Ein guter Start ins Leben - Magda Gerber - E-Book

Ein guter Start ins Leben E-Book

Magda Gerber

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Beschreibung

Die Bedürfnisse von Babys und Eltern erfüllen – und dabei nicht ausgelaugt, sondern glücklich sein. Wer möchte das nicht? Magda Gerber beschreibt in Ihrem neuen Buch anschaulich den Schlüssel, der Eltern dabei helfen kann, ihre Kinder angemessen zu begleiten und in der Beziehung mit ihnen sich selbst besser kennenzulernen: Es ist der respektvolle Umgang mit dem Baby von Anfang an. In vielen Beispielen, von den alltäglichen Pflegesituationen bis zum freien Spiel, zeigt Magda Gerber, wie Eltern liebevoll für ihre Kinder sorgen und ihnen gleichzeitig Raum für ihre eigenständige Entwicklung geben können. Sie schildert, wie Eltern die Zeichen ihrer Kinder verstehen lernen und in langsamer, respektvoller Zuwendung Kooperation und Austausch erleben können. Magda Gerber lernte in den 30er Jahren die Arbeit von Dr. Emmi Pikler kennen. Später wanderte sie nach Amerika aus und widmete sich auch dort weiterhin dem Gebiet der Kleinkindpädagogik. So half sie u.a. einem Kinderarzt bei der Etablierung eines Programmes für entwicklungsverzögerte Kinder. Gemeinsam mit ihm gründete sie schließlich die Organisation Resources for Infant Educarers (RIE), die eine in Amerika weithin bekannte Form von Mutter-Kind-Gruppen entwickelt hat, die weitestgehend auf der Arbeit von Dr. Emmi Pikler aufbaut.

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Magda Gerber

Ein guter Start ins Leben

Ein Leitfaden für die erste Zeit mit Ihrem Baby

Mit einem Vorwort von Alanis Morissette

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Bernhard Kleinschmidt

Arbor Verlag

Freiburg im Breisgau

Meinen Kindern Mayo, Daisy und Bence,meinen Enkeln Tony und Jason,meiner Großenkelin Bailey und dem Andenken meines Mannes Imre.

Magda Gerber

Meinem Mann William, dem Gefährten auf der freudvollen und schwierigen Reise der Elternschaft, und meiner Tochter Juliana, dem Licht auf diesem Weg.

Allison Johnson

IMPRESSUM

Copyright © der deutschen Ausgabe:2002 by Mit Kindern wachsen Verlag und Arbor Verlag, Freiamt

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

„Your Self-Confident Baby“

by Magda Gerber and Allison Johnson

Copyright © 1998 by Magda Gerber and Allison Johnson

All Rights reserved. Authorized translation from the English language edition published by John Wiley & Sons, Inc.

Titelfoto: Rudolf Pichler, Wien

Bearbeitung: Lienhard Valentin und Sonja Welker

Lektorat: Norbert Gehlen

Alle Rechte vorbehalten

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-326-6

Inhalt

Cover

Titel

Einführung

Überblick über den Inhalt dieses Buches

Wie RIE Ihrem Baby nutzen kann

1 Respekt – der Schlüssel zu Selbstvertrauen

Grundprinzipien

Der pädagogische Ansatz von RIE in der Praxis

2 Wie RIE entstand

Die Anfänge

Lóczy – ein Kinderheim in Budapest, in dem gesunde Kinder aufwachsen

DIP: Das amerikanische Modell

Der Anfang von RIE

Die ersten Monate des Lebens – von der Geburt bis zu den ersten Schritten

3 Ihr neugeborenes Baby

Aufmerksam zuschauen

Bindung entwickeln

Mit Ihrem Kind sprechen

Sich Zeit lassen

Die häusliche Umgebung

Die Mahlzeiten

Das Schlafen

Zeit von besonderer Qualität

Weinen – die Sprache Ihres Kindes

„Plötzlicher Kindstod“ und wie Sie ihm vorbeugen können

Können wir unsere Babys verwöhnen?

4 Die „neugeborenen“ Eltern

Hilfe für den Haushalt suchen

Versuchen weniger zu tun

Sich Zeit nehmen

Auf das Weinen Ihres Kindes hören

Eigenschaften guter Eltern

Ausgehen und sich vergnügen

Möglichkeiten schaffen, Zeit alleine zu verbringen

Die Prinzipien von RIE nutzen

Sich selbst respektieren

5 Die ersten Monate mit Ihrem Baby

Ihr Zuschauen verfeinern

Ankündigen, was Sie als Nächstes tun

Füttern – eine Zeit von besonderer Qualität

Zahnen – ein Teil des Lebens

Weinen – und wie Sie damit umgehen können

Gesunde Schlafgewohnheiten entwickeln

Sich das Leben leichter machen – mit Respekt

Den Kindern ihr eigenes Leben lassen

Sicherheit geht immer vor

Die Spielumgebung

Spielen – was Kinder von Natur aus tun

Erwünschtes Verhalten vorleben

RIE-Eltern erzählen

Kinder mit Behinderungen

Die Authentizität Ihres Kindes unterstützen

6 Für gute Betreuung sorgen

Wenn Verwandte Ihr Kind betreuen

Worauf Sie bei einem Kindermädchen achten sollten

Worauf Sie bei einer Kindergruppe achten sollten

Wie eine RIE-Kinderbetreuungseinrichtung arbeitet

7 Ihr Baby wird mobil

Wie wichtig sind Meilensteine?

Ihr Zuhause für Ihr Kind sicher machen

Wie sich das Weinen verändert

Mit Ihrem Kind kommunizieren

Die Sprachentwicklung unterstützen

Ihre Fähigkeiten im Zuschauen und Intervenieren verfeinern

Die Spielumgebung einfach gestalten

Wie ist es mit Toben?

Spielen in der Gruppe

Trennungsangst – eine gesunde Reaktion

Fremdenangst

Langsam und liebevoll abstillen

Tisch und Stuhl anbieten

Das Schlafen in diesem Alter

Langsam und mit Geduld

Die Zeit des Laufenlernens und ihre Herausforderungen

8 Wenn Ihr Kind die Welt erobert

Trennung – ein schwieriger, aber gesunder Teil des Heranwachsens

Grundvertrauen aufbauen

Wünsche: Ich will, ich will...

Neugier ist Teil der Kreativität

Muss man Kindern etwas beibringen?

Sicherheit in diesem Alter

Die Spielumgebung für Ihr Kind im „Lauflernalter“

Das Spiel in diesem Alter

Interventionen auf das Verhalten des Kindes abstimmen

Nein! Nein! Nein!

