Ein gutes Leben und andere Probleme - Sibylle Prins - E-Book

Ein gutes Leben und andere Probleme E-Book

Sibylle Prins

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Beschreibung

Was kann ich tun, dass es mir langfristig gut geht, auch wenn ich immer wieder mit psychischen Problemen zu kämpfen habe, wenn mir vielleicht sogar der Sinn des Lebens zeitweilig abhandengekommen ist und meine Ressourcen begrenzt sind? Die Autorinnen geben Anregungen, wie man trotz gesundheitlicher Probleme »ein gutes Leben« finden kann. Sie schreiben u.a. über Stressabbau, Haushaltsführung mit wenig Geld, die Suche nach einer erfüllenden Tätigkeit und die Gestaltung sozialer Beziehungen. Die Botschaft: Im Laufe einer psychischen Erkrankung wird so mancher Lebenstraum begraben, aber wenn man gut für sich sorgt, gehen oft unerwartet Türen auf.

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Svenja Bunt und Sibylle Prins

Ein gutes Leben und andere Probleme

Ein Ratgeber von Psychiatrie-Erfahrenen für Psychiatrie-Erfahrene

BALANCEratgeber

Svenja Bunt und Sibylle Prins

Ein gutes Leben und andere Probleme

Ein Ratgeber von Psychiatrie-Erfahrenen für Psychiatrie-Erfahrene

1. Auflage 2018

ISBN-Print: 978-3-86739-139-9

ISBN-PDF: 978-3-86739-929-6

ISBN-ePub: 978-3-86739-930-2

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

BALANCE buch + medien verlag im Internet:

www.balance-verlag.de

© BALANCE buch + medien verlag, Köln 2018

Der BALANCE buch + medien verlag ist ein Imprint der Psychiatrie Verlag GmbH, Köln.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf ohne Zustimmung des Verlags vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden.

Lektorat: Karin Koch, Köln

Umschlaggestaltung: GRAFIKSCHMITZ, Köln, unter Verwendung einer Fotografie von Werner Krüper

Typografiekonzeption und Satz: Iga Bielejec, Nierstein

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Ein gutes Leben gestalten

Genesungswege suchen und erkennen

Drei zentrale Lebensbereiche

Alles eine Frage einer guten Planung?

Lernen und sich entwickeln

Nur Mut!

Mein Alltag

Stress abbauen, nicht vermeiden

Sparsamkeit

Haushaltsführung mit wenig Geld

Schön wohnen mit wenig Geld

Arbeiten und tätig sein

Was ist Arbeit?

Arbeitssuche

Berufstätig sein

Leben ohne Erwerbsarbeit: Manches lohnt sich anders

Mit Krisen klug umgehen

Bin ich überhaupt krank?

Krisenvorsorge

Medikamente: Akzeptieren oder nicht?

Wie wäre es mit einer Therapie?

Unterstützung im Alltag durch die Sozialpsychiatrie

Gesetzliche Betreuung: Unterstützung oder Bevormundung?

Umgang mit Helfern

Andere Menschen

Was tun gegen die Einsamkeit

Freundschaften aufbauen – Kontakte pflegen

Kolleginnen und Kollegen

Erwartungen und Angst vor Enttäuschungen

Sich mitteilen bei Psychose

Man muss nicht immer einer Meinung sein, um sich gut zu verstehen

Liebe

Wie gehe ich mit mir um?

Erste Hilfe bei schlechter Stimmung

Einen Bezug zu seinem Körper entwickeln

Selbsthilfe bei psychotischen Ängsten

Trauer und Trost

Entspannen und Genießen

Lichtblicke

Lebensentwürfe

Lachen macht Spaß!

Kreativ werden

Sinnbezüge finden

Spiritualität

Zum Schluss

Ein gutes Leben gestalten

Dieses Buch zu schreiben hat Spaß gemacht. Wir wünschen uns, dass es auch Ihnen Spaß macht, das Buch zu lesen.

