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Alexandra Fabisch

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Beschreibung

Zwei Schwestern, Shakespeare und ein Verkupplungsversuch – und der Liebesschlamassel ist perfekt! Als Autorin und alleinerziehende Mutter bleibt Gemmas Liebesleben schon seit Jahren auf der Strecke. Um sie endlich vom Schreibtisch wegzubekommen, beschließt Lara, dem Glück ihrer Schwester auf die Sprünge zu helfen und sie zu verkuppeln – und das ausgerechnet mit Laras bestem Freund Tobi! Das Date von Gemma und Tobi läuft besser als erwartet, doch da ist auch noch Malte, der Lehrer ihrer Tochter, mit dem Gemma eine Schulaufführung inszeniert und der für ordentlich Verwirrung sorgt. Und auch bei Lara nimmt das Gefühlschaos seinen Lauf. Denn der Gedanke, dass ihre Schwester tatsächlich mit Tobi glücklich werden könnte, bereitet ihr zunehmend Kopfzerbrechen … Wie kann die Liebe im Erwachsenenalter noch immer so verwirrend sein?

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Ein Herz voll Sommerträume

Alexandra Fabisch

1

Gemma

Gemma las. Denselben Satz zum dritten Mal. Langsam reichte es. Sie hatte keine Zeit zum Seelebaumelnlassen. Gereizt kniff sie sich in die Nasenwurzel. Ihre Lippen bewegten sich lautlos, während sie den Absatz, den sie gerade geschrieben hatte, noch einmal durchging. »Carl zog Alisa dichter zu sich. Die Wärme seiner starken Arme umfing sie wie eine flauschige Decke. Ich bin verloren, dachte Alisa und schmiegte sich mit einem wohligen Seufzer an seine breite Brust.«

Gemma beugte sich tiefer über den Bildschirm, beäugte jedes Wort kritisch und löschte ›stark‹, ›flauschig‹ und ›breit‹.

Nicht wirklich zufrieden, aber in der leidigen Gewissheit, dass es heute nicht besser werden würde, setzte sie einen Punkt und tastete blind nach der Gummibärchentüte, die stets rechts neben dem Laptop lag. Doch bis auf ein leeres Knistern, das zunehmend ungehaltener wurde, je mehr sie darin wühlte, spuckte die Verpackung nichts aus. Jetzt ging ihr auch noch der Treibstoff aus! Leise vor sich hingrummelnd stapfte Gemma zur Süßigkeitenschublade, fand darin jedoch nur Geleebananen, ein Impulskauf, den niemand essen mochte. Wo war die Schoki, die sie erst letzte Woche gekauft hatte? Drei große Tafeln, spurlos verschwunden. Nicht ein einziges Stück hatte ihre Teenagertochter übrig gelassen.

Angesäuert knallte Gemma die Schublade zu und zog weiter zum Kühlschrank. Der war zwar halbvoll, leider nur mit gesunden Sachen. Gemma schnappte sich ein Stückchen Käse und ging zurück an den Schreibtisch. Gleich würde Julie von der Schule kommen, dann war es vorbei mit der Arbeitsatmosphäre. Wenn ihre Tochter durch die Wohnung wirbelte wie ein Hurrikan der Kategorie fünf, blieb kein Buchstabe auf dem anderen.

Gemma dehnte ihre Finger. Mit etwas Glück hatte sie noch sechzig Minuten Ungestörtsein. Das waren umgerechnet ein getipptes Gutachten, zehn bis zwanzig Seiten Rechtschreibkorrektur oder eine kleine Liebesgeschichte, an der sie gerade arbeitete. Beziehungsweise nicht arbeitete, weil ihre Konzentration im Keller war. Dabei freute sie sich immer sehr, wenn sie in ihrem vollgepackten Alltag ein wenig Zeit fand, um eine Romanze zu schreiben. Die Heileweltprosa in der Wochenendbeilage der Lokalzeitung war sozusagen ihr Hobby. Miete und Rechnungen bezahlte das Schreibbüro, das sie vor zwölf Jahren unter dem Namen Ohnepunktundkomma gegründet hatte. Zwar war es ihr großer Traum gewesen, Autorin zu werden und Romane voll tiefer Gefühle zu verfassen. Aber der Job einer freischaffenden Künstlerin war ihr zu unsicher gewesen: Als alleinerziehende Mutter hatte man schließlich Verantwortung zu tragen. Und die trug sie gern. Auch wenn sie manchmal wehmütig im Buchladen stand und all die wunderschönen Cover betrachtete, war sie doch mit ihrem Schreibbüro glücklich. Ihre Kunden waren zufrieden, und Arbeit gab es stets genug, oft bis spät in die Nacht hinein.

Vielleicht war dies auch der Grund dafür, dass die Buchstaben heute vor ihren Augen verschwammen und sie Haupt- von Nebensatz kaum noch trennen konnte. Doch sie wollte sich keine Pause leisten, eine Seite musste sie noch schaffen. Also streckte sie sich, gähnte und tippte das Passwort ein. Zeitgleich wurde die Wohnungstür aufgeschlossen, viel zu früh, wenn es nach ihr ginge. Sie erkannte die Stimme ihrer Tochter Julie, die irgendwem irgendwas erklärte. Zähneknirschend fuhr sie sich durch die Locken, die wie immer wirr abstanden, und rief ein »Hallo« quer durch die Wohnung.

»Hi Mum!«, kam es zurück. Etwas Schweres, sicher Julies Rucksack, knallte auf den Boden.

»Und was genau ist an Liebrecht so nice?« Jetzt konnte Gemma die zweite Person laut und deutlich hören. Es war Max von nebenan, wer sonst. Und er klang ziemlich grätig.

»Der macht einfach tolle Sachen. Heute, da haben wir Gefühlstaxi –« Julie dehnte das Wort genüsslich, Gemma horchte auf: Was war das denn?