Ein typischer Abend in einer RIE-Familie

Wutanfälle: Die Geschichte des Antäus

Mit dem Kopf schlagen, schaukeln und andere rhythmische Verhaltensmuster

Dauerhafte Disziplin kommt von innen

Die Sprachentwicklung Ihres Kindes unterstützen

Wenn Ihr Kind Angst hat

Beim Zubettgehen an den gewohnten Ablauf halten

Das Weinen in diesem Alter

Wie die Essgewohnheiten sich verändern

Wenn Ihr Kind Zähne bekommt

Kooperation bei der Pflege

Lernen, die Toilette zu benutzen

Rivalität zwischen Geschwistern

Sie müssen nicht vollkommen sein

RIE hört nicht im Alter von zwei Jahren auf

Danksagung

Landmarks

Cover

Inhaltsbeginn

Schluss

Überblick über den Inhalt dieses Buches

Dieser Teil des Buches fasst die Philosophie des RIE zusammen. In ihm wird untersucht, was damit gemeint ist, wenn davon die Rede ist, dass Sie Ihr Baby respektieren und das Baby Sie respektiert. Ich erkläre im Einzelnen die Grundprinzipien meiner Philosophie und wie der Ansatz des RIE aus meiner anfänglichen Arbeit in Ungarn entstand und sich in den USA weiterentwickelte. Er wurde auf Kinder mit ganz verschiedenem Hintergrund und über viele Jahrzehnte angewandt.

Teil II geht näher darauf ein, wie Sie Ihr Kind kennen lernen und wie Sie die Grundprinzipien des RIE in Alltagssituationen anwenden können. Hier werden auch die frühen Entwicklungsstufen untersucht, die Ihr Kind durchmacht, von der Stufe des Neugeborenen bis es seine ersten Schritte macht. Es werden verschiedene Themen wie Weinen, Schlafen, Sicherheit und Spielen diskutiert und wie man die Prinzipien des RIE anwenden kann, wenn man mit diesen Themen zu tun hat. In diesem Teil II reflektieren RIE-Eltern darüber, wie sie selbst aufgewachsen sind. Teil II geht auch auf den Nutzen der Philosophie des RIE für Kinder mit Behinderungen ein.

Sie bemerken vielleicht, dass die Kapitel nicht nach dem Alter der Kinder eingeteilt sind. Das liegt daran, dass es mir nicht vorrangig um das Alter geht. Es gibt kein „richtiges“ Alter dafür, dass ein Kind bestimmte Meilensteine erreicht. Eher geht es mir um Entwicklungsphasen. Teil II enthält ein Kapitel, das besonders für Eltern geschrieben ist, die ihr erstes Kind bekommen, und Ermutigung und Einsichten enthält, die auf meiner jahrelangen Arbeit mit Familien beruhen. Er enthält auch ein Kapitel darüber, wie man eine optimale Pflegesituation für ein Kind schaffen kann.

Teil III erörtert weiter die Entwicklungsstufen bis zu der Phase, in der das Kind laufen lernt. Wiederkehrende Themen wie Schlafen und Essen werden untersucht wie auch neue Themen, die auftauchen: Verhalten eines Kindes im Laufalter, Grenzen und Wutanfälle. Ich beschreibe einen typischen Abend und die Gewohnheiten um das Zu-Bett-Gehen in einer RIE-Familie und versuche so zu zeigen, wie die Philosophie des RIE bei Ihnen zu Hause angewendet werden kann. Ich beende meine Darstellung bei der Stufe, wenn Ihr Kind in der Regel laufen kann und zu sprechen anfängt. Inzwischen werden Sie und Ihr Kind gelernt haben einander zu respektieren und auf eine gesunde Weise miteinander zu kommunizieren. Entsprechend geht die Zeit der Kinder in den Eltern-Kind-Gruppen zu Ende, wenn die Kinder zwei Jahre alt werden und sehr wahrscheinlich laufen und sprechen können.

Jedes Kapitel enthält Kommentare von Eltern, Geschichten aus meiner Arbeit mit Familien und Anekdoten aus meinen Eltern-Kind-Gruppen. Durch Beobachtung, Demonstration und Diskussion unterstützen die RIE-Gruppen Eltern darin, gesunde Verhaltensmuster im Zusammenleben mit ihren Kindern einzuführen.

Wie RIE Ihrem Baby nutzen kann

1Respekt – der Schlüssel zu Selbstvertrauen

Respektieren: Wertschätzen, achten, darauf verzichten sich einzumischen

Respekt, Würde, Wertschätzung – diese Worte werden gewöhnlich nicht mit Babys assoziiert. Doch herrscht Übereinstimmung darüber, dass diese Dinge im späteren Leben eine entscheidende Rolle spielen. Die Persönlichkeit eines Kindes wird zum großen Teil in den ersten drei Lebensjahren geformt. In dieser Zeit wird auch seine Sicht der Welt geprägt. Warum nicht so früh wie möglich mit Ihrem Kind eine respektvolle Beziehung aufbauen? Der Gewinn wird von langer Dauer sein.

Was bedeutet Respekt im Hinblick auf Eltern und Kinder? Es bedeutet, Ihr Kind anzunehmen, sich an ihm zu freuen und es zu lieben, wie es ist, und nicht etwas von ihm zu erwarten, was es noch nicht kann. Es bedeutet, Ihrem Kind die Zeit, den Raum und die Liebe und Unterstützung dafür zu geben, dass es es selbst sein und die Welt auf seine eigene, einzigartige Weise entdecken kann. Es bedeutet zu versuchen, seine Sichtweise zu verstehen.

Ihr Kind zu respektieren heißt auf seine Kompetenz zu vertrauen und es nicht als hilflos anzusehen, sondern eher als in manchen Dingen von Ihnen abhängig. Es bedeutet auch, es sowohl in seiner Abhängigkeit als auch in seiner Unabhängigkeit anzunehmen und zu unterstützen, je nach der Entwicklungsphase, in der es sich gerade befindet. Respekt beinhaltet Liebe in Verbindung mit Aufmerksamkeit, oder: Ihr Kind so zu behandeln, wie Sie einen geachteten Gast behandeln würden. Ihr Kind zu respektieren heißt einen kleinen Abstand einzuhalten und darauf zu verzichten, es in seiner Erfahrung der Begegnung mit dem Leben zu stören.

Respekt bedeutet Grenzen für Ihr Kind und für sich selbst als Eltern zu setzen und dafür zu sorgen, dass diese Grenzen eingehalten werden. Dazu gehört auch, Ihr Kind Ihre Erwartungen an sein Verhalten wissen zu lassen, damit es mit Ihnen zusammenarbeiten und so auch Sie respektieren kann. Respekt bedeutet, dass Sie sich um Ihre eigenen Bedürfnisse wie um die Ihres Kindes kümmern. Es bedeutet, dass Sie auch sich selbst nähren und achten.

Der respektvolle Ansatz von RIE fördert die Authentizität, die Echtheit eines Kindes und das bedeutet, dass man es ermutigt, in Bezug auf seine Gefühle aufrichtig zu sein. Er versucht einem Kind zu vermitteln: „Sei dir selbst treu! Sei, wer du bist.“ Es ist eine dauernde Auseinandersetzung mit dem Leben. Keine Gesellschaft erlaubt rückhaltlose Aufrichtigkeit, deshalb müssen wir alle Masken tragen und gelegentlich „so tun als ob“. So verlieren Menschen den Kontakt mit ihrem wahren Selbst. Das ist ein zu hoher Preis für das „Sich-Arrangieren“ mit der Gesellschaft.

