp zwei Monate alten Hege in einem Korb, mit Schorf in den wenigen Haaren, die sie damals schon hatte. Sie war in saubere Lumpen eingewickelt und hatte einen grünen Bären aus hartem Kunststoff zur Gesellschaft. Wenn sie an einem anderen Ort gelandet wäre, in einer anderen Zeit, wären es nicht ausgerechnet Jan und Katinka Morell gewesen, die einige Monate darauf das bleiche, von Ekzemen gequälte Baby zu sich nach Vettakollen in Oslo auf der anderen Seite des Erdballs geholt hätten. Ihre biologische Mutter oder wer auch immer hatte sie in einer frühen Morgenstunde unter der halb toten Weide vor der alten Missionsstation abgelegt, ein Glückstreffer im Leben, und die kleine Chin konnte deshalb Skilaufen lernen.

Ihre biologische Mutter hatte ihr das Leben lebenswert gemacht, indem sie sie verlassen hatte.

Vier WM-Titel und fast zehntausend Trainingsstunden später wusste Hege, dass es im Leben auf und ab ging. Sie hatte gelernt, beides mit einer Gelassenheit hinzunehmen, die das norwegische Publikum verwirrte.

Es gab große Augenblicke, das wusste Hege Chin Morell. Und es gab kleine. Das Leben war eine Kette aus starken und schwachen Gliedern, von Gut und Böse, von Gleichgültigkeiten und Sternstunden und allem, was es zwischen Leben und Tod gab. Die Kette war lang, und dieser Augenblick, diese absurde Veranstaltung, musste einfach überstanden werden. Hege musste sich aufrecht halten, und bei diesem Gedanken hob sie den Kopf noch ein bisschen höher.

Es lag ein schrecklicher Irrtum vor, aber der würde sich aufklären.

Sie öffnete die Augen und starrte einen Punkt hoch über den Gesichtern der fast vierzig anwesenden Presseleute und Fotografen an. Vier ernste Männer saßen in Reih und Glied neben ihr, drei davon mit gefalteten Händen und gesenktem Blick. Auf dem Tisch lag eine dunkelblaue Decke, die farblich zu Heges Pullover passte, dem ersten Kleidungsstück seit sechs Jahren, das keinen Sponsorennamen aufwies. Selbst das Logo des Herstellers war mit einem Stück Klebeband überdeckt. Die üblichen Obstschüsseln, Smoothie-Packungen und Mineralwasserflaschen, die sonst immer strategisch auf dem Tisch verteilt wurden, um von den Kameralinsen eingefangen zu werden, fehlten ebenfalls. Auf dem Tisch stand nur eine einsame, namenlose Kanne. Nur Hege war mit einem Glas Wasser versehen worden.

Das war leer.

Die geräuschvollen Spekulationen waren bei ihrem Eintritt schlagartig verstummt. Die Kameras summten und klickten, einige Anwesende tuschelten weiter miteinander, doch Bottolf Odda, der Präsident des Langlaufverbandes, brauchte seine Stimme nicht zu erheben, nachdem er sich ein wenig am Mikrofon zu schaffen gemacht und sich dann geräuspert hatte.

»Willkommen zu dieser Pressekonferenz«, sagte er. »Wir kommen sofort zur Sache.«

Ein Kameramann stolperte über den Fuß eines anderen und schlug der Länge nach hin. Der Verbandspräsident achtete nicht auf ihn.

»Der Grund, aus dem Norwegens Langlaufverband zu dieser Konferenz geladen hat, ist, dass Hege in eine …«

Er schluckte.

»Es hat sich eine Situation ergeben …«, war sein nächster Anlauf. »Hege Chin Morell hat früher in diesem Herbst eine positive Dopingprobe abgegeben.«

Jetzt verstummten sogar die Kameras.

»Bei der es sich um einen Irrtum handelt«, sagte die Langläuferin laut. »Ich habe niemals gedopt. Bei der Entnahme der Proben muss ein Fehler passiert sein.«

Die Fotografen drehten abermals durch.

Der Vater

Im Treppenhaus roch es auf undefinierbare Weise nach Schmutz. Ein erdiger Geruch, vermischt mit den Ausdünstungen schweren Verkehrs, dachte Jan Morell, während er darauf wartete, dass jemand öffnete.

Er glaubte, Geräusche zu hören, aber es war schwer einzuschätzen, ob die aus der Wohnung kamen oder von der lärmenden Stadt draußen. Er fühlte sich versucht, das Ohr an die Tür zu legen. Zwei ungleichmäßige, klebrig aussehende Streifen von unbestimmbarer Farbe, die sich diagonal über das Holz zogen, hielten ihn davon ab.

Es war ungewöhnlich schwer gewesen, die Adresse herauszufinden. Eine solche Suche dauerte sonst selten länger als eine halbe Stunde. Jan Morells Privatdetektiv, oder Sicherheitsberater, wie auf der Gehaltsliste stand, hatte anderthalb Tage gebraucht, um einen norwegischen Türken in Ensjø ausfindig zu machen. Dieser Bursche bot in einem obskuren Lokal tagsüber Autowäsche sowie kleine Reparaturen und nachts Pokerrunden an. Er war abweisend gewesen, wie der kurz gefasste Bericht mitteilte. Was sein Sicherheitsberater dann unternommen hatte, wollte Jan Morell gar nicht erst wissen. Das blieb ihm erspart. Es ging in dem Bericht darum, dass Selma Falck diese Wohnung hier für drei Monate für einen Apfel und ein Ei gemietet hatte. Streng genommen hatte sie sie geliehen. Der Türke war einer ihrer ehemaligen und offenbar überaus dankbaren Mandanten.

Genau wie Jan Morell. Wenn er auch jetzt nicht mehr sonderlich dankbar war, dann war er das vorher immerhin gewesen.

Niemand öffnete.

Jan Morell glaubte, eine Katze miauen zu hören. Er klopfte energisch an die verdreckte Tür und klingelte ein weiteres Mal. Nun hörte er Schritte.

Jemand hinter der Tür griff an die Klinke. Eine Sicherheitskette klirrte. In einem schmalen Spalt zwischen Tür und Türrahmen tauchten Selmas rechtes Auge und ihr Mundwinkel auf.

Sie sagte nichts. Blieb nur stehen, als ob sie Zeit brauchte, um zu begreifen, dass er sie gefunden hatte. Er schaute zu Boden. Eine Katzenvisage, davon war er überzeugt. Das Tier sah aus wie nach einer Frontalkollision, das Maul lag wie ein flacher Knopf gleich unter den großen, eisblauen und ziemlich hervorstehenden Augen.

»Mach auf«, sagte er mit schroffer Stimme und stieß mit dem Ellbogen gegen die Tür. »Ich habe ein Angebot, das du nicht ablehnen kannst. Eine letzte, krasse Wette.«

Die Schachtel

Hege war allein zu Haus. In der kleinen Sackgasse unterhalb des Hauses auf Vettakollen, hinter einer hohen Hecke aus Serbischer Fichte, hatte eine Schar von Journalisten und Fotografen ihr Lager aufgeschlagen. Früher am Abend hatte sie diese Leute und ihre Autos mit im Leerlauf brummenden Motoren gehört. Die Polizei war gekommen. Von den Nachbarn gerufen, nahm sie an. Die Fotografen, die sich durch die Hecke gezwängt hatten und beängstigend aufdringlich gewesen waren, waren von vier uniformierten Männern mit hechelnden Hunden vertrieben worden.

Es war fast zehn Uhr abends.

