Ein guter Tag zum Leben - Lisa Genova - E-Book
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Ein guter Tag zum Leben E-Book

Lisa Genova

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Beschreibung

Als Joe erfährt, dass er an der seltenen Krankheit Chorea-Huntington leidet, ist er 44 Jahre alt. Wenn es gut läuft, bleiben ihm noch zehn Jahre. Jahre, in denen er die Kontrolle über seinen Körper mehr und mehr verlieren wird.
Wie jedes seiner vier Kinder muss auch Katie befürchten, die Krankheit ihres Vaters geerbt zu haben. Gewissheit könnte ein Gentest bringen. Doch kann sie tatsächlich mit dem Wissen leben, das der Test ans Licht bringt?


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Seitenzahl: 527

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INHALT

CoverTitelImpressumWidmungMottoTeil IEinsSieben Jahre späterZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunTeil IIZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechszehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnTeil IIIZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzigDreißigEinunddreißigZweiunddreißigDreiunddreißigVierunddreißigFünfunddreißigSechsunddreißigLisas Aufruf zum HandelnDanksagungUnterstützung für Huntington-Familien

LISA GENOVA

EIN GUTER TAGZUM LEBEN

ROMAN

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Veronika Dünninger

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

 

Übersetzung des Gedichtes von Emily Dickinson, »Die Hoffnung ist das Federding«: Walter A. Aue

 

Übersetzung des Zitats von Eckhart Tolle: Erika Ifang

 

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Inside the O’Briens«

 

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2015 by Lisa Genova

 

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition published by arrangement with the original publisher, Gallery Books, an Imprint of Simon & Schuster, Inc., New York.

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dorothee Cabras, Grevenbroich

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau

Umschlagmotiv © shutterstock: wanchai | red rose | PinkPueblo | Deliza | AVA Bitter | cristatus

E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

 

ISBN 978-3-7325-1278-2

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

 

Für Stella

In liebevollem Gedenken an Meghan

 

Wenn ihr das, was in euch ist, hervorbringt, wird euch das, was ihr hervorbringt, retten. Wenn ihr nicht hervorbringt, was in euch ist, wird euch das, was ihr nicht hervorbringt, zerstören.

Thomas-Evangelium, Spruch 70        

 

Sobald man sich diese Dinge vorstellen kann, kann man sie sich nicht mehr unvorstellbar machen.

Joe O’Brien        

TEIL I

Die Huntington-Krankheit ist eine neurodegenerative Erbkrankheit, die durch einen fortschreitenden Verlust der Willkürmotorik und eine Zunahme unwillkürlicher Bewegungen gekennzeichnet ist. Erste körperliche Symptome können einen Gleichgewichtsverlust, verminderte Geschicklichkeit, Stürze, Chorea, eine lallende Sprechweise und Schluckbeschwerden beinhalten. Die Krankheit wird durch neurologische Untersuchungen auf der Grundlage dieser Bewegungsstörungen diagnostiziert und kann durch genetische Tests bestätigt werden, da eine einzige Genmutation diese Krankheit verursacht.

Auch wenn das Auftreten körperlicher Symptome für die Diagnose notwendig ist, gibt es ein heimtückisches »Huntington-Prodrom«, das bis zu fünfzehn Jahre vor dem Auftreten der motorischen Störungen einsetzen kann. Prodromale Symptome der Huntington-Krankheit sind sowohl psychiatrisch als auch kognitiv und beinhalten häufig Depressionen, Apathie, Paranoia, Zwangsneurosen, Impulsivität, Wutausbrüche, verminderte Geschwindigkeit und Flexibilität bei der kognitiven Verarbeitung sowie Gedächtnisstörungen.

Die Huntington-Krankheit wird typischerweise zwischen dem fünfunddreißigsten und fünfundvierzigsten Lebensjahr diagnostiziert und führt innerhalb von zehn bis zwanzig Jahren unaufhaltsam zum Tod. Es gibt keine Behandlung, die das Fortschreiten aufhalten kann, und keine Heilung.

Sie wurde die grausamste Krankheit genannt, die die Menschheit kennt.

EINS

Die verdammte Frau räumt ständig seine Sachen um. Er kann seine Stiefel nicht im Wohnzimmer von sich schleudern oder seine Sonnenbrille auf dem Couchtisch ablegen, ohne dass sie sie dorthin räumt, »wo sie hingehören«. Wer hat sie zur Herrscherin in diesem Haus gemacht? Wenn er einen stinkenden Haufen seiner eigenen Scheiße mitten auf dem Küchentisch hinterlassen will, dann sollte er genau dort liegen bleiben, bis er selbst ihn entfernt.

Wo zum Teufel ist meine Pistole?

»Rosie!«, ruft Joe aus dem Schlafzimmer.

Er sieht auf die Uhr: 7.05 Uhr. Er wird zu spät zum Anwesenheitsappell kommen, wenn er nicht in null Komma nichts von hier verschwindet, aber ohne seine Pistole kann er nirgendwohin gehen.

Denk nach. Es fällt ihm in letzter Zeit so schwer nachzudenken, wenn er es eilig hat. Außerdem ist es hier drinnen tausend Mal heißer als in der Hölle. Es ist viel zu heiß für Juni, schon die ganze Woche über dreißig Grad, und nachts kühlt es kaum ab. Ein schreckliches Wetter zum Schlafen. Die Luft im Haus ist ein zäher Sumpf, und die Hitze und Feuchtigkeit des heutigen Tages drücken schon jetzt auf alles, was gestern drinnen gefangen war. Die Fenster sind geöffnet, aber das hilft kein bisschen. Sein weißes Hanes-T-Shirt klebt unter der Weste an seinem Rücken und nervt ihn. Er hat eben erst geduscht und könnte schon wieder eine Dusche vertragen.

Denk nach. Er hat geduscht und sich angezogen – Hose, T-Shirt, Kevlar-Weste, Socken, Stiefel, Pistolengürtel. Dann hat er seine Pistole aus dem Safe genommen, den Abzug entriegelt – und dann was? Er sieht an seiner rechten Hüfte hinunter. Die Glock ist nicht da. Er kann das fehlende Gewicht spüren, ohne hinzusehen. Er hat seine Magazintasche, Handschellen, Pfefferspray, Funkgerät und Schlagstock, aber keine Pistole.

Sie ist nicht im Safe, nicht auf seiner Kommode, nicht in der obersten Schublade seiner Kommode, nicht auf dem ungemachten Bett. Er sieht hinüber zu Rosies Kommode. Nichts bis auf die Jungfrau Maria auf einem elfenbeinfarbenen Spitzendeckchen. Sie wird ihm mit Sicherheit nicht helfen.

Heiliger Antonius, wo zum Teufel ist sie?

Joe ist müde. Er hat am vergangenen Abend drüben beim Garden den Verkehr geregelt. Das verdammte Justin-Timberlake-Konzert war erst spät zu Ende. Daher ist er müde. Na und? Er ist seit Jahren müde. Er kann sich nicht vorstellen, so müde zu sein, dass er seine geladene Pistole achtlos verlegt. Viele Typen, die so viele Jahre bei der Truppe sind wie Joe, werden selbstgefällig und nachlässig im Umgang mit ihrer Dienstwaffe, aber er ist es nie geworden.

Er stapft den Flur hinunter, vorbei an den beiden anderen Schlafzimmern, und steckt den Kopf in ihr einziges Badezimmer. Nichts. Er stürmt mit in die Hüften gestemmten Händen in die Küche, tastet mit dem rechten Handballen aus Gewohnheit nach dem oberen Ende seiner Pistole.

Seine vier noch nicht geduschten, zerzausten, verschlafenen Teenager sind schon auf und sitzen um den winzigen Küchentisch beim Frühstück – vor Tellern mit zu kurz gebratenem Speck, dünnflüssigen Rühreiern und verbranntem Toast. Das Übliche. Joe sucht die Küche mit den Augen ab und entdeckt seine Pistole, seine geladene Pistole, auf dem senfgelben Resopaltresen neben der Spüle.

»Morgen, Dad«, begrüßt ihn Katie, seine Jüngste, lächelnd, aber schüchtern, als spürte sie, dass irgendetwas nicht stimmt.

Er ignoriert Katie. Stattdessen schnappt er sich seine Glock und verstaut sie sicher in seinem Holster, bevor er Rosie ins Fadenkreuz seiner Wut nimmt. »Was tust du denn hier mit meiner Waffe?«

»Wovon redest du?« Rosie steht barfuß am Herd, in Shorts und einem rosa Tanktop ohne BH.

»Du räumst ständig meine Sachen um«, sagt Joe.

»Ich rühre deine Pistole nie an«, gibt Rosie zurück.

Sie ist klein und zierlich, kaum mehr als einen Meter fünfzig groß und höchstens hundert Pfund schwer. Joe ist auch kein Riese. Er ist eins fünfundsiebzig, mit seinen Kampfstiefeln, doch alle halten ihn für größer, als er ist, vermutlich weil er eine breite Brust, muskulöse Arme und eine tiefe, rauchige Stimme hat. Mit sechsunddreißig hat er einen leichten Bauchansatz, aber nicht viel für sein Alter oder wenn man bedenkt, wie viel Zeit seines Lebens er sitzend in einem Streifenwagen verbringt. Im Allgemeinen ist er umgänglich und zu Späßen aufgelegt, ein Schmusekater im Grunde, doch selbst wenn er lächelt und dieses Funkeln in seinen blauen Augen zu sehen ist, wissen alle, dass er ein harter Typ vom alten Schlag ist. Niemand legt sich mit Joe an. Niemand außer Rosie.