Dieses Buch entstand über einige Jahre hinweg. Vielleicht kann es für Sie über einige Zeit eine Quelle von Anregungen sein? Es ist im deutschsprachigen Raum der erste Ratgeber von Psychiatrie-Erfahrenen für Psychiatrie-Erfahrene. Vielleicht schreiben Sie den nächsten? Vielleicht haben Sie noch viel bessere Tipps, viel relevantere Erfahrungen? Trauen Sie sich! Durch die Zusammenarbeit an diesem Buch entstand eine Freundschaft zwischen den beiden Autorinnen. Vielleicht finden auch Sie hier Anregungen für neue und alte Freundschaften? Wir würden uns freuen!

Die Texte in diesem Buch wurden etwa je zur Hälfte von Sibylle Prins und Svenja Bunt geschrieben, wir haben sie wechselseitig ergänzt, aber manchmal auch unsere unterschiedlichen Meinungen stehen lassen. Auch Tipps von Freunden und Bekannten haben wir aufgenommen. Unserer Erfahrung nach kann man zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen Anregungen profitieren.

Dieses Buch kann nicht zu allen Themen, die in einem individuellen Leben wichtig werden, Empfehlungen geben. So fehlen etwa Kapitel zu Partnerschaft und Elternschaft. Auch für andere Projekte, vielleicht ein Studium oder gar eine selbstständige Erwerbstätigkeit, finden sich hier keine Hinweise. Wir behandeln aber Themen, von denen wir wissen, dass sie viele Psychiatrie-Erfahrene beschäftigen: Alltagsgestaltung, mit wenig Geld auskommen, Arbeit, Krisen, Genesung, Beziehung, Selbstbild, Sinnsuche. Diese Themen tauchen in Gesprächen mit Freundinnen und Freunden, aber auch in Seminaren und Fortbildungen, die wir beide machen, immer wieder auf. Natürlich können wir auch diese nicht vollständig bearbeiten, das ist auch nicht unser Ziel. Wenn wir Sie zum Nachdenken, vielleicht sogar Aktivwerden ermutigen können, freuen wir uns. Ausgewählte Hinweise zum Weiterlesen und -suchen finden Sie deshalb am Ende vieler Kapitel.

Noch ein Wort zu uns: Wir gehen beim Schreiben von unseren eigenen Erfahrungen aus und von denen der Psychiatrie-Erfahrenen, die wir im Laufe unseres Lebens kennengelernt haben. Sie kommen, etwas verfremdet und anonymisiert, mit Fantasienamen und oft auch Änderung des Geschlechts in den eingestreuten Beispielen vor.

Wir haben beide Psychose-Erfahrung. Unser Blick auf psychische Erkrankungen ist davon geprägt. Wir versuchen, auch andere psychische Erkrankungen zu berücksichtigen, tatsächliche gibt es ja im Alltag viele ähnliche Probleme, und auf den Alltag kommt es uns an.

Manche Psychiatrie-Erfahrene werden es kritisch sehen, dass wir manchmal von »psychischen Erkrankungen« sprechen, sogar bestimmte Diagnosen nennen. Tatsächlich sind wir der Meinung, dass es solche Dinge wie psychiatrische Probleme gibt. Diese werden von Mitarbeitenden der Psychiatrie mit bestimmten Diagnosen bezeichnet. Ob eine solche Diagnose im Einzelfall stimmt, mag dahingestellt sein. Wir haben dieses Buch in der Hoffnung geschrieben, Ihnen einige Anregungen für ein möglichst gutes, stimmiges und erfüllendes Leben zu bieten. Vielleicht gibt es etwas in unserem Buch, das Sie für sich nutzen können, um Ihr Leben noch besser gestalten zu können? Vielleicht könnte etwas in unserem Buch für Sie funktionieren – unabhängig davon, ob Sie Diagnosen annehmen oder ablehnen?

SVENJA Ich habe von Anfang an, mit Beginn der ersten Symptome, versucht, mich durch Selbsthilfestrategien zu stabilisieren, eine neue Balance zu finden. In den ersten Jahren ging es mir vor allem um eine gewisse Stabilität und eine Lebensgestaltung, die nicht durch die Psychose geprägt war. In dieser Zeit habe ich in den USA in Philosophie promoviert. Gesund war ich in dieser Zeit gewiss nicht. Danach kam eine sehr schwierige Zeit mit Arbeitslosigkeit und großen Sorgen, aus der ich nur langsam einen Weg zu meinem jetzigen Leben fand. Mittlerweile bin ich auch Klinische Sozialarbeiterin, arbeite bei einem psychosozialen Träger und unterstütze psychisch erkrankte Menschen.