Ihr Vater hatte sie nach der Pressekonferenz nach Hause gefahren. Sie hatten beide kein Wort gesagt. Sie hatten den Wagen bei den Nachbarn weiter oben abgestellt und waren dann über einen vereisten Pfad zum Garten hinter ihrem Haus hinabgestiegen, um das Gebäude durch die Terrassentür zu betreten. Im Haus hatte der Vater weiterhin geschwiegen. Er hatte alle Eingangstüren doppelt überprüft. War stehen geblieben, hatte Heges Hände genommen und gesagt:

»Ich bring das in Ordnung.«

Mit Nachdruck, als ob er hinter jedes Wort einen Punkt setzte. Dann hatte er das Haus auf demselben Weg verlassen, auf dem sie gekommen waren.

So war er eben. Er war einer, der Sachen in Ordnung brachte. Hege hatte keinen dringlicheren Wunsch, als dass jemand diese Sache in Ordnung brächte. Dieses ungeheuerliche Missverständnis aus der Welt schaffte. Den Fehler fände. Fünf Fehler fände, oder zehn, oder wie viele es nun waren, die Antidoping Norge davon überzeugt hatten, dass sie eine Betrügerin war. Dass sie ein anaboles Steroid benutzt habe, an dessen Namen sie sich nicht einmal erinnern konnte, obwohl sie den Brief des Verbands seit drei Tagen immer wieder gelesen hatte und ihn fast auswendig kannte.

 

Hege wollte, dass jemand die Sache in Ordnung brachte, aber gerade an diesem Abend wäre sie froh gewesen, wenn ihr Vater nicht weggegangen wäre. Wenn jemand da gewesen wäre. Jemand anderes als Maggi, die vermutlich in ihrer Kellerwohnung saß und polnisches Fernsehen schaute.

Sie ging durch die fast dunklen Zimmer. Der Vater hatte alle Vorhänge zugezogen, ehe er gegangen war, gründlich und systematisch. Hatte hier und da eine Lampe eingeschaltet und bei der nächsten Runde wieder ausgeknipst. Hege blieb vor dem Kühlschrank stehen. Öffnete die Tür. Sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, aber sie hatte auch keinen Appetit. Sie wollte nur, dass der Vater nach Hause kam.

Und dass die Mutter von den Toten auferstand.

Und dass jemand von Antidoping Norge an der Tür klingelte und das unangenehme Missverständnis mit einem breiten Lächeln bedauerte. Sie habe doch keine positive Probe abgegeben und solle diese entsetzliche Sitzung vor der versammelten Presse bitte vergessen, bei der es ihr gelungen war, ihre Tränen zurückzuhalten, bis ihr Vater sie durch ein Wirrwarr aus Gängen in die Tiefgarage führen konnte. Jemand anderes hatte den Mercedes mit den dunkel getönten Scheiben draußen vorgefahren und die Presseleute so lange an der Nase herumgeführt, dass Hege und ihr Vater unbemerkt in einem blauen Honda losfahren konnten.

Abrupt schlug sie die Kühlschranktür wieder zu.

Das Weltcuprennen in Lillehammer lag vier Tage zurück. Sie war im Semifinale in Klassischem Sprint geschlagen worden, hatte den Biathlon am folgenden Tag jedoch gewonnen. Normalerweise fuhr sie mit anderen zusammen zu Rennen in Norwegen und Schweden. Mit Teamkameradinnen oder Funktionären, Physiotherapeuten oder sogar mit dem Mannschaftsarzt. An diesem Wochenende war sie jedoch selbst gefahren. Allein, um einem Hörbuch zu lauschen.

Sie war fast fertig mit Elena Ferrantes viertem Band.

Maggi packte immer für sie. Packte ein und packte aus. Sie wusch auch ihre Kleider. Die Haushälterin war seit dem Tod von Heges Mutter bei ihnen und kümmerte sich eigentlich um alles, was Hege und ihr Vater langweilig fanden. Bezog die Betten. Putzte. Räumte auf. Kochte. Nach genauen Vorschriften allerdings. Ein Ernährungswissenschaftler hatte im Auftrag des Vaters eine Ganzjahresdiät entwickelt, an die Hege sich hielt, als ob ihr Leben auf dem Spiel stünde.

Was ja auch in gewisser Weise der Fall war.

Es ging darum, die Gewinnchancen zu optimieren, wie der Vater es ausdrückte.

Da Hege am Sonntagabend nach ihrer Rückkehr gleich ins Bett gefallen und am nächsten Morgen von der Nachricht geweckt worden war, dass sie beim Doping erwischt worden sei, hatte sie nicht wahrgenommen, ob ihre Tasche leer, der Inhalt gewaschen und alles an Ort und Stelle untergebracht war. An den folgenden Tagen war Maggi umhergeschlichen wie ein liebes, aber kleinlautes und halb unsichtbares Gespenst.

Hege lief die Treppe hoch, immer drei Stufen auf einmal. Rannte in ihr Zimmer und riss die Türen zur Garderobe auf. Das Licht schaltete sich automatisch ein. Auf der einen Seite der sieben Quadratmeter großen Kammer hingen ihre Trainingssachen. Es war unmöglich zu sehen, ob etwas fehlte, die Tasche lag leer neben der Badezimmertür auf dem Boden. Hege ließ ihre Finger an der Reihe der aufgehängten Kleider entlangwandern. Hielt inne und zog an einem Ärmel. Diese Jacke hatte sie am Sonntag getragen.

Für einen Moment blieb sie stehen und überlegte.

Dort hing eine Überziehhose, die sie ganz unten in die Tasche gelegt hatte; der Reißverschluss klemmte und musste repariert werden.

Alles war vorhanden. Maggi hatte ihre Pflicht getan, so, wie Maggi immer tat, was sie zu tun hatte. Die große Kulturtasche mit dem Extrafach für die genau dosierten Asthmamedikamente müsste in der untersten Schublade unter dem Waschbecken im Badezimmer liegen. Hege benutzte diese nur auf Reisen. Sie enthielt alles, was sie brauchte, und für den Fall, dass sie etwas vergaß, war alles doppelt vorhanden. Hege öffnete die Tür zu ihrem eigenen Badezimmer und zog die Schublade heraus. Die Tasche lag an ihrem angestammten Platz. Sie hob sie hoch, legte sie auf die Ablage neben dem Waschbecken und öffnete sie.

Deodorant. Zugelassen vom Mannschaftsarzt. Schminke. Zugelassen vom Mannschaftsarzt. Zahnpasta, Haarbürste in einer Plastiktüte, Zahnseide mit Pfefferminzgeschmack. Das Parfüm, das der Vater ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, untersucht und zugelassen von all dem Fachwissen, von dem sie jederzeit umgeben war. Drei Inhalatoren. Eine Packung Paracetamol, ungeöffnet.

Sie legte einen Gegenstand nach dem anderen ins Waschbecken. Bald war die Kulturtasche leer.

Der fremde Gegenstand lag ganz unten. Es war eine rechteckige weiße Schachtel mit grüner und schwarzer Schrift, versehen mit einer Art Zutritt-verboten-Warnung in Rot, die in ziemlich großen Buchstaben über dem Wort DOPING (in Schwarz) angebracht war.

TROFODERMIN hieß das Medikament.

Hege fiel die Schachtel aus der Hand.

In ihren Ohren rauschte es. Sie versuchte, die vor ihren Augen tanzenden schwarzen Punkte wegzublinzeln. Sie griff nach dem einen Inhalator, hielt ihn sich vor den Mund, drückte darauf und atmete tief ein.

Mit offenem Mund rang sie weiterhin nach Atem.

Sie wusste genau, was Trofodermin war.

Dagegen hatte sie keine Ahnung, wie die Schachtel in ihrer Kulturtasche gelandet war, in ihrem Gepäck, nach einem erfolgreichen Weltcuprennen in Lillehammer.

Absolut keine Ahnung, und die Welt blieb stehen.

Der Glaspalast

Er fror.