Sie hat recht. Sie rührt seine Pistole nie an. Selbst nach all den Jahren, die er nun schon bei der Truppe ist, fühlt sie sich noch immer nicht wohl damit, eine Schusswaffe im Haus zu haben, auch wenn sie immer mit verriegeltem Abzug im Safe oder in seiner obersten Kommodenschublade oder an seiner rechten Hüfte ist. Bis heute.

»Wie zum Teufel ist sie denn dann dorthin gekommen?« Er zeigt auf die Stelle neben der Spüle.

»Pass auf, was du sagst«, gibt sie zurück.

Er sieht hinüber zu seinen vier Kindern, die alle mit dem Essen aufgehört haben, um der Show zuzusehen. Er konzentriert sich auf Patrick. Gott behüte ihn, aber er ist sechzehn und nicht besonders helle. Das wäre genau die idiotische Nummer, die er abziehen würde, selbst nach all den Lektionen, die er und seine Geschwister wegen der Pistole über sich ergehen lassen mussten.

»Wer von euch ist es denn dann gewesen?«

Sie starren ihn alle an und sagen nichts. Der Charlestown-Schweigekodex, was?

»Wer hat meine Pistole genommen und sie neben der Spüle liegen gelassen?«, fragt er mit donnernder Stimme. Schweigen wird keine Option sein.

»Ich war’s nicht, Dad«, sagt Meghan.

»Ich auch nicht«, sagt Katie.

»Ich bin unschuldig«, sagt JJ.

»Ich habe nichts damit zu tun«, sagt Patrick.

Genau das, was jeder Verbrecher, den er je verhaftet hat, gesagt hat. Jeder ist ein verdammter Heiliger. Sie sehen alle zu ihm hoch, blinzelnd, abwartend. Patrick steckt sich eine gummiartige Scheibe Speck in den Mund und beginnt zu kauen.

»Frühstücke etwas, bevor du gehst, Joe«, sagt Rosie.

Er ist zu spät dran, um etwas zu frühstücken. Er ist zu spät dran, weil er nach seiner gottverdammten Pistole gesucht hat, die irgendjemand genommen und dann auf dem Küchentresen liegen gelassen hat. Er ist spät dran, und er fühlt sich außer Kontrolle, und ihm ist heiß, zu heiß. Die Luft in diesem beengten Raum ist zu stickig zum Atmen, und Joe fühlt sich, als schürte die Hitze des Herdes und der sechs Menschen und des Wetters irgendetwas in ihm, was ohnehin schon überzukochen droht.

Er wird zu spät zum Anwesenheitsappell kommen, und Sergeant Rick McDonough, fünf Jahre jünger als Joe, wird ein Wörtchen mit ihm reden oder sich vielleicht sogar seinen Namen notieren. Er kann den Gedanken an diese Demütigung nicht ertragen, und irgendetwas in ihm explodiert.

Joe packt die gusseiserne Pfanne auf dem Herd am Stiel und schleudert sie quer durch die Küche. Sie reißt knapp neben Katies Kopf ein beträchtliches Loch in die Trockenbauwand und landet dann mit einem scheppernden RUMS auf dem Linoleumboden. Rötlich braunes Bratfett tropft an der Gänseblümchentapete hinunter, wie Blut, das aus einer Wunde sickert.

Die Kinder sind still, haben die Augen weit aufgerissen. Rosie schweigt und rührt sich nicht. Joe stürmt aus der Küche, den schmalen Flur hinunter, und geht ins Bad. Sein Herz rast, und sein Kopf ist heiß, zu heiß. Er spritzt sich kaltes Wasser über die Haare und das Gesicht und trocknet sich mit einem Handtuch für die Hände ab.

Er muss jetzt los, jetzt sofort, aber irgendetwas an seinem Spiegelbild hält ihn fest und lässt ihn nicht gehen.

Seine Augen.

Seine Pupillen sind erweitert, schwarz und groß vor Adrenalin, wie Hai-Augen, doch das ist es nicht. Es ist der Ausdruck in seinen Augen, der ihn so verblüfft hat. Wild, wirr, voller Wut. Seine Mutter.

Es ist der gleiche unausgeglichene Blick, der ihm als kleinem Jungen schreckliche Angst gemacht hat. Er sieht in den Spiegel, spät dran für den Anwesenheitsappell, gebannt von dem elenden Blick seiner Mutter, die ihn früher genau so angestarrt hat, als sie nichts anderes mehr tun konnte, außer stumm, ausgemergelt und besessen in ihrem Bett in der psychiatrischen Abteilung des staatlichen Krankenhauses zu liegen und auf den Tod zu warten.

Der Teufel in den Augen seiner Mutter, die seit fünfundzwanzig Jahren tot ist, starrt ihn jetzt aus dem Badezimmerspiegel an.

SIEBEN JAHRE SPÄTER

ZWEI

Es ist ein kühler Sonntagmorgen, und Joe führt den Hund aus, während Rosie in der Kirche ist. Früher ist er immer zusammen mit ihr und den Kindern in die Messe gegangen, wenn er freihatte, aber nach Katies Firmung war damit Schluss. Jetzt geht Rosie allein, und sie ist angewidert von diesem ganzen erbärmlichen, sündigen Haufen. Als großer Anhänger von Tradition – eine unglückliche Eigenschaft für jemanden, der nur alle siebeneinhalb Wochen ein ganzes Wochenende freibekommt und seit sechs Jahren keinen Weihnachtsmorgen mit seiner Familie mehr verbracht hat – geht Joe noch immer an Heiligabend und Ostern zur Messe, wenn er kann, doch mit dem allwöchentlichen Sakrament ist er fertig.

Es ist nicht so, dass er nicht an Gott glaubt. Himmel und Hölle. Gut und Böse. Richtig und Falsch. Schuldgefühle bestimmen noch immer viele seiner tagtäglichen Entscheidungen. Gott kann dich sehen. Gott kann hören, was du denkst. Gott liebt dich, aber wenn du Mist baust, wirst du in der Hölle schmoren. Die Nonnen haben ihm diese paranoiden Überzeugungen seine ganze Jugend hindurch in seinen dicken Schädel gehämmert, genau zwischen die Augen. Es rasselt alles noch immer da drin herum, ohne einen Ausweg zu finden.

Aber Gott muss wissen, dass Joe ein guter Mensch ist. Und wenn Er es nicht weiß, dann wird eine Stunde in der Woche, die er kniend, sitzend und stehend in der St. Francis Church verbringt, Joes unsterbliche Seele jetzt auch nicht mehr retten.

Auf Gott lässt er noch immer nichts kommen, es ist die katholische Kirche als Institution, an die er den Glauben verloren hat. Zu viele Priester, die es mit zu vielen kleinen Jungen getrieben haben; zu viele Bischöfe und Kardinäle und selbst der Papst, die diesen ganzen schmutzigen Skandal vertuscht haben. Und Joe ist nun wirklich kein Feminist, doch sie behandeln Frauen nicht fair, wenn man ihn fragt. Erstens einmal: keine Empfängnisverhütung. Entschuldigung, ist das wirklich ein Gebot Jesu? Wenn Rosie nicht die Pille nehmen würde, dann hätten sie inzwischen vermutlich ein Dutzend Kinder, und sie würde mit mindestens einem Fuß im Grab stehen. Gott segne die Errungenschaften der modernen Medizin!

Das ist der Grund, weshalb sie einen Hund haben. Nach Katie sagte er zu Rosie, das reicht. Vier sind genug. Rosie wurde in dem Sommer, in dem sie beide die Highschool abschlossen, mit JJ schwanger (sie konnten von Glück reden, dass es mit dem »Aufpassen« überhaupt so lange gut ging), daher gab es für sie eine Mussheirat und ein Baby, bevor sie neunzehn wurden. JJ und Patrick waren irische Zwillinge, mit elf Monaten Abstand geboren. Meghan folgte fünfzehn Monate nach Patrick, und Katie kam achtzehn Monate nach Meghan schreiend auf die Welt.

Als die Kinder älter wurden und zur Schule gingen, wurde das Leben leichter, aber diese frühen Jahre waren hässlich. Er erinnert sich, dass er Rosie viele unerwiderte Abschiedsküsse gab, dass er sie mit vier Kindern unter fünf Jahren, drei davon noch in Windeln, allein zu Hause ließ, froh, einen berechtigten Grund zu haben, von dort zu verschwinden. Aber er war jeden Tag besorgt, sie würde bis zum Ende seiner Schicht vielleicht nicht durchhalten. Er stellte sich sogar vor, dass sie irgendetwas Entsetzliches tat – seine Erfahrungen in seinem Job oder Geschichten darüber, was seine Kollegen gesehen hatten, schürten seine schlimmsten Befürchtungen. Ganz gewöhnliche Leute rasten irgendwann aus, wenn sie an ihre Grenzen getrieben werden. Rosie schlief vermutlich zehn Jahre lang keine Nacht durch, und mit ihren Kindern hatte sie alle Hände voll zu tun. Es ist ein Wunder, dass sie alle noch am Leben sind.

Rosie war bei dem »Infield-Plan«, wie Joe es nannte, anfangs nicht mit an Bord. Irrsinnigerweise wollte sie noch mehr Babys haben. Sie wollte noch mindestens einen Pitcher und einen Catcher auf die Spielerliste der O’Briens setzen. Sie ist das jüngste von sieben Kindern, das einzige Mädchen, und auch wenn sie ihre Brüder heutzutage nur selten sieht, ist sie froh, aus einer großen Familie zu stammen.