Sie fragen sich vielleicht, wie Sie diesen Geist der Authentizität unterstützen können. Ich sage einfach: Lassen Sie Ihr Kind sein wie es ist! Nehmen Sie sich Zeit, anwesend zu sein und ihm zuzu­schauen. Schauen Sie, wer es ist und welche Bedürfnisse es hat. Erwarten Sie nicht von ihm, dass es etwas tut, wozu es noch nicht bereit oder in der Lage ist. Lassen Sie es krabbeln, bis es allein seine ersten Schritte machen kann. Veranlassen Sie Ihr Kind nicht dazu zu lächeln, wenn ihm nicht nach Lächeln zumute ist. Wenn es traurig ist, dann gestatten Sie ihm zu weinen. Erwarten oder verlangen Sie kein Verhalten, das nicht echt ist. Wertschätzen Sie eher, was es tut.

Oft erwartet man von Kindern, dass sie „sich benehmen“ statt dass sie sind, wer sie sind. In vielen Situationen bringen Erwachsene Kindern unabsichtlich bei, nicht ganz aufrichtig zu sein. Wenn ein Kind weint, wird es nicht gefragt: „Was ist passiert?“ Sondern gewöhnlich sagt man ihm: „Es ist nichts passiert, es ist alles in Ordnung.“ In unserer Gesellschaft ist das üblich. Die Botschaft lautet: Wenn es dir nicht gut geht, dann behalte es für dich. Oft wird bei Kindern auch eher Konformität als Aufrichtigkeit unterstützt. Ich würde mir wünschen, dass Kinder sich frei fühlen ihre Gefühle auszudrücken und dass sie – wenn sie heranwachsen – lernen ihre Impulse zu kontrollieren.

Grundprinzipien

Im Folgenden formuliere ich die Grundprinzipien meiner Philosophie. Wenn Sie diesen Prinzipien folgen, wird Ihnen das zu respektvollem Verhalten bei der Erziehung Ihres Kindes verhelfen:

Grundvertrauen in das Kind als Initiator, als Forscher und als jemanden, der von sich aus lerntEine Umgebung für das Kind, die physisch sicher, kognitiv anregend und emotional nährend istZeit für nicht unterbrochenes SpielenFreiheit zu forschen und mit anderen Kindern zu interagierenBeteiligung des Kindes an allen Aktivitäten der Pflege, sodass das Kind eher aktiver Teilnehmer als passiver Empfänger wirdEinfühlsames Beobachten des Kindes, damit man seine Bedürfnisse versteht Konsistentes Handeln der Eltern und klar definierte Grenzen und Erwartungen, damit sich das Kind orientieren kann

Grundvertrauen

Grundvertrauen bedeutet, dass Sie auf die Kompetenz Ihres Kindes vertrauen und seine Authentizität unterstützen. Es bedeutet darauf zu vertrauen, dass Ihr Kind lernen wird, was immer es wissen oder können muss. Dann wird es mit einem Vertrauen in sich selbst und in Sie heranwachsen. Das wird sein Gefühl von Selbstsicherheit stärken und ihm erlauben, eine Grundlage für ein gutes Urteilsvermögen zu entwickeln. Grundvertrauen bedeutet auch, dass Sie als Eltern lernen, sich selbst und Ihrer Intuition zu vertrauen.

Das Fundament zu Grundvertrauen wird dadurch gelegt, dass Sie Ihr Kind wahrnehmen, um es zu verstehen und herauszufinden, was es interessiert. Wenn Sie es beobachten, werden Sie entdecken, dass es kompetent und in der Lage ist viele Dinge allein herauszufinden, und Sie werden ihm dann noch mehr vertrauen. Wenn wir zum Beispiel damit beschäftigt sind, einem Kind beizubringen einen Ball zu fangen oder Bauklötze zu stapeln, dann merken wir oft nicht, was es schon weiß und kann. Und was es schon kann, das kann sehr überraschend für uns sein.

Die entscheidende Frage in Bezug auf Lernen ist: Für was ist Ihr Kind bereit? Einem Kind Informationen „eintrichtern“, das nicht in der Lage ist sie aufzunehmen, heißt Wissen vermitteln, das ihm nichts nützt. Neugier, Interesse und Bereitschaft Ihres Kindes sind das, was zählt. Es kennen lernen ist der Schlüssel.

Erik H. Erikson, der berühmte Psychoanalytiker und Harvard-Professor, der den Begriff des Grundvertrauens geprägt hat, beschreibt dieses in seinem Buch Identität und Lebenszyklus als eine Haltung sich selbst und der Welt gegenüber, die während des ersten Lebensjahres auf der Grundlage der eigenen Erfahrungen geformt wird. Er stellt fest, die Grundlage für eine gesunde Persönlichkeit sei ein durch Vernunft legitimiertes Vertrauen, soweit es um andere gehe, und ein einfaches Gefühl von Vertrauenswürdigkeit, soweit es um einen selbst gehe.

Die Umgebung gestalten

Die Umgebung muss vor allem sicher sein – zum Schutz Ihres Kindes und damit es sich sicher fühlt. In einer unsicheren Umgebung können Eltern niemals in Ruhe und gelassen ihrem Kind einfach zuschauen. Man braucht wenigstens einen vollkommen sicheren Raum oder, falls das Haus oder die Wohnung klein ist, einen abgetrennten, sicheren Teil eines Zimmers, wo das Kind spielen kann.

Eine kognitiv anregende Umgebung enthält einfache, alters­gemäße Spielsachen, die ein Kind darin unterstützen zu wachsen und zu reifen, dass es beim Spielen Probleme lösen kann. Ich empfehle für Babys zum Beispiel Spielsachen wie große Baumwolltücher und Bälle. Wenn Kinder in dem Alter sind, in dem sie laufen lernen, brauchen sie andere Herausforderungen wie Sand, Wasser, Spielsachen mit Rädern und Dinge zum Klettern.

Eine emotional nährende Umgebung, für die aufmerksame Eltern oder Pflegepersonen sorgen, ermöglicht einem Kind das Vertrauen aufzubauen, das es braucht um Probleme zu lösen.

Spielen nicht unterbrechen

Kinder können sehr schön allein spielen. Man braucht ihnen nicht beizubringen, wie man spielt. Kinder arbeiten beim Spielen ihre Konflikte durch, in dem Maße wie sie dazu bereit sind. „Bereit“ bezieht sich auf ihre jeweilige Fähigkeit Probleme zu lösen, entsprechend der Entwicklungsstufe, auf der sie gerade sind. Zum Beispiel ist ein Baby so weit, dass es nach Gegenständen, die in seiner Nähe sind, die Hände ausstrecken und sie ergreifen kann. Ein Kind, das laufen lernt, ist so weit, dass es einen Eimer mit Sand füllen und ihn ausschütten kann. Sie werden sehen, dass sich in einer geeigneten Spielumgebung Probleme auf natürliche Weise stellen, sodass ein Kind dann vielleicht herausfinden muss, wie es einen Ball wiederbekommen kann, der unter einen Stuhl gerollt ist. Es ist nicht nötig mit Absicht Probleme zu schaffen.