Arnulf Selhus wusste, dass es in dem großen Raum nicht kalt war. Temperatur und Luftqualität wurden von einer so modernen Anlage geregelt, dass es vor zwei Jahren, als das Gebäude vom König persönlich eingeweiht worden war, auf der ganzen Welt keine zweite von diesem Typus gegeben hatte. In allen Aufenthaltsräumen waren es 20,00 Grad Celsius, präzise bis auf die zweite Dezimalstelle. Dennoch hätte er fast mit den Zähnen geklappert.

Sølve Bang schien dagegen nichts zu bemerken.

»Das ist ein Skandal!«, rief er. »Ein Skandal, den wir uns ganz einfach nicht leisten können, Arnulf! Doping ist total inakzeptabel!«

Seine Selbstverständlichkeiten berieselten den Eichentisch mit einem feinen Speichelnebel.

»Sicher«, sagte Arnulf Selhus tonlos und schlug die Hände vors Gesicht. »Das hast du jetzt schon mehrmals gesagt. Aber was zum Teufel sollen wir tun? Die Kleine umbringen?«

»Das wäre vielleicht eine Idee«, fauchte Sølve Bang und sprang so plötzlich auf, wie er zwei Minuten zuvor in den eisblauen Designersessel gesunken war.

»Sie war noch nie wirklich beliebt. Und das liegt doch auf der Hand. Sie ist viel zu …«

»Hör auf. Lass das jetzt.«

»Jetzt hat sie jedenfalls eine Katastrophe ausgelöst. Sie ist verantwortlich. Jemand ist verantwortlich. Nichts auf dieser Welt geschieht, ohne dass jemand verantwortlich ist, Arnulf. Ein Verrat, das ist es. Ein entsetzlicher Verrat an uns allen. Am Verband, an den anderen aus dem Team, an …«

»An dir«, murmelte Arnulf in seine eigenen Hände, so leise, dass er es kaum selbst hörte.

»Was hast du gesagt?«

»Nichts. Aber jetzt musst du Ruhe bewahren. Hier geht es streng genommen nicht um dich, Sølve. Wir haben ein Prozedere für solche Fälle. Abläufe. Regeln.«

»Regeln? Abläufe?«

Die Stimme des kleinen korpulenten Mannes schlug ins Falsett um. Er lief jetzt im Zimmer hin und her, parallel zu der Glaswand, hinter der sich an manchen Tagen dort draußen ganz Oslo präsentierte. Jetzt hing wie so oft in dieser Jahreszeit ein dicker Nebelbrei vor den riesigen kalten Glasflächen.

Arnulf Selhus hob den Blick wieder. Sølve Bang machte einige kurze Schritte. Er hatte einen Hängebauch und eine so lange Nase, dass sie fast die Oberlippe berührte. Die Augen, die meistens ein wenig hervorstanden, schielten vor Aufregung.

Nicht viel an ihm erinnerte an den ehemaligen Langläufer.

Vielleicht auch nicht an einen Schriftsteller, dachte Arnulf, obwohl es Schriftsteller wohl in allen möglichen Varianten gab.

Der goldene USB-Stick, der an einer dünnen Kette aus demselben Material um seinen Hals lag, hüpfte vor seinem Schlips auf und ab, während er durch die Gegend trabte. Er berührte den Stick immer wieder mit Fingern, die auch einem Mädchen hätten gehören können. Arnulf Selhus kannte diesen Mann seit 1982 und hatte ihn nie besonders sympathisch gefunden. Gerade hier und jetzt verspürte er jedoch eine neue und fremde Abscheu.

Oder Angst, das ging ihm jählings auf.

Überall im Raum war Angst zu spüren. Sie lag in den Ecken auf der Lauer. Sie versteckte sich hinter den straffen, hellen Vorhängen, die er nur allzu gern geschlossen hätte. Selbst vor den lächerlich riesigen Fenstern, zwischen den dunklen Kiefern am Parkplatz, schien etwas Undefinierbares und Düsteres zu drohen, sich durch das Glas zu drängen und auf ihn zu stürzen.

Arnulf Selhus fiel es schwer, richtig durchzuatmen.

Sølve war mit sich beschäftigt und merkte noch immer nichts.

Dass ein Mann, der fünfunddreißig Jahre zuvor eine Handvoll Weltcuprennen gewonnen hatte, sich aufführen durfte, als ob die norwegische Langlaufszene ihm allein gehörte, überstieg Arnulfs Verstand.

Selbst bei diesem verdammten Gebäude, diesem Glasmonument auf Holmenkollåsen, hatte Sølve Bang seinen Willen durchsetzen können. Als Vorsitzender der Jury, als der Wettbewerb für die Architekten ausgeschrieben worden war, und später als Chef des Baukomitees.

Dass der Langlauf sich als Disziplin im Jahre 2008 vom Norwegischen Skiverband abgespalten hatte, war pure Hybris gewesen, fanden viele. Dazu gehörte auch Arnulf Selhus. Klassische Kurzsichtigkeit, hatte er gedacht und gesagt. Das Management beim Norwegischen Langlaufverband hatte einen außergewöhnlichen Sponsorenvertrag mit Statoil an Land gezogen, Öl ins Feuer derer, die den Langlauf als eigentliches Juwel in der Eiskrone der Wintersportarten betrachteten. Der Vertrag sollte, auch das war sensationell, für einen Zeitraum von zwanzig Jahren gelten, was im Zusammenhang mit Sponsoren einer Ewigkeit gleichkam. Die Alpinleute sollten sehen, wo sie blieben, wurde immer lauter auf den Gängen gemurmelt, als die Abmachung perfekt war. Abfahrtski im Telemarkstyle interessierte ohnehin nur eine kleine Fangemeinde. Das Gleiche galt für die ganzen bescheuerten Snowboarder, deren verschiedene Gruppen ohnehin nur aus Einzelgängern bestanden, die nie wirklich begriffen hatten, wie wichtig Organisation war. Freestyle war etwas für Teenager und hatte seit der Zeit von Karin Traa kaum etwas eingebracht.

Norwegen war Langlauf, und der norwegische Langlauf konnte auf seinen eigenen durchtrainierten Beinen stehen.

Der Norwegische Langlaufverband war erst neun Jahre alt, und aus seinem Alleingang war nicht der Tanz auf Rosen geworden, den Sølve Bang und viele andere sich vorgestellt hatten.

Aber sie hatten sich auch nicht vorgestellt, dass jemand beim Doping erwischt werden könnte.

Arnulf schlug abermals die Hände vors Gesicht und stöhnte leise.

»Wir müssen mit den Sponsoren reden«, sagte er. »Die können doch nicht einfach …«

»Genau das können die«, fauchte Sølve und schloss die Hand um seinen USB-Stick, während er auf Arnulf zukam. »Alle Sponsoren haben eine Dopingklausel. Die von Statoil ist bedingungslos und strikt. They can pull the plug on us, Arnulf!«

»Wir haben noch immer den Staat. Die Einkünfte aus dem Toto. Freiwillige Unterstützung. Die kleineren Sponsoren wie MCV. Wir können weiterhin …«

»Freiwillige? Glaubst du, dass … dass …«

Sølve ließ den Stick los und breitete die Arme aus.

»Glaubst du, Crystal Palace ist von Waffelgeld erbaut worden? Glaubst du, die Tanten, die sich da draußen versuchen, …«

Die schmale rechte Hand fuchtelte vage in Richtung der großen Fenster.

»… die Flohmärkte abhalten und Würstchen grillen und was auch immer … Glaubst du, Freiwilligkeit hat dem Verband diesen Höhenflug ermöglicht? Was? Glaubst du …«

Plötzlich ließ er sich wieder in einen Sessel sinken. Griff sich an die Stirn und atmete langsam durch die Nase aus.