Die Psychose habe ich nicht vollständig überwinden können. Und doch fand ein Gesundungsprozess in den letzten Jahren statt, und es entwickelte sich eine gute Lebensqualität. Mir gefällt das Leben, das ich heute führe, und ich glaube, dass ich in vielerlei Hinsicht auf einem guten Weg bin.

Mir hilft es, mich in Entwicklung zu sehen. So wie ein Baum, der immer weiterwächst, sich entwickelt und reift, blüht und Blätter grünen lässt, bis sie sich verfärben und abfallen, um nach einer Ruhepause erneut zu ergrünen. Der Früchte trägt und Heimat ist für Vögel und Mäuse und Käfer. Der auch nach einem Blitzschlag weiterwächst. So versuche ich auch mein Leben zu sehen. Als ein ständiges Wachsen und Sichweiterentwickeln. Auch wenn manches nicht gelingt oder nicht sofort, so kann doch das Lernen, das Wachsen, das Reifen, das Sichweiterentwickeln gut gelingen.

Auf diesem Weg stieß ich auf Dinge, die ich für mich nutze und die mir helfen. Ein Beispiel ist der Ausdauersport, den ich in schwieriger seelischer und sozialer Situation auszuüben begann. Ich hatte damals keine Vorstellung, dass Ausdauersport auch seelisch hilfreich sein könnte. Nach einem Jahr moderaten Ausdauersports wurde mir jedoch bewusst, dass ich nun viel ausgeglichener, fröhlicher, optimistischer in die Weltgeschichte blickte, dass die Stimmung besser war. Dann habe ich das recherchiert und herausgefunden, dass dieser Prozess mit dem Ausdauersport, der auf die Seele einwirkt, gut erforscht ist und mutmaßlich bei den meisten Menschen diese Wirkung zeigt.

Es gibt in jedem Leben sehr individuelle Aspekte, so will nicht jeder in den USA Philosophie studieren, wie es mein Lebensentwurf viele Jahre lang war. Aber es gibt auch Prozesse – in der Fachliteratur würde man von biopsychosozialen Prozessen sprechen –, die bei sehr vielen Menschen eine positive Wirkung entfalten können. Regelmäßiger Ausdauersport hätte nach einem Jahr mit hoher Wahrscheinlichkeit auch bei Ihnen eine positive Wirkung auf die Seele; es verändert sich dadurch einfach etwas in Körper und Gehirn. Diese Prozesse können wir durch die Entwicklung von Gewohnheiten für uns nutzen.

Solche Prozesse zeigen auch, dass wir besser oder schlechter mit unserem Körper und unserer Seele umgehen können. Allerdings kommen wir ja nicht mit einer Gebrauchsanweisung auf die Welt. Viele von uns kommen aus Elternhäusern, in denen wir eine gute Lebensgestaltung nicht lernen konnten. Aber wir können uns alle weiterentwickeln und wachsen, in kleinen Dingen, in kleinen Gewohnheiten, vielleicht auch in unserer gesamten Lebens- und Alltagsgestaltung.

SIBYLLE Mein Weg war etwas anders. Ich hatte zunächst auf Lehramt studiert, während des Referendariats hatte ich meine erste Psychose. Als anderthalb Jahre später erneut eine Psychose auftrat, hängte ich den pädagogischen Beruf an den Nagel – nur vorübergehend, wie ich damals noch dachte –, absolvierte eine Umschulung und fand anschließend Arbeit in einem Verwaltungsbüro. Darüber war ich nicht besonders glücklich, aber es war mir damals wichtig, überhaupt einen Job zu haben, finanziell unabhängig zu sein und nicht in eine psychiatrische Ersatzwelt abzurutschen. Außer ambulanten Gesprächen in einer Praxis oder Ambulanz nahm ich keine professionelle Hilfe in Anspruch. Das hatte sowohl Vor- als auch Nachteile.