Aber Joe traf seine Entscheidung, und damit war das Thema erledigt. Er ließ nicht mit sich reden, und zum ersten Mal in seinem Leben weigerte er sich sogar, Sex zu haben, bis sich Rosie seiner Meinung anschloss. Es waren angespannte drei Monate. Er hatte sich schon darauf eingestellt, seine Bedürfnisse bis in alle Ewigkeit unter der Dusche zu befriedigen, als er eines Tages einen flachen, runden Behälter auf seinem Kopfkissen vorfand. Darin entdeckte er einen Ring mit Pillen, die sieben für die erste Woche bereits herausgedrückt. Gegen Gottes Willen beendete Rosie ihren kalten Krieg. Joe konnte ihr die Kleider nicht schnell genug vom Leib reißen.

Aber wenn sie schon keine Babys mehr bekommen durfte, dann wollte sie wenigstens einen Hund. Na schön. Sie kam irgendwann mit einem Shih Tzu aus dem Tierheim nach Hause. Er denkt noch immer, dass sie das nur getan hat, um ihn zu ärgern, ihre Art, das letzte Wort zu behalten. Joe ist ein Bostoner Cop, Herrgott noch mal. Er sollte stolzer Besitzer eines Labradors oder eines Berner Sennenhundes oder eines Akitas sein. Er hatte zugestimmt, dass sie sich einen Hund zulegen, einen richtigen Hund, keine zimperliche kleine Ratte. Er war nicht erfreut.

Rosie nannte ihn Yaz, was den Köter zumindest erträglich machte. Früher hasste Joe es, Yaz allein auszuführen, mit ihm zusammen in der Öffentlichkeit unterwegs zu sein. Dabei kam er sich wie ein Weichei vor. Aber irgendwann stand er darüber. Yaz ist ein guter Hund, und Joe ist Manns genug, um in Charlestown gesehen zu werden, wie er einen Shih Tzu ausführt. Solange Rosie den Kläffer nicht in einen dieser verdammten Pullover steckt.

Er geht gern durch Town, wenn er keinen Dienst hat. Auch wenn alle hier wissen, dass er ein Cop ist, und er seine Pistole unter dem Hemd, das er über der Hose trägt, verborgen bei sich führt, fühlt er sich innerlich befreit, wenn er sein knallhartes Polizistenimage nicht mit der Uniform und der Dienstmarke herumträgt, die ihn zu einer sichtbaren Zielscheibe machen. Er ist immer ein Cop, aber außerhalb des Dienstes ist er auch ein ganz normaler Typ, der in seiner Nachbarschaft seinen Hund ausführt. Und das fühlt sich gut an.

Alle hier nennen den Ort Town, aber Charlestown ist eigentlich gar keine Stadt. Es ist eine Gegend von Boston, und eine kleine noch dazu, nicht mal zwei Quadratkilometer Land zwischen dem Charles und dem Mystic River. Aber, wie jeder Ire über seine Männlichkeit sagen würde, was ihr an Größe fehlt, das macht sie durch Persönlichkeit wett.

Das Charlestown, in dem Joe aufgewachsen ist, war inoffiziell in zwei Gegenden unterteilt. Unten am Hügel war der Teil, wo die armen Iren lebten, und oben am Hügel, nahe der St. Francis Church, war das Zuhause der wohlhabenden Spitzengardinen-Iren. Die Leute oben am Hügel konnten genauso arm sein wie die Lumpen unten, und in den meisten Fällen waren sie das vermutlich auch, aber in der allgemeinen Wahrnehmung waren sie besser gestellt. Die Leute hier denken das noch immer.

Es gab auch ein paar schwarze Familien in den Sozialbauten, und eine Handvoll Italiener, die vom North End herüberschwappten, ansonsten jedoch war Charlestown ein homogener Hügel irischer Arbeiter und ihrer Familien, die in dichten Reihen von Kolonial- und dreistöckigen Häusern lebten. Die Townies. Und jeder Townie kannte jeden in Town. Wenn Joe als Junge irgendetwas Verbotenes tat, was oft der Fall war, hörte er im Allgemeinen irgendjemanden von einer Türschwelle oder aus einem offenen Fenster brüllen: Joseph O’Brien! Ich habe dich gesehen, und ich kenne deine Mutter! Damals mussten die Leute nicht die Polizei rufen. Kinder fürchteten ihre Eltern mehr als die Behörden. Joe fürchtete seine Mutter mehr als irgendjemanden sonst.

Noch vor zwanzig Jahren lebten in Charlestown ausschließlich Townies. Aber in den letzten Jahren hat sich der Ort stark verändert. Wenn Joe und Yaz jetzt die Cordis Street entlang den Hügel hochstapfen, ist es, als beträten sie eine andere Welt. Die Stadthäuser in dieser Straße wurden alle saniert. Sie sind entweder aus Backstein oder in einer glänzenden Palette genehmigter historischer Farben gestrichen. Die Türen sind neu, die Fenster wurden ausgetauscht, ordentliche Reihen mit Blumen blühen in kupfernen Blumenkästen, und die Gehsteige sind von charmanten Gaslaternen gesäumt. Er besieht sich die Marke jedes parkenden Wagens, während er den steilen Hügel hinaufsteigt – Mercedes, BMW, Volvo. Hier oben ist es wie auf dem verdammten Beacon Hill.

Willkommen zur Invasion der Neureichen! Er kann es den Leuten nicht verdenken, dass sie kommen. Charlestown ist ideal gelegen – am Wasser, einen Katzensprung über die Zakim Bridge ins Zentrum von Boston, über die Tobin Bridge in den Norden der Stadt, durch den Tunnel zur Südküste, eine beschauliche Überfahrt mit der Fähre nach Faneuil Hall. Daher begannen sie zu kommen, mit ihren schicken Firmenjobs und dicken Brieftaschen, kauften die Immobilien und werteten die Gegend auf.

Aber die Neureichen bleiben im Allgemeinen nicht. Wenn sie herkommen, sind die meisten von ihnen »Dinks« – Doppelverdiener ohne Kinder. Dann, in ein paar Jahren, bekommen sie vielleicht ein Kind und dann möglicherweise noch eines, um für ein bisschen Ausgewogenheit zu sorgen. Wenn das Älteste in den Kindergarten kommt, ziehen sie meist in die Vororte.

Daher ist alles von vornherein nur als Übergang gedacht, und sie kümmern sich nicht so sehr darum, wo sie leben, wie es Leute tun, die wissen, dass sie bleiben, bis sie in eine Kiste gelegt werden. Die Neureichen engagieren sich nicht ehrenamtlich beim YMCA und trainieren nicht die Little-League-Teams, und die meisten von ihnen sind Presbyterianer oder Unitarier oder Vegetarier oder Anhänger irgendeines anderen Schwachsinns. Daher unterstützen sie die katholischen Kirchen hier nicht, was der Grund ist, weshalb St. Catherine’s geschlossen ist. Sie werden nicht wirklich ein Teil der Gemeinde.

Aber das größere Problem ist, dass die Neureichen Charlestown attraktiv für Ortsfremde gemacht und so den Wohnungsmarkt aufgebläht haben. Heutzutage muss man reich sein, um sich Charlestown leisten zu können. Die Townies haben zwar viele gute Seiten, aber wenn sie nicht eine Bank ausgeraubt haben, ist keiner von ihnen reich.

Joe ist ein Ire der dritten Generation in Charlestown. Sein Großvater, Patrick Xavier O’Brien, kam im Jahr 1936 aus Irland herüber, arbeitete als Hafenarbeiter in der Marinewerft und ernährte eine zehnköpfige Familie mit vierzig Dollar in der Woche. Joes Vater, Francis, arbeitete ebenfalls in der Marinewerft und verdiente seinen Lebensunterhalt durch harte, aber angesehene Arbeit mit der Reparatur von Schiffen. Joe verdient sich keine goldene Nase mit dem Gehalt eines Cops, aber sie kommen über die Runden. Sie haben sich hier nie arm gefühlt. Doch die meisten Townies der nächsten Generation, egal, welcher Arbeit sie nachgehen, werden es sich niemals leisten können, hier zu leben. Es ist wirklich eine Schande.

Er kommt an einem Zu verkaufen-Schild vor einem frei stehenden Kolonialhaus vorbei, einem der seltenen Häuser mit einem Innenhof, und versucht den empörenden Verkaufspreis zu schätzen. Joes Vater hat ihr Haus, ein dreistöckiges Gebäude unten am Hügel, im Jahr 1963 für zehn Riesen gekauft. Ein ähnliches dreistöckiges Haus zwei Straßen hinter Joes und Rosies ist letzte Woche für eine glatte Million weggegangen. Jedes Mal, wenn er darüber nachdenkt, schwirrt ihm der Kopf. Manchmal reden er und Rosie darüber, ihr Haus zu verkaufen, eine schwindelerregende, fantasievolle Unterhaltung, die fast so klingt, als malten sie sich aus, was sie tun würden, wenn sie im Lotto gewinnen.

Joe würde sich einen neuen Wagen kaufen. Einen schwarzen Porsche. Rosie hat keinen Führerschein, aber sie würde sich neue Kleider und Schuhe und ein bisschen echten Schmuck kaufen.