»Das kann ich auch«, fuhr Max dazwischen. Er wohnte unter ihnen im zweiten Stock und verbrachte mehr Zeit in Julies Zimmer als zu Hause. Seine Eltern, zwei superherzliche Menschen, waren selten daheim. Max' Vater war auf Baustellen in ganz Deutschland unterwegs, seine Mutter arbeitete in einem Pflegeheim mit wechselnden Schichten und chronischem Personalmangel.

»Gefühlstaxi: Das ist doch was für Anfänger«, motzte Max jetzt. »Wenn du willst, baue ich dir einen Emo-Bus.«

»Ha ha.« Julie lachte lahm. Kohlensäure zischte, Gläser klirrten. »Malte ist einfach megalocker, witzig und hat zudem richtig was drauf.«

»Ich weiß auch viel. Frag mich was! Ich bin sogar im Hochbegabten-Programm«, schmollte Max.

Gemma trommelte mit den Fingerspitzen auf der Tastatur, lauerte auf die Ruhe, die sie für den nächsten Satz dringend brauchte. Wie so oft verfluchte sie den Grundriss ihrer Wohnung, die zwar hell und offen war, dafür aber wenig Wände und vor allem Türen besaß.

»Dir fehlt es an Lebenserfahrung«, nuschelte Julie nun, wahrscheinlich kaute sie auf einem Apfel.

»Ich bin meinem Alter weit voraus, sagen die Lehrer.«

»Sorry«, meinte Julie, schon etwas weiter weg. »Aber mit einem Sechsunddreißigjährigen kannst du nicht mithalten.«

Sekunde! Gemmas Kopf schnellte hoch. Der ultratolle Gefühlstaxifahrer war sechsunddreißig? Darüber musste sie mehr erfahren. Ihre Antennen gingen auf Empfang. Zu spät, die beiden waren bereits in Julies Zimmer verschwunden und mit ihnen Gemmas innere Ruhe. Bisher hatte Julie für Jungs geschwärmt, die noch nicht mal im Stimmbruch waren, alles im grünen Bereich. Doch jetzt schrillten Gemmas Alarmglocken. Sie zwang sich, Julie nicht sofort mit einer Reihe unangenehmer Fragen zu überschütten, schnappte sich stattdessen eine Wasserflasche und hielt das kühle Glas gegen die Stirn, um wieder runterzukommen. Nachher war früh genug, um mit Julie über die Liebe und ihre Tücken zu sprechen. Zwar hatte sie mit ihr vor ein paar Jahren schon über Bienchen und Blümchen geredet, aber jetzt war ihre Tochter in einem Alter, wo sie wohl konkreter werden musste.

Gemma seufzte, dieses Gespräch war längst überfällig, sie schob es schon seit einer Ewigkeit vor sich her. Am liebsten hätte sie, dass Julie für immer ihr kleines, süßes Schokomäuschen bliebe. Doch langsam war es nicht mehr zu übersehen, dass ihre Tochter eine große Schokomaus wurde. Und Gemma war vollkommen klar, dass auch andere dies bemerken würden. Gefühlstaxifahrer zum Beispiel. Ihr Bauch machte einen nervösen Salto, rasch trank sie einen Schluck Wasser und versuchte sich abzulenken, indem sie mühsam den Faden ihrer Geschichte wieder aufnahm.

Gerade brachte sie ihre Finger über der Tastatur in Position, da schellte es: »Do-d-do-dong-ding-ding-dong.« Die Türklingel verhaspelte sich in ihrem Text, was immer dann passierte, wenn hektisch darauf rumgedrückt wurde. Irgendjemand musste es verdammt eilig haben.

»Ich geh schon!«, brüllte Julie.

Gemma sackte zusammen, dieser Tag war ein einziges Desaster: Vor ihr lag eine halbfertige Geschichte, ihre dreizehnjährige Tochter fuhr mit einem mehr als doppelt so alten Mann Gefühlstaxi, und ihr E-Mail-Account meldete just in diesem Moment zwei Aufträge, die heute noch geschrieben werden sollten. Sie hatte keine Zeit für was auch immer der ungeduldige Türklingler wollte.

»Chicken Masala, Mädels!« Lara, ihre Schwester, rauschte mit ihrem phänomenalen Talent für schlechtes Timing in die Wohnung. Seit Lara ein Kind war, spürte sie regelmäßig Katastrophen auf oder löste sie aus. Trotzdem liebte Gemma ihre kleine Schwester, die einen stolzen Zentimeter größer und nur vierzehn Monate jünger als sie selbst war.

Mit einem Seufzer ergab Gemma sich ihrem Schicksal, speicherte die aktuelle Version der Liebesgeschichte, verschob den Aufgabenberg in den Abend und folgte dem Duft von Jasminreis und Curry.

»Yummy yummy«, frohlockte Lara, während sie die weißen Boxen auf den Esstisch stellte.

Gemmas Blick fiel auf die riesige Küchenuhr, die den Minutenzeiger langsam und sehr würdevoll um einen Strich vorschob. Wilhelmine hieß das antike Stück, das im letzten Jahrhundert auf irgendeinem Provinzbahnhof gehangen hatte. Ihren Namen verdankte sie einem Kindergeburtstag, bei dem sie die Rolle der verwunschenen Königin hatte einnehmen müssen.

»Es ist kurz nach vier, und du willst Indisch essen?«

»Dir auch ein herzliches Hallo«, trällerte Lara. Schon an normalen Tagen war sie ein lebenslustiger Sonnenschein, aber heute strahlte sie aus allen Poren.

»Gibt es etwas zu feiern?«, fragte Gemma nach. Sie kannte ihre kleine Schwester nur zu gut, irgendetwas machte sie überdurchschnittlich froh.

Lara pustete eine Strähne, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte, aus dem Gesicht und lächelte sie breit an. »Ich werde vollwertige Partnerin in der Praxis.«

Lara arbeitete als Zahnärztin in der besten Praxis der Stadt, bisher im Angestelltenverhältnis.