Eltern können ihrem Kind beim Spielen zuschauen und auf der Grundlage dieser Beobachtung erkennen, was es braucht – vielleicht einen neuen Gegenstand zum Spielen. Wenn Eltern stattdessen das Kind unterbrechen und zu ihm sagen: „Jetzt wollen wir mal den Ball rollen“, dann wird das Spielen eher für die Eltern therapeutisch als für das Kind und das Ziel der Erwachsenen wird wichtiger als das Interesse des Kindes.

Spielen, das nicht unterbrochen wird, fördert Konzentration und eine lange Aufmerksamkeitsspanne. Wenn wir ein Kind unterbrechen und es seine Aufmerksamkeit uns zuwendet, beenden wir damit auch, was es gerade tut – was immer das für ein Prozess ist, in dem es sich gerade befindet. Unsere Unterbrechung wird so für das Kind verwirrend, auch wenn sie noch so gut gemeint ist.

Freiheit die Umgebung zu erforschen gewähren

Spielgruppen, in denen Kinder miteinander interagieren, sind nützlich. Kinder haben mit Erwachsenen andere Aufgaben zu lösen als mit Gleichaltrigen und sie lernen voneinander. Wenn kleine Kinder frei erforschen, muss es allerdings Regeln geben. Vor allem sollte man Kindern nicht erlauben einander zu verletzen. Wenn die Regeln einmal feststehen und wenn von den Erwachsenen, die die Aufsicht haben, darauf geachtet wird, dass sie eingehalten werden, dann können die Kinder frei sein miteinander zu interagieren.

Aktive Teilnahme ermöglichen

Es ist schön und gesund für ein Kind aktiv zu sein, auch wenn es nicht leicht ist ein Kind, das sich viel bewegt, zu wickeln. Während der Pflegeaktivitäten können Sie Ihr Baby zum Mitmachen ermutigen. Das Ziel ist es Ihr Kind zu ermutigen, sich aktiv zu beteiligen, indem Sie es einladen Teil des Prozesses zu sein. Beim Wickeln können Sie zum Beispiel mit Ihrem Baby sprechen und es zum Mitmachen auffordern, auch wenn es Sie noch nicht verstehen kann. Auf diese Weise beginnt ein Dialog zwischen Ihnen, der Zusammenarbeit fördert.

Sensibel zuschauen

Es ist oft leichter sich zusammen mit einem Kind einer Aktivität zu überlassen als da zu sitzen und ihm einfach zuzuschauen. Aber aus unseren Beobachtungen entstehen Antworten, auch wenn man sicherlich Zeit braucht, um das eigene Kind zu verstehen. Eltern sind mit ihrem Kindern so eng verbunden, dass sie manchmal ihre Perspektive verlieren. Niemand weiß mit Sicherheit, was ein Baby denkt oder fühlt, aber Zuschauen ist die beste Art sich in Ihr Kind einzufühlen. Wenn Sie Ihr Kind auf seiner Entwicklungsstufe wahrnehmen und annehmen können und lernen, wie Sie seine Bedürfnisse verstehen und auf sie antworten können, dann haben Sie eine größere Chance Problemen vorzubeugen, bevor sie entstehen. Mit der Zeit und mit Übung entwickelt sich Ihre Wahrnehmungsfähigkeit mehr und mehr.

Konsequenz

Konsequenz und Festigkeit helfen dem Kind, sich zu orientieren. Als Eltern setzen Sie die Grenzen. Eine Regel ist immer eine Regel. Wenn ein Kind das weiß, fühlt es sich sicher. Sie können Ihrem Kind zum Beispiel sagen, wo es Ball spielen darf und wo nicht.

Grenzen setzen und konsequent auf sie achten bedeutet nicht, dass ein Kind sie immer einhält. Das Wichtige ist, dass Ihr Kind weiß, was man von ihm erwartet. Zuverlässige Gewohnheiten führen zu einer Art Disziplin, ohne Macht einsetzen zu müssen. Bestimmte Gesichtspunkte wie Sicherheit sollten immer beachtet werden.

Der pädagogische Ansatz von RIE in der Praxis

Um Ihnen zu zeigen, wie Sie diese Prinzipien bei sich zu Hause einführen können, möchte ich versuchen Ihnen ein Bild davon zu vermitteln, wie die verschiedenen Elemente meiner Philosophie im RIE-Zentrum zusammenwirken.

Das RIE-Zentrum, in dem ich Ausbildungsseminare und Eltern-Kind-Gruppen anbiete, ist ein alter Bungalow in spanischen Stil und liegt in einem ruhigen Viertel von Los Angeles. Ich unterrichte dort seit 20 Jahren. Die Gruppen, den Entwicklungsstufen der Kinder entsprechend eingeteilt, finden in einem Raum mit Holzfußboden statt, der sich nach draußen auf eine überdachte Terrasse mit Holzboden hin öffnet, die von den Zweigen eines großen Gummibaums überschattet wird. Viele Eltern haben mir gesagt, dass dies sie an ein Baumhaus erinnere.

In der Gruppe mit den jüngsten Kindern liegen die Babys (höchstens sechs an der Zahl) auf einer weichen Matte, die mit einem sauberen Laken bedeckt ist. Ein paar Bälle liegen umher sowie bunte Baumwolltücher, die so gefaltet sind, dass man sie aufstellen kann und die Kinder nach ihnen greifen können. Große rote, blaue und gelbe Holzkästen mit Spielsachen für ältere Kinder sind an einer Wand aufgereiht. Die Spielsachen sind Dinge wie Plastikschalen, -tassen und -siebe und verschiedene Sachen, die man stapeln kann – lauter einfache, funktionale Dinge. Auf einem Futon auf der anderen Seite des Zimmers gibt es Stofftiere und Puppen. Ein Korb mit Bällen, ein anderer mit Eimern und eine Holzkonstruktion zum Klettern für die Kinder, die schon anfangen, laufen zu lernen. Die Eltern sitzen auf stoffbespannten Stühlen und bilden einen Kreis um ihre Kinder. RIE-Gruppen sind offen für Kinder bis zum Alter von zwei Jahren. Ich glaube, dann haben die Kinder und ihre Eltern die Grundlage für eine gute Kommunikation aufgebaut.

In den Gruppen schauen wir den Kindern beim Spielen zu, so wie Sie es auch zu Hause machen würden. Das ist alles. Wir freuen uns an ihnen. Zum „Lernstoff“ gehört alles, was auch immer geschieht. Die Kinder tun, was sie tun möchten, und die Eltern sind in der Nähe für den Fall, dass sie Unterstützung brauchen. Sie können sich frei bewegen und es wird nur eingegriffen, wenn die Sicherheit es erfordert. Zum Beispiel würden wir eingreifen, wenn ein Kind dabei wäre, ein anderes Kind zu verletzen oder selbst verletzt zu werden. Meine Rolle als educarer ist es, Vorbild für respektvolles Verhalten zu sein.