Auch mit der Zuschreibung, krank zu sein, konnte ich nicht viel anfangen. Die Psychosen fühlten sich nicht an wie eine Krankheit, die langen anschließenden Phasen der Antriebs- und Interesselosigkeit interpretierte ich nicht als Teil der Krankheit, sondern dachte, ich hätte mich zu so einer dumpfen und desinteressierten Persönlichkeit entwickelt.

Das änderte sich, als in unserer Stadt erst eine Selbsthilfegruppe und später ein Verein Psychiatrie-Erfahrener gegründet wurde. Ich war von Anfang an dabei und lernte viele andere Psychiatrie-Erfahrene kennen, die alle ganz unterschiedliche Geschichten und Strategien zur Bewältigung ihrer Krisen hatten. Ich lernte enorm viel von ihnen. Spätestens, als ich zu Beginn der »Nullerjahre« auch in die Interessenvertretung in Gremien hineinkam, wurde mir klar, dass andere Psychiatrie-Erfahrene manchmal ganz andere Bedürfnisse haben als ich und dass ich diese auch berücksichtigen musste. Im Hintergrund dieser äußeren Ereignisse stand dann noch, dass ich mich gedanklich sehr viel mit den Psychosen und meinem Lebenslauf beschäftigte, viel reflektierte, was später zu meinen Veröffentlichungen führte.

Wir beide wollen Ihnen Lust auf ein gutes Leben machen: Wie kann ich mich so verhalten, dass es mir langfristig gut geht? Wie kann ich gut für mich sorgen? Für diese Fragen möchten wir Ihnen ein paar Anregungen und Denkanstöße geben. Vielleicht kann Ihnen dieses Buch helfen, noch einmal neu über das Sorgen für sich, die eigene Gesundheit nachzudenken. Und vielleicht wollen Sie ja das eine oder andere ausprobieren. Hier müssen wir anfügen: Die meisten Dinge, die uns geholfen haben, brauchen Zeit. Sie müssen erst als Gewohnheiten verankert werden, und erst langsam ändert sich etwas im Körper, im Gehirn, in der Seele.

So wünschen wir Ihnen Mut und Ausdauer, Kreativität und Geduld im Umgang mit sich selbst. Ein großer, schöner Baum wächst nicht von heute auf morgen heran, aber wir haben ja auch ein Leben lang Zeit, zu wachsen.

Svenja Bunt und

Sibylle Prins

Genesungswege suchen und erkennen

Drei zentrale Lebensbereiche

Genesung meint die individuelle Entwicklung hin zu einem Leben, das die erkrankte Person als lebenswert empfindet und das sie zufrieden macht. Ein guter Umgang mit den Problemen, die die Erkrankung mit sich bringt, gehört dazu, aber es gibt noch mehr Dinge, die darauf auch einen großen Einfluss haben. Drei Lebensbereiche spielen unserer Meinung nach eine besondere Rolle:

Alltagsgestaltung und Selbstmanagement  Hier geht es darum, seinen Alltag den eigenen Bedürfnissen entsprechend zu gestalten. Wohnen, Selbstversorgung und Freizeit spielen in diesem Zusammenhang eine große Rolle: Komme ich mit meinem Geld aus? Fühle ich mich wohl in meiner Wohnung? Gibt es schöne Freizeitaktivitäten, die ich unternehmen kann? Gibt es Bewegung und Musik, Genuss und Arbeit in meinem Leben? Diese Fragen entscheiden sich im Alltag und so auch, ob ich eher glücklich oder eher unglücklich lebe.

Beziehungsgestaltung  Wir Menschen brauchen einander, den Kontakt miteinander. Ein gewisses soziales Netz trägt, lädt ein, Freude zu teilen, aber auch Frust. Die zentralen Fragen sind also: Habe ich einige Freunde? Bekomme ich Unterstützung aus der Familie? Und für Menschen mit psychischen Erkrankungen besonders wichtig: Gibt es Menschen, vor denen ich die Erkrankung nicht verstecken muss? Werde ich unterstützt von professionellen Helfern? Aber auch: Habe ich auch genügend Freiraum für mich und Zeit allein? Mit diesen Fragen entscheidet sich, ob wir Unterstützung mobilisieren können und etwas im Leben erreichen können.