»Was?« Gemma riss die Augen auf. »Warum hast du nichts gesagt? Ich habe gar nichts vorbereitet! Du kleine Nuss. Ich bin so stolz auf dich!«, platzte es aus ihr heraus. Sie umarmte Lara heftig.

Die lachte. »Das macht doch nichts. Ich lade euch zum Essen ein.«

Gemma brummelte etwas von Restaurant, aber wenn Lara Indisch um vier wollte, dann sollte es so sein.

»Ich habe einen Mordshunger«, plapperte Lara aufgedreht und verteilte dabei Löffel und Gabeln. »Habe heute bis auf einen Grünkernsmoothie noch nichts gegessen.«

»Julie, Max kommt ihr?«, rief Gemma und schenkte Holunderschorle zum Anstoßen ein.

»Juuuliiie«, wiederholte Lara ungeduldig und trommelte dabei mit den Fingerspitzen auf den Tisch. Es sah aus, als würden ihre rot-lackierten Nägel einen irren Stepptanz aufführen. Gemma lächelte und schob einen Löffel in den Reis. Sie liebte es, wenn sich alle um den Esstisch versammelten. Die Gespräche, das Lachen und Schmatzen. Dieser Tisch war kein Möbelstück, er war das Zentrum ihres Universums. Hier wurde Trostschokolade genascht, die Parkstraße verkauft, Plätzchen verziert und lineare Gleichungen gelöst. Sie stützte sich auf die massive Eichenplatte. Jetzt würden sie Laras Beförderung feiern. Und nachher, das ließ sich leider nicht länger aufschieben, musste sie hier mit ihrer Tochter über megalässige sechsunddreißigjährige Männer reden.

Gemmas Magen ziepte, die Liebe war nicht gerade ihr Spezialgebiet. Zwar stapelte sich in ihren Bücherregalen romantische Literatur aller Epochen bis unter die Decke, praktisch konnte sie allerdings nur wenig Referenzen vorweisen. Mit Anfang zwanzig war sie von ihrer einst großen Liebe verlassen worden. Ihre gemeinsame Tochter, Julie, war damals gerade ein halbes Jahr alt gewesen. Diesen Schmerz wollte Gemma nie wieder verspüren. Deshalb ließ sie seitdem keinen Mann mehr in ihr Leben. Und das war auch gut so. Sie war sehr glücklich in ihrer Mädels-WG. Nur, wie würde es aussehen, wenn Julie sich verliebte?

Ganz in Gedanken schaufelte Gemma Reis auf die Teller.

»Für mich bitte nicht«, hörte sie Lara sagen.

»Wieso ’n das?« Julie kam in Begleitung der neuen Cool!,dem Trendmagazin für Teens, in die Wohnküche.

»Kohlenhydrate machen fett«, erklärte Lara und strich sich über den flachen Bauch.

»Echt?« Julie zog ihren Teller weg, damit Gemma nicht noch mehr auftun konnte.

»Mensch, Lara!« Das fehlte ihr noch, dass Julie mitten im Wachstum eine Diät machte. Gemma warf ihrer Schwester einen Blick zu, der sie an ihre Vorbildfunktion erinnern sollte.

Die blähte die Nasenflügel, nahm aber folgsam eine Portion Reis.

»Malta ist schon in drei Wochen«, grummelte sie leise. Deshalb also die Kohlenhydratphobie. Lara versuchte eine Diät zu machen, was bei ihr üblicherweise zu nichts führte als einer schlimmen Gereiztheit. Die Traumfigur hatte sie längst, sie trainierte zweimal die Woche Cheerleading.

»Fliegst du zusammen mit deinem Freund, dem, ähm …« Gemma nahm ein Papadam und biss hinein, um sich Zeit zu verschaffen, während sie überlegte, wie der neue Freund ihrer Schwester hieß. Irgendwas mit D: David, Damian, Dario? Lara war oft verliebt, leider nie sehr lange.

»Ob Daniel mitkommt?«, nuschelte Lara mit vollem Mund und beantwortete die Frage gleichzeitig mit einem Nicken.

»Ist er süß?« Julie lehnte sich interessiert vor.

»Shooting Guard«, irgendein Basketballspieler also, »achtundzwanzig, blond, Haare bis hier«, Lara deutete mit der linken Hand ans Ohrläppchen, »ungefähr so lang wie deine. Und einen Knackarsch: De luxe, sag ich dir.« Sie wackelte verschwörerisch mit den Augenbrauen.

»Danke, das reicht«, unterbrach Gemma sie. Ihr gefiel es nicht, dass Lara mit Julie so freizügig über Männer sprach. Dafür war ihre Tochter einfach noch zu jung. Die sah das allerdings offensichtlich anders, denn sie fragte ihre Tante nach einem Foto.

Lara ignorierte Gemmas mütterliches Räuspern und holte ihr Smartphone hervor. »Da waren wir an der Ostsee.«

Sie hielt Julie das Handy hin.

»Er surft? Wie cool. Und süß sieht er aus«, schwärmte die.

»Das ist nicht deine Altersklasse, Julie«, wurde Gemma direkt. Ihre Gabel landete scheppernd auf dem Teller. »Und du, Lara, musst einer Dreizehnjährigen keine nackten Männer zeigen.«

»Jetzt bleib mal locker, Mum. Ich werde meiner Tante wohl nicht den Freund ausspannen.« Julie rollte mit den Augen, sie waren wie ihre graugrün und würden die Jungs reihenweise verzaubern, da war Gemma sich sicher.

»Außerdem ist er nicht nackt, er hat einen Neoprenanzug an«, fügte Lara hinzu.

»Nicht alle Männer sind schlecht, nur weil mein Erzeuger abgehauen ist«, lenkte Julie das Gespräch in eine Richtung, die Gemma gar nicht gefiel. Sie wollte nicht über Ronny sprechen, und das Wort ›Erzeuger‹ fand sie scheußlich. Es erinnerte sie an ihr zerbrochenes Familienglück. Leider fiel ihr keine andere angemessene Bezeichnung ein. ›Papa‹ ging jedenfalls nicht. Am Ende war es vermutlich auch egal, Kontakt gab es keinen.