Ich erinnere mich an eine Gruppe, in der zwei neun Monate alte Babys, die schon krabbeln konnten, nach demselben gelben Ball griffen und sich beide bemühten, ihn festzuhalten. Ich beobachtete die Gesichter der eifrigen Eltern, als sie ihren Kindern zuschauten und dann mich ansahen, als wollten sie mich fragen, was sie tun sollten. Ich lächelte ihnen beruhigend zu und sagte: „Das ist der Anfang sozialer Interaktion. Es ist eine wunderbare Sache, das so weit wie möglich laufen zu lassen, solange niemand verletzt wird. Je mehr wir ihnen erlauben untereinander auszumachen, ohne dass wir eingreifen, umso besser werden sie darin.“ Die Mütter lehnten sich zurück und entspannten sich und ließen die Kinder weiter spielen. Ein paar Augenblicke später ließ eines der Babys den Ball fallen und nahm eine Stoffpuppe. Stellen Sie sich vor, wie viel Energie man nutzlos verschwendet hätte, wenn beide Eltern sich eingemischt hätten.

Solch eine Umgebung haben Babys selten. Allzu oft leben sie mit unseren Erwartungen: Spiel hiermit! Fass das nicht an! Was wir in Gruppen tun und was Sie leicht auf Ihr Zuhause übertragen können ist Kindern zu erlauben zu tun, was sie tun können. Wir setzen Babys nicht mit irgendeiner Art von Stütze auf, wenn sie noch nicht allein sitzen können, und bringen Krabbelkindern nicht das Laufen bei. Wir lassen die Kinder sich natürlich entwickeln und aus dem Angebot von Spielsachen aussuchen und wir unterstützen sie dabei, ihre Konflikte allein durchzumachen. In diesem Prozess lernen wir viel über sie.

Emmi Pikler schreibt in dem Buch Friedliche Babys – zufriedene Mütter, das zuerst im Jahr 1940 in Ungarn erschien:

„Wenn man nicht eingreift, wird ein Kleinkind mühelos lernen, sich auf den Bauch zu drehen, zu rollen, auf dem Bauch zu kriechen, auf allen Vieren zu krabbeln, zu stehen, zu sitzen und zu laufen. Das geschieht dann nicht unter Druck, sondern aufgrund seiner eigenen Initiative – unabhängig, mit Freude und Stolz auf seine Leistung – auch wenn es vielleicht manchmal wütend wird und ungeduldig schreit.“

Im Weiteren schreibt Emmi Pikler darüber, welche Arten von Spielsachen am besten sind und wie man sie einem Kind anbietet:

„Grundlegend ist, dass das Kind so viel wie möglich selbst entdecken kann. Wenn wir ihm helfen alle Aufgaben zu lösen, denen es begegnet, nehmen wir ihm genau das, was von größter Bedeutung für seine intellektuelle Entwicklung ist. Es gewinnt durch unabhängiges Experimentieren eine andere Art Wissen als dasjenige, das man ihm wie ein Fertiggericht anbietet.

Deshalb erlauben wir einem Kind seine Umgebung auf seine individuelle Weise und seinem individuellen Entwicklungs­stand entsprechend zu erfahren. Wir drängen es nicht. Wir ermutigen es nicht zu Dingen, für die es noch nicht bereit ist. Wir loben es nicht übertrieben, wenn ihm etwas gelingt. Wir erkennen seine Leistungen an, und zwar nicht nur mit lobenden Worten, sondern auch in unserem Verhalten.“

Wenn Sie Ihr Kind dabei unterstützen, sich natürlich und seinem eigenen Rhythmus entsprechend zu entwickeln, wird ihm das ein Gefühl von Frieden und von Kompetenz vermitteln.

Um Ihnen ein weiteres Beispiel zu geben, möchte ich einen anderen Vater aus einer meiner Gruppen zitieren, Peter, den Vater von Christopher (2 Jahre alt):

„RIE bedeutet Verzicht auf Eingreifen bei einem Kind, und das sieht nach fast nichts aus. Den Eltern wird empfohlen einfach nur da zu sein, ihrem Kind zuzuschauen, wie es sich mit seiner Welt auseinander setzt. Aber es liegt große Weisheit darin, dem Weg des geringsten Widerstandes zu folgen. Ich habe gelernt meinen Sohn Dinge allein herausfinden zu lassen, dass er große Fähigkeiten hat und dass ich ihm nicht dauernd etwas beibringen muss. Ich habe gelernt loszulassen und Dinge auf natürliche Weise geschehen zu lassen, mich mehr herauszuhalten. RIE hat mich gelehrt, dass die Eltern die letzte Instanz sind. Das erlaubt Kindern, sich selbst zu lehren, und sie werden mit der Zeit immer besser darin. Wenn Sie die heutige Gesellschaft betrachten, dann kommen die meisten Zusammenbrüche von der Unfähigkeit der Menschen miteinander auszukommen, zu leben und leben zu lassen. RIE feiert und fördert die Fähigkeit des Kindes mit anderen auszukommen.“

Wir bei RIE versuchen die Therapeuten arbeitslos zu machen. Ein Therapeut muss „lösen“. Wenn wir am Anfang des Lebens eines Kindes angemessen da sind, müssen wir später nichts lösen. Allerdings ist die Philosophie von RIE nicht ein Dogma oder eine Sammlung starrer Regeln und simpler Rezepte. Sie ist eher eine Quelle für Eltern. Sie müssen nicht mit allem übereinstimmen. Sie können in Ihr Familienleben aufnehmen, was Sie nützlich finden.

Gillian, Anthropologin und Mutter von Jesse (7 Jahre alt), berichtet: „RIE hat mir Klarheit darüber vermittelt, wie ich die Dinge mit meinem Kind gerne hätte. Ich habe gelernt, dass es wichtig ist für mich selbst zu sorgen, dass ich wichtig bin und dass Jesse wichtig ist – als zwei getrennte Individuen –, und mich nicht schuldig zu fühlen. Es hat mir eine klare und direkte Möglichkeit eröffnet, Mutter zu sein, und das Elternsein durch Zuschauen befriedigender gemacht, dadurch dass diese kleine Distanz geschaffen wurde, aus der ich dann meinem Kind zuschauen konnte. RIE hat mir geholfen mein Leben leichter zu machen, weil ich mir immer gedacht hatte, dass ich eine überbehütende Mutter sei. Dadurch dass ich Jesse mehr Bewegungsfreiheit an einem sicheren Ort erlaubte, konnte ich gelassener sein. Ich habe entdeckt, dass ich seiner eigenen Einschätzung seiner physischen Fähigkeiten vertrauen und ihn in Ruhe lassen konnte und mir nicht dauernd Sorgen machen musste. Ich hörte auf meine eigenen Gefühle und meine Intuition, wobei ich RIE als Richtschnur benutzte. Ich verinnerlichte die Vorstellungen des RIE und passte sie so an, dass sie für unsere Familie passend waren. Es gibt tiefe Prinzipien, die zum RIE gehören – Zuschauen, Autonomie und Respekt – gegenüber Eltern und Kindern.“

Ich verrate Ihnen ein Geheimnis. Dieses Buch kann als Führer dienen, aber die wirklichen Antworten können Sie hier nicht finden. Wenden Sie sich Ihrem Kind zu. Schauen Sie ihm zu. Von ihm können Sie viel lernen.