»Und bei dieser unzuverlässigen, inkompetenten Kuh im Kultusministerium kann es auch für die Totogelder schlecht aussehen«, fügte er verärgert hinzu. »So ist es eben, wenn die ganzen Leute hier essen und trinken und Businessclass fliegen, um danach …«

»Diese Rechnungen sind erledigt«, fiel ihm Arnulf Selhus mit scharfer Stimme ins Wort. »Alles vor 2015 ist vom Parlament abgehakt worden. Das steht fest. Nach Sotschi sieht es nicht so schlimm aus, und das sind die Abrechnungen, zu denen die Welt ihre Kommentare abgeben wird. Nur die.«

Es wurde still. Der Nebel draußen war womöglich noch dichter geworden. Als Arnulf sich schließlich erhob und vor das Fenster trat, war das Licht unten auf dem Parkplatz vor dem kompakten Dunkel zu etwas helleren grauen Wattebäuschen reduziert worden.

»Aber nehmen wir uns eins nach dem anderen vor«, sagte er abschließend und zog an seinem Schlipsknoten. »Für den Moment haben wir mit Hege genug am Hals. Und streng genommen sind weder du noch ich dafür zuständig. Ich fahre nach Hause.«

Er drehte sich wieder um.

Sølve Bang wirkte taub für diese Welt. Er saß tief in Gedanken versunken in seinem Sessel, sein Blick ging ins Leere. Die eine Hand hielt den USB-Stick fest umklammert, und er schnippte den Deckel in einem enervierenden Rhythmus auf und zu.

»Ich fahre jetzt«, sagte Arnulf Selhus noch einmal und ging auf die Tür zu.

Der andere sagte noch immer nichts. Er schnippte und schnippte, und als Arnulf Selhus die Hand auf die Türklinke legte, fiel ihm ein, dass keiner der beiden der Frage, wie es Hege Morell jetzt wohl zumute war, auch nur einen Gedanken gewidmet hatte.

»Jedenfalls nicht so elend wie mir«, murmelte er unhörbar, als er die Tür hinter sich zuzog und Sølve Bang allein in dem riesigen Besprechungsraum sitzen ließ, dem kein Geringerer als König Harald den Ehrennamen »Medaillenspiegel« verliehen hatte.

Die Wette

»Der ist nicht angeschlossen«, sagte Selma und zeigte auf den schwarzen Fernseher. »Ich habe seit Ewigkeiten keine Nachrichten mehr gesehen.«

»Du hast doch dein Handy.«

Jan Morell schaute sich mit einer Miene um, als stünde er mitten auf einer Müllkippe. Sein ohnehin schon schmaler Nasenrücken wurde zu einem straffen Strich.

Selma setzte sich auf das Käseflipssofa. Bedeutete ihm durch eine einladende Handbewegung, ihrem Beispiel zu folgen. Er blieb stehen.

»Es geht um Hege«, sagte er, ohne die Wohnung bis auf einen in die Runde schweifenden Blick weiter zu kommentieren. »Sie ist beim Doping erwischt worden.«

»Was?«

»Antidoping Norge behauptet, sie habe auf irgendeine Weise Clostebol eingenommen. Das hat sie natürlich nicht.«

»Clostebol?«, wiederholte Selma. »Das ist ein anaboles Steroid, wenn ich das richtig in Erinnerung habe?«

»Ja. Von dem ich nichts wusste. Bis vor drei Tagen. Es handelt sich einwandfrei um ein Missverständnis. Einen Irrtum. Sabotage, schlimmstenfalls. Und das sollst du klären.«

»Ich?«

Sie griff nach einem gelben Kissen und stopfte es sich in den Rücken, ehe sie weitersprach.

»Du hast mir bis Montag eine Frist gesetzt, Jan. Bis nächsten Montag! Ich war heute Nachmittag bei der Bank, das ist schon erledigt. Dreizehn Millionen Kronen sind auf dein Konto rücküberführt worden. Auf die letzten drei musst du noch warten. Ich konnte einfach nicht mehr zusammenkratzen. Gib mir zwei Jahre dafür. Ich werde auch meine Anwaltszulassung zurückgeben, wie du es verlangt hast. Am Montag. Aber wenn du glaubst, ich könnte etwas so Kompliziertes und Schwerwiegendes wie einen Dopingskandal aufklären, dann überschätzt du mich.«

»Du kannst ohne Zulassung arbeiten.«

»Als Anwältin?«

Selma lächelte düster, zog das Kissen hinter ihrem Rücken hervor und klopfte es ein wenig zurecht, ehe sie es an ihre Brust drückte. In der vergangenen Stunde war es spürbar kälter geworden.

»Nein«, sagte Jan Morell kurz und wandte sich nun endlich direkt an sie. Bisher hatte er zum Zimmer gesprochen. Jetzt suchte er Blickkontakt.

»Du darfst niemals wieder Zugang zu fremdem Geld haben, Selma. Darüber haben wir geredet. Du darfst keine Zulassung haben, bei deiner … Tendenz. Der Fall ist ein für alle Mal erledigt.«

»Dann kann ich dir nicht helfen.«

»Nicht mir. Du sollst Hege helfen. Und das tust du als Beraterin. Für mich.«

Selma spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte. Sie atmete ruhiger, konzentrierte sich und bekam sich wieder unter Kontrolle.

»Das ist der pure Wahnwitz, Jan. Wir haben eine Abmachung. Erstens: Ich bezahle das Geld zurück.«

Sie zählte mit der rechten Hand an den Fingern der linken:

»Zweitens: Ich gebe meine Zulassung zurück. Drittens: Ich werde nie wieder spielen. Egal, was. Rein gar nichts. Im Gegenzug zeigst du mich nicht an. Eine ziemlich …«

Darius sprang auf das Sofa, drehte sich lustlos zweimal um sich selbst und ließ sich nieder.

»… klare Abmachung«, beendete Selma den Satz.

Jan Morell öffnete den Mund. Sie hob die Hände, um ihn vom Reden abzuhalten.

»Streng«, sagte er trotzdem. »Aber gerecht.«

Sie legte das Kissen als Puffer zwischen sich und den Kater.

»Von mir aus«, sagte sie gereizt. »Bei einer solchen Abmachung ist es für mich ganz einfach unmöglich, für dich zu arbeiten. Das wirst du auch begreifen, wenn du kurz nachdenkst.«

»Betrachte es als Wette«, sagte er mit scharfer Stimme. »Deine allerletzte. Wenn du die Erklärung dafür findest, wie und warum bei einer ehrlichen, sauberen Spitzensportlerin auf unerklärliche Weise ein positives Testergebnis herauskommt, die dadurch das eindrucksvollste Erlebnis ihres Lebens aufs Spiel setzt, bekommst du das Geld zurück.«

»Pyeongchang.«

»Ja.«

»No cure, no pay?«

»Ja. Nur dann wird das hier zur Wette. Du hast eine Frist, bis die Teilnehmerinnen endgültig festgelegt werden. Bis zum 24. Januar 2018. Wenn du das schaffst, gehört das Geld dir. Sechzehn Millionen. Mit sechzehn Millionen lassen sich viele deiner Probleme lösen, Selma. Vor allem, da drei davon Schulden sind, die dir nicht nachzuweisen sind. Wenn du es nicht schaffst, haben du und ich einfach nur Zeit verschwendet.«

»Aber warum ich?«

Jan Morell deutete ein Lächeln an.

»Schau mal in den Spiegel«, sagte er mit einem Anflug von Verachtung. »Lies deinen Lebenslauf. Wenn irgendwer eine Möglichkeit hat, hier die Erklärung zu finden, dann du. Spitzensportlerin. Spitzenanwältin. Du hast in drei bekannten Dopingfällen die Verteidigung übernommen und zwei davon gewonnen. Du bist zudem eins der bekanntesten Gesichter und der bewunderten Vorbilder Norwegens.«

»Ehemalige Spitzensportlerin«, korrigierte sie. »Und ab Montag auch Ex-Anwältin. Vermutlich auch ein ziemlich viel weniger bekanntes Gesicht. Von jetzt an.«

Er ignorierte ihren Widerspruch und hielt ihr die Hand hin.