»Ich zum Beispiel bin voll nett«, mischte Max, der bis jetzt stillschweigend gegessen hatte, sich in die Debatte ein.

»Und Malte Liebrecht ist auch total in Ordnung«, fügte Julie hinzu.

War das nicht der Mann, der ihre Tochter in seinem Gefühlstaxi entführen wollte? Gemmas Hände wurden kalt, ihr Bauch grummelte unheilvoll. Sie musste unbedingt verhindern, dass ihrer Tochter das Gleiche passierte wie ihr. Julie sollte eine unbeschwerte Zukunft haben. Nicht, dass Gemma je bereut hätte, Mutter geworden zu sein. Aber vielleicht wäre sie eine noch bessere Mum, wenn sie erst Karriere gemacht und einen Bestseller geschrieben hätte, mehr Geld verdienen würde für größere Reisen, geilere Klamotten – STOPP!

Gemma griff nach ihrem Glas und zwang sich, etwas zu trinken, spülte Schluck für Schluck die negative Gedankenspirale hinunter.

»Immer dieser blöde Liebrecht«, beschwerte Max sich jetzt und tauchte den Löffel tief in das Curry. »Du tust so, als wäre er Superman.«

»Ist er auch«, konterte Julie, streckte ihm die Zunge raus und klaute ihm den Schöpflöffel. Max' Protest war schwach. Er war ein halbes Jahr jünger als Julie, schwarzhaarig, blass und trug eine runde Brille.

»Es ist nicht gut, wenn du jemanden so idealisierst«, kommentierte Gemma den Dialog der beiden, wertfrei und vernünftig, wie sie fand. »Auch dein Superman«, sie räusperte sich, damit sie nicht so schrill klang, wie sie sich innerlich fühlte, »auch Herr Liebrecht wird Fehler haben.«

»Du kennst ihn doch gar nicht«, wischte Julie ihr Argument einfach weg.

»Das muss ich auch nicht«, rutschte es Gemma raus.

Julie hob den Kopf, ihr Gesicht verdüsterte sich.

»Typisch«, murmelte sie und führte die Gabel zum Mund.

Gemma zwang sich, ruhig zu bleiben, und sah ihrer Tochter beim Essen zu – da erregte etwas ihre Aufmerksamkeit. Auf Julies Unterarm prangten drei bunte Sterne. Ein Tattoo! Gemma schnappte nach Luft, ihre Fassung war nun endgültig verloren. Mit einem Ruck sprang sie auf, ihr Stuhl kippte hintenüber. Ohne darauf zu achten, lehnte sie sich quer über den Tisch, griff nach Julies Handgelenk, drehte es zu sich herum und betrachtete das Tattoo, Sinnbild für das verlorene Ruder, das schiefe Lot, wie hatte das passieren können?

»Aua«, protestierte ihre Tochter und wollte den Arm wegziehen.

»Was is’n los?«, mischte Lara sich ein.

»Ein Tattoo!«, kreischte Gemma, ihr Herz hämmerte hart bis in den Hals und quetschte ihre Stimmbänder ab.

»Du renkst mir die Schulter aus«, motzte Julie.

Gemma ließ die Hand so abrupt los, dass sie gegen die Karaffe stieß. Das bauchige Gefäß kippte und ergoss seinen Inhalt über Julies Jeans.

»Spinnst du?«, schrie die zornentbrannt und sprang auf.

Gemma sah rot. »Du spinnst! Ein Tattoo, in deinem Alter.«

Sie war so laut, dass das ganze Haus sie hören musste, aber das war ihr egal.

»Jetzt entspann dich mal«, fauchte Julie und holte ein Küchentuch. »Ich bin dreizehn und kein Baby mehr.«

»Solange du nicht volljährig bist, entscheide immer noch ich.« Gemma schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und kam sich dabei vor wie ein Despot, aber sie konnte nicht anders. Es war, als müsste sie Julie von einer tickenden Bombe wegzerren, notfalls mit Gewalt.

Lara und Max hatten aufgehört zu kauen und verfolgten den Schlagabtausch der beiden.

»Du bist ja sowas von gestern«, watschte Julie sie ab.

»Ich bin auch noch dein Morgen, meine Liebe. Und zwar für die nächsten fünf Jahre«, giftete Gemma zurück.

»Maya hat auch ein Tattoo. Was ist schon dabei? Aber was weißt du schon, du hast doch keine Ahnung vom echten Leben. Hängst immer nur über deinen Texten.«

»Diese Texte bezahlen dein Smartphone und deine Chucks.«

»Und was willst du jetzt tun? Mir den Arm abhacken?«, provozierte Julie sie.

»Nicht in diesem Ton.«

»Ich hasse dich.« Julie pfefferte den durchgeweichten Küchenkrepp auf den Boden und stürmte aus dem Zimmer.

Max biss ungerührt in einen krossen Linsenmehlfladen und meinte kauend: »Eins zu null für Julie.«

Lara stupste ihn unsanft mit dem Ellenbogen an, aber Max zuckte darauf nur mit den Schultern, wie um zu sagen: ›Ist doch so.‹

Gemma stand einen Augenblick lang vollkommen still, dann richtete sie den Stuhl wieder auf und setzte sich. Ihre Knie zitterten wie nach einem Sprint.

»Ach, Gemmi.« Lara kam zu ihr herum und nahm sie in den Arm. »Sei nicht zu streng mit Julischka, sind doch nur drei süße Sternchen.«

»Aber damit fängt es an«, flüsterte Gemma sorgenvoll. Partys, Jungs, Drogen: Sie hatte das alles schon durch. Ihr Studium hatte sie abbrechen müssen, weil sie früh schwanger geworden war, und sie hatte Lara aus dem Alkoholsumpf zerren müssen. Sie wollte das nicht noch einmal erleben, und sie wollte vor allem nicht, dass Julie das erlebte.