Doch wo würden sie leben? Sie würden nicht in irgendeinen Vorort ziehen, in eines dieser monströsen Häuser mit einem großen Grundstück. Joe würde einen Rasenmäher kaufen müssen. Rosies Brüder leben alle in ländlichen Städten, mindestens eine Dreiviertelstunde außerhalb von Boston, und scheinen jedes Wochenende mit Jäten und Harken und sonst irgendwelchen mühseligen Gartenarbeiten zu verbringen. Wer will das schon? Und Joe würde bei der Polizei von Boston aufhören müssen, wenn sie in einen Vorort ziehen. Das kommt nicht infrage. Und realistisch betrachtet, kann er einen solchen Wagen in der Gegend hier gar nicht fahren. Damit würde er sich erst recht zur Zielscheibe machen. Daher würde er sich den Porsche tatsächlich gar nicht kaufen, und Rosie ist zufrieden mit ihren künstlichen Diamanten. Wer will sich schon Sorgen wegen verlorenen oder gestohlenen Schmucks machen müssen? Und so führt sie ihre Unterhaltung, auch wenn sie rauschhaft beginnt, letztendlich jedes Mal in einer großen Schleife genau dorthin zurück, wo sie sind. Sie sind beide glücklich hier, und um nichts in der Welt würden sie irgendwo anders leben wollen. Nicht einmal im Süden von Boston.

Sie können sich glücklich schätzen, dieses dreistöckige Haus geerbt zu haben. Als Joes Vater vor neun Jahren starb, hinterließ er das Haus Joe und Joes einziger Schwester, Maggie. Es erforderte ernsthafte Detektivarbeit, Maggie ausfindig zu machen. Schon immer genau das Gegenteil von Joe, machte sie es zu ihrer Mission, Charlestown unmittelbar nach der Highschool zu verlassen, und kehrte nie wieder dorthin zurück. Er fand heraus, dass sie in Südkalifornien lebte, geschieden, ohne Kinder, und nichts mit dem Haus zu tun haben wollte. Joe versteht das.

Rosie und er leben im Erdgeschoss, und der dreiundzwanzigjährige Patrick wohnt noch immer bei ihnen. Ihr anderer Sohn, JJ, und seine Frau Colleen bewohnen den ersten Stock. Katie und Meghan teilen sich eine Wohnung auf der zweiten Etage. Alle bis auf Patrick zahlen Joe und Rosie Miete, aber eine sehr geringe, weit unter dem Marktwert, nur etwas, um sie alle in der Verantwortung zu halten. Und es hilft, die Hypothek abzubezahlen. Sie mussten ein paar Mal refinanzieren, um alle vier Kinder durch die Gemeindeschule zu bringen. Das war ein dicker Batzen, doch um nichts in der Welt hätte Joe seine Kinder mit dem Bus nach Dorchester oder Roxbury fahren lassen.

Joe biegt um die Ecke und beschließt, die Abkürzung durch den Doherty Park zu nehmen. Charlestown ist still um diese verschlafene Stunde an einem Sonntagmorgen. Der Clougherty Pool ist geschlossen. Die Basketballfelder sind leer. Die Kinder sind alle entweder in der Kirche oder schlafen noch. Abgesehen von einem gelegentlich vorbeifahrenden Wagen sind die einzigen Geräusche das Klimpern von Yaz’ Halsband und dem Kleingeld in Joes Hosentasche, die wie bei einem Lied zusammenspielen.

Wie erwartet, trifft er den dreiundachtzigjährigen Michael Murphy auf der hintersten Bank im Schatten an. Er hat seinen Gehstock und seine braune Tüte mit altem Brot für die Vögel dabei. Er sitzt den ganzen Tag dort, jeden Tag, es sei denn, das Wetter ist ungewöhnlich scheußlich, und behält die Dinge im Auge. Er hat schon alles gesehen.

»Wie geht’s dir heute, Bürgermeister?«, fragt Joe.

Alle nennen Murphy »Bürgermeister«.

»Besser, als die meisten Frauen verdient haben«, erwidert Murphy.

»Du hast ja so recht«, kichert Joe, auch wenn es wortwörtlich dieselbe Antwort ist, die er ungefähr jedes dritte Mal bekommt, wenn Joe dem Bürgermeister diese Frage stellt.

»Wie geht’s der First Lady?«, will Murphy wissen.

Murphy nennt Joe »Mr. President«. Ursprünglich lautete der Spitzname vor einer Ewigkeit »Mr. Kennedy«, eine Anspielung auf Joe und Rose, und wurde irgendwann abgewandelt, ging vom Vater auf den Sohn über, trotzte der tatsächlichen US-politischen Geschichte, und Mr. Joseph Kennedy wurde »Mr. President«. Und dadurch wurde Rosie natürlich zur »First Lady«.

»Gut. Sie ist in der Kirche und betet für mich.«

»Na, dann wird sie wohl noch eine Weile dort sein.«

»Oh, ja. Schönen Tag noch, Bürgermeister!«

Joe geht weiter den Weg hoch, sieht von diesem Hügel in der Ferne die Industriesilos und die Everett-Werft auf der anderen Seite des Mystic River. Die meisten Leute würden sagen, dass diese Aussicht nicht der Rede wert ist, sie vielleicht sogar als Schandfleck bezeichnen. Vermutlich würde er niemals auf einen Maler stoßen, der sich an dieser Stelle mit einer Staffelei niederlässt, aber Joe sieht hier eine Art urbane Schönheit.

Er steigt den steilen Hügel hinunter, nimmt die Treppe anstelle des Serpentinenwegs, als er irgendwie einen falschen Schritt tut und auf einmal nur noch Himmel sieht. Er schlittert auf dem Rücken drei Betonstufen hinunter, bevor er so geistesgegenwärtig ist, sich mit den Händen abzubremsen. Vorsichtig setzt er sich auf, kann schon jetzt etliche hässliche Prellungen an den Knubbeln seines Rückgrats spüren. Er wirft einen Blick auf die Treppe hinter sich, erwartet, irgendein Hindernis zu sehen, dem er die Schuld geben kann, einen Stock oder einen Stein oder eine kaputte Stufe. Aber da ist nichts. Er schaut hoch zum oberen Ende der Treppe, zu dem Park um ihn herum und dem Treppenabsatz unter ihm. Wenigstens hat ihn niemand gesehen.

Yaz japst und wedelt mit dem Schwanz, will endlich weiter.

»Augenblick, Yaz.«

Joe hebt einen Arm nach dem anderen und untersucht seine Ellenbogen. Beide sind aufgeschürft und bluten. Er wischt mit einer Hand über den Kies und das Blut und steht vorsichtig auf.

Warum zum Teufel ist er gestolpert? Muss sein kaputtes Knie sein. Er hat sich vor ein paar Jahren das rechte Knie verdreht, als er einen Mann, der des Einbruchs verdächtigt wurde, die Warren Street hinunter verfolgte. Backsteinwege sehen vielleicht hübsch aus, doch sie sind holperig und uneben, brutal, wenn man auf ihnen rennen muss, vor allem im Dunkeln. Sein Knie ist nie wieder so geworden, wie es früher war, und scheint ihn von Zeit zu Zeit ohne jede Vorwarnung im Stich zu lassen. Vermutlich sollte er es untersuchen lassen, aber er geht nicht gern zu Ärzten.

Joe ist besonders vorsichtig, als er die restlichen Stufen und weiter zur Medford Street hinuntergeht. Er beschließt, bei der Highschool die Abkürzung zu nehmen und der Straße zu folgen. Rosie müsste bald aus der Kirche kommen, und inzwischen verspürt er bei jedem Schritt ein stechendes Zwicken im unteren Rücken. Er will nach Hause.

Während er die Polk Street entlanggeht, bremst ein Wagen neben ihm ab. Es ist Donny Kelly, Joes bester Freund aus seiner Kindheit. Donny lebt noch immer in Town und arbeitet als Rettungssanitäter, daher sieht Joe ihn ziemlich oft beruflich und privat.

»Hast du gestern Abend zu viel getrunken?«, fragt Donny lächelnd durch das offene Fenster seines Pontiac.

»Hm?«, gibt Joe zurück und erwidert das Lächeln.

»Humpelst du, oder was?«

»Ach ja, ich habe mir den Rücken verrenkt.«

»Soll ich dich über den Hügel mitnehmen, alter Mann?«

»Nein, alles in Ordnung.«

»Komm, steig schon ein!«

»Ich brauche die Bewegung«, sagt Joe und klopft sich auf den Bauch. »Wie geht’s Matty?«

»Gut.«

»Und Laurie?«

»Gut, es geht allen gut. Hey, bist du sicher, dass ich dich nicht irgendwohin bringen kann?«

»Nein, wirklich, danke.«

»Na gut, ich muss los. War schön, dich zu sehen, O. B.«

»Dich auch, Donny.«

Joe gibt sich große Mühe, gleichmäßig und in einem zügigen Tempo zu gehen, solange er Donnys Wagen noch sehen kann, aber sobald der Freund die Kuppe des Hügels erreicht und gleich darauf verschwunden ist, lässt Joe die Scharade sein. Er humpelt weiter, mit jedem Schritt wird jetzt irgendeine unsichtbare Schraube tiefer in sein Rückgrat gedreht, und er wünscht, er hätte das Mitfahrangebot angenommen.

Joe denkt über Donnys Bemerkung nach, dass er zu viel getrunken hat. Er weiß, dass es nur ein harmloser Witz war, aber Joe war schon immer sehr bedacht auf seinen Ruf, was das Trinken angeht. Er trinkt nie mehr als zwei Bier. Na ja, manchmal beschließt er seine zwei Bier mit einem Gläschen Whiskey, nur um zu beweisen, dass er ein Mann ist, doch das ist auch schon alles.