»Haben wir eine Abmachung?«

Selma erhob sich. Starrte seine Hand an, ohne sie zu ergreifen. Darius sprang wachsam wieder auf den Boden, den Blick auf die Maus gerichtet, die jetzt mausetot mitten im Zimmer lag.

»Ich wüsste nicht mal, womit ich anfangen sollte«, sagte Selma zögernd.

»Damit, dass du mit mir kommst«, sagte Jan Morell, zog seine Hand zurück und ging auf die Tür zu. »Du musst mit Hege sprechen.«

Erst jetzt fiel sein Blick auf das Nagetier, und er erstarrte.

»Was ist das hier denn für ein Haus?«, rief er und trat einen Schritt zurück. »Und was zum Teufel hat diese Katze hier zu suchen?«

»Lange Geschichte«, sagte Selma kurz und machte einen Bogen um den Mäusekadaver, um ihre Jacke zu holen. »Ich muss vorher noch etwas erledigen. Kann in zwei Stunden oben bei dir sein.« Ein rascher Blick auf die Rolex. Noch eins von den Dingen, die sie so lange wie möglich behalten wollte, wie ihr jetzt aufging. Im Grunde eine Art Reserve: Solche Uhren brachten bei eBay einen guten Preis.

»Vor Mitternacht. Geht das?«

»Ja.«

»Und du …«

»Ja?«

»Alle Ausgaben werden von dir gedeckt.«

Irritation, möglicherweise Zorn huschten über sein Gesicht.

»Im Rahmen des Erträglichen«, sagte er schließlich. »Übernimmst du die Sache?«

»Ich akzeptiere die Wette. Ohne eigentlich zu glauben, dass ich gewinnen werde. Hast du dich überhaupt mal gefragt, ob sie schuldig sein könnte?«

»Das ist sie nicht. Das weiß ich. Und du hast eins vergessen.«

»Was?«

»In unserer Abmachung. Punkt vier. Du überreichst mir eine schriftliche Bestätigung von einem Psychologen oder Psychiater, dass du in Behandlung bist.«

Jetzt erstarrte Selma.

»Das ist ein Punkt, der gestrichen werden muss.«

»Kommt nicht infrage.«

»Doch.«

Sie hängte ihre Jacke wieder an den Haken. In dem schmalen Gang gab es kein Licht. Nur die offene Tür zum Wohnzimmer machte es möglich, dass beide etwas vom Gesicht ihres Gegenübers sahen.

»Ich werde niemals einen Psychologen aufsuchen, Jan.«

»Du wirst. Frag Vanja Vegge um Rat. Seid ihr nicht eng befreundet? Wenn du das nicht tust, dann sage ich dir, dass die Anzeige in meinem Safe bereitliegt.«

Sie starrte ihn an. Traf auf einen blauen Blick, bis zum Rand gefüllt mit Erfolg, Arroganz und Reichtum. Jan Morell war, trotz seiner knappen hundertachtundsiebzig Zentimeter, ein wirklich großer Mann. In der Regel setzte er seinen Willen durch.

»Nein«, sagte sie energisch.

»Deine Entscheidung«, sagte er mit harter Stimme und legte die Hand auf die Klinke. »Die Anzeige geht am Montag zur Polizei.«

Die Tür knallte hinter ihm ins Schloss.

Darius miaute.

Selma Falck zögerte einige wenige Sekunden. Riss dann die Jacke an sich und rannte hinaus ins Treppenhaus.

»Jan!«

Glücklicherweise wartete er bei den Briefkästen auf sie.

Das Versteck

Heges erster Gedanke, als sich der Brechreiz gelegt hatte, war, dass sie ihren Vater anrufen müsste. Der zweite Gedanke kam, noch ehe sie ihr Handy gefunden hatte.

Was einer weiß, weiß keiner. Was zwei wissen, wissen alle.

Das war das Mantra ihres Vaters. Seit sie als kleines, tiefernstes Bündel aus China geholt worden war, hatte Jan Morell ihr eingeschärft, dass sie sich niemals auf irgendwen verlassen durfte. Niemals. Nur auf ihn und Katinka, Hege Chins norwegische Mama.

Du darfst dich nur auf die verlassen, denen du wichtiger bist, als sie sich selbst sind. Nur auf die, die dich lieben. Und das tun nur Mama und ich. Vergiss das nicht.

Mama hatte dann immer nachsichtig gelächelt, hatte ein bisschen die Augen verdreht und versucht, ihrem Mann gut zuzureden. Die meisten Leute seien zuverlässig, müsse Hege wissen. Zumeist seien die Menschen einander wohlgesinnt. So war sie, Katinka Morell. So lebte sie, und so starb sie nach einem medizinischen Fehler im Krankenhaus, den ihr Mann durch alle Instanzen verfolgte, was ihm schließlich drei Millionen einbrachte. Das Geld wurde in einen Fonds für Hege eingezahlt, als sie elf war. Nicht, dass sie den jemals brauchen würde, sie war ja schließlich Jan Morells einziges Kind.

Die Schrift leuchtete ihr entgegen. Sie hatte die Schachtel auf den Rand des Waschbeckens gelegt, hatte sie berührt, das fiel ihr jetzt ein, und sie fasste sie mit einem Handtuch an und begann, die zweifellos überall hinterlassenen Fingerabdrücke wegzureiben. Die Schachtel riss auf. Sie wurde flach und schief, und die Papplasche auf der einen Seite ging auf.

Der Text war auf Italienisch.

Hege war in Italien gewesen. Mit der Nationalmannschaft. Ende August und Anfang September.

Eine Tube glitt aus der Schachtel und fiel zu Boden.

Was einer weiß, weiß keiner.

Papa und Hege waren eins. Es hatte immer nur sie beide gegeben. Irgendwie war das immer schon so gewesen, jedenfalls, seit Mama gestorben und das Skilaufen ihnen beiden wichtiger geworden war als alles andere. Sie hatten sich die Trauer wegtrainiert. Hatten es jedenfalls versucht. Waren im Winter in Nordmarka unterwegs gewesen, waren im Sommer gelaufen, hatten Rollskier und Laufband und Gewichte und Stoppuhr benutzt, um vor einem Todesfall zu fliehen, den sie beide nicht überwinden und dem sie doch nie entkommen konnten.

Sie waren zwei Seiten derselben Persönlichkeit.

Aber Papa dachte nicht weit genug. So rasch, so schnell, dass er immer einen Vorsprung vor allen anderen hatte und deshalb immer die Loipe aussuchen konnte. Er war stolz darauf, prahlte fast damit, dass er als Kind »Pfadfinder« genannt worden und der beste Langläufer unter allen Kindern der Nachbarschaft gewesen war, obwohl er viel länger als alle anderen auf Holzskiern mit Kabelbindung gelaufen war.

Er würde etwas unternehmen. Sofort. Würde Himmel und Erde in Bewegung setzen, um herauszufinden, wer sich an Heges Gepäck zu schaffen gemacht hatte. Er würde einen Blick auf die Tube werfen, einige präzise Fragen klären und wieder davonstürzen. Papa unternahm immer etwas. Handelte. Schnell und auf der Stelle.

Hege wollte nicht, dass etwas unternommen würde. Sie wollte, dass die Tube mit dem Trofodermin von selbst verschwand. Alles sollte einfach verschwinden. Sie hob die Tube auf. Der Verschluss ließ sich mit einem kaum hörbaren Klicken bewegen. Sie drehte ihn auf und stach ein Loch in die Folie, mit der die Tubenöffnung versiegelt war. Sie öffnete den Klodeckel und drückte die Creme in das bläuliche, duftende Wasser. Dreimal fuhr sie mit Daumen und Zeigefinger über die Tube, vom Ende bis zur Öffnung. Vorsichtig, damit nichts an ihre Finger geriet. Die zähe Masse verschwand im blauen Wasser, und als nichts mehr aus der Tube gepresst werden konnte, zog sie dreimal ab. Arbeitete energisch mit der Klobürste und zog ein weiteres Mal ab.