»Ehem …« Max räusperte sich in die betretene Stille. »Wenn ich kurz etwas dazu sagen dürfte?«

Lara hob abwehrend die Hand. Aber Gemma erlaubte ihm mit einer schwachen Geste zu reden.

»Also, der kleine Stern, das ist Julie, der mittlere ist Lara, und der große«, er machte eine kurze Pause, dann deutete er mit seiner Gabel auf Gemma, »das bist du.« Lara seufzte verzückt. Gemma stöhnte auf. »Außerdem ist es sowieso nur aufgeklebt«, fügte er hinzu und verpasste Gemma damit den Knockout. Kraftlos ließ sie den Kopf auf die Tischplatte knallen. Sie hatte ihre Tochter wegen eines Klebetattoos, das ihre Familie auf ganz herzliche Weise symbolisierte, angeschrien. Und außerdem hatte sie Laras spontane Beförderungsparty gecrasht. Nicht mal angestoßen hatten sie.

»Alles halb so wild. Du bist einfach etwas verspannt«, tröstete Lara sie und massierte ihren Nacken.

»Vielleicht«, fiepte Gemma. Sie unterdrückte ein Schluchzen, wobei sie fast erstickte.

»Du solltest mal raus, ein paar Cocktails, coole Beats, Arme hoch, Popo wackeln, das löst jede Blockade.« Lara tanzte ihr Glücksrezept mit einem sexy Hüftschwung vor. Max klappte der Mund auf.

»Lass mal, mir geht es gut.«

Lara bohrte den Daumen heftig zwischen Gemmas Schulterblätter.

»Autsch!«

»Siehst du? Du bist total verkrampft, bis in die Tiefenmuskulatur.« Lara knubbelte an einem harten Knoten neben der Wirbelsäule, das tat weh, und gut, beides irgendwie. »Da hilf nur Sex, das lockert wirklich jeden Muskel.«

»Lara, bitte!« Gemma richtete sich auf und schickte Max weg, der ihr Gespräch überaus interessiert verfolgt hatte, während er die Reste aus den Schüsseln kratzte.

»Jetzt mal Klartext«, begann Lara erneut, nachdem Max unter stillem Protest in Julies Zimmer verschwunden war. »Seit zwölf Jahren sitzt du tagein, tagaus über deinem Schreibtisch, das kann nicht gesund sein.«

»Ich arbeite, weil ich Geld verdienen muss. Und ich fühle mich topfit. Alles war in bester Ordnung – bis Julie anfing, Tattoos und ältere Kerle mit nach Hause zu schleppen.«

»Hat sie doch gar nicht!«

»Könnte sie aber. Bald.« Gemmas Luftröhre wurde wieder eng, das Atmen fiel ihr schwer.

»Schwesterherz, du sitzt in deinem eigenen Saft und grübelst über ungelegte Eier. Ehrlich, du solltest mal ausgehen.«

»Nein, danke«, sagte Gemma matt und wünschte, Lara würde ihre Partypläne selbst ausleben, schließlich hatte sie was zu feiern. Gemma hingegen brauchte jetzt kein Date, sondern Ruhe, um sich zu sortieren. Und, um mit Julie zu reden.

Scheinbar wurde ihre Bitte vom Schicksal erhört, denn Lara bekam eine SMS.

»Ich muss los.« Ihre Schwester grinste, während sie eine Antwort tippte. Dann verabschiedete sie sich mit einem dicken Drücker. »Wir kriegen das schon hin«, trällerte sie überaus übermotiviert.

Das machte Gemma etwas Angst. Sie erinnerte sich noch allzu gut an das letzte Mal, dass Lara genau diese Worte gesagt hatte. Da war der Abfluss verstopft gewesen. Lara hatte sich beschwingt die Haare zusammengebunden und die Ärmel hochgekrempelt. Kurze Zeit später waren Bad und Flur knöcheltief überschwemmt gewesen.

Lara verabschiedete sich, und Gemma rang sich sogar ein Lächeln ab, obgleich sich ihre Lippen taub anfühlten. Der Currygeruch drehte ihr plötzlich den Magen um. Indisch würde es in nächster Zeit nicht mehr geben: Chicken Masala war offensichtlich verflucht.

2

Lara

 

 

Lara stocherte mit dem Strohhalm in ihrem Cocktail. Seit Tagen fieberte sie diesem Abend entgegen, hatte Tobis Nachrichten so oft gelesen, bis sie jedes Wort auswendig kannte, die letzte war vorhin gekommen. Dass er sich freue, hatte er geschrieben, und Laras Herz wollte seitdem nicht mehr aufhören zu tanzen. Heute war einfach ein perfekter Tag: erst die Nachricht, dass sie Praxispartnerin wurde, jetzt das Treffen mit Tobi. Dafür hatte sie sogar das Abendessen, das sie mit Gemma und Julie anlässlich ihrer Beförderung geplant hatte, vorverlegt und das Feiern mit Daniel verschoben. Tobi war ihr einfach wichtiger.

Viele Jahre waren vergangen, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten: Dreizehn drei viertel, sie hatte nachgezählt. Wie oft war er wohl in der Stadt gewesen, ohne sich zu melden?

Lara wippte mit dem Fuß, Ungeduld kribbelte unter ihrer Sohle. Sie freute sich auf ihn, obgleich sie immer noch sauer war, dass er damals ohne eine Erklärung abgetaucht war. Beste Freunde machten sowas nicht. Sie hatte lange darüber nachgedacht und wurde das Gefühl nicht los, dass plötzlich irgendwas zwischen ihnen gestanden haben musste. Wenn sie doch bloß wüsste, was!