Seine Mutter war eine Trinkerin, hat sich in die Klapsmühle getrunken, und alle wussten es. Es ist lange her, aber dieser Mist lässt dich nicht los. Die Leute vergessen nicht alles, und von wem du kommst, ist genauso wichtig wie wer du bist. Alle rechnen halb damit, dass du ein tobender Alkoholiker wirst, wenn deine Mutter sich zu Tode getrunken hat.

Ruth O’Brien hat sich zu Tode getrunken.

Das ist es, was alle sagen. Es ist die Legende und das Erbe seiner Familie. Wann immer es zur Sprache kommt, marschiert eine Parade von Erinnerungen dicht dahinter vorbei. Es wird sehr schnell unangenehm, und Joe wechselt rasch das Thema, damit er sich nicht damit befassen muss. Wie haben die Red Sox gespielt?

Aber heute – und er kann nicht sagen, ob es an einer Zunahme von Mut, Reife oder Neugier liegt – lässt er zu, dass dieser Satz ihn den Hügel hinaufbegleitet. Ruth O’Brien hat sich zu Tode getrunken. Es ergibt eigentlich keinen Sinn. Ja, sie hat getrunken. Um genau zu sein, hat sie so viel getrunken, dass sie nicht mehr klar sprechen oder gerade gehen konnte. Sie sagte und machte verrückte Dinge. Gewalttätige Dinge. Sie war völlig außer Kontrolle, und als sein Vater nicht mehr mit ihr fertig wurde, steckte er sie ins staatliche Krankenhaus. Joe war erst zwölf, als sie starb.

Ruth O’Brien hat sich zu Tode getrunken. Zum ersten Mal in seinem Leben wird ihm bewusst, dass dieser Satz, den er als das Evangelium angesehen hat, als eine Tatsache, die so nachweisbar und echt ist wie sein eigenes Geburtsdatum, nicht wirklich wahr sein kann. Seine Mutter war fünf Jahre in diesem Krankenhaus. Sie musste knochentrocken sein, auf permanentem Entzug in einem Krankenhausbett, als sie starb.

Vielleicht waren ihr Gehirn und ihre Leber schon zu viele Jahre in Alkohol eingeweicht, sodass beides nur noch Brei war. Daher war es vielleicht zu spät. Der Schaden war bereits angerichtet, eine Genesung unmöglich. Ihr aufgeweichtes Gehirn und ihre durchfeuchtete Leber ließen sie letztendlich im Stich. Todesursache: die Spätfolgen ihres chronischen Alkoholkonsums.

Er erreicht die Kuppe des Hügels, erleichtert und bereit, sich einem einfacheren Weg und Thema zuzuwenden, aber der Tod seiner Mutter lässt ihm noch immer keine Ruhe. Irgendetwas an dieser neuen Theorie klingt nicht glaubhaft. Er hat dieses unruhige, nagende Gefühl, das er immer verspürt, wenn er zu einem Notfall gerufen wird und von niemandem gesagt bekommt, was eigentlich passiert ist. Er hat ein Ohr dafür, für die Wahrheit, und das hier ist sie nicht. Das heißt, wenn seine Mutter sich nicht zu Tode getrunken hat oder an den Spätfolgen ihres jahrelangen Alkoholmissbrauchs gestorben ist, was war es dann?

Er sucht noch drei Blocks weit nach einer besseren Antwort, doch er findet keine. Was spielt es überhaupt für eine Rolle? Sie ist tot. Sie ist schon lange tot. Ruth O’Brien hat sich zu Tode getrunken. Lass es gut sein.

Die Glocken läuten, als er die St. Francis Church erreicht. Er entdeckt Rosie sofort. Sie wartet auf der obersten Stufe auf ihn, und er lächelt. Als sie sich mit sechzehn ineinander verliebten, fand er, sie war eine Wucht, und ehrlich gesagt findet er, dass sie mit dem Alter sogar noch hübscher wird. Mit dreiundvierzig hat sie eine Pfirsichhaut, die mit Sommersprossen gesprenkelt ist, rotbraune Haare (auch wenn die Farbe heutzutage aus einer Flasche kommt) und grüne Augen, bei denen er manchmal noch immer weiche Knie bekommt. Sie ist eine wundervolle Mutter und eindeutig eine Heilige, weil sie es mit ihm aushält. Er ist ein Mann, der sich sehr glücklich schätzen kann.

»Hast du ein gutes Wort für mich eingelegt?«, fragt Joe.

»Viele Male«, sagt sie, während sie mit den Fingern etwas Weihwasser in seine Richtung schnippt.

»Gut. Du weißt, ich kann alle Hilfe gebrauchen, die ich kriegen kann.«

»Blutest du etwa?«, fragt sie, als sie seinen Arm sieht.

»Ja, ich bin auf irgendeiner Treppe gestürzt. Nichts passiert.«

Sie nimmt seine andere Hand, hebt seinen Arm und entdeckt die blutige Schürfwunde am Ellenbogen. »Bist du sicher?« Besorgnis liegt in ihrem Blick.

»Alles in Ordnung.« Er drückt ihre Hand in seiner. »Komm schon, meine Braut, lass uns nach Hause gehen!«

DREI

Es ist fast halb fünf, und die ganze Familie sitzt um den Küchentisch, vor leeren Gläsern – ehemaligen Marmeladengläsern –, Tellern und Besteck auf den fadenscheinigen grünen Quilt-Platzdeckchen, die Katie vor einer Ewigkeit in Hauswirtschaftslehre genäht hat, und wartet auf Patrick. Seit gestern Nachmittag hat ihn niemand gesehen. Patrick arbeitet abends als Barmann im Ironsides, daher war er vermutlich bis Ladenschluss dort, aber er ist vergangene Nacht nicht nach Hause gekommen. Sie haben keine Ahnung, wo er steckt. Meghan schickt ihm immer wieder eine SMS, doch (zu niemandes Überraschung) geht er nicht ans Telefon.

Joe ist Patricks leeres, ordentlich gemachtes Bett aufgefallen, als er am frühen Morgen zum Badezimmer ging. Er hielt einen Augenblick inne, bevor er weiter den Flur hinunterging, und sah von der Stelle, wo Patricks Kopf ruhen sollte, zu der Wand mit dem Poster des Bruins-Mittelstürmers Patrice Bergeron hinauf. Joe schüttelte vor Bergy den Kopf und seufzte. Ein Teil von Joe wollte am liebsten hineingehen und das Bettzeug zerwühlen, damit es so aussah, als wäre Patrick zu Hause gewesen und schon wieder auf den Beinen und aus dem Haus, nur damit Rosie sich keine Sorgen macht. Aber das ist ohnehin keine sehr glaubwürdige Täuschung. Wenn Patrick nach Hause gekommen wäre, dann würde er noch immer in seinem Bett liegen und wäre mindestens bis mittags völlig weggetreten.

Es ist am besten, wenn Rosie die Wahrheit erfährt und ihre Besorgnis zum Ausdruck bringen darf. Dann kann Joe zuhören und nicken und nichts sagen, seine eigenen, noch beklemmenderen Theorien hinter Schweigen verbergen. Was Joe sich ausmalen kann, ist weitaus schlimmer als alles, was Rosie sich vielleicht zusammenreimt. Der Bursche trinkt zu viel, doch er ist dreiundzwanzig. Er ist jung. Joe und Rosie behalten es im Auge, aber das übermäßige Trinken ist nicht der eigentliche Grund ihrer Besorgnis.

Rosie hat schreckliche Angst, dass er irgendein Mädchen schwängern wird. Diese tief religiöse Frau steckt ihrem Sohn allen Ernstes Kondome in die Brieftasche. Immer nur eines auf einmal. Die arme Rosie ist jedes Mal zu Tode beschämt, wenn sie die Brieftasche überprüft und nur ein paar Dollar und kein Kondom darin findet, oft mehrmals in ein und derselben Woche. Aber sie sorgt immer für seinen Nachschub, manchmal auch mit ein bisschen Bargeld. Dann bekreuzigt sie sich und sagt nichts.

Auch wenn Joe wünscht, Patrick hätte eine feste Freundin, ein Mädchen mit einem Namen und einem netten Gesicht und einem hübschen Lächeln, ein Mädchen, das Patrick so viel bedeutet, dass er sie zum Sonntagsessen mit nach Hause bringt, kann Joe mit den Frauengeschichten leben. Zum Teufel, ein Teil von ihm bewundert den Jungen sogar. Joe kann es ihm verzeihen, wenn er nachts nicht nach Hause kommt, und auch das eine Mal, als er sich Donnys Wagen »borgte« und zu Schrott fuhr. Joe macht sich mehr Sorgen wegen der Drogen.

Bei seinen drei anderen Kindern hatte er nie einen Verdacht in dieser Richtung, und er hat keinen unmittelbaren Beweis, dass Patrick Drogen nimmt. Und doch. Er kann nicht umhin, diesen Gedanken jedes Mal mit einem »Und doch« zu beenden, und genau darin liegt Joes Sorge. Wenn Joe für die Mitternachtsschicht eingeteilt ist und zu der Bootsrampe in der Montego Bay oder irgendeinem anderen abgelegenen Parkplatz gerufen wird, um ein paar Bengel wegen Drogenbesitzes festzunehmen, sucht er jedes Mal als Erstes unwillkürlich die jungen Gesichter nach Patricks ab. Er hofft bei Gott, dass er sich täuscht und dass er grundlos paranoid ist, aber diese Jugendlichen haben eine ihm vertraute Art, die ihn zu sehr an Patrick erinnert, eine Apathie und Leichtfertigkeit, die über das normale Gefühl von Unbesiegbarkeit, das junge Leute an sich haben, hinausgeht. Es bereitet Joe mehr Sorgen, als er zugeben möchte.