Nun atmete sie ruhiger.

Sie holte ein Feuerzeug von dem kleinen Tisch in ihrem Zimmer, auf dem die Kerzenhalter standen. Im Badezimmer hielt sie dann die Schachtel über die Toilettenschüssel und zündete sie an. Ließ es brennen, bis ihre Fingerspitzen wehtaten. Ließ los. Zog ab.

Die Tube war aus Metall. Sie konnte möglicherweise bei hoher Temperatur geschmolzen werden. Im Kamin, vielleicht, aber in keinem der Kamine im Haus brannte jetzt ein Feuer. Nach einer Phase Anfang November, die wie Winter gewirkt hatte, hatte ein mildes Wetter eingesetzt und das Dasein grau und feucht gemacht. Sogar hier oben am Hang. Die Kamine, der in der Küche und der große im Wohnzimmer, wurden nur bei klirrender Kälte benutzt. Auch das hatte sich seit Mamas Tod geändert; Katinka Morell konnte auch mitten im Sommer auf die Idee kommen, ein Feuer zu machen, um Marshmallows zu rösten.

Papa war da praktischer veranlagt.

Ein Kamin war dazu da, um einen Raum zu erwärmen, und ein seltenes Mal zur Zierde, wenn Besuch kam.

Sie musste warten. Ohne weiter darüber nachzudenken, was sie da eigentlich tat, klappte sie den Klodeckel herunter, stieg mit der leeren Tube in der Hand darauf und lockerte das Ventilgitter. Als Kind hatte sie hier ihr Tagebuch versteckt, ein Journal dermaßen voller Belanglosigkeiten, dass es jetzt in der Nachttischschublade lag und seit vielen Jahren nicht mehr benutzt worden war. Rasch schob sie die Tube in den runden Kanal, so weit sie nur konnte, und setzte das Gitter wieder davor. Es saß nicht mehr ganz so fest, merkte sie. Als angehender Teenager hatte sie sich jeden Tag daran zu schaffen gemacht.

Papa meinte, das Badezimmer müsse renoviert werden. Bisher hatte Hege sich geweigert. Die Einrichtung sei doch total veraltet, argumentierte er, und allein aus Rücksicht auf den Wert des Hauses müsse etwas geschehen. Aber es war noch immer etwas von Mama im Badezimmer, etwas, das Papa nicht bemerkte. Ein Herz, sorgfältig mit Nagellack gemalt, auf einer Fliese gleich bei der Tür. Heges Wachstum am Türrahmen. Datierte Angaben, geschrieben mit unterschiedlichen Stiften und großen Ausrufezeichen, wenn sie besonders weit in die Höhe geschossen war.

Wenn das Badezimmer renoviert würde, könnte Hege heimlich die leere Tube in den neu gegossenen Fußboden schmuggeln.

Sie verpasste sich wegen dieses Gedankens eine schlaffe Ohrfeige. Das hier konnte nicht warten. Die Tube musste so schnell wie möglich verschwinden, aber bis auf Weiteres musste sie bleiben, wo sie war. Sie würde sich etwas ausdenken.

Was einer weiß, weiß keiner.

Niemand wusste, dass sie mit einem Medikament in der Kulturtasche hätte erwischt werden können, das auf der Dopingliste stand, einem Mittel, von dem es in ihrem Körper Spuren gab. Sie ließ das Wasser ins Waschbecken laufen, bis es heiß war, und hielt die Hände darunter, bis die Haut ganz rot wurde.

Vielleicht hatte sie eine entsetzliche Dummheit begangen. Man konnte sich doch mit einer Wundsalbe nicht dopen. Technisch gesehen war es natürlich möglich. Rein formal gesehen würden Spuren dieser Salbe sie zu Fall bringen können, und die Tube könnte der Beweis sein, den sie brauchte, um eine Erklärung vorzulegen. Eine, die viel weniger schlimm wäre als systematische Verwendung von leistungsstärkenden Mitteln.

Das Problem war nur, dass sie diese verdammte Salbe nie benutzt hatte. Ein noch größeres Problem war, dass irgendwer versucht hatte, ihr diese Tube unterzuschieben.

Der Penner

Er hauste in einem Karton von IKEA.

Der war groß und hatte ein Sofa namens »Stockholm« enthalten. Streng genommen hauste Einar Falsen in mehreren Kartons, in verschiedenen Größen, an vier Orten in Oslo und um Oslo herum.

Genau dieser Karton stand unter der Kreuzung Sinsenkrysset und war sein Aufenthaltsort in der Adventszeit. Die anderen Gehäuse aus Pappe, Holzresten und Gebüsch befanden sich in Oslomarka, zwei davon ziemlich nahe an dicht bebauten Gebieten, eines ganz in der Nähe vom Stausee Katnosa. Dorthin siedelte er im Sommer bei gutem Wetter über und konnte wochenlang dort bleiben. Lebte von dem, was er fand. In der Natur und auf Rastplätzen. Es war unglaublich, was die Leute liegen ließen, sogar so tief in der Wildnis, dass hier nur geübte Wandersleute zu sehen waren. Einige dieser Freiluftseelen kannten ihn inzwischen und steckten ihm auf dem Heimweg durch den Wald eine Wurst oder eine Packung Knäckebrot zu.

Zur Weihnachtszeit ließ er sich jedes Jahr unter Norwegens hektischstem Verkehrsknotenpunkt nieder. Mehr als hunderttausend Autos dröhnten jeden Tag über seinen Kopf hinweg, und das fand er beruhigend. Fast wäre alles zu Ende gewesen, als 2013 die Roma Einzug gehalten hatten. Die Politiker waren wütend und hetzten die Bullen auf sie. Einar Falsen durfte bleiben, als die jungen, barschen Uniformen erst begriffen hatten, wer er war. Es war eine gute Adventszeit geworden, sie hatten ihm Kaffee gebracht, ehe sie die Zigeuner zu immer neuen Lagerstätten weiterjagten. Im vergangenen Jahr waren einige der eingeschüchterten Rumänen zurückgekehrt, blieben aber mit ihren Habseligkeiten bei dem neuen Fußballplatz in Muselunden in gebührendem Abstand.

Einar Falsen fror nur selten.

Pappe und Zeitungen, ein alter Schlafsack, mehrere Schichten Kleidungsstücke, die er in regelmäßigen Abständen aus ramponierten Containern der Altkleidersammlung fischte. Alufolie und eine riesige Mütze mit Ohrenklappen. Das alles sperrte in der Regel die Kälte aus.

Aber er hatte Hunger. Es war schon ziemlich spät, das spürte er, das Donnern des schweren Verkehrs über seinem Kopf hatte abgenommen. Selma hätte schon hier sein müssen. Er zog einen Fäustling aus und fischte das alte Handy von seiner Brust, wo es auf der bloßen Haut lag, eingewickelt in eine alte Socke, die gründlich gefüttert war mit drei Schichten Silberpapier, damit das Gerät ihn nicht umbrachte.

Es war ein altes Nokia 1100, er hatte es geschenkt bekommen. Eine einzige Telefonnummer war darin gespeichert, und er benutzte es nur selten. Selma hatte darauf bestanden, dass er eine Möglichkeit hatte, sie zu erreichen. Drahtlose Telefonie war gefährlich, das wusste er genau, aber Selma hatte ihm garantiert, dass gerade dieses Modell viel weniger Schaden anrichtete als irgendein anderes. Das war natürlich Unfug. Handys sonderten krebserregende Strahlung ab und wurden außerdem vom Sicherheitsdienst der norwegischen Polizei und von der CIA überwacht, allesamt. Nach langem Überlegen hatte er sich dennoch dazu bereit erklärt, es »aufzubewahren«, wie sie sich ausdrückte. Es konnte kaum großen Schaden anrichten, wenn er es fast nie einschaltete. Sie hätte um 22.00 Uhr hier sein müssen, wie ihre Mitteilung bestätigte. Jetzt war es 22.37 Uhr.