Lara sah sich um und fragte sich, ob eine Bar der richtige Ort war, um sich nach dieser langen Zeit zu begegnen. Viel lieber hätte sie sich mit ihm an der Mauer vor der Schule getroffen, so wie früher. Stundenlang hatten sie dort gesessen, über alles Mögliche gequatscht, die Beine baumeln lassen, von der Zukunft geträumt, Karten gespielt und Kekse gegessen.

Hoffentlich fanden sie auch an diesem unbekannten Ort eine neue Ebene, auf der sie sich begegnen konnten, und blieben nicht auf einem Allgemeinplatz stehen. Es graute ihr davor, mit ihm nur nichtssagende Floskeln auszutauschen, wie mit einem Fremden. Für sie war Tobi immer noch ihr Seelenverwandter, aber war sie es auch für ihn?

Gedankenverloren zog Lara an ihrem Strohhalm. Wie er jetzt wohl aussah? Natürlich hatte sie ihn gegoogelt: Tobias Jahn, zweiunddreißig, Schauspieler in Berlin. Die Kritiken zu seinen Auftritten waren durchweg positiv, die Fotos jedoch irgendwie zu gekünstelt, um sich wirklich ein Bild machen zu können.

Damals, direkt nach seinem Verschwinden, hatte Lara nirgendwo eine Spur von ihm gefunden, selbst seine Eltern wussten nur vage, dass er in Berlin war. Später hatte sie nicht mehr nach ihm gesucht. Was hätte es auch gebracht? Er hatte sie offensichtlich nicht sehen wollen, sonst hätte er gewusst, wo er anrufen könnte.

Nun hatte er es getan. Warum ausgerechnet jetzt, wusste Lara nicht. Auch hatte sie keine Ahnung, was daraus werden würde. Deshalb hatte sie auch niemandem von dem Treffen erzählt, nicht einmal Gemma.

Lara atmete tief durch und zwang sich, nicht schon wieder auf die Uhr zu schauen. Stattdessen nippte sie an ihrem Bramble. Zuckersirup und Brombeerlikör prickelten eiskalt und süß auf der Zunge. Tobi verspätete sich, aber das war ihr ganz recht, denn sie wusste immer noch nicht, was sie sagen wollte und wie. Dabei war das gar nicht ihr Stil, ein Gespräch so durchzuplanen. Normalerweise setzte sie auf Spontanität. Aber die Frage, die sie Tobi stellen musste, geisterte seit Jahren durch ihren Kopf, und es fiel ihr nicht leicht, sie auszusprechen. Warum war er abgehauen, ohne Tschüs zu sagen? Warum hatte er sich nie gemeldet?

Warum?, hatte sie damals in den wolkenvergangenen Himmel gebrüllt.

Warum?, später in Kissen geschluchzt.

Warum?, echote es lange noch durch ihre Träume.

Und obgleich die Antwort darauf längst Vergangenheit sein musste, konnte sie trotzdem die Macht haben, sie heute noch zu verletzen. Das spürte Lara genau, und deshalb wollte sie vorbereitet sein.

Aber anstatt die passenden Worte zu suchen, bogen ihre Gedanken dauernd ab: zu ihrer Schwester. Die Vorstellung, dass Gemma ihr Leben und die Liebe verpasste, spukte ihr seit dem Chicken-Masala-Desaster von vorhin unaufhörlich durch den Kopf. Gerade angesichts ihrer eigenen Glückswelle fühlte es sich nicht richtig an, dass Gemma in ihrem tristen Alltag steckte und sich nur mit Sorgen herumplagte. Konnte sie denn nicht irgendetwas tun, um ihre Schwester happy zu machen? Vielleicht musste sie sie nur ein wenig anstupsen.

Wieder nahm Lara einen Schluck, der Gin entfaltete langsam seine Wirkung, trotzdem konnte sie sich nicht entspannen, hörte statt der leisen Jazzmusik nur ihre Schwesternliebe, die ihr zurief, sie müsse etwas unternehmen. Lara trank aus und fällte spontan eine Entscheidung: Sie würde für Gemma eine Überraschung planen! Irgendwas, das sie aus ihrem Trott riss, sie ein wenig aufrüttelte und durchschüttelte. Entschlossen zückte Lara ihr Smartphone und begann zu suchen: nach Lebensfreude und Sonnenschein für ihre liebe Schwester. Klar, dass man das nicht einfach so buchen konnte, aber den Weg dorthin vielleicht schon. Einen Drink später hatte sie sich durch Eseltrekking, Tauchkurse, Kuschelwochenenden und Weinseminare geklickt, doch nichts schien wirklich zu Gemma zu passen. Gerade schloss sie frustriert den Internetbrowser, da setzte er sich zu ihr. Und obgleich sie ihn erwartet hatte, war sie einen Atemzug lang so überrascht, dass sie sich nicht bewegen konnte. Dann wirbelte sie zu ihm herum, dass der Hocker bedrohlich schwankte.

»Tobi!«

»Hi.« Er lächelte sie an. Seine Stimme war tiefer geworden, doch sie erkannte sie sofort, erkannte ihn sofort. Das gleiche Lächeln wie früher, nur war es jetzt von einem Dreitagebart umrahmt. Die Schultern waren breiter, das Kinn kantiger geworden. Lara entdeckte eine feine Narbe an der Stirn, die war neu, doch das Funkeln in den schwarzbraunen Augen war genauso wie bei ihrer ersten Begegnung. Damals, in der sechsten Klasse, als sie sich in der großen Pause am Wasserspender das erste Mal getroffen hatten.

»Sorry, ich habe den Anschlusszug verpasst, und mein Handy war leer«, entschuldigte er sich für sein Zuspätkommen.

»Macht doch nichts«, erwiderte Lara und klammerte sich an ihrem Glas fest, es vibrierte unter ihren Fingerspitzen, so wie ihr Brustkorb, Bauch und Knie.

Der Barkeeper fragte nach ihren Wünschen, Tobi bestellte einen Dry Martini, Lara das Gleiche nochmal.