Es ist ihm nicht fremd, Familienangehörige festzunehmen, und es ist keine Freude. Er hat seinen Schwager Shawn auf frischer Tat ertappt, von Kopf bis Fuß mit explodierter roter Farbe bekleckert, einen dicken, frischen Stapel Ein-Dollar-Scheine zwischen zwei Fünfzigern eingelegt, den er in die Tasche seines Kapuzenpullis gesteckt hatte – nur wenige Minuten nach einem Bankraub am City Square. Ein anderer Schwager, Richie, sitzt noch immer wegen Drogenhandels in den späten Neunzigerjahren. Joe erinnert sich, wie er Richie im Rückspiegel beäugte, während er in Handschellen auf der Rückbank seines Streifenwagens saß und aus dem Fenster starrte. Joe schämte sich, als wäre er es, der eine Straftat begangen hatte. Es brach Rosie das Herz. Er will nie wieder einen Verwandten auf die Rückbank seines Wagens verfrachten müssen, schon gar nicht seinen eigenen Sohn.

»Meghan, schick ihm eine SMS!«, sagt Rosie mit vor der Brust verschränkten Armen.

»Habe ich eben schon, Ma«, antwortet Meghan.

»Dann schick ihm noch eine!«

Rosies Besorgnis schlägt allmählich in Wut um. Das Sonntagsessen ist für die Kinder ein Pflichttermin, vor allem an einem Sonntag, an dem Joe zu Hause ist, und so spät zu kommen grenzt ans Unverzeihliche. In der Zwischenzeit wird Rosie weiter das Essen kochen, das schon vor einer halben Stunde verkocht war. Das Roastbeef wird wie trockenes, geschmackloses Leder sein, der Kartoffelbrei eine klebrige graue Masse und die grünen Bohnen aus der Dose bis zur Unkenntlichkeit zerkocht. Wie er es seit fünfundzwanzig Jahren tut, wird Joe sein Essen mit viel Salz und einem Glas Bier herunterspülen und sich nicht beklagen.

Den Mädchen fällt es schwerer, am Sonntagsessen teilzunehmen. Katie ist Veganerin. Jede Woche hält sie ihnen leidenschaftliche Vorträge über Tierquälerei und die empörenden, abscheulichen Praktiken der Fleischindustrie, während alle anderen, von Meghan einmal abgesehen, sich den Bauch mit stark gesalzener und verkochter Blutwurst vollschlagen.

Meghan lehnt im Allgemeinen den Großteil der Mahlzeit wegen ihres Fett- und Kaloriengehalts ab. Sie ist Tänzerin beim Boston Ballet und ernährt sich, soweit Joe sagen kann, ausschließlich von Salat. Sie stochert meist nur an dem unkenntlich gemachten Dosengemüse herum, während alle anderen, von Katie einmal abgesehen, sich an Fleisch und Kartoffeln gütlich tun. Meghan ist nicht zu dünn, aber ihre Augen blicken immer so hungrig und folgen den Bewegungen ihrer Gabeln wie ein gefangener Löwe, der einer Gazellen-Familie mit ihren Babys auflauert. Man benötigt einen Studienabschluss, um all die Vorschriften und Beschränkungen der beiden Mädchen im Hinblick auf ihre Ernährung zu verstehen und auswendig zu lernen.

JJ und seine Frau Colleen essen höflich alles, was Rosie ihnen vorsetzt. Gott segne sie! Das erfordert ein absolut geschliffenes Benehmen.

Joe und JJ sind sich sehr ähnlich. Sie haben denselben Namen, die gleiche stämmige Statur und die gleichen blauen Augen mit den Schlupflidern. Sie haben beide eine teigig weiße Haut, die in einem unvorteilhaften Nelkenrosa erblüht, wenn sie sich begeistern (wenn die Red Sox gewinnen) oder ärgern (wenn die Red Sox verlieren), und die selbst spätnachmittags im Schatten einen Sonnenbrand bekommen kann. Sie haben beide denselben Humor, den Rosie mindestens die Hälfte der Zeit absolut nicht witzig findet, und sie haben beide Frauen geheiratet, die viel zu gut für sie sind.

Aber JJ ist Feuerwehrmann, und das ist der auffälligste Unterschied zwischen ihnen. Die Feuerwehrleute und Cops in Boston betrachten einander größtenteils als Brüder und Schwestern, angetreten, um diese wundervolle Stadt und ihre Bevölkerung zu beschützen und ihr zu dienen, doch die Feuerwehrleute heimsen die ganze Ehre ein, und das geht Joe höllisch auf den Geist. Feuerwehrleute sind immer die großen Helden. Wenn sie kommen, jubeln alle und bedanken sich bei ihnen. Manche dieser Typen werden allen Ernstes umarmt. Wenn die Cops kommen, verstecken sich alle.

Außerdem bekommen Feuerwehrleute mehr bezahlt und haben weniger zu tun. Es treibt Joe in den Wahnsinn, wenn sie zu einem Unfall kommen, wo sie nicht gebraucht werden, den Verkehr behindern und den Rettungskräften und der Polizei im Weg stehen. Joe nimmt an, dass ihnen langweilig ist und dass sie versuchen, beschäftigt auszusehen. Wir übernehmen das, Jungs. Fahrt zurück und legt euch noch ein bisschen aufs Ohr.

Ehrlich gesagt, ist er in Wirklichkeit froh, dass JJ kein Cop geworden ist. Joe ist stolz darauf, Streifenpolizist zu sein, doch es ist ein Leben, das er keinem seiner Kinder wünschen würde. Trotzdem fühlt sich Joe manchmal seltsam verraten von JJ und dessen Berufswahl, ungefähr so, wie sich ein Red-Sox-Spieler fühlen würde, wenn sein Sohn zu einem New York Yankee heranwachsen würde. Ein Teil von Joe platzt vor Stolz, während ein anderer Teil sich fragt, was er falsch gemacht hat.

»Was ist los, Dad?«, will Katie wissen.

»Hm?«, fragt Joe.

»Du bist ja so still heute.«

»Bin nur in Gedanken verloren, Schatz.«

»Zwei gleichzeitig dort drinnen zu haben kann anstrengend sein«, neckt JJ ihn und tippt sich an den Kopf.

Joe lächelt. »Jetzt denke ich, du solltest mir ein Bier holen, JJ.«

Katie nickt. »Mir auch.«

»Ich nehme auch eines«, sagt Colleen.

»Kein Bier vor dem Essen.« Rosie hält JJ am Kühlschrank auf.

Rosie sieht hoch zur Küchenuhr. Inzwischen ist es fünf Uhr. Sie starrt, wie es scheint, eine ganze Minute auf die Uhr, dann knallt sie ohne Vorwarnung ihren Holzlöffel auf den Tresen. Sie bindet ihre Schürze ab und hängt sie an den Haken. Das war’s. Sie essen ohne Patrick. JJ öffnet den Kühlschrank und entnimmt ihm ein Sixpack Budweiser.

Rosie zieht etwas, was einmal ein Roastbeef war, aus dem Ofen, dem »Geschmacksextraktor«, wie Joe ihn gern nennt, und Meghan hilft ihr, die ganze Mahlzeit an den kleinen, runden Tisch zu tragen. Alles ist extrem beengt – Ellenbogen stoßen gegen angrenzende Ellenbogen, Füße treten gegenüberliegende Füße, Schüsseln berühren Teller, Teller stoßen an Gläser.

Rosie setzt sich und spricht das Tischgebet, und dann sagen alle routinemäßig »Amen« und reichen das Essen herum.

»Autsch, Joe, hör auf, mich anzurempeln«, sagt Rosie und reibt sich die Schulter.

»Entschuldige, Schatz, hier ist kein Platz.«

»Hier ist jede Menge Platz. Hör auf, so herumzuzappeln.«

Er kann nichts dafür. Er hat heute Morgen drei Tassen Kaffee anstatt seiner üblichen zwei getrunken, und er ist nervös und fragt sich, wo Patrick ist.

»Wo ist das Salz?«, fragt Joe.

»Ich hab’s.« JJ schaufelt sich Essen auf den Teller und reicht den Salzstreuer dann seinem Vater.

»Ist das alles, was du isst?«, fragt Rosie Katie mit einem Blick auf ihren großen weißen Teller, den nur ein bescheidenes Häuflein welke graue Bohnen ziert.

»Ja, ich habe genug.«

»Wie wär’s mit ein paar Kartoffeln?«

»Du hast Butter dazugegeben.«

»Nur ein kleines bisschen.«

Katie verdreht die Augen. »Ma, ich bin nicht nur ein kleines bisschen Veganerin. Ich bin Veganerin. Ich esse keine Milchprodukte.«

»Und was ist deine Ausrede?«, erkundigt sich Rosie mit einem Blick auf Meghans ähnlich leeren Teller.

»Hast du irgendwelchen Salat?«, fragt Meghan.

»Ja, ich hätte auch gern einen Salat«, sagt Katie.

»Im Kühlschrank sind noch ein bisschen Kopfsalat und eine Gurke. Na, geht schon!« Rosie seufzt und scheucht die beiden mit dem Handrücken fort. »Für euch Mädchen zu kochen ist wirklich nicht leicht.«

Meghan springt auf, öffnet den Kühlschrank, schnappt sich die beiden Zutaten und sonst nichts und setzt sich auf den Tresen.

»Wie wär’s mit etwas Kuh?« JJ hält seiner Schwester die Platte mit Roastbeef unter die Nase.