Er hatte nur Selma.

Und da kam sie.

Einar liebte ihren Gang. Federnd, immer wie unmittelbar vor dem Sprung. Im Licht der Maxbo-Schilder unterhalb der Kreuzung und im Flutlicht des Fußballplatzes im Norden konnte er sehen, wie sie leichtfüßig von einem Felsen auf den nächsten sprang. Die Steine waren jetzt glitschig, das hatte er am Vorabend am eigenen Leib erfahren, als er auf dem Heimweg von einer Bettelrunde ausgerutscht und heftig auf den Boden geknallt war, aber Selma bewegte sich wie eine Tänzerin.

Sie war 1966 geboren, das wusste er. Im vergangenen September einundfünfzig geworden.

Selma bewegte sich wie eine Fünfundzwanzigjährige.

»Hallo, Einar. Entschuldige die Verspätung.«

»Ich hab heute nichts mehr vor«, sagte er lächelnd. »Jedenfalls schön, dass du da bist, Mariska.«

Sie erwiderte sein Lächeln und fing an, in der Tüte in ihrer rechten Hand zu wühlen.

»Hier. Voll aufgeladener Ersatz-Akku und eine Powerbank. Gib mir den leeren, bitte.«

Einar nahm den kleinen schweren Akku aus dem Handy und reichte ihn ihr. Das Handy und der volle Akku waren in Alufolie, Blasenfolie und eine Socke verpackt.

»Und hier«, sagte sie und setzte sich, während sie ein belegtes Brot von Deli de Luca auspackte. »Käse und Schinken und extra viel Paprika. Hatte leider keine Zeit, um eine Thermoskanne mit Kaffee zu machen, also …«

Sie reichte ihm einen großen Pappbecher, den sie in mit Klebeband befestigte Servietten gewickelt hatte.

»Sicher nicht mehr heiß.«

»Spielt keine Rolle. Was ist los?«

»Was los ist?«

»Ja. Du bist neuerdings so gestresst. Es gibt offenbar etwas, das dich quält.«

»Nicht doch.«

»Diese Grimasse kenne ich. Ist es irgendwas bei der Arbeit?«

Er leerte schlürfend den halben Becher, während er auf Antwort wartete.

»Nicht doch«, sagte sie noch einmal, während er trank. »Einfach nur wahnsinnig viel zu tun.«

»Und die Familie?«

»Alles bestens. Die Kinder sind so beschäftigt, dass ich sie kaum sehe. Und jetzt wohnt nur noch Johannes zu Hause. Er ist in seinen eigenen Kram vertieft. Du weißt ja, wie das ist.«

Einar Falsen erhob sich, steif von Rheumatismus und elf Jahren als Penner. Er hob die Arme, zog eine Grimasse, dann schüttelte er ein Bein nach dem anderen.

»So sind wir nicht, Mariska. Wir lügen uns nicht gegenseitig an. Wenn es Dinge gibt, über die du nicht mit mir reden willst, dann ist das in Ordnung. Aber lüg nicht.«

»Ich hab da so einen Fall«, sagte sie rasch.

»Ich gehe davon aus, dass du dauernd Fälle hast.«

Er setzte sich wieder, auf einen Haufen Zeitungen, mit dem aufgerollten Schlafsack im Rücken.

»Gerade diesen habe ich eigentlich nicht als Anwältin bekommen«, sagte sie und zog eine Colaflasche aus der Tasche. »Ich bin da eher so eine Art … Ermittlerin, könnte man sagen.«

»Du? Ermittlerin? Du bist doch Rechtsanwältin, zum Henker!«

Er schmunzelte und schüttelte den Kopf, dann biss er in seine Stulle.

»Worum geht es denn da?«, fragte er mit vollem Mund.

»Eine Dopingsache.«

»Langweilig.«

»Nicht unbedingt. Es geht um Hege Chin Morell.«

Er hörte sofort auf zu kauen.

»Diese Chinesin? Die Skiläuferin?«

Ein Stück Paprika hing ihm aus dem Mundwinkel. Es sah aus wie ein Streifen aus geronnenem Blut. Rasch schob er ihn mit einem schmutzverkrusteten Zeigefinger wieder hinein. Selma reichte ihm die Colaflasche.

»Sie ist keine Chinesin, Einar. Sondern Norwegerin.«

»Sicher, sicher. Aber eigentlich Chinesin. Kein Wunder, dass sie nicht beliebt geworden ist.«

»Sie ist beliebt. Sie ist eine Siegerin.«

»Nein. Sie wird geduldet, weil sie siegt. Wird bewundert. Das ist etwas ganz anderes. Und jetzt hat sie also gedopt. Sic transit gloria mundi.«

»Sie behauptet, dass das nicht stimmt. Dass es sich um einen Irrtum handeln muss.«

»Das sagen sie alle.«

Er redete noch immer mit vollem Mund. Die Stulle hatte er fast verzehrt.

»Gut«, sagte er, schluckte und schob die Hände zurück in ein Paar Riesenfäustlinge von Mesta, schwarz mit reflektierenden gelben Streifen. »Danke.«

»Das sagen nicht alle.«

»Fast«, sagte er und klemmte die Colaflasche zwischen zwei Steine. »Reuige Sünder gibt es nur wenige. Nicht einmal ich bereue. Und ich habe einen Mann umgebracht. Mit meinen eigenen Händen.«

Er hob die Fäustlinge vor die Augen und starrte sie fast überrascht an, dann fügte er hinzu: »Das ist schlimmer, als zu dopen. In den Augen der Leute, meine ich.«

»Tja. Wenn man die Medienaufmerksamkeit sieht, kann man da so seine Zweifel kriegen.«

Selma schwenkte ihr iPhone, das sofort aufleuchtete.

»He! Komm mir nicht so nah mit der Mordwaffe da!«

Er erhob sich halb und zog sich auf den Felsbrocken zurück. Der Pappkarton hinter ihm geriet ins Wanken.

»Einar«, sagte sie ruhig. »Wo soll ich anfangen? Ich …«

Sie klopfte beruhigend auf ihre Jacke, worin das Handy verschwunden war.

»Schalt es aus«, befahl er.

Selma gehorchte.

»Wenn wir davon ausgehen, dass sie die Wahrheit sagt«, begann sie dann wieder. »Einfach so als Hypothese. Es scheint unwiderlegbar und korrekt, dass sie eine Urinprobe abgegeben hat, die eine winzige Menge des verbotenen Stoffes Clostebol enthält.«

»Klingt wie ein Reinigungsmittel.«

»Wo soll ich anfangen?«

»Womit?«

Ein Streifenwagen jagte mit heulenden Sirenen über den Trondheimsvei. Das Blaulicht drang nicht bis in die Dunkelheit unter der Brücke vor. Das tat dagegen der Lärm, und sie blieben schweigend sitzen, bis der Wagen in Richtung Carl Berners plass noch schneller wurde und verschwand.

»Es gibt eigentlich nur drei Möglichkeiten«, sagte Einar leise und trank den Rest seines kalten Kaffees. »Wenn wir voraussetzen, dass sie die Wahrheit sagt.«

Er zog die Fäustlinge aus und brach den Pappbecher vorsichtig an den Klebekanten auseinander. Leckte die Innenseiten ab und faltete alles sorgsam zusammen, ehe er es in einer abgenutzten Plastiktüte der Supermarktkette Rema 1000 verstaute.