Arbeit und Beschäftigung  Tätigsein, aktives Gestalten sind ebenfalls Grundbedürfnisse. Weiß ich, welche Arbeit mir liegt? Kann ich Interessen benennen an Arbeit und Beschäftigung? Gibt es Möglichkeiten, in dieser Richtung tätig zu sein? Wie viele Stunden Arbeit sind gut für mich? Welche Arbeitsbedingungen sind gut für mich? Hier entscheiden sich Fragen von Erwerbsarbeit und Ausbildung, aber auch Tätigsein jenseits von Erwerbsarbeit.

Genesung bedeutet, in diesen drei Lebensbereichen Fortschritte zu erzielen nach den je eigenen Maßstäben. Unserer Erfahrung nach sind dafür zwei Voraussetzungen notwendig:

• Man muss eine gewisse Alltagsgestaltung bereits hinbekommen. Diese muss nicht perfekt sein, aber man muss sich so weit organisieren können, dass man für sich sorgen kann. Wenn diese grundlegende Fähigkeit nicht da ist, wenn etwa der Umgang mit Geld überhaupt nicht gelingt oder die Wohnung und man selbst verwahrlosen, ist das erst mal die Baustelle, bevor weitere Schritte auf einem Genesungsweg möglich sind.

• Man muss ferner einen gewissen Zugang zu seinen Fähigkeiten, Neigungen und Interessen haben. Auch das muss nicht perfekt sein, aber wer gar nicht sagen kann, ob er lieber Künstler oder Buchhalter, Akademiker oder Schreiner werden möchte, der wird große Schwierigkeiten haben, einen Lebensentwurf zu formulieren, der eine Chance auf Erfolg hat.

Wenn diese beiden Fähigkeiten gegeben sind, dann können vielleicht auch die großen Probleme isoliert und angegangen werden. Über die Zeit können Schwierigkeiten gelöst werden oder man lernt, eigene Schwächen zu akzeptieren und einen kreativen Umfang damit zu finden. Wenn diese beiden Fähigkeiten aber fehlen, müssen sie – wahrscheinlich mit therapeutischer Hilfe – erst entwickelt werden. Erst dann können andere Probleme gelöst werden. Unsere Erfahrung ist, dass auch große und schwierige Probleme über die Zeit bewältigt und gelöst werden können. Es kommt letztendlich darauf an, sich auf den Weg zu machen.

Alles eine Frage einer guten Planung?

In vielen Ratgebern wird empfohlen, bei Problemen einen Plan zu machen: für mehr Sport, die richtige Diät, die Konsolidierung der Finanzen, die Arbeitssuche oder die Entrümpelung der Wohnung. Auch auf psychosozialem Gebiet gibt es im englischsprachigen Raum Bücher, mit denen man seine Genesung (Recovery) planen kann. Systematisch werden wichtige Lebensbereiche bedacht und dann gestaltet. Nichts anderes wird im Behandlungs- und Rehabilitationsplan in der Eingliederungshilfe verlangt, auch hier soll man Ziele formulieren und dann planen, wie man diese wann erreicht. Kommt also alles nur auf einen guten Plan an?

SVENJA An dieser Stelle möchte ich mich etwas skeptisch zu der verbreiteten Planungswut in Ratgebern positionieren. In meinem Leben sind die wichtigsten Dinge ungeplant passiert. Ja: Sie waren sogar unplanbar, einer Planung unzugänglich. So etwa die Arbeitsstelle nach einiger Zeit in der Arbeitslosigkeit. Aber auch vorher die Arbeitslosigkeit nach Jahren des Studiums. Desgleichen die Kaskade von positiven Entwicklungen mit einer neuen Arbeitstätigkeit. Das neue Studium mit der ungeplanten persönlichen und fachlichen Weiterentwicklung. All diese wichtigen Schritte in meinem Leben folgten keinem Plan, ja sie widersprachen oft meinen Plänen.

In meinen Augen ist das Leben nicht planbar, weder in den Dingen, die schiefgehen, noch in den Dingen, die gut gehen. Wir können und sollen uns anstrengen, wir sollen an uns arbeiten und versuchen, uns weiterzuentwickeln. Wir sollen immer wieder einen Schritt nach dem nächsten machen. Aber planen lässt sich eine Genesung nicht.