»Lass das! Das ist ekelhaft.« Katie schiebt die Platte zu ihm zurück.

Meghan kehrt zurück an den Tisch, füllt die Hälfte des Salats auf Katies Teller, die andere Hälfte auf ihren und stellt dann die leere Schüssel in die Spüle. Währenddessen schneidet Joe sein Roastbeef ungefähr mit demselben Kraftaufwand, mit dem ein Holzfäller einen Baum durchsägen würde. Schließlich befreit er einen Bissen und sieht zu, wie seine Mädchen glücklich an ihren Salaten knabbern, während er an einer salzigen Dachschindel kaut.

»Wisst ihr, die Farmer, die diesen Salat und die Gurke angebaut haben, haben vermutlich Dünger eingesetzt«, bemerkt Joe, wobei er eine möglichst ernste Miene aufsetzt.

Katie und Meghan ignorieren ihn, aber JJs Mund verzieht sich zu einem Grinsen. Er weiß, worauf sein Vater abzielt.

»Ich bin ja kein Farmer, doch ich glaube, sie verwenden Kuhmist als Dünger, stimmt’s, JJ?«

»Oh, ja, auf jeden Fall«, antwortet JJ, der bestimmt noch nie in seinem Leben einen Fuß in einen Garten oder auf eine Farm gesetzt hat.

»Hört schon auf!«, sagt Meghan.

»Die Salat- und Gurkensamen ziehen die Nährstoffe aus dem Kuhmist, um zu wachsen. Das heißt, unterm Strich ist es so, dass der Salat, den ihr esst, aus Kuhscheiße besteht.«

»Igitt, Dad! Das ist so eklig!«, protestiert Katie.

»Ich würde ja lieber die Kuh als die Kuhscheiße essen, du nicht, JJ?«

Joe und JJ haben einen Riesenspaß. Aus verschiedenen Gründen sind die Frauen im Raum nicht amüsiert.

»Okay, Schluss jetzt«, sagt Rosie, die Joes Neckereien normalerweise nicht stören würden. Sie versteht diese ganze Veganer-Geschichte auch nicht. Aber er weiß, dass sie noch immer wütend auf Patrick ist und zu abgelenkt von seiner Abwesenheit, um irgendetwas witzig zu finden. »Können wir bitte über irgendetwas anderes als Scheiße reden?«

»Ich habe die Termine für Coppélia«, sagt Meghan. »Es läuft vom zehnten bis zum vierundzwanzigsten August.«

»Ich und Colleen gehen am ersten Freitag«, erklärt JJ.

»Colleen und ich«, berichtigt Rosie ihn. »Das passt mir. Was ist mit dir, Katie?«

»Äh, ich bin mir noch nicht sicher. Ich habe vielleicht andere Pläne.«

»Als da wären?«, fragt Meghan in einem herablassenden Ton, den Katie, wie Joe weiß, als kränkend empfinden wird.

»Geht dich nichts an«, sagt sie prompt.

»Lass mich raten! Ironsides mit Andrea und Micaela.«

»Meine Freitagabende sind genauso wichtig wie deine. Die Welt dreht sich nicht nur um dich«, begehrt Katie auf.

»Mädchen!«, warnt Rosie.

Als sie aufwuchsen, war Katie Meghans getreuer Schatten. Soweit Joe sich erinnern kann, haben Rosie und er sie immer zu einer Einheit zusammengefasst erzogen. Abgesehen vom Tanzen haben Joe und Rosie so oft von beiden Mädchen in einem Atemzug gesprochen, dass ihre individuellen Namen zu einem einzigen dritten Spitznamen zu verschmelzen schienen. Meg-an-Katie, kommt her! Meg-an-Katie gehen zum Festumzug. Meg-an-Katie, das Essen ist fertig.

Aber seit der Highschool haben sich die Mädchen auseinanderentwickelt. Joe kann eigentlich nicht genau sagen, warum. Meghans Zeitplan ist so streng von ihrem Ballett bestimmt; auch wenn die Mädchen zusammenleben, ist sie nicht oft da. Vielleicht fühlt sich Katie außen vor gelassen. Oder sie ist eifersüchtig. Sie veranstalten tatsächlich alle einen Mordswirbel um Meg. Joe hört immer höflich zu, wenn andere Eltern in Town mit ihrer Tochter prahlen, die in der Bibliothek oder für die Verkehrsbetriebe arbeitet oder die eben geheiratet hat. Er strahlt, wenn sie fertig sind, wenn er endlich an der Reihe ist. MEINE Tochter tanzt beim Boston Ballet. Damit können keine anderen Eltern in Town mithalten. Erst jetzt wird ihm bewusst, dass er nie etwas von seiner anderen Tochter erwähnt.

Katie unterrichtet Yoga, worüber Joe, wie er zugibt, so gut wie nichts weiß, außer dass es der neueste Fitnesswahn ist, wie Zumba oder Tae Bo oder CrossFit, doch mit einem hippen New-Age-Getue, das seine Anhänger zum Kult erheben. Er findet es wundervoll, dass sie etwas gefunden hat, was ihr Freude bereitet, aber Joe kann sehen, dass sie unzufrieden ist. Er ist sich nicht sicher, ob es mit dem Yoga zusammenhängt oder mit der vielen Aufmerksamkeit, die Meghan zuteilwird, oder vielleicht mit einem Freund, von dem Joe nichts weiß, doch in Katies Stimme liegt irgendeine Anspannung, die mit jeder Woche verkrampfter zu werden scheint, ein Komplex, den sie wie ein Lieblingsaccessoire mit sich herumträgt. Sie war früher ein so unbeschwertes Kind. Sein kleines Mädchen. Was immer es ist, er nimmt an, dass es nur eine Phase ist. Sie wird darüber hinwegkommen.

»Dad?«, fragt Meghan. »Kommst du auch?«

Joe liebt es, Meghan tanzen zu sehen, und er schämt sich nicht zuzugeben, dass es ihn jedes Mal zu Tränen rührt. Die meisten kleinen Mädchen sagen, dass sie einmal eine Ballerina werden wollen, doch das fällt unter dieselbe Kategorie wie der Wunsch, eine Märchenprinzessin zu werden, eine launenhafte Fantasie, kein echtes Berufsziel. Aber als Meghan im Alter von vier Jahren erklärte, sie wolle eine Ballerina werden, da glaubten ihr alle.

Sie nahm ihren ersten Unterricht im örtlichen Tanzstudio und begann dann, als sie in die dritte Klasse ging, mit dem kostenlosen Citydance-Programm. Sie war von Anfang an zielstrebig und beharrlich. Mit dreizehn Jahren bekam sie ein Stipendium für die Boston Ballet School und ein Angebot für einen Vertrag bei der Ballettkompanie, als sie die Highschool abschloss.

Meghan arbeitet hart, vermutlich härter als sie alle, aber Joe glaubt auch, dass sie zum Tanzen geboren ist. Die hinreißende Schönheit dieser Drehungen, wie immer sie heißen, die Unmöglichkeit, wie Meghan ein Bein in der Luft hält, während der Rest von ihr auf einem einzigen dicken Zeh balanciert … Er kann nicht einmal seine Zehen berühren. Meghan hat Joes Augen, doch zum Glück ist das alles, was sie von ihm hat. Der Rest von ihr ist von Rosie oder ein Geschenk des Himmels.

Joe hat den Nussknacker dieses Jahr versäumt. Er hat sie schon oft darin gesehen, wenn auch nicht in dieser Rolle im Boston Ballet, wie Meghan rasch hervorheben würde. Und einmal wurde er zu einer Abendschicht gerufen, als er im April Dornröschen sehen sollte. Er weiß, dass er sie enttäuscht hat. Das ist mit das Schlimmste an seinem Job – dass er Weihnachten und Geburtstage und das Little-League-Championship-Spiel seines Kindes und jeden Vierten Juli und zu viele von Meghans Tanzaufführungen versäumt.

»Ich werde da sein«, sagt Joe.

Er wird es hinkriegen. Meghan lächelt. Gott segne sie dafür, dass sie noch immer an ihn glaubt!

»Wo ist das Wasser?«, fragt Rosie.

Joe entdeckt den Wasserkrug auf dem Tresen. »Ich hol’s schon«, sagt er.

Der Krug ist schwer, aus echtem Kristall, vermutlich einer der teuersten Gegenstände, die sie besitzen, wenn Joe schätzen müsste. Er war ein Hochzeitsgeschenk von seinen Schwiegereltern, und Rosie füllt ihn jeden Sonntag mit Wasser, Bier oder gewürztem Eistee, je nach Anlass.

Joe füllt den Krug an der Spüle, kehrt an den Tisch zurück und bittet, noch immer stehend, der Reihe nach jeden um sein Marmeladenglas, die Damen zuerst. Er ist eben dabei, Wasser in Katies Glas zu schenken, als ihm auf einmal irgendwie der Griff aus der Hand rutscht, mitten in der Luft, mitten beim Einschenken. Der Krug fällt, schlägt ihm Katies Glas aus der anderen Hand, und beides landet auf dem Tisch und zerspringt prompt in Hunderte winziger Glasscherben. Meghan kreischt, und Rosie stöhnt auf und fährt sich mit einer Hand an den Mund.

»Alles okay, nichts passiert«, sagt JJ.