2 Wie RIE entstand

In Ungarn wurde erzählt, dass man, wenn man in einen Park oder auf einen Spielplatz ging, die „Pikler-Babys“ von den anderen Kindern unterscheiden konnte. Sie waren aktiv und bewegten sich graziös, waren voller Vertrauen und besaßen ein starkes Selbst­gefühl. Sie waren Kinder, die nach der Philosophie Emmi Piklers aufgewachsen waren.

Solche Babys durften sich in ihrem eigenen Tempo entwickeln, ohne dass man von ihnen mehr erwartete als sie ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe entsprechend tun konnten. Man hatte ihnen innerhalb einer sorgfältig strukturierten, sicheren Umgebung Bewegungsfreiheit erlaubt, ihnen einfache Spielsachen zur Verfügung gestellt und sie selbst wählen lassen, womit sie spielen wollten. Sie interagierten mit anderen kleinen Kindern etwa desselben Alters. Dadurch dass sie lernen, ihrem Körper zu vertrauen, haben sie weniger Unfälle in ihrer Kindheit. Diese Babys können an allen Aktivitäten ihrer Pflege teilnehmen und ihr Mittunn wird wertgeschätzt. Dadurch dass sie mit Respekt für ihre Gefühle, ihren Geist und ihren Körper aufwachsen können, besitzen sie Selbstvertrauen und sind wach und aufmerksam.

Emmi Pikler war der Auffassung, dass man ein Baby in seinem Gefühl seiner Kompetenz unterstütze, wenn man empfänglich für sein Bemühen um Kommunikation und um Initiative sei. In der Zeitschrift Acta Paediatrica Scientiarum Hungaricae schrieb sie (1979), dass dieser Grundsatz seinerseits Eltern befähige, „ruhigere, ausgeglichenere Kinder aufzuziehen ..., die wissen ... woran sie interessiert sind, und ihre Bedürfnisse nach Nahrung und Schlaf kennen.“ Wenn man diesem folge, dann vermeide man eine Reihe korrigierender erzieherischer Maßnahmen, die sonst in der Folge notwendig seien.

Sie war der Meinung, dass Kompetenz zu Unabhängigkeit im besten Sinne des Wortes führt, – dass sie ermöglicht, dass Kinder aktivere, autonomere, kooperativere Individuen und Mitglieder der Familie und später der Gesellschaft werden.

Die Anfänge

Schon früh in ihrer Laufbahn war Emmi Pikler von der Physiologie der grobmotorischen Entwicklung (der Entwicklung der großen Muskulatur, die einem Kind ermöglicht zu sitzen, zu stehen und zu gehen) bei Kleinkindern fasziniert, besonders bei den Kleinkindern, denen man erlaubt hatte sich ohne Einschränkung durch Geräte wie Kindersitze oder Gehhilfen zu entwickeln. Sie war der Überzeugung, dass die Einschränkung der Bewegungsfreiheit eines Babys nicht nur seine motorische Entwicklung behindere, sondern sich auch auf sein kognitives Wachstum, seine sozialen Fähigkeiten und seine Persönlichkeit auswirke.

Als sie Statistiken von Unfällen bei Kindern untersuchte, entdeckte Emmi Pikler, dass Kinder reicher Familien, die im Haus gehalten und von Kindermädchen erzogen wurden, sich häufiger Knochenbrüche und Prellungen zuzogen als Kinder, die auf der Straße spielten und denen man mehr Bewegungsfreiheit ließ. Die Kinder, die auf der Straße spielten und fallen lernten, waren sich anscheinend mehr ihrer physischen Fähigkeiten und Grenzen bewusst. Von daher hatte sie das Gefühl, es sei besser, einem heranwachsenden Kind unbehinderte Bewegungsfreiheit zu ermöglichen.

Emmi Pikler war der Überzeugung, dass ein Kind, dem man erlaube sich frei zu bewegen, die Fähigkeiten üben könne, die es brauche, um zur nächsten Entwicklungsstufe weiterzugehen. Zum Beispiel richtete man ein Baby, das noch nicht sitzen konnte, nicht mit Kissen in eine sitzende Position auf. Wenn es auf dem Rücken liegt, seine Arme und Beine bewegt und sich auf die Seite rollt, stärkt es auf natürliche Weise die Muskeln und entwickelt die Koordination, die es braucht, um sich aufzusetzen. Ein Kind in ihrer Obhut wurde nie in eine Position gebracht, in die es nicht aus eigener Kraft gelangen konnte. Es wurde für das wertgeschätzt, was es tun konnte, und man erwartete von ihm nicht, dass es etwas tat, was es noch nicht konnte.

Emmi Pikler folgte bei der Erziehung ihrer Tochter diesen Richtlinien. Da sie mit dem Ergebnis zufrieden war, setzte sie ihre Erfahrungen bei rund hundert Familien um, deren Kinderärztin sie war. Während der ersten zehn Tage im Leben eines Babys besuchte Emmi Pikler die Familie jeden Tag. Später machte sie wöchentliche Hausbesuche und verbrachte viele Stunden damit, die wechselseitige Anpassung eines jeden Kindes und seiner Familie zu begleiten und sich zu vergewissern, dass alles gut lief.

Lóczy – ein Kinderheim in Budapest, in dem gesunde Kinder aufwachsen

Emmi Pikler war sehr betroffen, als sie weltweit die Lebensbedingungen von Kindern untersuchte, die in Institutionen lebten. Mit dem Begriff „Hospitalismus“, geprägt von René Spitz, beschrieb man das Syndrom auffälligen Verhaltens, das von einer Verzögerung physischer und mentaler Entwicklung verursacht wird und das man an Kindern beobachtete, die in Institutionen aufwachsen. Hospitalismus hat gewöhnlich verheerende Folgen für die spätere Entwicklung der Betroffenen. Man beobachtete, dass die Kinder passiv und teilnahmslos wurden und später schwere Persönlichkeitsstörungen entwickelten.

Im Jahr 1945 wurde Emmi Pikler gebeten die medizinische Leitung des Lóczy zu übernehmen, eines staatlichen Waisenhauses in Budapest. Sie nahm die Herausforderung an und versuchte die Zustände institutionalisierter Kinderpflege zu verändern, indem sie ihre Überzeugungen von kindlicher Entwicklung bei den Kindern umsetzte, die sie dort vorfand. Ich assistierte ihr bei der Ausbildung der Kinderschwestern.