Leben heißt erleben, nicht planen und ausführen. Wir können planen, einen bestimmten Betrag für ein neues Sofa jeden Monat zurückzulegen. Wir können auch einen Urlaub planen. Dass ein Notfall unsere Rücklagen verschlingt, kann all unsere Pläne zunichtemachen. Selbst der Urlaub kann entgegen unseren Plänen verregnet oder langweilig sein. Was ich sagen will: Wir können unser Handeln ein Stück weit planen, aber wir können nicht planen, was das Tun uns dann bedeutet, wie es sich anfühlt, ob es uns guttut.

Damit ein Ziel planbar ist, muss es konkret und durch unser Handeln erreichbar sein. Genesung kann kein solches Ziel sein, da dazu viele Faktoren, die nicht unserer Kontrolle unterliegen, zusammenkommen müssen. Auch andere große Veränderungen in unserem Leben sind nicht planbar. Oft verlangen sie eine Entwicklung über einen längeren Zeitraum hinweg. Einfache kleine Schritte können den Weg bereiten, aber planbar ist er nicht.

Darum also folgende Tipps:

• Erwarten Sie keine Wunder. Eine Rückkehr ins Berufsleben, eine bessere Alltagsgestaltung, gute Freunde, eine Partnerschaft hängen zum Teil von externen Faktoren ab, zum Teil von Ihrer eigenen Entwicklung und Offenheit dafür.

• Versuchen Sie, den nächsten Schritt zu erkennen, und setzen Sie konsequent einen Fuß vor den nächsten.

• Nehmen Sie Kontakt zu anderen Menschen auf und üben Sie sich im (Gedanken-)Austausch. Dadurch bekommen Sie weitere Anregungen für Ihr Leben, die Sie annehmen oder auch verwerfen können.

• Suchen Sie sich Hilfe, versuchen Sie, ein soziales Netz aufzubauen, sodass Sie Unterstützung erhalten.

• Machen Sie keine großen Pläne auf viele Jahre hinaus. Planen Sie gut den für Sie jetzt überschaubaren Zeitraum.

• Sorgen Sie für Notfälle vor. Wer unterstützt Sie dann? Haben Sie dann Ersparnisse und sind Sie abgesichert?

• Seien Sie offen für das, was ungeplant und ungebeten möglich ist in Ihrem Leben.

WEITERLESEN

Für alle, die doch ihre Genesung planen wollen:

http://www.pflege-in-der-psychiatrie.eu/recovery-neu.htm

Hier gibt es ein E-Book, eine Übersetzung aus dem Englischen, in dem die Autoren dazu ermutigen möchten, den eigenen Recoveryweg zu planen.

Lernen und sich entwickeln

Bis heute hat die Forschung nicht klären können, wie genau psychische Probleme entstehen. Allerdings zeigt die Erfahrung, dass zum Beispiel junge Menschen, die eine Psychose entwickeln, teilweise Probleme mit dem Selbstwert haben, Beziehungen zu anderen Menschen als schwierig erleben und nur mit Mühe beruflich und privat einen Platz in der Welt finden. Wenn dann noch akute Belastungen dazukommen, reagiert so mancher psychotisch. Auch Depressionen, Angsterkrankungen und andere psychische Probleme können Reaktionen auf krisenhafte Erfahrungen und Zweifel an den Fähigkeiten der eigenen Person sein.

Wenn dann die psychische Krise erst da ist, scheint der Weg weit zu dem Leben, das jemand sich mal gewünscht hat. Probleme türmen sich auf, ganz viele, man weiß gar nicht, wo man anfangen soll, grübelt nur noch, aber ohne durchschlagende Ergebnisse. Die Ziele, die man hat, sind weit weg, und der Weg hin zu einer Berufstätigkeit und einem erfüllten Privatleben scheint blockiert zu sein. Wenn dann noch Versuche, etwas zu ändern, in Sackgassen und zu Rückschritten führen, scheint man gefangen zu sein in einer schwierigen Lebenssituation.