Joes rechte Hand verharrt reglos in der Luft, als hielte sie noch immer den Krug, während er den Schaden abschätzt. Der Kristallkrug ist bis zur Unkenntlichkeit ruiniert. Alles auf dem Tisch ist durchnässt und mit Glasscherben gespickt. Schließlich löst sich Joe aus seiner Erstarrung und reibt mit Fingern und Daumen über seine Handfläche, erwartet, dass sie sich fettig oder nass anfühlen, aber sie sind sauber und trocken. Er starrt auf seine Hand, als gehörte sie nicht zu ihm, und fragt sich, was zum Teufel eben passiert ist.

»Entschuldige, Rosie«, sagt Joe.

»Schon gut«, erwidert sie unglücklich, doch sie hat sich bereits mit dem Verlust abgefunden.

»In meinem Essen ist Glas«, meint Katie.

»In meinem auch«, sagt Colleen.

Joe sieht auf seinen Teller. Er hat Glasscherben in seinem Kartoffelbrei. Was für ein Chaos!

»Okay, niemand isst etwas«, erklärt JJ. »Selbst wenn ihr kein Glas sehen könnt, ist es das Risiko nicht wert.«

Während Katie den Boden mit Handfeger und Kehrschaufel zusammenfegt und Rosie und Meghan die Teller mit dem ruinierten Sonntagsessen abräumen, kommt Patrick hereingeschlendert, in seinen zerknautschten Kleidern vom Vortag, die an seiner hageren Gestalt herunterhängen. Ihn umweht der Geruch nach schalem Bier, Zigaretten und Pfefferminz, und er trägt eine Schachtel Dunkin’ Donuts unter einem Arm.

»Du kommst spät«, stellt Rosie fest. Ihre Augen sind zwei eindrucksvolle Laserstrahlen, darauf ausgerichtet, ein Loch mitten in die Stirn ihres Sohns zu bohren.

»Ich weiß, Ma. Tut mir leid«, sagt Patrick. Er küsst seine Mutter auf die Wange und setzt sich an den Tisch.

»Ich will gar nicht wissen, wo du warst«, entgegnet Rosie.

Patrick schweigt.

»Es gibt keine Entschuldigung dafür, das Sonntagsessen zu versäumen.«

»Ich weiß, Ma. Ich habe es nicht versäumt, ich bin doch hier.«

»Oh, und ob du es versäumt hast!«, wirft JJ ein.

Katie gibt Patrick einen Klaps auf die Schulter, eine Aufforderung, die Ellenbogen vom Tisch zu nehmen, damit sie ihn mit einem Schwamm abwischen kann.

»Wo ist das Essen?«, fragt Patrick.

»Dad fand, dem Essen fehlte noch etwas Wasser und ein Schuss Glasscherben«, antwortet Meghan.

»Sei froh, dass du nicht so ein Tollpatsch bist wie dein Vater«, sagt Joe.

Patrick stellt die Schachtel mit Dunkin’ Donuts stolz auf den Tisch. Das heutige Sonntagsessen der Familie O’Brien. JJ langt als Erster zu und nimmt sich einen Boston Kreme. Katie linst in die Schachtel, erwartet eine Enttäuschung, aber stattdessen hellt sich ihre Miene auf.

»Du hast mir einen getoasteten Bagel mit Erdnussbutter mitgebracht!«

»Klar habe ich das«, erwidert Patrick. »Und ein Eiweiß-Veggie-Fladenbrot ohne das Fladenbrot für Meg.«

»Danke, Pat«, sagt Meghan.

Rosie nimmt eine sanftere Haltung ein, und Joe weiß, dass Patrick verziehen ist. Joe nimmt sich einen Marmeladen-Donut und einen Spritzkuchen. Donuts und Bier. Er klopft sich den vorstehenden Bauch und seufzt. Er wird anfangen müssen, auf seine Figur zu achten, wenn er ein alter Mann werden will.

Er betrachtet die alltägliche Szene an ihrem bescheidenen Tisch, seine erwachsenen Kinder und seine Frau, alle glücklich und gesund und an einem Sonntagnachmittag hier versammelt, trotz all ihrer Schrullen und Schwächen, und eine Welle der Dankbarkeit wallt in ihm auf, so plötzlich, dass ihm keine Zeit bleibt, sich darauf gefasst zu machen. Er spürt, wie sie mit voller Wucht gegen die Innenwand seiner Brust schlägt, und er atmet mit zusammengebissenen Zähnen schwer aus, um den Druck zu lindern. Unter dem Macho-Image des knallharten Cops ist er so weich wie ein Marmeladen-Donut. Als er den Kopf abwendet und sich die feuchten Augenwinkel mit dem Handballen wischt, bevor es irgendjemand sehen kann, dankt er Gott für alles, was er hat. Er weiß, dass er sich wirklich glücklich schätzen kann.

VIER

Joe patrouilliert die hügeligen Straßen von Charlestown, fährt jetzt schon seit ein paar Stunden allein in seinem Streifenwagen. Es ist eine typische Tagestour, was in sich ein Widerspruch ist, und Joe weiß es. Eine typische Tagestour gibt es nicht. Das ist eines der Dinge, die er an seinem Job zugleich liebt und hasst.

Er liebt es, weil es bedeutet, dass ihm nie langweilig ist. Nicht, dass jede Minute jeder Schicht voller Spannung ist. Die meisten Schichten sind von stundenlanger, geisttötender Langeweile geprägt, angefangen mit dem Anwesenheitsappell und dem albernen tagtäglichen Getue, um die verdammte vierstellige Nummer an dem ihm zugewiesenen Wagen in dem Meer identischer parkender Streifenwagen zu finden, bevor er wieder dieselben vertrauten Straßen abfährt, in denen überhaupt nichts passiert. Und dann passiert eben doch etwas.

Ein Notruf wird eingehen. Irgendjemand bricht in ein Haus in der Green Street ein, irgendein Ehemann prügelt seine geliebte Ehefrau grün und blau, ein Auffahrunfall mit einem Tankwagen voller Kerosin auf der Schnellstraße nach Norden, wieder ein Banküberfall, mehrere Brieftaschen wurden aus einem Büro im Schrafft Center gestohlen, eine Kneipenschlägerei, eine Gang-Prügelei vor der Highschool, ein versunkenes Auto im Hafen mit einer Leiche darin, irgendjemand ist von der Tobin Bridge gesprungen. Es kann alles sein, und es ist nie dasselbe. Jeder Einbruch, jeder Überfall, jeder Fall von häuslicher Gewalt ist anders, und anders heißt, dass es nie langweilig ist. Es heißt, dass bei jedem Notruf die Möglichkeit besteht, dass Joe gerufen wird, um seine gesamten Kenntnisse und Fähigkeiten einzusetzen.

Zu einem Notfall gerufen zu werden gibt ihm in seltenen Fällen aber auch die Gelegenheit, das zu tun, was er an seinem Job am meisten liebt – wenn er jemandem wirklich helfen kann, wenn ein schnelles und entschlossenes Handeln dazu führt, dass die Guten gewinnen, wenn sie die Bösen von der Straße schnappen und in dieser Ecke des Planeten für ein bisschen mehr Sicherheit sorgen. Und wenn das nach einem abgedroschenen, moralinsauren Lehrfilm für Jugendliche klingt, dann ist es eben so. Das ist der Grund, weshalb Joe immer wieder zum Anwesenheitsappell erscheint, und er würde Logenplätze hinter dem Schlagmal im Fenway darauf wetten, dass jeder Polizist, der sein Geld wert ist, genauso empfindet.

Aber es ist ein zweischneidiges Schwert, denn jeder Notruf birgt auch die noch größere Wahrscheinlichkeit, dass Joe genau in das hineinläuft, was er an seinem Job am meisten hasst. Jeden Tag sehen Polizisten die haarige, übel riechende Unterseite der Menschheit, das Verkommenste und Abscheulichste, zu dem Menschen imstande sind, Dinge, die sich Zivilisten zum Glück gar nicht vorstellen können. Ein Notruf geht ein. Ein Mann in Roxbury hat seine Frau erwürgt und sie dann in einen Müllsack gestopft und vom Dach seines Mietshauses geworfen. Eine Mutter in Dorchester hat ihre dreijährigen Zwillingsjungen in der Badewanne ertränkt. Zwei Bomben am Marathon-Montag.

Joe hat seine Ausbildung und die Abteilung für Stressbewältigung, die ihm helfen, mit allem fertigzuwerden, was passiert, und wie all seine Kollegen versteht sich Joe inzwischen gut darauf, derbe Witze zu reißen und sich gleichgültig zu geben, ein standardmäßiges und leicht durchschaubares Arsenal an Selbstschutzmechanismen, um das abscheuliche Blutbad, dessen Zeuge er soeben geworden ist, nicht an sich herankommen zu lassen. Aber er kann es nicht verhindern. Und es verändert ihn. Es verändert sie alle.

Der Trick besteht darin, Rosie und die Kinder nichts davon spüren zu lassen. Er erinnert sich an die Leiche eines jungen Mädchens, das mit zwei Kopfschüssen getötet und dann in einen Müllcontainer in Chinatown geworfen wurde, um dort zu verrotten. Selbst leblos, bleich und mit Fliegen übersät, sah das Mädchen Meghan so ähnlich, dass Joe es nicht ertragen konnte. Er musste jedes bisschen Willenskraft zusammennehmen, das er besaß, um den Drang zu unterdrücken, sich dort vor allen anderen zu übergeben. Er tat, was er tun musste, riss sich zusammen, schluckte den Ekel herunter, erledigte seine Aufgaben roboterartig. Stunden später, allein in seinem Streifenwagen, fiel ihm auf, dass seine Hände, die das Lenkrad umklammerten, so heftig zitterten, dass der ganze Wagen wackelte.