»Wie geht es dir?«, fragte er jetzt.

»Bestens. Und dir?«, stieg sie in das oberflächliche Geplänkel ein, auch wenn sie sich genau davor gefürchtet hatte.

Tobi sah sie eindringlich an. Sein Blick prickelte auf ihrer Haut wie ein warmer Sommerregen.

»So schön, dich zu sehen«, sagte er leise, und es klang so vertraut, dass Lara das Herz aufging. Vielleicht waren sie sich doch nicht allzu fremd geworden, vielleicht konnten sie an ihre gemeinsame Vergangenheit anknüpfen, wieder beste Freunde werden und bald schon offen über alles reden.

Der Barkeeper brachte die Cocktails, verschaffte ihr Zeit, den nächsten Satz zu überdenken, sie suchte nach einem, der nicht gleich mit der Tür ins Haus fiel.

»Und, was hast du so gemacht?«, kam dabei heraus. Das klang etwas hohl, aber okay für den Anfang, zum Anknüpfen, irgendwie.

»Lara, bitte, können wir den Teil mit der höflichen Konversation überspringen?« Tobias fuhr sich durch die dunkelbraunen Haare, zerwühlte dabei den strengen Scheitel, wurde wieder zu Tobi. Dem Jungen mit den Funkelaugen.

Lara zog ihren Drink zu sich heran, nahm einen großen Schluck und all ihren Mut. »Warum bist du hier, warum jetzt?«

Für den Bruchteil eines Augenblicks presste Tobi die Lippen zusammen, sah gequält zur Seite, dann hob er das Glas und sagte mit einem merkwürdig schiefen Lächeln: »Trinken wir auf Mausi.«

Laras Mund klappte auf, das konnte unmöglich der Grund dieses Treffens sein. Oder doch? Heute war der sechzehnte Mai, der Geburtstag ihrer vor vielen Jahren verstorbenen Katze.

»Auf Mausi«, sagte sie halb ungläubig, halb schuldbewusst und trank das Glas in einem Zug leer. Ihre Katze wäre heute achtzehn Jahre alt geworden, wäre sie nicht mit zwei an einer Bauchfellentzündung gestorben. Lara hatte tagelang geweint, Tobi war da gewesen, seine Schulter, sein Trost. Jedes Jahr am sechzehnten Mai hatten sie auf Mausi angestoßen. Als Tobi fort war, hatte Lara es allein versucht, aber das leere Geräusch eines einzelnen Glases war unerträglich gewesen, in dem Nichtklirren hatte sie ihre Einsamkeit so laut gehört, dass sie die ganze Flasche ausgetrunken hatte. Irgendwann hatte sie dann beschlossen, dass der sechzehnte Mai in Zukunft wieder ein gewöhnlicher Tag sein sollte. Jetzt schämte sie sich dafür.

»Du bist nicht Tierärztin geworden«, durchbrach Tobi Laras Erinnerungen. Es war eine Feststellung, der eine Frage innewohnte.

Lara kämpfte die Tränen hinunter. Die dunklen Jahre, wie sie sie nannte, streckten ihre kalten Finger nach ihr aus. Sie wedelte mit dem leeren Glas: noch einen, bitte.

»Zahnärztin«, sagte sie endlich, es klang wie eine Entschuldigung.

Sie war im ersten Semester Tiermedizin gewesen, als sie Tobi das letzte Mal gesehen hatte. Begeistert hatte sie ihm von der eigenen Praxis auf dem Land vorgeschwärmt. Sie hatte allen Mausis dieser Welt helfen wollen. Doch dann war er abgehauen und kurz darauf ihre Eltern gestorben. Was blieb, war ein Riesenloch, in das Lara fiel, fiel und fiel. Danach war es nicht mehr in Frage gekommen, jeden Tag für flauschige, kleine Wesen mit treuen, runden Augen verantwortlich zu sein. Was, wenn sie eines davon verlöre? Das hätte ihre zerbrechliche Seele nicht ausgehalten. Zahnmedizin hatte Gemma ihr damals vorgeschlagen, und das war genau das Richtige für sie gewesen: sicher und unaufgeregt. Sie war zufrieden mit ihrem Job, an manchen Tagen sogar glücklich. Jedenfalls bis gerade jetzt: Denn aus irgendeinem Grund trauerte sie plötzlich der Kleintierpraxis nach, von der sie als Jugendliche immer geträumt hatte.

Tobi nickte knapp und nahm einen Schluck. War er genauso enttäuscht, wie sie sich gerade fühlte?

»Dafür habe ich einen Wellensittich«, legte Lara rasch nach, warum, wusste sie nicht genau. Tobis Anwesenheit machte sie nervös. Er konfrontierte sie mit ihrer Vergangenheit – eine Vergangenheit, an die sie sich nicht gern erinnerte.

»Wie heißt er?«

»Wer?« Lara hatte für einen Moment den Faden verloren.

»Der Vogel.«

»Oh, Apollo.« Eigentlich hatte sie nie wieder ein Haustier haben wollen, aber dann hatte Gemma ihr Apollo geschenkt, einen kratzbürstigen Sittich, an den sie wider Willen schon bald ihr Herz verloren hatte.

»Süß«, sagte Tobi, ging aber nicht weiter darauf ein.

»Hast du ein Haustier?«, wollte Lara im Gegenzug wissen, obwohl es sie ungleich mehr interessierte, ob Tobi eine Freundin hatte. Doch sie hielt diese plötzlich aufflammende Frage zurück. Sicher würde sie dies im Laufe des Abends erfahren. Komischerweise hoffte sie, dass es da niemanden gab.

Tobias schüttelte grinsend den Kopf. »Du weißt doch, ich werde immer gebissen, selbst von Goldfischen.«

Lara lachte kurz auf, das stimmte. Sogar die liebe Mausi hatte ihn mehr als einmal gekratzt.

»Wie geht es deiner Familie?«, fragte Tobi in die kurze Stille, die darauf entstanden war, und traf blind den nächsten wunden Punkt.