Vielleicht kommt Ihnen das bekannt vor? Der Schlüssel zu einer Veränderung heißt: lernen und an sich arbeiten. Kompetenzen dazugewinnen. Selbstständigkeit verbessern. Geduld und Gelassenheit üben. Wenn Sie keine Arbeit haben, ist das ein Problem, das nicht nur durch Ihre Person und Ihr Verhalten erklärbar ist, sondern auch mit gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen zusammenhängt. Umgekehrt ist Arbeit keine Garantie für eine positive Veränderung in Ihrem Leben. Genauso ist es mit Partnerschaften und Freundschaften. Psychisch erkrankte Menschen leben wegen ihrer Stigmatisierung öfter allein und zurückgezogen als Gleichaltrige. Da liegt in der Gesellschaft viel im Argen. Und doch: Wenn plötzlich ein Mensch in Ihr Leben tritt, wird er es mit Sicherheit verändern, aber in welche Richtung, das muss sich erst noch zeigen.

Die äußeren Umstände sind wichtig und können belastend sein. Aber eine positive Veränderung der äußeren Umstände allein wird oft wenig bewirken können. Auch ein Lottogewinn macht die meisten Menschen mittelfristig nicht glücklicher, als sie vorher waren, das ist erforscht! Das Paradoxe ist, dass zum Beispiel ein Obdachloser natürlich ganz viele Probleme nur deshalb hat, weil er keine Wohnung hat. Und dennoch braucht es mehr als nur eine Wohnung, um ihm zu helfen. Genauso wird so mancher Mensch, der aufgrund einer psychischen Erkrankung in schwierige äußere Lebensumstände geraten ist, bestimmte Probleme nur wegen der schwierigen Umstände haben. Aber die Frage ist eben auch, ob er sich – zusammen mit den äußeren Umständen – verändern kann.

Bei einem Langzeitbezug von Hartz IV entfernt sich ein Mensch Stück für Stück von dem kompetenten Arbeitnehmer, der er vielleicht einmal war. Aufgrund diverser neuer Angewohnheiten und Verlegenheitslösungen kann er dann irgendwann auch eine Chance in seinem alten Beruf nicht mehr gut für sich nutzen.

Denn der Mensch bleibt nicht, wie er einmal ist. Wir verändern und entwickeln uns jeden Tag. Wir finden immer wieder aufs Neue ein Gleichgewicht zwischen Persönlichkeit, Verhalten und Lebensumständen. Die Frage ist nur: In welche Richtung kann ich mich gut entwickeln? Und wie kann ich dafür sorgen, dass ich mich gut weiterentwickle, sodass meine Ziele und Lebensvorstellungen verwirklicht werden können?

Hier sind einige Beispiele, die oft zu guten Entwicklungen führen:

• ein längerfristiges kreatives Projekt gestalten;

• ein soziales Ehrenamt ausüben;

• sich einer Gruppe anschließen, die sich mit dem Leben auseinandersetzt;

• ein Fach studieren oder eine Ausbildung machen, die Sie wirklich interessiert und begeistert;

• gute Bücher lesen;

• die Beziehung mit einem Menschen vertiefen, sich über Wichtiges mit ihm austauschen;

• sich für eine Tätigkeit begeistern;

• eine Psychotherapie machen;

• eine Selbsthilfegruppe besuchen;

• an kulturellen Veranstaltungen teilnehmen;

• sich herausfordern, sich ein Projekt vornehmen, das schwierig ist;

• sich von einem Mentor begleiten lassen;

• eine gute Zeitung jeden Tag lesen;

• sich Feedback von anderen geben lassen;

• anderen Menschen gut zuhören, sich einfühlen;

• sich fragen, wofür Sie im Leben dankbar sein können;

• Selbstreflexion;

• Sport.

Diese Liste ist keineswegs vollständig, aber sie vermittelt einen Eindruck, dass Lernen und sich mit anderen Menschen und damit auch mit dem Leben auseinanderzusetzen zu positiven Entwicklungen führen.

Wichtig für solche Entwicklungsprozesse ist, Alternativen zu schädigenden Verhaltensweisen zu entdecken und wahrzunehmen. Auch jemand, der in Armut lebt, hat Optionen; sie mögen kleiner sein als bei einem großen Budget, aber es gibt eigentlich fast immer Alternativen zu problematischen Verhaltensweisen. Wenn Sie merken, dass Sie nicht gut für sich selbst sorgen, dass Sie von anderen in eine Richtung gedrängt werden, die Ihnen nicht gefällt, dann fragen Sie sich, was die Alternative sein könnte. Das bewusste Suchen und Sehen von guten Alternativen auch in schwierigen Situationen führt zu positiven Entwicklungen.