Emmi Pikler war der Meinung, dass das Waisenhaus niemals eine liebevolle Mutter ersetzen konnte. Deshalb war es lebenswichtig, eine stabile Mutterfigur in Gestalt einer Pflegerin zur Verfügung zu stellen. Sie erkannte auch, dass eine unterstützende, nährende Umgebung lebenswichtig ist. Um stabile Bindungen zu ermöglichen, wurden die 70 Kinder im Lóczy in Gruppen von etwa neun Kindern eingeteilt, die jeden Tag für acht Stunden dieselbe Pflegerin hatten. Jedes Kind hatte eine bestimmte Pflegerin, die es badete und sich um seine Grundbedürfnisse kümmerte und so die Rolle der Mutter übernahm. Dieselben drei Pflegerinnen blieben bei den Kindern wenn möglich von der Geburt bis zum Alter von drei Jahren, in dem sie dann entweder zu ihren Familien zurückkehrten oder zu Adoptiveltern kamen. Wie die gesamte Literatur über kindliche Entwicklung zeigt, sind die ersten drei Lebensjahre entscheidend für die Bildung lebenslanger Muster dafür, wie man mit Problemen oder Beziehungen umgeht. Emmi Pikler wollte so dafür sorgen, dass die Kinder in ihrer Obhut einen gesunden Anfang erleben konnten.

Freiheit sich zu bewegen und Zugang zu einfachen Spielsachen lud die Kinder dazu ein, beim Spielen Initiative zu entwickeln. Kindern motorische Fähigkeiten beizubringen war nicht erlaubt. Das Ziel war, die Kinder dazu zu ermutigen, etwas allein zu meistern. Besondere Aufmerksamkeit wurde den Kindern während der Zeiten des Fütterns, Wickelns und Badens geschenkt, um jedem Kind unmittelbaren Kontakt zu ermöglichen. Die Pflegerin sprach mit jedem Kind, das sie gerade versorgte, und sagte ihm, was als Nächstes geschehen werde. Je nach der Entwicklungsstufe des Kindes wurde zum Mittun eingeladen und dieses willkommen geheißen. Die Kinder entwickelten durch die Regelmäßigkeit und Zuverlässigkeit der alltäglichen Gewohnheiten und der Kontinuität derselben Pflegerin ein Gefühl von Sicherheit und Bindung. Wenn ein Kind in einer liebevollen Begegnung hatte „auftanken“ können, konnte es leichter die Trennung von einem Erwachsenen akzeptieren, um dann zu erforschen und zu spielen.

Emmi Pikler blieb 39 Jahre lang Direktorin des Lóczy, bis zu ihrem Tod im Jahr 1984. Danach wurde das Waisenhaus in Emmi-Pikler-Institut umbenannt. Tausende von Kindern sind in dem Institut nach der Pikler-Methode aufgewachsen. Im Laufe der Jahre wurden an Hunderten von Lóczy-Kindern, die alle Entwicklungsstufen selbständig und ohne Hilfe von Erwachsenen durchlaufen hatten, Studien durchgeführt. (Emmi Pikler, The Exceptional Infant, 2. Auflage 1971, hrsg. von Jerome Hellmuth)

Eine unabhängige, von der World Health Organization (WHO) finanzierte Folgestudie hat dokumentiert, wie gut sich die Lóczy-Kinder nach der Adoption auf das Familienleben umstellen konnten. Es wurde gezeigt, dass sie ebenso gut sozialisiert waren wie Kinder, die in einer normalen Familie aufgewachsen waren. Eine weitere Folgestudie der WHO zeigte, dass diese Kinder, wenn sie in das Erwachsenenalter gekommen waren, heirateten, ihre eigenen Kinder aufzogen und gute Bürger waren, die ihren Lebensunterhalt selbst sichern konnten. Das Pikler-Institut arbeitet zurzeit mit drogenabhängigen Kindern und mit solchen, die Missbrauch erlebt haben, sowie mit Waisen. Die Pikler-Gesellschaft verbreitet ihre Philosophie in Europa und in anderen Teilen der Welt.

Emmi Piklers Arbeit im Lóczy beinhaltet eine wichtige Botschaft für Eltern. Wenn Kinder, die in einer öffentlichen Institution erzogen wurden, nicht nur überleben, sondern auch „aufblühen“ können, können dann nicht Kinder überall einen besseren Start im Leben haben, wenn Eltern diesem Ansatz folgen? Das ist genau das, was ich dachte, als ich meine Ideen in die Vereinigten Staaten brachte und das RIE-Institut gründete.

DIP: Das amerikanische Modell

Im Jahr 1972 bat mich Dr. Tom Forrest, Kinderarzt und klinischer Assistenzprofessor für Kinderheilkunde an der Stanford University, um ein Treffen in Los Angeles. Er wollte mich um Rat für das Kinderprogramm fragen, das er für den Childrens Health Council (CHC) in Palo Alto in Kalifornien aufbaute. Das CHC arbeitete schon lange mit behinderten Kindern und wusste, wie entscheidend die ersten Jahre für die Entwicklung eines Kindes sind. Das Programm wurde von einer Stiftung finanziert und Ziel war die Prävention psychischer Probleme, das heißt, es sollte potentielle Probleme entdecken und sie korrigieren, bevor sie Teil der Persönlichkeit und des Verhaltens eines Kindes geworden waren. An dem Programm sollten so genannte „gefährdete“ Kinder wie auch durchschnittliche, „normale“ Kinder teilnehmen.

Dr. Forrest und ich stellten bald fest, dass wir ähnliche Vorstellungen von einem respektvollen Ansatz der Kindererziehung hatten, und er lud mich ein, Kodirektorin des Programms zu werden. Ich nahm gerne an und fuhr die nächsten vier Jahre wöchentlich einmal nach Palo Alto.

Dieses Programm diente der Demonstration, daher hieß es Demonstration Infant Program oder DIP. Uns war nämlich klar geworden, dass es eine Sache ist, eine Philosophie der Kindererziehung zu präsentieren, und eine ganz andere, sie in einer Familie oder einer Institution wie einer Kindertagesstätte im Alltag anzuwenden. Wie das gehen könnte, wollten wir in diesem Programm zeigen; und das sollte Eltern und Menschen, die professionell mit Kindern arbeiteten, als Modell dienen.

Jede Demonstrationsgruppe von vier oder fünf Babys etwa desselben Alters kam einmal in der Woche für eine zweistündige Sitzung zusammen. Die Gruppen bestanden aus fünf Monate bis 24 Monate alten Kindern und waren nach Entwicklungsstufen eingeteilt. „Normale Kinder“ und „gefährdete“ Kinder waren in denselben Gruppen.

Während der Sitzungen blieben entweder Forrest oder ich in einem Zimmer mit den Babys und dienten als Modell, während der andere von uns beiden in einem anliegenden Beobachtungsraum war und mit den Müttern, Besuchern und in der Ausbildung stehenden erörterte, was sie sahen.

Die Umgebung der Kinder war kindgemäß und erlaubte ihnen, sich frei zu bewegen, ihre Spielsachen auszusuchen und mit den anderen Kindern zu interagieren.