Lara schluckte. Er wusste nicht, dass sie nur noch Gemma hatte. Ihre liebe Schwester, von der sie so viel bekommen hatte, ohne etwas zurückzugeben. Lara sackte unter der Last ihrer plötzlichen Schuldgefühle innerlich zusammen. Wie schaffte es Tobi nur, mit ein paar Fragen ihre Welt so ins Wanken zu bringen? Vielleicht sollte sie gehen, ausschlafen, sich was Hübsches für Gemma ausdenken und das Gespräch mit Tobi morgen fortsetzen. Wenn ihr Kopf wieder klar und ihr Herz nicht so aufgewühlt war. Doch sie blieb, der nächste Cocktail kam, Lara trank, bis die Welt so rosa wurde wie ihr Drink.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Tobi, nachdem sie immer noch nicht auf seine Frage geantwortet hatte.

»Gemma geht es gut«, wich Lara aus. Hatte sie sich vor ihrem Treffen mit Tobi vor Smalltalk gefürchtet, sehnte sie ihn jetzt herbei. Sie war noch nicht bereit, mit ihm über all das zu sprechen, was sie bewegte. Das tat sie sowieso selten, meist ließ sie alle Welt glauben, ihr ginge es blendend. Dass ihre Gefühle oft Achterbahn fuhren, wusste nur Gemma.

»Sie hat Germanistik studiert«, erinnerte Tobi sich und hackte damit unbewusst in die Mauer, die Lara verzweifelt aufrechtzuerhalten versuchte.

»Das ging nicht, mit dem Baby, und ich …« Lara stockte, sie wollte doch nicht … »War ’ne schwere Zeit«, brach sie das Thema ab.

Tobi sah sie an, fing ihren Blick ein und ließ ihn nicht mehr los. »Lara, was ist passiert?«

»Ach, Tobi«, flüsterte sie, verlor sich in dem Braun seiner Augen, das so warm und süß wie geschmolzene Schokolade war.

»Ich bin für dich da.« Er nahm ihre Hand. »Jetzt sofort, nachher, später und danach, wann du willst.«

Lara blickte auf ihre verschränkten Finger. In ihren Träumen hatte sie sich oft gewünscht, dass Tobi wieder bei ihr war. Es war so schön, neben ihm zu sitzen, am liebsten hätte sie sich an ihn gelehnt, aber da stand noch etwas zwischen ihnen. »Warum bist du damals abgehauen?«

Ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Ich, ich kann es dir nicht …«, sagte er heiser, räusperte sich und fragte dann: »Darf ich dir ein Versprechen geben?«

Lara runzelte die Stirn, sie hatte sich eine Antwort gewünscht, keine Gegenfrage. Sein Ausweichen verletzte sie, früher hatte er ihr alles erzählt.

»Bitte.« Tobi strich mit dem Daumen über ihren Handrücken, es fühlte sich nach Geborgenheit an, Lara wollte das nicht sofort wieder verlieren. Dreizehn drei viertel Jahre waren eine lange Zeit, Vertrauen musste nun wohl neu gewonnen werden, Lara entschied sich für den ersten Schritt.

»Okay, gut.«

»Danke.« Tobi atmete erleichtert aus. »Ich verspreche, ich werde dir alles erklären.«

»Bald«, handelte Lara.

»Vielleicht ganzbald.« Tobi grinste schief, Lara lächelte breit zurück, sie waren auf einem guten Weg.

»Gehen wir ein Stück?« Tobi wartete nicht auf ihre Antwort, legte einen Schein auf den Tresen und zog sie mit sich.

Der Treppe raus schien wackelig, ihre Beine ebenso, vielleicht hätte sie nicht so viel trinken sollen. Draußen umfing sie eine herrliche Abendkühle. Einen Atemzug lang blieb Lara stehen, füllte ihre Lungen mit der klaren Luft, die Frische tat ihren erhitzten Wangen gut. Was gerade noch auf ihren Schultern gelastet hatte, schien plötzlich leichter. Sie und Tobi würden wieder zusammenfinden, beste Freunde werden, Sorgen und Freude teilen. Davon war sie überzeugt. Fast war ihr der Grund für sein Verschwinden egal, jetzt da er es ihr ganzbald sagen wollte. War das nicht Vertrauensbeweis genug?

Beschwingt und reichlich beschwipst lief sie neben Tobi durch die nächtlichen Straßen, vorbei an der Dreifaltigkeitskirche, ein majestätischer Schattenriss vor dem schwarzblauen Himmel. Der Mond, eine schmale Sichel, verschwand immer wieder hinter Wolkenbändern, es war eine wundervolle Nacht.

Sie erreichten eine niedrige Mauer kurz vor der Brücke, hier hatte damals ihr Schulweg entlanggeführt. Sie hatten oft darauf balanciert – und sich gegenseitig runtergeschubst. Lara konnte nicht widerstehen: Sie stieg auf die flache Mauer, überschätzte ihren vom Alkohol benebelten Gleichgewichtssinn und rutschte ab. Tobi fing sie kopfschüttelnd auf, Lara lachte, zog ihn mit rauf, hielt sich an seinen Armen fest, noch lieber hätte sie sich eng an ihn geschmiegt. Der nicht ganz unschuldige Gedanke überrumpelte sie, sowas wünschte man sich nicht von seinem besten Kumpel, vor allem nicht, wenn man erwachsen und vergeben war. Rasch sprang sie ab und zettelte ein Wettrennen an.

»Wer als Erster in der Mitte der Brücke ist«, grölte sie und sprintete los.

»Erster!«, rief Tobi hinter ihr.

»Ha ha.« Lara lehnte sich neben ihm an das Geländer, Schulter an Schulter, (fast) nichts zwischen ihnen, so könnte es für immer bleiben.

»Weißt du noch, wie wir auf die Autos gespuckt haben?«, erinnerte sich Tobi.