Wovon wir überzeugt sind, ist, dass Sie Ihr Leben jetzt, vielleicht auch in benachteiligten Situationen, gestalten und die Spielräume, die da sind, nutzen können. Wir möchten Ihnen Tipps geben, wie Sie Ihr Leben jetzt gut und verantwortlich gestalten und sich dem Glück in zielstrebigen Schritten annähern können. Die äußeren Umstände sind auch wichtig, und es ist traurig und manchmal sogar tragisch, wenn Dinge da im Argen liegen. Aber wer auf ein Wunder hofft, den tollen Partner, die wunderbare Arbeit und das große Einkommen, die schöne Wohnung, die Kinder – der wird vielleicht lange Zeit unglücklich sein und sich dann im Alter fragen, was er im Leben erreicht hat. Suchen Sie stattdessen lieber nach Möglichkeiten, sich weiterzuentwickeln und auch heute schon glückliche Momente zu erleben.

Machen Sie sich nicht kleiner, als Sie sind. Dass Sie zu diesem Buch gegriffen haben, zeigt, dass Sie selbstständiges Denken schätzen, dass Sie bereit sind, Ihr Leben infrage zu stellen und neue Wege zu gehen.

Nur Mut!

Liebe Leserin, lieber Leser, Sie haben sicherlich schon gemerkt, dass dieses Buch ein bisschen anders ist als so manch anderer Ratgeber. Es gibt solche, die versprechen Ihnen ein glückliches Leben, wenn Sie einige einfache Regeln befolgen. Oder bestimmte Übungen machen. Oder sich eine bestimmte Einstellung aneignen. Dann kann vermeintlich gar nichts schiefgehen, und Ihr Leben wird traumhaft schön.

So einen Ratgeber wollten wir nicht schreiben. Wir finden solche Versprechungen nicht nur unrealistisch, uns gefällt auch nicht, was im Hintergrund solcher Versprechungen immer mitschwingt: Wer es nicht schafft, die verordneten Regeln zu befolgen, die vorgeschlagenen Übungen zu machen, eine positive Haltung einzunehmen, ist dann schnell selbst schuld, wenn es mit dem guten Leben nicht klappt. Das finden wir zynisch. Wir denken eher, das Leben ist so eine Art Gemischtwarenladen. Da wird es immer gute und schlechte Ereignisse, positive und schwierige Entwicklungen geben, Blütezeiten und Durststrecken. Überhaupt, die persönliche Entwicklung eines Menschen: Nach unserer Erfahrung verläuft sie meist nicht geradlinig, folgt selten irgendeinem noch so ausgeklügelten Plan. Vielmehr sind Entwicklungswege oft verschlungen, bewegen sich im Zickzack oder vor und zurück, es gibt manchmal große Sprünge nach vorn, dann wieder Phasen des vermeintlichen Stillstands oder gar des Rückschritts.

Einen garantierten und sicheren Weg zu einem guten Leben können wir Ihnen nicht anbieten, nur Erfahrungen und im Selbstversuch sowie im Austausch mit anderen gesammelte Anregungen und Tipps. Vielleicht sind ja Vorschläge dabei, die Ihnen gefallen und die Sie mal ausprobieren möchten. Vielleicht bringen unsere Hinweise Sie auch auf eigene und ganz andere Ideen. Vielleicht nutzen Sie dieses Buch aber auch eher als Motivationshilfe, um sich selbst Mut zu machen, dass es auch aus einer schwierigen und als unbefriedigend erlebten Situation Auswege gibt, so wie Fritz Bremer es in einem kleinen Gedicht beschrieben hat:

Selbstermutigungsgedicht

als sie keinen

Ausweg wusste

dachte sie

sich einen aus

als sie das

zu Ende dachte

war sie

aus dem Gröbsten raus

© Fritz Bremer: Wirklichkeit ist ein seltsames Wort. Selbstverlag, Neumünster 2016