Bewusstes Intervenieren unterstützt Kompetenz

Forrest und ich dienten als Modelle für bewusstes Intervenieren und wir zeigten, wann und wie man in das Spiel der Kinder eingreifen soll, indem man erreichbar bleibt, ohne aber aufdringlich zu sein. Wir griffen ein, wenn es um die Sicherheit eines Kindes ging oder wenn das Kind bei der Lösung eines Problems zu große Angst hatte oder zu frustriert war. Das Ziel war, das Kind dazu zu ermutigen, sich an der Lösung zu beteiligen.

Das Team des DIP war der Überzeugung, das Nicht­intervention oder Nichtunterbrechen des Spiels Kindern hilft, Kompetenz in den Fertigkeiten zu entwickeln, die sie beim Lösen von Problemen brauchen. Das verlangt wiederum Vertrauen auf Seiten der Eltern oder der Pflegepersonen. Wir vertrauten darauf, dass Kinder sehr gute Problemlöser seien, wenn man ihnen die Gelegenheit dazu gebe.

Die Philosophie des DIP ging davon aus, dass Kinder beim Lernen neuer Aufgaben und Finden eigener Lösungen für Probleme des Alltags (einen Gegenstand in eine Schachtel tun, auf einen Einrichtungsgegenstand klettern, einen Streit um Spielsachen ausfechten) in diesen Tätigkeiten selbst Befriedigung finden und dabei inneren Lohn im Gegensatz zu äußerem kennen lernen. Damit wird der Grund für lebenslanges Selbstvertrauen gelegt.

Jean Piaget, der bekannte Schweizer Biologe, der dann Psychologe wurde, hat gesagt: „Jedes Mal wenn wir einem Kind etwas beibringen, halten wir es davon ab, es selbst zu entdecken.“ Das DIP ermutigte die Freude am Entdecken. Wie im Lóczy wurde den Kindern nichts beigebracht und man brachte sie nicht in Positionen, in die sie nicht allein gelangen konnten, wie sitzen, stehen oder an der Hand eines Erwachsenen gehen.

Ich erinnere mich an ein Baby namens Beverly, das an unserem Programm teilnahm. Sie war zu einer diagnostischen Untersuchung bei Dr. Forrest gebracht worden. Das Problem? Beverly hatte seit ihrer Geburt fast ständig geweint. Ihre Eltern wurden immer gereizter, fühlten sich hilflos, frustriert, wütend und schuldig. Diese Gefühle durchdrangen ihr Leben, ihre Ehe und natürlich ihre ganze Beziehung mit dem Baby. Forrests Untersuchung ergab keinen Hinweis auf einen neurologischen Befund.

Am ersten Tag, als sie in unsere Gruppe kam, wurde Beverly, ein großes, starkes gesund aussehendes, sechs Monate altes Baby, auf seinen Füßen „gehend“, aber an den Händen der Eltern hängend hereingeführt, in aufrechter Haltung hoch gehalten, ihr Körper so steif wie ein Brett. Zunächst hätte man dies zwar als eine für ihr Alter fortgeschrittene Position betrachten können, aber in Wirklichkeit war sie völlig immobilisiert und als man sie auf den Boden setzte, behielt sie diese steife Haltung bei und rührte sich nicht.

Beverly kam in eine Gruppe mit drei anderen Babys im Alter von sieben bis zwölf Monaten. Ihre Mutter war überrascht, als sie sah, wie sie friedlich ihre Umgebung erkundeten, und noch überraschter, als sie die Mütter sich von ihren Babys verabschieden und sich in den benachbarten Beobachtungsraum zurückziehen sah. Während der ganzen ersten Stunde, die Beverly mit uns im DIP verbrachte, schrie sie und platzte fast vor Wut.

Da unsere kindorientierte Umgebung jedes Baby dazu ermutigte, aufmerksam, aktiv und forschend zu werden, lernte Beverly zusammen mit den anderen Babys sich zu interessieren und im Meistern neuer Aufgaben Zufriedenheit zu finden. Den Babys wurde Raum gegeben, in dem sie sich bewegen konnten, eine entsprechende Einrichtung und geeignete Gegenstände, mit denen sie etwas machen konnten, und es gab andere Babys, denen sie zuschauen und die sie nachahmen konnten. Es ist zwar noch nicht allgemein bekannt, aber wir haben beobachtet, dass Kleinkinder eine Menge voneinander lernen, auch in einem sehr frühen Alter.

Beverly weinte während der nächsten fünf Besuche immer weiter. Bei ihrem sechsten Besuch im DIP begann sie mit anderen Babys zu interagieren, mit Spielsachen zu spielen, sich im Zimmer umherzubewegen, und weinte nur noch kurz. Es ist gut möglich, dass Beverly, wenn sie nicht zum DIP gekommen wäre, weiter in dem Teufelskreis von unvollständigem Problemlösen, Frustration, Wut und Bewegungslosigkeit (durch ihr wütendes Weinen) geblieben wäre, sodass alle Versuche, ihr zu helfen, vergeblich geblieben wären und bei den Menschen um sie herum Frustration und Wut hervorgerufen hätten. Und das kann jedem gesunden, durchschnittlichen, intelligenten Kind und seinen wohlwollenden und guten Eltern passieren.

Kinder brauchen auch Grenzen

Zu einem bestimmten Zeitpunkt gab es während der DIP-Gruppe einen Imbiss. Das war eine Aktivität mit Grenzen oder Regeln. Ein kleiner Tisch umgeben von niedrigen Stühlen war für die Kinder da. Sie konnten essen, wenn sie wollten, aber sie durften kein Essen von dem Tisch mitnehmen. Die Kinder konnten entweder essen oder spielen, aber mussten sich zum Essen hinsetzen. Wir sprachen mit den Kindern in einem freundlichen, aber bestimmten Ton und erklärten, was wir von ihnen erwarteten.

Ein anderer Bereich, bei dem es um Grenzen ging, war Sicherheit. Den Kindern war es nicht erlaubt andere Kinder zu schlagen oder zu verletzen, wenngleich sie streiten durften, wobei ein aufmerksamer Mitarbeiter neben den Kindern am Boden saß und bereit war, wenn nötig zu intervenieren. Kindern, die sich um ein Spielzeug stritten, wurde zum Beispiel gesagt: „Ich lasse nicht zu, dass du Jake schlägst. Das tut ihm weh. Was kannst du denn sonst noch machen?“ Die Kinder wurden ermutigt zu lernen, wie sie eine Lösung für ihren Streit aushandeln konnten.

Ziel des DIP war es, Kindern und ihren Eltern auf sanfte Weise zu ermöglichen, Fertigkeiten zu erwerben, die ihnen in ihrem Leben gut dienen würden. Sie lernten diese Fertigkeiten, indem man ihnen erlaubte, in einer sorgfältig strukturierten Umgebung frei und ohne Unterbrechung zu forschen. Beide Elemente, Freiheit und Struktur, fügten sich harmonisch zusammen und ergaben ein optimales Lernfeld. Das Verhalten der Kinder wurde durch die respektvolle Behandlung, die sie durch die Betreuer erfuhren, geprägt. Wechselseitigkeit ist ein Schlüsselelement, wenn es um Respekt geht.