»Erstens kann bei den Proben etwas schiefgegangen sein.«

»Aber danach sieht es nicht aus. Ihr Vater, Jan Morell, du weißt …«

»Ich weiß, wer Jan Morell ist.«

»Für einen Mann ohne Internet und festen Wohnsitz bist du sehr gut informiert, Einar.«

»Zeitungen«, sagte er kurz und hob ein wenig den Hintern. »Gute Sache. Liegen überall rum und lassen sich so vielfältig verwenden. Dass man das meiste erst wenige Stunden nach allen anderen erfährt, bedeutet nicht, dass man keine Ahnung hat.«

Selma lächelte. Einar gefiel Selmas Lächeln. Er bildete sich ein, dass gerade dieses Lächeln für ihn reserviert war, eine Mischung aus Bewunderung und Zuneigung, die er früher einmal bei so vielen gesehen hatte, die er aber, nach allem, was passiert war, jetzt nur noch von ihr entgegennehmen konnte.

»Hege hat am Montag davon erfahren«, sagte Selma. »Ihr Vater hat seither die Zeit sehr gut genutzt. Bei seinem Geld und seiner Tatkraft lässt sich vieles schnell klären. Es sieht nicht so aus, als ob an den Proben etwas nicht stimmt.«

»Dann bleiben uns zwei Möglichkeiten. Entweder hat sie diesen Stoff aus Versehen eingenommen, oder jemand hat ihr einen bösen Streich gespielt.«

Wieder schwiegen sie beide.

Einar Falsen spürte die einsetzenden Kopfschmerzen. Es war wie verhext. Nach vier guten Tagen, an denen nur die Gicht ein wenig geziept hatte, hatte er wieder das Gefühl, als ob sich Stacheldraht um seinen Kopf zusammenzog. Das musste an dem verdammten Handy liegen, das sie immer bei sich hatte.

»Ein Versehen ist eher wahrscheinlich«, sagte er und schloss die Augen. »Sabotage ist spannender.«

Sie gab keine Antwort.

»Als Erstes musst du dich befreien«, sagte er langsam.

»Wie meinst du das?«

»Dein Gehirn ausleeren. Tu so, als wüsstest du rein gar nichts über diese Chinesin oder ihren Vater. Fang mit einem leeren Blatt Papier an.«

»Das könnte etwas schwierig werden. Hege gehört zu den besten Langläuferinnen in Norwegen, und seit Jahren wird von Omega bis Alpha über sie geschrieben.«

»Umgekehrt«, sagte er und öffnete die Augen. »Es heißt, von Alpha bis Omega. Ein leeres Blatt Papier, Mariska. Ganz leer. Wenn du zum ersten Mal mit ihr redest, musst du versuchen, ganz auf null zu sein. Stell die naheliegenden Fragen. Auch wenn du glaubst, die Antwort zu kennen. Du solltest noch nicht das Dach auf das Gebäude setzen. Du musst zuerst ein Loch für die Bodenplatte ausheben.«

Er fing an, die Tüten zu öffnen, die in einer Art System um ihn herumlagen. Endlich fand er das Gesuchte, ganz unten in einer blauen IKEA-Tüte.

»Nimm das hier. Ich habe zwei.«

Sie nahm das abgegriffene Büchlein, das er ihr reichte.

»Das ABC des Ermittlers«, las sie laut vor. »Was ist das denn?«

»Das ist das ABC des Ermittlers«, antwortete er und grinste. »Ein Buch, das ich 2002 geschrieben habe. Ganz kurz bevor bei mir alles aus war. Ist sogar bei einem richtigen Verlag erschienen. Hat sich hundertneunundsechzigmal verkauft, wie mir im folgenden Jahr gesagt wurde. Hundertneunundsechzig Glückspilze, wenn du mich fragst. Das da ist Gold wert.«

Er nickte zufrieden in Richtung des Buches.

»Lies es. Ich glaube, du musst gehen. Sonst bringt mich dein Handy noch um. Merkst du denn nichts?«

Selma stand auf. Sie versuchte, das ABC des Ermittlers in ihrer Jackentasche zu verstauen, aber das war unmöglich. Deshalb klemmte sie es unter den Arm, während sie einen Hunderter und ein Zwanzigkronenstück aus ihrer Brieftasche fischte.

»Für einen Ausflug ins Tøyenbad«, sagte sie und schob das Geld in seinen Fäustling. »Du könntest ein Bad gebrauchen. Ruf mich an, wenn etwas sein sollte.«

»Don’t be a stranger«, sagte er lächelnd. »Du weißt, wo du mich findest, das brauche ich dir nicht zu sagen. Lass es nicht zu lange dauern.«

»Lass ich es jemals zu lange dauern?«, fragte sie und lächelte ebenfalls.

»Nein. Und, du?«

»Ja?«

Sogar im Halbdunkel konnte er sehen, dass ihre Augen leuchtend braun waren, fast schwarz.

»Das war richtig von mir, oder? Es war richtig, ihn zu töten?«

Und sie kam zurück, wie sie es immer tat, ehe sie in verließ, jedes einzelne Mal, sie beugte sich über ihn, umarmte ihn und flüsterte ihm durch die riesige Mütze ins Ohr: »Das war richtig von dir, Einar. Das Schwein hatte den Tod verdient.«

Vettakollen

Jan Morells Haus war von dem Umstand geprägt, dass jemand plötzlich verschwunden war.

Und das seit einiger Zeit. Die alten Gegenstände waren prachtvoll. Es waren nicht nur Antiquitäten, an denen ansonsten im Haus kein Mangel herrschte. Eine große, mit Rosen bemalte Bauerntruhe in der Diele trug die Aufschrift 1792 und sah aus, als wäre sie niemals durch eine Restaurierung verdorben worden. Ein ebenso deutlich bejahrter Schaukelstuhl stand in der einen Ecke des Wohnzimmers, mit schönen Kissen aus Damast und einem Bücherstapel auf einem Beistelltischchen. Hier und da wirkte die Einrichtung wie kleine Enklaven der Gemütlichkeit und Fürsorge, umsichtig ausgesuchte Gegenstände, die zu den Wänden aus dunklem Holz passten.

Ansonsten war Hightech angesagt.

Die Sitzgruppe war aus schwarzem Leder und Stahl und stand auf einem kreideweißen flauschigen Teppich. Der Tisch zwischen den einander gegenüberstehenden Sofas war aus gegossenem Beton. An der Nordwand hing der größte Fernsehbildschirm, den Selma Falck jemals in einem Privathaus gesehen hatte, er maß mindestens achtzig Zoll. In die Südwand war ein Panoramafenster eingelassen, ein absurder Bruch mit der ursprünglichen Architektur des Hauses. Selma nahm an, dass die Aussicht an einem klaren Tag umwerfend wäre.

Jetzt war es dunkel, und leichter Regen hatte eingesetzt.

Katinka Morell war in diesem Haus noch immer anwesend. In den Bücherregalen und den Ziergegenständen, vielleicht auch im Strickzeug auf dem Schaukelstuhl. Es war dort arrangiert wie bei einer Ausstellung. Das half aber nicht viel, das Wohnzimmer wirkte kalt. Vielleicht vor allem durch den Kamin hinter dem Fernseher, ein riesiges schwarzes und düsteres Loch im Raum. Da müsste ununterbrochen ein Feuer lodern, dachte Selma und ertappte sich bei einem Frösteln.

Hege Chin Morell stand in der Türöffnung zu dem Raum, der die Küche sein musste. Selma konnte dort jemanden arbeiten hören, Geschirr klirrte, während es in eine Spülmaschine gestellt wurde. Jan Morell saß bereits auf einem der einander gegenüberstehenden Sofas.

»Setz dich«, sagte er zu Hege.

Doch sie blieb stehen. Selma ging mit ausgestreckter Hand auf sie zu.

»Hallo. Ich bin Selma Falck.«